Besser ein Vorurteil als gar keine Meinung - Robert Niemann - E-Book

Besser ein Vorurteil als gar keine Meinung E-Book

Robert Niemann

0,0

Beschreibung

Wer frei ist von Vorurteilen, werfe den ersten Stein! Dann doch lieber gleich das volle Bekenntnis, dass es sich mit Vorurteilen besser lebt. "Man unterschätze nicht den praktischen Wert eines Vorurteils. Denn ein Vorurteil ist wie ein Stadtplan von Chemnitz, mit dem man in Bremen den Weg zum Bahnhof findet." Der Satiriker Robert Niemann nimmt in seinen Glossen nicht nur alle möglichen Ressentiments aufs Korn, sondern ergründet die Psychologie des Vorurteils und entwirft ein ganzes System, wie ein Mensch dank seiner Vorurteile erfolgreich durchs Leben kommen kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 184

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

ISBN eBook 978-3-359-50004-9

ISBN Print 978-3-359-02366-1

© 2012 Eulenspiegel Verlag, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, unter Verwendung eines Motivs von Martin Perscheid

Eulenspiegel · Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Neue Grünstr. 18, 10179 Berlin

Die Bücher des Eulenspiegel Verlags erscheinen

in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel-verlag.de

Robert Niemann

Besser ein

Vorurteil als

gar keine

Meinung

Eulenspiegel Verlag

Vorbemerkung

Wenn ich bei der Physiotherapie einen Termin bekomme, und der Therapeut heißt Ronny oder Kimberley, dann verlange ich einen anderen Termin. Schließlich will ich meine Vorurteile auch ausleben. Da ist es völlig egal, dass Ronny möglicherweise Vize-Europameister in Lymphdrainage ist und Kimberley Trägerin des Dritten Dan in Beckenbodengymnastik und Inkontinenztherapie. Wer Ronny heißt oder Kimberley, der darf vielleicht auf meiner Geburtstagsparty strippen. Aber an mein Knie lasse ich ihn bestimmt nicht.

Der natürliche Feind des Vorurteils ist die Recherche. Darum wird in den nachfolgenden Texten konsequent darauf verzichtet. Wozu mit viel Mühe Fakten sammeln, wenn es auch mit einer starken Meinung getan ist?

Es entspricht dem Wesen des Vorurteils, dass man es nicht begründen muss. Ein gepflegtes Vorurteil erspart jede Art von Sachkenntnis. Dennoch kommt es gern als Erfahrungswissen daher und zeigt sich wortgewaltig in ausufernden Diskussionen. Würde man darauf verzichten, dann wäre jede politische Talkshow nach wenigen Minuten am Ende. Das kann niemand wollen. Und seien wir ehrlich: Jede frei erfundene Statistik, jeder noch nicht einmal ansatzweise bewiesene Zusammenhang und jede freihändig zusammengenagelte historische Behauptung ist allemal unterhaltsamer als kleingeistige Erbsenzählerei.

Man unterschätze nicht den praktischen Wert eines Vorurteils. Ein Vorurteil ist wie ein Stadtplan von Chemnitz, mit dem man in Bremen den Weg zum Bahnhof findet. In diesem Geiste sind die nachfolgenden Texte verfasst. Sie sind ein wichtiger Beitrag in der aktuellen Debatte. Meinungsstark und urteilssicher drückt der Autor seinen Senf auf jedes beliebige Würstchen. Muss ein Mann tatsächlich auf Familienkonferenzen die Meinung seiner vierjährigen Tochter einholen, wenn es um seinen neuen Job geht? Wie wurden von Giraffen verursachte Blechschäden vor der Einführung des erweiterten Haarwildbegriffes bei der Kasko abgerechnet? Warum nennen manche Ost-Rentner den schönen neuen Naturlehrpfad entlang der früheren Grenze in unbedachten Momenten liebevoll »Kolonnenweg«? Wozu braucht man Lebensmittel ohne Emulgatoren? Singen die Deutschen schon immer so scheußliche Wanderlieder? Ist die Verhorstung der Welt noch zu stoppen?

»Wer sich damit brüstet, keinerlei Vorurteile zu haben«, so lautet eine alte indianische Weisheit, die ich mir soeben ausgedacht habe, »der soll dann bitte auch darauf verzichten, abends in Frankfurt (Oder) sein neues Auto abzuschließen!«

In diesem Sinne: Viel Vergnügen!

Schönes Früher

Früher war alles besser. Da sind wir im Bus immer aufgestanden, wenn eine Oma kam. Da war mehr Lametta, da konnte man über Humor noch lachen, da waren Sommer noch richtige Sommer. Und so weiter. Mal ehrlich: Kein die Lebensverhältnisse klar überblickender Mensch schenkt solchen Aussagen Glauben. Denn auch früher schon stellten sich alle schlafend, wenn eine garstige Alte zustieg, mit ihrem Schwerbehindertenausweis herumwedelte, nach feuchtem Hund roch und aussah, als hätte sie ihren ersten Orgasmus während einer Rede des Führers gehabt. Früher war vielleicht mehr Lametta, doch dafür lagen auch nur ein Paar Socken aus dem eigenen Garten und eine selbstgestrickte Nuss unterm Baum. Und wer früher über Humor noch lachen konnte, der hatte offenbar früher noch Humor.

Aber natürlich darf der Mensch nicht nur talentfrei Zugposaune blasen, im Fremdwörterbuch »Pastinaken« nachschlagen und am Tag der Deutschen Einheit »Muss an so vieles denken!« twittern. Nein, er darf auch das Hier und Jetzt mit dem Dort und Einst vergleichen. Und wer genau hinhört, wenn Großvater abends am heimeligen Kamin bei einer schönen Flasche Kamillentee Geschichten aus seinem Leben erzählt (»Brchr-hch-hch…hhhchrrr…hchz-öchz-öchz…Stalingra…ahachahch…hhhhr….hrrrr….hrrrr…«), der wird sich fragen, ob früher nicht vielleicht sogar die Vergangenheit besser war.

Ampillen für den Sieg

Manche dachten ja bis zuletzt, Heinz Florian Oertel sei der Einzige gewesen, der im DDR-Sport gedopt war. Schließlich waren die meisten der zahllosen Goldmedaillen im Grunde sein Verdienst. »Männer, Väter habt Mut: Nennt eure Söhne Waldemar!«, verausgabte er sich 1980 im Moskauer Olympiastadion und schrie damit das Gold für den Marathonläufer Waldemar Cierpinski quasi im Alleingang herbei. Dessen Anteil am historischen Sieg beschränkte sich darauf, sich der Live-Reportage gemäß hurtig zielwärts zu bewegen und nicht etwa, wie es im Sommer nahe gelegen hätte, vor der finalen Stadionrunde rasch noch ein erfrischendes Bad in der Moskauer Flussbadeanstalt zu nehmen.

Die Ernüchterung kam mit dem Wendeherbst. Welchen Sporthelden man auch nahm – alle waren sie gedopt. Schwimmer, Läufer, Kunstruderer. Selbst die erst durch »Außenseiter-Spitzenreiter« zu landesweitem Weltruhm gekommene siebenundzwanzigfache Weltmeisterin im Schreibmaschineschreiben oder die diversen DDR-Meister im Pfahlsitzen oder Friedfischangeln. Sie alle gerieten, kaum dass sie sich einvernehmlich von ihrer Nabelschnur getrennt hatten, in die Fänge des Sportmedizinischen Dienstes und der Frankensteins von der Leipziger Körperkulturschmiede. Mit den Worten: »Hier, dein Filinchen!«, wurden den jungen Talenten im Minutentakt geheimnisvolle Pillen und Ampullen bzw. Pullen und Ampillen verabreicht. Morgens, mittags, abends. Trainierst du noch oder schluckst du schon? – so stand es in riesengroßer Geheimschrift über dem Eingangsportal des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) am Ost-Berliner Oral-Turinabol-Platz. Was nicht oral oder subkutan verfüttert wurde, ging in die Schweinemast und führte auch dort zu erstaunlichen Ergebnissen: Mit den Ausdauerwerten einer DDR-Zuchtsau hätte man es noch bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2005 in Helsinki bis ins 10 000-Meter-Halbfinale geschafft. Und zwar bei den Männern!

Alle – bis auf die vom Sportmedizinischen Dienst natürlich (»Anna Bolika? Ist das nicht von Tolstoi?«) – wissen heute darüber Bescheid und winden sich rechtschaffen vor Abscheu. Die für das DDR-Staatsdoping zuständige Empörungsbeauftragte der Bundesregierung, Ines Geipel, windet sich ganz besonders emsig. Es ärgert die frühere DDR-Leichtathletin, dass sie nicht noch mehr gedopt hat. Dann hätte sie jetzt ein paar Medaillen mehr im Strumpf, die sie medienwirksam zurückgeben und zu Zahnersatz und Danziger Goldwasser einschmelzen lassen kann. Außerdem hätte sie dann als Nebenklägerin gegen DTSB-Präsident Manfred Ewald ein Todesurteil durchgedrückt – so aber spazierte der beihelfende Körperverletzer im Jahre 2000 zur Bewährung aus dem Gericht.

Ost-Athleten bezogen ihre Kraft und Schnelligkeit aus Clenbuterol, West-Athleten direkt und unmittelbar aus der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Gewissheit, dass es im freien Teil Deutschlands zwar jederzeit Kaffee, Wandfliesen und Mallorca-Flüge, aber kein staatlich organisiertes Dopingsystem gegeben hat, war all die Jahre so gewiss, dass sie auch im Grundgesetz hätte stehen können. Hätte man’s mal reingeschrieben! Dann wären die Historiker aus Berlin und Münster, die jüngst Gegenteiliges vortrugen, flugs als Verfasser verfassungsfeindlicher Hirngespinste enttarnt und umgehend wieder dem freien Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt worden.

Nun aber ist es bewiesen: Mit Mitteln und im Auftrag des Bundesinnenministeriums befasste man sich seit den frühen siebziger Jahren an der Universität Freiburg und an der Sporthochschule Köln mit der leistungssteigernden Wirkung von Dopingmitteln. Anlass der weniger erkenntnis-, als vielmehr anwendungsorientierten Dopingforschung war die Sorge, dass DDR-Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 in München sich geschickter und flinker in Bewegung setzten als die eigenen. Das musste verhindert werden. Gerade in der »Hauptstadt der Bewegung«. Die Fachleute schauten hinter den Eisernen Vorhang und waren begeistert: Sowjetische Diskuswerferinnen deckten sich bei Wettkämpfen im Westen mit Gillette-Produkten, Schuhen der Größe 52 und Penisschmuck ein. Tschechische Mittelstreckenläuferinnen waren eine Kreuzung aus Gewichtheber und Pferd. Skispringer aus dem Ostblock flogen selbst dann weiter als die Konkurrenz, wenn die Ski noch beim Zoll standen. Waaahnsinn, dachten die Professoren Keul (Freiburg) und Hollmann (Köln), das wollen wir auch! Das zuständige Ministerium hob den Zeigefinger: Dürft ihr, aber natürlich nur, wenn es nicht gesundheitsgefährdend ist! Doch da konnten die Freiburger und Kölner Wissenschaftler das Ministerium beruhigen: Wenn Leistungssportler gedopt wurden, dann hatte das selbstverständlich keinerlei gesundheitliche Folgen. Jedenfalls nicht für den Minister und die Mitarbeiter seines Hauses.

Eine Frage bleibt: Genauso dopen wie der Osten, und dann trotzdem immer schon als Vize-Achtelfinal-Dritter rausfliegen – wie geht denn das? Wieso blieb für die Sportler aus dem Westen das Siegertreppchen das, was Hamburg für den gemeinen DDR-Bürger war: ein Ort, den man sich von der Verwandtschaft schildern lassen musste? Hatte man den falschen Personen die falschen Mittel gegeben? So dass Stabhochspringer zwar gut im Bogenschießen waren, aber vom Springen keine Ahnung hatten? Dass Kati Witt gewann, was es zu gewinnen gab, während die bundesdeutschen Eiskunstläuferinnen Pflicht und Kür überwiegend sitzend absolvierten? War Dirk Nowitzki ursprünglich als Turnfloh vorgesehen?

Vielleicht sind wir schlauer, wenn die Studie der Historiker im Wortlaut vorliegt. Gegenwärtig ist man dabei, sie vor der Übergabe an die Öffentlichkeit zu überarbeiten. Bis dahin kann man nur vermuten, dass die vielen schönen Wachstumshormone in die falschen Hände gerieten: In die des damals zuständigen Bundesinnenministers, der sie auch gleich selbst verspeiste. An den Ohren haben sie geholfen. Seine Name ist: Hans-Dietrich Genscher.

Im Speckgürtel

I n den letzten zwanzig Jahren hat sich nun endlich auch rund um Berlin das gebildet, was man von westdeutschen Großstädten schon lange kennt: ein Speckgürtel. Nahezu jede Gemeinde in diesem Bereich hat ihre Einwohnerzahl durch Zuzüge mindestens verdoppelt. So gesehen sind diese Orte eine Art Klein-Kairo, nur dass die Zugezogenen keine landlosen Bauern aus den verarmten Provinzen sind und auch schlechter Ägyptisch sprechen. Der Speckgürtelbewohner an sich ist zwar mühelos an den dreibuchstabigen Autokennzeichen zu erkennen, aber keineswegs leicht zu beschreiben. Denn er ist ein vielgestaltiges Wesen.

Der Stadtflüchtling zum Beispiel stammt ganz aus der Nähe: aus dem alten West-Berlin. Er ist verheiratet, bezeichnet seine perlgraupenkartongroße Reihenunterkunft als »unser Haus« und bekommt im Alter von knapp über vierzig einen missratenen, gleichwohl sinnstiftenden Sprössling, den er auf Inlinern in einem Kinderwagen im Porsche-Design über die Radwege fährt, wobei alteingesessene Omis, die in Unkenntnis des Straßenverkehrsrechts auf eben diesem Radweg zur Bushaltestelle schlurfen, schon mal als Indiz für die schlimme Kinderfeindlichkeit herhalten müssen. Stadtflüchtlinge sind schrecklich schreckhaft und furchtbar misstrauisch. Als unser alter Förster zur Achtzigjahrfeier der freiwilligen Feuerwehr seinen grünen Rock trug, wurde er für einen früheren Kommandeur der Kampfgruppen der Arbeiterklasse gehalten. Stadtflüchtlinge wissen auch ganz genau, warum hier die vielen Sandstraßen nie asphaltiert worden sind: weil die NVA-Panzer auf Sand schneller gen Westen vorstoßen konnten. Sie haben für alle Fälle noch eine kleine Zweitwohnung in Berlin-Charlottenburg und gehen vor dem Schlafengehen immer noch einmal zu ihrem Wagen, um zu prüfen, ob er auch fluchtbereit ist. Und im Handschuhfach liegt eine handgemalte Karte mit den asphaltierten Wegen nach West-Berlin drauf.

Eine andere große Gruppe stammt aus Bonn und Umgebung. Diese Menschen arbeiten in den Bundesministerien und haben ihre Villen mit Blick auf den Rhein aufgegeben, um in Villen mit Blick auf gar nichts zu leben, in Straßen, die den Namen von Ernst Thälmann tragen oder schlicht »Am Rieselfeld« heißen. Als 2005 Woytila begraben wurde, waren diese Menschen zutiefst verzweifelt: Ihre polnischen Putzen waren alle nach Rom gepilgert – und woher so schnell Ersatz beschaffen? Wer staubt zum Wochenende den Flügel ab? Kathrin (die Ehefrau) kann nicht, weil sie ja freitags immer mit Marie (der Tochter) beim Pferd ist. Aber sonst sind das nette Kerlchen mit rosiger Gesichtsfarbe und selbstironischen lila Schlipsen mit hellgrünen Vögeln drauf. Steigen sie morgens in den Regionalzug nach Berlin, bringen sie eine Heiterkeit und gute Laune mit, die uns manchmal ziemlich auf die Nerven geht. Einen gab es mal, der beim Betreten des Wagens laut »Guten Morgen!« wünschte. Die Reaktionen waren null, nur eine ältere Dame zeigte ihre Fahrkarte vor.

Zwischen Einheimischen und Zugezogenen tun sich aber noch ganz andere Gräben auf. So rufen Zugezogene gern das Ordnungsamt an, wenn jemand den Mülltonnendeckel nicht vollständig schließt oder wenn ein Marder ein Vogelnest aushebt. Dafür verbrennen Alteingesessene in ihren jeder Feuerstättenverordnung hohnsprechenden Dauerbrandöfen, Baujahr 1938, terpentinhaltiges Restholz und alte Puppenkleider aus Dederon, bis die Krähen tot vom Himmel fallen. Und wenn der Wind auf den neuen Einfamilienhäusern steht, holen wir den Trennschleifer hervor und zerlegen nahe der Grundstücksgrenze uralte Wellasbestplatten.

Die Nagelprobe ist übrigens die Mülltrennung: Die Zugezogenen haben brav ihre vier Eimerchen in der Küche zu stehen, einen für Glas, einen für Verbundstoffe, einen für Biomüll und einen für die unklaren Fälle, auf dem »Mit Kathrin besprechen« steht. Mülltrennung machen wir natürlich auch, und zwar auf die herkömmliche Weise: Was nicht verbrannt wird, geht ab in den Wald. Zweimal im Jahr machen den die Zugezogenen eh’ sauber, einmal nach Aufruf der CDU-Ortsgruppe, die das tut, um sich einzuschleimen, das andere Mal sind es die Grünen, die damit ihre Existenzberechtigung nachweisen wollen.

Damit der Graben in den Köpfen nicht noch tiefer wird, hat man sich bei uns vor Jahren schon den »Lauf der Sympathie« einfallen lassen. Ost und West, alt und neu, so die Idee, rennen über die Ortsgrenze nach Berlin und wieder zurück und lernen sich dabei besser kennen. Der einzige echte Einheimische, der noch mitläuft, ist meines Wissens der Bürgermeister. Ob er allerdings noch lange mittrabt, steht in den Sternen: Bei den letzten Wahlen kriegte er nur etwa zwanzig Prozent von den Zugezogenen; bei den Alteingesessenen waren es über sechzig. Und offen gesagt: Zwanzig Prozent würde auch unser alter Förster schaffen, der tatsächlich früher bei den Kampfgruppen war und bei dem der Wanderweg entlang der früheren Mauer unverändert »Kolonnenweg« heißt.

Die vierte Gruppe neben den Alteingesessenen, den Westberlinern und den Bonnern sind die Türken. Sie kommen mit neun Kindern und drei Ford Skorpio aus den Slums von Berlin-Neukölln, stellen einen Grill auf das Grundstück und lassen sich daneben ein Ausbauhaus errichten, in das sie einziehen, noch ehe die Fenster drin sind. Alles Weitere machen sie selbst, was für sie auf Jahre hinaus ein Stück Heimat bedeutet. Rechtzeitig zum EU-Beitritt der Türkei soll aber alles fertig sein. Die Männer fahren Taxi, die Frauen waschen den ganzen Tag, und im Garten halten sie Hühner und Gänse, die dann irgendwann verschwinden, weil sie auf dem Grill landen. Merkwürdig ist es nur, dass seit etwa vierzehn Tagen auch der Hund verschwunden ist. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie sie ihn immer gerufen haben – hieß er nicht Kebap? Jedenfalls ist das alles geheimnisvoll und ein wenig unheimlich. Offen gesagt, sind uns da sogar die Bonner irgendwie näher: Wenn bei denen der Hund verschwindet, dann, das weiß jeder hier, gibt es am Sonntag Rheinischen Sauerbraten.

Ödnis schaffen ohne Waffen

E ine BUGA kriegt man immer dann, wenn man lange Zeit seinen Dreck nicht weggeräumt hat. Gut macht es sich, wenn man über nicht mehr benötigte Flughäfen (München), Exerzierplätze (Potsdam, Magdeburg) oder ausgeweidete Bergbaulandschaften (Gera) verfügt oder sich im letzten Krieg zumindest als Einsatzziel der Royal Airforce (Hamburg) bewährt hat. Im Kern ist eine Bundesgartenschau wie Zimmer aufräumen, nur draußen.

Im Mittelpunkt einer Bundesgartenschau steht der zahlende Besucher. Der sich aber leider immer rarer macht. Blumen gucken ist irgendwie out. Waren es 1983 mal 11 Millionen Gäste, so kamen zuletzt noch nicht einmal 2 Millionen. Jede Neueröffnung eines Media-Marktes zieht inzwischen mehr Besucher an. 2007 zum Beispiel vermeldete der Austragungsort Gera zwar eine Zunahme der Übernachtungen um 57 Prozent. In Folge der auf der BUGA ausgeschenkten Biermengen allerdings überwiegend unter freiem Himmel. Und außerdem kommen sonst nur Leute von außerhalb zum Übernachten nach Gera, die ein Appartement in der dortigen JVA gebucht haben.

Die Mutter aller BUGAs fand 1951 in Hannover statt, das sich bis heute nicht davon erholt hat. In den letzten Jahren ging es dann aber Schlag auf Schlag: 1995 stößt die BUGA auf unwirtliches und lebensfeindliches Gelände vor und findet erstmals in Brandenburg statt, dem einzigen Bundesland, das überwiegend aus Truppenübungsplätzen besteht. 2007 dann die erste Bundesgartenschau in zwei, nun ja: Städten: Gera und dem nur aus naturbelassenen Uranabfällen und Spucke zusammengeklebten Ronneburg, das man auch liebevoll Ronnebyl oder Tschernoburg nennen könnte. Rasant soll es weitergehen: 2015 – die erste Bundesgartenschau über Ländergrenzen hinweg (Brandenburg, Sachsen-Anhalt). Der völkerverbindende Charakter steht im Vordergrund, erstmals seit der Völkerschlacht dürfen sich Familien wieder in die Arme schließen, und selbst Verhandlungen über einen Friedensvertrag werden nicht mehr ausgeschlossen. 2017 wird es am Bodensee die erste Bundesgartenschau über internationale Grenzen hinweg geben. Wenn es so weitergeht, haben wir in zehn Jahren die erste BUGA, die die gesamte nördliche Halbkugel umspannt und in die auch erstmals das Saarland einbezogen sein wird – komplett überdacht als Sanitärkomplex.

Die meisten Nachwende-BUGAS fanden in den neuen Bundesländern statt, die auf diese Weise zum Vorgarten der reichen Westländer umgestaltet wurden, in denen der adulte Westdeutsche gern zur Erholungszwecken umherschlendert. Im Jahr 2009 schlug die BUGA erstmals in die mecklenburgische Landeshauptstadt Schwerin ihre Schneise der Verwüstung. Im Mittelpunkt stand das seit Jahrzehnten mit riesenhaften Bauplanen mehr oder weniger vollständig verhängte Stadtschloss, das schon manchen großen Künstler zu großer Kunst inspirierte, zum Beispiel Christo. Zur BUGA wurde es, zusammen mit den umliegenden Parks und Gärten, mal wieder hergezeigt. Könnte man’s auf einem Teller anrichten, ginge es als »Schloss mit Salatbeilage« über den Tresen, oder wie der Veranstalter es ausdrückt: »Damit ist die Schweriner Ausstellung eine BundesGARTENschau im eigentlichen Wortsinn.« Ganz anders als beispielsweise München 2005, das im uneigentlichen Wortsinn als BUNDESgartenschau unter Berücksichtigung bayerischer Traditionen angelegt war: So war die beliebteste Neuzüchtung eine Weißwursttanne. Legendär ist München 2005 auch für die Panikattacke des damaligen CSU-Generalsekretärs Markus Söder, als er in der Sonderschau »Fleischfressende Pflanzen« für einen Moment seinen Chef Edmund Stoiber aus den Augen verloren hatte (»Wo ist eigentlich der Ministerpräsident? Hat jemand den Ministerpräsidenten gesehen?«) und einem verdächtig wirkenden Sonnentau bereits ein Brechmittel verabreichen wollte. Was dann aber nicht nötig war – der Sonnentau spie Stoiber ganz von selbst wieder aus.

Jede BUGA hat neben ein paar unvermeidlichen Blumen auch Sonderbereiche zu bieten. Immer dabei: Moderne Grabgestaltung. Im Wettbewerb der deutschen Friedhofsgärtner um das schönste zweistellige Wahlgrab tobt ein Kampf auf Leben und Tod. Die Ergebnisse changieren zwischen § 168 Strafgesetzbuch (Störung der Totenruhe) und dem was rauskommt, wenn sich ein über Nacht reich gewordener Gangsta-Rapper was von Ceausescus Lieblingsarchitekten entwerfen lässt.

Wären Städte sich um ihren Impfschutz sorgende Menschen, dann würde die bange Frage lauten: »Hattest du schon BUGA?« Wenn die BUGA geht, hinterlässt sie nämlich regelmäßig riesige Areale, die nur noch von Menschen betreten werden, denen der Flug in die menschenleeren Gegenden der Sahel-Zone oder in die Antarktis zu teuer ist. Das Ganze nennt sich Nachnutzung und ist Konzept jeder BUGA: eine Region nachhaltig voranzubringen. Dieser Effekt wird von keinem seriösen BUGA-Forscher auf der Welt bestritten, zumindest nicht in Bezug auf Busparkplätze. So heißt es dann auch bei der Deutschen Bundesgartenschau-Gesellschaft: »Die Anlage von großzügig gestalteten Busparkplätzen ist daher ein absolutes Muss bei der Planung einer Bundesgartenschau.« Sie ist sogar das Wesentliche, wenn man sich den typischen BUGA-Gast anschaut: Der ist nämlich weiblich, war schon 1951 dabei und steht mit falschherum gehaltenem Lageplan gerne so lange entrüstet vor einer vermeintlichen Skulptur (»Und das soll Kunst sein?«), bis sich irgendein Bengel das beäugte Objekt schnappt und damit davonradelt.

Wenn die BUGA über ein Gelände hinweggezogen ist, dauert es immer eine ganze Weile, bis sich wieder Leben ansiedelt: zunächst in Form von Einzellern, die zur Erhöhung ihrer sexuellen Attraktivität oder in Folge unausgewogener Ernährung irgendwann eine zweite Zelle ausbilden, gefolgt von Pionierpflanzen wie Moosen, Flechten und Plastikweihnachtsbäumen. Bereits nach wenigen Millionen Jahren zwitschern auch wieder die Archaeopteryxe ihr lustiges Lied aus den Wipfeln der Urfarne, in deren Schatten Hominiden in modischer Ganzkörperbehaarung den aufrechten Gang einüben. Wenn dieser Moment gekommen ist, dann weiß man: Auch eine Bundesgartenschau vermag der Natur nicht dauerhaft den Garaus zu machen.

Gute Sitten, schlechte Sitten

D as schlechte Benehmen unterscheidet sich vom guten Benehmen dadurch, dass es von Herzen kommt. Gibt es den allerorts beklagten Sittenverfall tatsächlich, oder existiert er nur in der Einbildung der Älteren, die ihr vergeudetes Leben durch die Behauptung aufzuwerten trachten, sie hätten in jungen Jahren Kriegsblinden und Witwen stets einen Sitzplatz angeboten und auch das weibliche Geschlechtsteil niemals anders denn als Vulva bezeichnet? – Neulich die junge Frau in der U-Bahn, die am Handy ausführlich und in beträchtlicher Lautstärke Intimstes besprach. Es ging um die Frage, ob sie mit dem »Piercing da unten« besser noch warten solle, bis man ihr die Eierstöcke entfernt habe. Anhand der körpergeografischen Angaben war bald klar, dass mit »da unten« die Schamlippen gemeint waren. Der Wagen war voll, doch schien ich der Einzige zu sein, der sich fragte, ob sich die Schamlippen vielleicht deshalb ihren Namen gegeben haben, weil sie ungern im Mittelpunkt eines öffentlichen Disputs stehen. O ja bitte, dachte ich blutrünstig, ruhig die Eierstöcke rausnehmen und vielleicht, wenn es sich irgendwie machen lässt, die Zunge gleich mit?

»Wie – ob ick dann noch Kinda kriejen kann? Logisch kann ick mit so’n Piercing noch Kinda kriejen! – Ach du meinst ohne die Eiastöcke! Ja, nee, weeß nich …«

Dann ereignete sich Ungeheuerliches: Ein älterer Herr ging auf die junge Frau zu, nahm ihr das Telefon aus der Hand, schaltete es aus und gab es ihr wortlos zurück. Sie schwieg verdutzt, holte tief Luft und wollte, so nehme ich an, zu einer Tirade ansetzen, als sich der geballte Zorn sämtlicher Fahrgäste entlud. Aber nicht über sie. Über ihn. Tenor: Jedermann habe das Recht zu telefonieren. Der arme Mensch suchte das Weite. Die junge Frau gellte ihm hinterher, er habe sie unzüchtig berührt und sexuell belästigt. »Ick bin valetzt«, schniefte sie, vom unverhofften Opfersein überwältigt. »So valetzt!« Warm legte sich der Mantel des Mitgefühls und der Solidarität um ihre Schulterblätter, in die mit altdeutschen Buchstaben das englische Wort »hate« eintätowiert war.

So hatte sich das von Väterchen Grundgesetz gewollte Wertesystem durchgesetzt, und zwar ganz ohne Zutun einer Spezialeinheit des Innenministeriums. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit steht schließlich ganz vorn in Artikel 2. Wo aber steht, dass man »Danke« und »Bitte« und »Gestatten Sie, dass ich mich erbreche«, sagt? Nicht nur bei der eigenen Beerdigung aufs Kaugummikauen verzichtet? Gnädige Frau sagt statt Tussi? Gebrechlichen alten Damen die Einkaufstasche in die Wohnung trägt – und zwar in deren Wohnung, nicht in die eigene?

Das steht natürlich nirgendwo oder nur in Benimm- und Moralfibeln von Ulrich Wickert und Peter Hahne, deren einziger Nutzen darin besteht, dass man sie Leuten zum Geburtstag schenken kann, von denen man nie wieder angerufen werden möchte.