Beste Zeiten - Jenny Mustard - E-Book

Beste Zeiten E-Book

Jenny Mustard

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Beschreibung

Endlich Stockholm! Sickan, 21, hat es rausgeschafft aus dem muffigen Kaff in der schwedischen Provinz, in dem sie sich nie zu Hause gefühlt hat, weg von den mobbenden Klassenkameradinnen und den wenig zugewandten Eltern. Jetzt, in der Großstadt, kann es losgehen mit den Freundschaften, dem Ausgehen, dem Vorlesung-Schwänzen und Sich-Verlieben, denn Sickan ist wild entschlossen, sich in der neuen Stadt neu zu erfinden und endlich dazuzugehören. Aber wie geht das eigentlich genau, das, was man gemeinhin so »Leben« nennt?

Ein hinreißender Roman über Identität, Freundschaft, Loyalität und notwendige Abgrenzungen — und über das Glück, als die Person erkannt zu werden, die man ist.

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EPUB
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Seitenzahl: 376

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Danksagung

Über dieses Buch

Endlich Stockholm! Sickan, 21, hat es rausgeschafft aus dem muffigen Kaff in der schwedischen Provinz, in dem sie sich nie zu Hause gefühlt hat, weg von den mobbenden Klassenkameradinnen und den wenig zugewandten Eltern. Jetzt, in der Großstadt, kann es losgehen mit den Freundschaften, dem Ausgehen, dem Vorlesung-Schwänzen und Sich-Verlieben, denn Sickan ist wild entschlossen, sich in der neuen Stadt neu zu erfinden und endlich dazuzugehören. Aber wie geht das eigentlich genau, das, was man gemeinhin so »Leben« nennt?

Ein hinreißender Roman über Identität, Freundschaft, Loyalität und notwendige Abgrenzungen – und über das Glück, als die Person erkannt zu werden, die man ist.

Über die Autorin

Jenny Mustard ist in Schweden geboren und lebt in London. Sie hat über 600.000 Follower auf Social Media, ihre YouTube-Videos wurden mehr als 50 Millionen Mal angeschaut. Zusammen mit ihrem Partner David hostet sie außerdem einen Podcast über popkulturelle Themen. Ihr Debüt OKAYE TAGE erschien 2024 bei Eichborn, BESTE ZEITEN ist ihr zweiter Roman.

Über die Übersetzerin

Lisa Kögeböhn studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und Strasbourg. Seit 2010 übersetzt sie Romane und Sachbücher aus dem Englischen, darunter Autor:innen wie Kevin Kwan, Megan Nolan und Coco Mellors. Sie lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

JENNY MUSTARD

BESTE ZEITEN

Roman

Übersetzung aus dem Englischenvon Lisa Kögeböhn

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag

Titel der englischen Originalausgabe:

»What A Time to Be Alive«

Für die Originalausgabe:

Copyright © Mustard Stories Ltd 2025

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln, Deutschland

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.

Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Köln

Umschlagmotiv: © Shannon Cartier Lucy

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-8442-9

eichborn.de

Für meine Elternund für David.

Ich greife nach hinten, um meinen BH zu öffnen.

»Bevor du das machst«, sagt Hanna, »sollte ich dir vielleicht noch was sagen.«

Ich halte inne, Hände am Verschluss. Hanna sitzt hinter mir auf dem Bett und ich stehe mit dem Gesicht zu ihrem Schrank. »Was denn«, sage ich zu den aufgereihten Kleidern vor mir.

»Na ja. Kann sein, dass ich bi bin.«

»Oh. Okay.«

»Bin mir noch nicht ganz sicher.«

Aus meinen nassen Haaren tropft es kalt auf meine Wirbelsäule. Ich habe Gänsehaut an den Armen. Zaghaft frage ich: »Aber mit mir hat das nichts zu tun, oder?«

»Gott, nein. Ich meine, nein, du bist keine, auf die ich stehen würde.«

»Dann macht es doch eigentlich keinen Unterschied«, sage ich, hake den BH auf und lasse ihn auf meinen durchnässten Pulli auf dem Holzfußboden fallen.

Auf dem Weg zu Hannas Wohnung in Östermalm sind wir in einen sturzbachartigen Regenschauer geraten, dicht wie ein Vorhang, und jetzt leiht sie mir Klamotten. Ihr Schlafzimmer ist riesig, mit Doppelbett, obwohl sie allein hier schläft. Die eine Wand wird komplett von fünf deckenhohen Kleiderschrankelementen eingenommen.

»Und was ist mit dir?«, fragt sie.

Ich überlege kurz. »Bisher bin ich hetero.« Sie quittiert es mit einem Hm. Neben mir auf dem Stuhl liegt ein dickes cremefarbenes Handtuch. Ich trockne mir Arme, Brust und Rücken ab, untenrum stecke ich noch immer in meiner klatschnassen Jeans. Danach schlinge ich mir das Handtuch um den Kopf.

»Nimm, was du willst«, sagt sie. Sie hat sich bereits umgezogen und trägt jetzt ein weites Shirt und schwarze Leggings mit kleinem Loch am Knie. Ihr blondierter Bob ist zerzaust und der braune Ansatz am Mittelscheitel wirkt in nassem Zustand fast schwarz.

Ich wäge meine Möglichkeiten ab. Ihre Klamotten sind weder nach Farbe noch nach einem anderen erkennbaren System sortiert. Ich gehe die Bügel durch, während der Regen an die Fensterscheiben trommelt.

Die Wohnung ist die erste in der Stockholmer Innenstadt, die ich zu Gesicht bekomme. Sie ist ruhiger als erwartet. Ich spüre Hannas Blick auf meinem nackten Rücken und frage mich jetzt doch, ob es normales Verhalten war, mich einfach auszuziehen. Wir sind hier nicht im Sportunterricht, wir sind erwachsen, wahrscheinlich sollte ich nicht so nackt sein. Mein Herzschlag fühlt sich ein wenig zu schnell an. Von ihren teuren Kleidern erscheint mir ein schwarzes Baumwoll-Shirt als die sicherste Bank.

Ich halte es am Bügel vor mich und drehe mich um. »Wär das okay?«

»Wow, Sickan. Von allen Klamotten in diesem Schrank entscheidest du dich für ein schwarzes T-Shirt?«

Ich ziehe es über den Handtuchturban und sage: »Hab kurz mit der Chaneljacke geliebäugelt.« Sie gluckst.

»Hosen hab ich leider keine in deiner Größe.« Sie steht auf, geht an eine Schublade und reicht mir eine graue Jogginghose mit passender Sweatjacke. »Die hat einen Gummizug.« Sie setzt sich wieder aufs Bett. Ich schäle mich aus meiner nassen Jeans, rote, kalte Haut kommt zum Vorschein. Dann ziehe ich die Jogginghose an, binde eine Schleife am Bund und hoffe, dass das Ganze gut im Sinne von oversized an mir aussieht und nicht nach Clownshose. Mein Slip ist auch nass, aber mir einen von ihr zu leihen kommt mir für meinen ersten Besuch bei ihr zu Hause dann doch wieder zu intim vor.

Sie macht Musik aus unsichtbaren Lautsprechern an. Was Instrumentales, keine Ahnung, welches Genre. Es klingt nett, ich wiege meine Schultern im Takt und stöbere weiter in ihren Klamotten. Sie liegt auf dem Rücken, die Hände hinterm Kopf verschränkt, und redet über die Uni. »Konrad ist echt weird, oder? Ist Tech-Dozent, zieht sich aber an wie so ein Geschichtsprofessor.«

»Ich mag den voll.«

»Ich auch«, sagt sie und ich bin verwirrt.

Wieder bleibe ich an der Chanel-Tweedjacke hängen, streiche über den feinen beigen Stoff und frage mich, was das für ein Gefühl sein muss, so eine Garderobe zu besitzen. Da entdecke ich einen Fleck an der Jacke. Ich kratze leicht mit dem Fingernagel darüber. »Die hat einen Fleck.«

»Echt? Tja, passiert, sogar bei Chanel.«

»Sollen wir versuchen, den rauszukriegen?«

»Egal, lass einfach hängen.« Sie gähnt. »Ist eh nicht meine.«

Ich hänge sie zurück, aber das fühlt sich falsch an, fast kriminell. »Wem gehört sie denn?«

»Das meiste gehört meiner Mutter. Sie kauft sich ständig neue Klamotten und überlässt mir ihren ausrangierten Kram aus den Neunzigern. Ich wette, damit will sie mir was sagen.«

Wenn ich sie mir so anschaue, wie sie aufs Bett gefläzt daliegt, ist es nicht schwer zu erraten, was das sein könnte. Hanna Mellberg ist abstoßend, sowohl was Verhalten als auch Äußeres betrifft, ist leider so. Ihr Haaransatz ist immer fettig, und wenn sie Make-up trägt, dann von der grellen Sorte. Ihre Zähne sind groß und gelb und sie zeigt sie ständig. Sie sind jetzt nicht gammelig oder so, aber eben wesentlich gelber als normal. Ihre Klamotten scheinen ihr weder zu passen noch bewusst ausgewählt worden zu sein. Sie ist muskulös, mit runden Schultern und Rennpferdschenkeln. An jeder anderen hätte das stark und attraktiv gewirkt, aber bei ihr kommt es einschüchternd rüber. Ihr Äußeres schreit: Fass mich nicht an.

Umso überraschter bin ich, jetzt in Hanna Mellbergs Fin-de-Siècle-Wohnung in Östermalm zu stehen. Aus einer Reihe von potenziellen Freundinnen hätte ich niemals sie ausgesucht.

Ich hebe meine nassen Sachen vom Boden auf und frage: »Wohin damit?«

Sie sagt warte und verschwindet Richtung Küche. Mit dem Bündel unterm Arm ziehe ich mir das Handtuch vom Kopf und wische den nassen Fleck weg, den meine Klamotten auf dem Fischgrätparkett hinterlassen haben. Hanna kommt zurück, zieht eine Augenbraue hoch und hält mir eine weiße Plastiktüte hin. »Das ist nett von dir.«

Irgendwie macht mich das schüchtern, ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, aber da fragt Hanna hast du Hunger und ich sage ja, Riesenhunger.

Vor heute hatte ich kaum etwas mit Hanna Mellberg zu tun. Ich studiere Softwareentwicklung an der universitet in Stockholm, zweites Jahr, und dieses Frühjahr haben wir ein paar Vorlesungen zusammen mit den Studierenden der Digitalen Psychologie, also Hanna. Jetzt ist März und seit Januar sehe ich sie zweimal die Woche im Hörsaal. Sie ist kaum zu übersehen mit ihrem Look und der Art, mit den Dozent·innen zu reden, ohne sich zu melden. Sie sitzt nie mit denselben Leuten zusammen, ich aber auch nicht.

Man wird wie die Menschen, mit denen man sich umgibt, ich bin also sehr wählerisch, was mein Umfeld angeht. Mittlerweile bin ich seit anderthalb Jahren in Stockholm und habe immer noch keine engen Freund·innen. Zwar werde ich immer mal von anderen Studis in den Pub eingeladen und sehe sie auch manchmal bei Podiumsdiskussionen, habe mich bisher aber noch nie mit irgendwem alleine verabredet. Sobald ich versuche, mein Zimmer im Wohnheim zu verlassen, wird so etwas Simples wie ein Pubbesuch zur unüberwindbaren Aufgabe. Meistens sage ich dann ab, gucke zu Hause Buffy Staffel fünf und bin enttäuscht.

Soziale Interaktion entzieht mir jegliche Energie, vorher und hinterher. Vorher ist es ein einziger Kampf, das Haus zu verlassen, weil mein Kopf alle denkbaren Horrorszenarios abspult. Und wenn ich hinterher nach Hause komme, fühle ich mich wie von einer Dampfwalze überrollt und habe einen Lächelkrampf in beiden Wangen. Am nächsten Morgen folgt der Sozialkater in Form von existenziellen Ängsten und methodischem Wort-für-Wort-Durchspielen aller Unterhaltungen des gestrigen Abends. Jeder kleine Fehler in meinem Verhalten wird zu apokalyptischen Ausmaßen aufgebläht und garantiert dazu führen, dass ich niemals schön und beliebt sein werde. Da jede Einladung unweigerlich diese Art von geistiger Akrobatik nach sich zieht, ist es viel einfacher, direkt zu Hause zu bleiben, auch wenn ich weiß, dass der Mensch Gesellschaft braucht.

In der universitet habe ich einige Leute kennengelernt, die so sind wie die Person, die ich werden will. Nett, schlau, mit lockerer Art und coolem Klamottengeschmack. Bisher habe ich mich aber nicht getraut, mich mit ihnen zu verabreden. Mit Hanna nach Hause zu gehen ist jedenfalls das Gegenteil davon, wählerisch mit seinem Umfeld zu sein. Sie ist die Antithese der Person, die ich werden will. Ja, sie wirkt nett und schlau, hat aber weder eine lockere Art noch einen coolen Klamottengeschmack.

Einmal, als ich nach der Vorlesung den Flur entlangging, ertönte ein lautes Geschrei. Erschrocken drehte ich mich um und merkte erst da, dass das Geschrei mein Name gewesen war, Sickan. Hanna kam auf mich zugestürmt. Ich trat einen Schritt zurück.

»Dein Schal«, sagte sie und wedelte mit dem dunkelblauen Strickschal. »Den hast du vergessen.«

»Oh. Danke!« Ich nahm ihn und sie lächelte mit gebleckten Zähnen. Ich beruhigte mich etwas. Es war nett von ihr, mir durch den ganzen Flur nachzulaufen. Und es bedeutete, dass sie wusste, dass es mein Schal war. Und ich Sickan hieß.

Einmal traf ich sie, als ich gerade die Bibliothek verließ, ein großes Backsteingebäude, in dem sich jedes Flüstern mit dem allgemeinen Gemurmel und Geraschel zu einem Grundrauschen vermischt. Wegen dieses Klangphänomens sind Bibliotheken der allerschönste Ort für mich. Leiser kann Luft nicht werden, ohne gänzlich frei von menschlichen Geräuschen zu sein. Ich war noch nie bei einer Sportveranstaltung, aber ich glaube, das wäre der schlimmste Ort für mich. Außerdem sind Bücher eine willkommene Abwechslung vom Bildschirm, denn allmählich mache ich mir Sorgen um meine Augen.

Ich hatte mir ein Buch über Software und gesellschaftlichen Fortschritt ausgeliehen, weil mich manchmal die Motivation zum Lernen verlässt, wenn das Programmieren nichts mit der menschlichen Entwicklung in der analogen Welt zu tun hat. Hanna hielt mich vorm Ausgang auf, an der elektronischen Schranke gegen Bücherdiebe.

»Was hast du geholt?«, fragte sie. Mit schartigen Nägeln kratzte sie sich die Kopfhaut.

»Geholt?«

»Hast du dir was ausgeliehen?«

»Ach so. Ja. Ein Buch.« Ich wollte es ihr nicht zeigen, weil es nicht zur Pflichtlektüre gehörte und vielleicht seltsam war. Ich drückte mit dem Ellbogen meinen Stoffbeutel zu.

»Willst du mir nicht sagen, was für eins?« Sie lachte auf, als würde es sie amüsieren oder irritieren. Ich zeigte ihr das Buch, denn jetzt hatte ich keine andere Wahl. »Ja, das ist ganz gut, da stehen schön konkrete Beispiele drin.« Und dann sagte sie: »Ich glaube, das könnte dir gefallen.«

Mich wunderte weniger, dass Hanna es gelesen hatte, weil sie eigentlich genau zur Zielgruppe gehörte. Nein, mich wunderte, dass sie mich so einschätzte, als würde ich es lesen und mögen. Ich wusste, dass ich sie nicht fragen durfte, wie sie darauf kam, deshalb steckte ich das Buch wieder in den Beutel, ging nach Hause und fing sofort an zu lesen, als wäre darin die Antwort zu finden.

Danach habe ich sie hin und wieder bei Univeranstaltungen gesehen, in der Kneipe oder am Kiosk im Erdgeschoss unseres Instituts. Einmal hat sie einen riesigen grünen Apfel gekauft und direkt vor allen Leuten reingebissen. Ein gewaltiger Biss mit diesen Zähnen, sodass meine Speicheldrüsen schon beim Zusehen brannten von der vorgestellten Säure. Aber meistens kauft sie das kaffe-und-Zimtschnecken-Angebot für fünfundzwanzig kronor und nimmt beides mit in die erste Vorlesung. Sie rollt die Zimtschnecken nicht von außen nach innen ab, wie es sich gehört. Stattdessen beißt sie direkt hinein, als könne sie es nicht erwarten, ans saftige Innere zu kommen.

Ich kaufe nie etwas am Kiosk, sondern bringe mir eine kleine kaffetermos von zu Hause mit, um mich in den ewig kalten Uniräumen warm zu halten. Ich hasse Frieren, aber es scheint mein Schicksal zu sein. Eiskalte Hände und Füße, immer. Ich bin in einem kalten Elternhaus aufgewachsen, vielleicht hat mein Kreislauf dort Schaden genommen?

Die meisten meiner Vorlesungen finden in einem Fünfzigerjahre-Bau mit großen Hörsälen und hellrotem Backstein statt. Ich stelle mir gerne vor, wie die Studierenden in den Sechzigern auf denselben Stühlen gesessen haben. Ultraglatte Haare und Schlaghosen. Damals konnte man sich einfach mitten im Hörsaal eine Zigarette anzünden, wenn man wollte. Unglaublich.

Heute Morgen hatte Hanna keine Zimtschnecke in der Vorlesung gegessen, sondern kam durch die Tür gestürmt, unmittelbar nachdem Konrad sie hinter sich zugemacht hatte, und wirkte gehetzt, aber gut gelaunt. In der Cyberpsychologie-Vorlesung ging es darum, dass Software meist nur für able-bodied Anwender entwickelt, in den letzten Jahren bei der App-Entwicklung aber immer mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse behinderter Menschen genommen wird.

»Dass man schaut, wie interagieren Menschen mit Farbenblindheit, Karpaltunnelsyndrom oder Autismus mit der App?«, sagte Konrad. »Falls es unter Ihnen Studierende mit Legasthenie, halbseitiger Lähmung oder bipolarer Störung gibt, sollten Sie das als Zusatzqualifikation in ihren Lebenslauf aufnehmen.« Ich konnte mich nicht entscheiden, ob dieser Kommentar schrecklich zynisch oder ganz im Gegenteil angebracht und empathisch war.

Bald darauf landeten wir beim Thema Krypto-Währungen, weil über kurz oder lang jede Vorlesung dort endete, und Konrad erzählte uns etwas über die psychologischen Feinheiten bei der Etablierung einer digitalen Währung, die in den Augen des Besitzers einen Wert hat, der vom potenziellen Empfänger jedoch häufig Skepsis oder Ablehnung entgegengebracht wird. Ohne sich zu melden, sagte Hanna: »Quasi wie Dick Pics.«

Ich lachte.

Alle anderen schwiegen, irgendjemand stöhnte sogar, vielleicht weil Hanna Konrad ständig unterbrach. Ich war die Einzige, die gelacht hatte. Ich konnte die Blicke der anderen spüren. Meine Nackenhärchen stellten sich auf und mein Herz schlug schneller. Hanna drehte sich zu mir um und grinste, breit und mit vielen Zähnen. Ich senkte den Blick auf meine Notizen und ließ meine Haare wie einen Vorhang vor mein Gesicht fallen.

Hinterher passte mich Hanna im Flur ab. »Hey«, sagte sie. »Hast du heute Nachmittag noch Vorlesungen?«

»Nee, heute nicht.«

»Ich auch nicht.«

Gemeinsam verließen wir das Gebäude und gingen nach Süden Richtung Innenstadt, was keinen Sinn ergab, weil ich im Studiwohnheim nördlich vom Campus wohnte. Es war kühl und ich wickelte meinen Schal fester.

»Boah, die anderen sind einfach viel zu ernst«, sagte sie.

»Hm. Das wird von Programmierer·innen nicht anders erwartet, oder? Wir lachen entweder in uns hinein oder mit den Fingern.«

»Mit den Fingern?«

Ich tat so, als würde ich Haha auf der Tastatur tippen.

Sie gluckste. »Stimmt schon, aber ich lache gern aus mir raus.«

»Ich auch.«

Unterwegs zeigte sie mir immer mal sonderbare Stockholmer Sehenswürdigkeiten, die sich auf Promis und vergangene Skandale bezogen. Ich hatte das Gefühl, dass sie die Stadt auf eine Weise kannte, wie ich es als Südschwedin nie können würde. Von manchen Promis, die koksend auf der McDonald’s-Toilette erwischt wurden, hatte ich noch nie etwas gehört. Hätte ich aber gern, deshalb merkte ich mir die Namen, um sie später zu recherchieren. Ich war zwar eine geborene Skåning, wollte aber unbedingt eine echte Stockholmare werden. Ich arbeitete aktiv gegen meinen südschwedischen Akzent an.

Auf dem Weg durch den Humlegården fing es an zu regnen. Das Märzgras war braun, die Äste kahl. Im Nieselregen sah alles noch trister aus. Aus dem Getröpfel wurde Sturzregen und Hanna sagte, wir könnten zu ihr gehen. »Ist ganz in der Nähe, Artillerigatan.«

»Artillerigatan?«

Sie schnaubte. »Guck mich nicht so an.«

Die Häuser in der Artillerigatan sind in Cremetönen und Apricot gehalten. Manche Wohnungen, wie die von Hanna, haben einen kleinen Balkon zur Straße raus. Auf ihrem stehen weiße schmiedeeiserne Stühle mit marineblauen Polstern, ziemlich abgewetzt. Es regnet immer noch, aber die Stühle sind durch den Balkon darüber geschützt.

Hanna gibt mir eine Wolldecke, legt eine zweite auf ihren Stuhl und verschwindet noch mal in der Küche. Ich wickle die Decke um Beine und Bauch. In der Wohnung gegenüber hängt ein Muranoglas-Kronleuchter, als wäre das normal. So fehl am Platz wie hier war ich noch nie.

Hannas Wohnung ist atemberaubend. Sie hat ihrer Großmutter gehört, die gestorben ist, und es wirkt ein bisschen so, als hätte Hanna beim Einzug nur das Schlafzimmer neu eingerichtet. Alle anderen Zimmer sind düster und überladen, Perserteppiche, eine Chaiselongue von Charlotte Perriand. Drei ausgestopfte Vögel im Wohnzimmer: Eule, Krähe, Falke. Ein gepolstertes Sofa mit Klauenfüßen im Flur. Solche Sachen. Die Räume haben keine Türen, sondern Portale. Ich frage mich, wie reich Hanna ist, weil ich keinerlei Vergleichswerte habe.

Neben Hannas Schlafzimmer gibt es noch ein Arbeitszimmer, ein Wohnzimmer, ein Fernsehzimmer und eine Küche mit Esstisch für zehn Personen. Bei der Wohnungsführung hat ihre Stimme gehallt.

»Bon appétit.« Sie stellt zwei Pastaschüsseln auf den Balkontisch. Tortellini, die mit Loch in der Mitte, dampfen unter einem Klecks Crème Fraîche. »Sind bloß aus dem Kühlregal, mit Schnittlauch und Knoblauch«, sagt sie und sieht mich erwartungsvoll an.

»Riecht superlecker«, sage ich, weil es stimmt. Wir rühren die Tortellini durch, bis sie mit einer glänzenden Schicht Crème Fraîche überzogen sind, und Hanna mahlt Salz und Pfeffer auf ihre, also mache ich es ihr nach.

Die spinatgefüllten Pastakissen sind al dente und der prasselnde Regen lässt mich an Sommer denken. Es ist kalt auf dem Balkon, aber ich friere sowieso immer und habe mich fest in die Decke gewickelt. Ich halte die warme Schüssel in beiden Händen.

»Weißt du, was ich liebe?«, fragt Hanna.

Ich schüttele den Kopf.

»Beim Essen rauchen.«

Ich sehe sie an. »Nein, Hanna, mach das nicht! Das ist ekelhaft.«

Sie streckt sich durch die offene Balkontür nach einer Zigarettenschachtel, die drinnen auf der Fensterbank liegt. »Probier mal. Ist voll dekadent.«

Sie zündet sich eine an und gibt mir die Schachtel. Widerwillig nehme ich eine Anstandszigarette. Dann essen wir beide eine Gabel voll Tortellini und rauchen mit vollem Mund. Der Rauch in meiner Lunge schmeckt nach Knoblauch. »Komisches Gefühl«, stelle ich fest.

»Sag ich doch.«

»Ich glaube, ich esse und rauche weiterhin getrennt.« Sorgfältig drücke ich die Zigarette am Schüsselrand aus und lege sie auf den Tisch.

Sie zuckt mit den Schultern und sagt wie du willst.

Als ich die Tortellini aufgegessen habe, bin ich angenehm voll und greife nach dem Feuerzeug, um meine Zigarette weiterzurauchen. Hanna zündet sich auch eine an. Ich zittere, friere jetzt richtig, will aber auf dem Balkon bleiben. Der Regen ist wieder zum Getröpfel geworden und meine Haare und Unterhose sind fast trocken.

»Du siehst gut aus beim Rauchen«, sagt sie.

»Findest du? Ich hab auch geübt.«

Sie lacht. »Echt?«

Ich tippe die Aschesäule in meine leere Schüssel. »Irgendwann hat mir mal eine gesagt, ich würde wie eine Amateurin rauchen, weil ich alle Finger ausgestreckt habe, so, nicht nur Zeige- und Mittelfinger, so.« Ich mache es vor, inhaliere den Rauch und spüre den Nikotinkick. »Mir war nicht klar, dass man doof aussehen kann beim Rauchen, deshalb habe ich hinterher vorm Spiegel geübt.«

»Du bist lustig«, sagt sie, und dann: »Hat sich jedenfalls gelohnt.«

Und da werde ich auf einmal ganz locker und träge, sehe hoch in den Himmel und hoffe, dass es nicht so bald aufhört zu regnen.

Als ich vor anderthalb Jahren nach Stockholm gezogen bin, war Sonntag und die Uni sollte am Dienstag beginnen. Ich bin direkt ins Wohnheim gegangen, mein neues Zuhause. Ein kleines Zimmer mit Gemeinschaftsküche, aber immerhin hatte ich ein eigenes Bad mit Toilette und Dusche, zum Glück, denn das hatten nicht alle Wohnheimzimmer.

Es gab ein Einzelbett, ein Kiefernholz-Bücherregal und einen Kiefernholz-Schreibtisch mit Drehstuhl, einen Sessel und einen Resopal-Couchtisch. Keine Ahnung, wer diese Möbel ausgesucht hatte, aber sie waren hässlich. Ich lud meinen Rucksack und meine beiden Koffer ab und schnüffelte. Es roch sauber, nach Bodenreiniger.

Durch zwei Fenster konnte man raus auf eine große Wiese mit einem Fußweg schauen, der wie eine Narbe quer darüber verlief. Auf dem grasbewachsenen Hügel standen noch weitere identische vierstöckige Wohnheime. All das konnte ich sehen, konnte auch die Wände berühren, und trotzdem fühlte es sich unwirklich an. Jahrelang hatte ich darauf hingefiebert und jetzt war ich hier. In Stockholm. Jetzt war alles möglich.

Ich trank Wasser direkt aus dem Hahn im Bad, dann fuhr ich mit dem Bus zum Armyshop und kaufte dort das billigste von allem. Bettwäsche, Putzmittel, Wasserkocher, Schüsseln und Gläser, Tütensuppen. Auf dem Weg von Skåne hier hoch hatte ich beschlossen, dass ich eine richtige Studentin sein und alles auskosten wollte. Ich war nie eine richtige Schülerin gewesen, deshalb wollte ich unter keinen Umständen das Unileben verpassen. Ich hatte Nachholbedarf! Meine Zeit war gekommen! So fühlte es sich an.

Ein paar typische Studi-Utensilien kannte ich schon aus Büchern und Filmen. Also kaufte ich mir im Armyshop Instantnudeln, die gelockten mit dem Würzbeutelchen, sechs fünfzig pro Stück. Außerdem kaufte ich Instantkaffee und eine billige Lesebrille für neunundfünfzig kronor, weil ich zwar keine brauchte, aber die Vorstellung, wie ich mit Brille und angezogenem Knie am Schreibtisch saß und mir Notizen machte, ziemlich cool fand.

Zurück im Wohnheim, zog ich pinke Gummihandschuhe über und putzte die Duschkabine. In der Kloschüssel war ein Fleck, also weichte ich ihn mit Bleiche ein und versuchte ihn erst mit einem Schwamm und später mit Stahlwolle wegzuschrubben, aber er ging nicht ab. Vom Schrubben geriet ich ins Schwitzen und stieg unter die Dusche, die sich nach der Putzaktion irgendwie dreckiger als vorher anfühlte statt umgekehrt.

Ich bezog das Bett mit der neuen Bettwäsche, stöpselte den Wasserkocher ein und machte mir Studi-Nudeln mit Pilzgeschmack und aß sie auf dem Bett. Die Nudeln waren so voll von Geschmacksverstärkern, dass ich das Gefühl hatte, sie ab jetzt jeden Abend essen zu können. Danach streamte ich Backshows, bis ich einschlief. Die Küche hatte ich immer noch nicht gesehen.

Die universitet fing am Dienstag an. Ich war den ganzen Tag zu nervös, um mit irgendwem zu reden. Ich trug ein schwarzes Longsleeve und Jeans, weil ich mir dachte, egal wo auf der Welt man ist, auf Jeans und schwarzes Shirt wird niemand eine Reaktion zeigen. Es kam mir so vor, als würden alle anderen schon jemanden kennen, auch wenn das höchst unwahrscheinlich war. Wahrscheinlicher war, dass sie nicht unter lähmender Schüchternheit litten und einfach Smalltalk betrieben. Aber mein einziges Ziel war, den ersten Tag hinter mich zu bringen, ohne etwas Verrücktes zu tun. Also war es wichtiger, still dazusitzen und völlig durchschnittlich in meinem Outfit zu wirken, als Kontakte zu knüpfen.

Irgendwann fingen zwei Mädchen hinter mir im Hörsaal an zu lachen und ich senkte beschämt den Blick. Ich bezog reflexhaft jedes Lachen auf mich, auch wenn mir rational klar war, dass es nichts mit mir zu tun hatte. Auf der Schule hatte ich mir angewöhnt, Gelächter zu ignorieren, aber seitdem zwang ich mich hinzuhören und wusste jetzt, dass es nur in den seltensten Fällen mit mir zu tun hatte, wenn jemand lachte, sei es auf der Straße, in Kursen oder im Bus. Ich versuchte mir diese Ichbezogenheit abzutrainieren.

Als ich nach diesem ersten Tag zurück ins Wohnheim kam, war ich erschöpft und roch nach saurem Schweiß. Ich hatte mit niemandem ein Wort gewechselt. Aber jetzt kannte ich den groben Lageplan, nach welchem System die Räume durchnummeriert waren und wo es kaffe und Toiletten gab, und wenn ich mich erst räumlich zurechtfand, gab mir das meist auch mehr Mut auf der zwischenmenschlichen Ebene.

Ich schaute aufs Handy. Meine Eltern hatten sich nicht gemeldet, seit ich Skåne verlassen hatte, aber an meinem ersten Abend in Stockholm hatte meine Oma angerufen und ich hatte ihr auf ironische Weise die hässlichen Möbel beschrieben, um ihr das typische Tsss zu entlocken. Danach hatte ich meinen Eltern geschrieben, die bloß antworteten: Gut, dass du angekommen bist! Auch jetzt rief ich sie nicht an, um ihnen von meinem ersten Unitag zu erzählen, sondern aß Müsli vorm Laptop, woraufhin mir schon um halb zehn die Lider schwer wurden.

Da ertönte ein Schrei.

Ich sprang aus dem Bett und blieb wie erstarrt mitten im Raum stehen.

Noch ein Schrei.

Meine Nervenenden kribbelten. Ich schluckte. Auf meinem Display stand 22:00.

Wieder ein Schrei, diesmal näher, fast nebenan. Mehr Schreie, von nah und fern. Langsam schlich ich ans Fenster und schaute nach draußen. Überall brannte Licht und Leute hingen aus den Fenstern und schrien sich die Seele aus dem Leib. Studis wie ich, die einfach laut schrien. Nach zwei Minuten war es schlagartig vorbei, aber so konnte ich nicht mehr schlafen. Ich lag wach und fragte mich, wieso die Leute so geschrien hatten.

Am nächsten Morgen tippte ich Stockholm Studierende aus dem Fenster schreien warum in die Suchmaschine ein und fand heraus, dass es an dieser Uni Tradition war, jeden Dienstag um zehn Uhr abends seine Angst rauszuschreien. Besorgt fragte ich mich, wie schlimm das Unileben sein musste, wenn man seine Angst rausschreien musste. Vorm darauffolgenden Dienstag kaufte ich mir Ohrstöpsel in der apotek.

Der Bass wummert mir gegen die Brust wie ein zweiter Herzschlag. Wir sind in einem Club, in dem nur Hip-Hop läuft, wozu ich am liebsten tanze. Hanna ist mit auf der Tanzfläche, beinahe genauso groß wie ich. Sie tanzt, und ich bin erstaunt, wie gut sie ist. Ihre Größe und die vielen Muskeln lassen sie massig wirken, vielleicht liegt es auch an ihrem schweren Gang oder den ungelenken Bewegungen, als wollte sie mehr Raum in der Welt einnehmen. Doch hier bewegt sie sich nicht ungelenk, sondern eher … fließend. Und mir gefällt, dass sie komplett bei der Sache ist. Manchmal schließt sie die Augen, wirft den Kopf in den Nacken und reckt den Hals. Großartig.

Die riesige Tanzfläche ist von einer Galerie gesäumt, auf der man reden und die Menschenmenge beobachten kann. Unter Alkoholeinfluss zu tanzen ist die einzige Gelegenheit, zu der meine Geräusch-Aversion wie ein Schalter umgelegt wird. Jetzt muss die Musik laut sein, durch mich hindurchpeitschen, in meinen Ohren dröhnen.

Ich bin vermutlich keine gute Tänzerin, aber bei Hanna ist mir das egal. Sie hat Spaß. Ein Schweißtropfen läuft mir vom Hals zwischen die Brüste, kribbelt auf der Haut wie ein Insekt. Hanna macht eine Zigarettengeste, ich nicke, also nimmt sie meine Hand und zieht mich Richtung Ausgang.

Mein Kopf wabert, weil wir seit Stunden trinken. Wir sind durch Södermalm spaziert, weil es ein sonniger Tag ohne Wind war, und als Hanna mich gefragt hat, ob wir in eine Kneipe in der Katarina Bangata wollen, habe ich hm gesagt. Ich wollte zwar etwas trinken, einen ganzen Abend in der Bar konnte ich mir aber nicht leisten. Keine Ahnung, ob Hanna bewusst ist, dass manche Menschen ein knapperes Budget haben, aber vielleicht verstand sie mein Dilemma, denn sie schlug vor: »Oder wir kaufen uns Bier und trinken es im Park?«

Im Systembolaget kaufte ich vier Bier und Hanna einen Sauvignon mit Schraubverschluss. Als wir Nytorget betraten, war die Sonne schon fast weg, aber es spielten immer noch Kinder im Park. Ein paar andere Erwachsene tranken kaffe oder Bier, zusammengerückt am Zaun, wo die Sonne noch hinkam, und wir setzten uns auf Hannas Schal neben ihnen auf den Boden. Sie nahm die Sonnenbrille ab, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ihr Gesicht war so blass, dass ich Sorge hatte, dass sie Sonnenbrand bekommt.

»Also, wieso studierst du Informatik?«, fragte Hanna und schraubte den Wein auf. Sie trank einen Schluck und reichte mir die Flasche. »Ich versuche die ganze Zeit, dich in irgendeine Schublade zu stecken, aber je besser ich dich kennenlerne, desto weniger passt du ins Tech-Klischee.«

Ich nippte vom Wein. »Ich bin halt gut darin. Fällt mir irgendwie leicht.« Ich sagte nicht, dass mir die Berechenbarkeit von Code lieber war als die Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens, aber auch das wäre zutreffend gewesen. »Und du?«, fragte ich.

»Geld.«

Ich biss mir auf die Lippe. »Echt? Geld?«

»Okay, Unabhängigkeit. Ein guter Job, damit ich nie wieder was mit der Bank meiner Mutter zu tun haben muss.«

Ich überlegte, dass ich mir mit dem Geld keine Unabhängigkeit, sondern eine Wohnung kaufen würde. Gute Klamotten, beruhigende Ersparnisse. Ich würde mir den Luxus erkaufen, endlich den widerlichen Geschmack von Geldnot loszuwerden. »Eigentlich mache ich es auch wegen des Geldes«, sagte ich und gestand es mir zum ersten Mal ein.

»Wusste ichs doch!« Sie streckte ihr Gesicht wieder der Sonne entgegen. »Das Programmieren interessiert dich einen Scheiß.«

»Klar interessiert mich das.«

»Quatsch.«

»Ich kann es halt gut.«

»Das ist nicht dasselbe. Was du hast, ist das Good-Girl-Syndrom, Perfektionismus. Du willst es allen recht machen.«

Ich blinzelte und sagte gar nichts, und sie erklärte, inzwischen werde von Frauen erwartet, dass sie in beidem gut sind, sowohl in traditionellen Männerdomänen wie Karriere und Geld als auch in weiblichen Kategorien wie Ästhetik und Umgänglichkeit.

»Und du meinst, das hab ich? Dieses Syndrom?«

»Du bist das Paradebeispiel. Du setzt keinerlei Prioritäten.« Ihr Lächeln war verschmitzt, aber nicht gemein.

Ich blinzelte.

Sie fragte: »Also willst du keinen Job, in dem du gutes Geld verdienst und gleichzeitig hübsch und stilbewusst sein?«

»Doch, schon. Ich hab das Gefühl, in beidem gut sein zu müssen.«

»Das ist, als ob von uns erwartet würde, dass wir gleichzeitig Expertinnen im Frausein und Mannsein sind.« Mit zurückgelegtem Kopf hatte sie eine Stupsnase. »Ich glaube ja, man sollte sich für eins entscheiden, sonst verzettelt man sich. Mein Ziel sind Geld und Erfolg.«

Ich fragte mich, ob sie sich mit ihrem offensichtlichen Mangel an Ästhetik und Umgänglichkeit bewusst aus dem Rennen nehmen, gegen jede Kritik immun machen wollte. Ob das Chaos in ihrer Wohnung und die ungewaschenen Haare ein deutlich sichtbarer Widerspruch sein sollten. Vielleicht hatte ich dieses Syndrom wirklich, denn manchmal machte mich ihre unordentliche Wohnung so kribbelig, dass ich am liebsten aufgeräumt hätte.

Ich versuchte, mir über meine Prioritäten klarzuwerden. Dachte an den Status, der mit Geld und Erfolg einhergeht, aber auch an den unüberwindbaren Drang, hübsch und kultiviert und beliebt zu sein. »Ich glaube, ich könnte auf nichts verzichten«, sagte ich und da lachte sie und sagte: »Du nimmst das alles zu ernst.«

Und ja, ich fragte mich, wann aus ernst zu ernst geworden war.

Mittlerweile war es dunkel und mein ganzer Körper steif, aber wir blieben im Park. Hanna schien lieber draußen als drinnen zu sein, selbst bei der Kälte. Ich hauchte mir in die Hände.

Sie sagte: »Überleg mal, wie viel Steuern wir zahlen müssen, sobald wir fette Tech-Jobs haben.«

Ich grinste. »Quatsch, das wird gut, wenn wir zur Abwechslung mal Geld geben statt nehmen können. Der Gedanke gefällt mir.« Ich stellte mir vor, dass mein Studium von irgendjemandes Steuergeldern ermöglicht wurde und ich irgendwann einem anderen jungen Menschen mit meinen Steuergeldern das Studium ermöglichte. Das erschien mir fair.

Da rief jemand laut Hanna, ein Mädchen löste sich aus einem Grüppchen und kam rüber. »Was macht ihr hier, seid ihr irre? Es sind höchstens fünf Grad draußen.«

Hanna stand auf und umarmte sie. »Sickan, das ist Lottie.«

»Hi«, sagte Lottie und küsste mich auf die Wange, einmal. Ich wollte sie mit Küsschen links und rechts begrüßen, orientierte mich aber an ihrem Beispiel. Bisher hatte ich nie darüber nachgedacht, dass Hanna noch andere Freundinnen haben könnte.

Lottie hatte einen kurzen Afro und war komplett schwarz gekleidet, die Stupsnase und Sommersprossen nahmen dem Outfit die Schwere. »Wir holen uns Falafel, danach gehen wir dancen.« Sie wippte mit den Schultern und kniff Hanna in den Arm. »Na los.«

Hanna wirkte genervt, es hatte etwas von Kleine-Schwester-Dynamik. Sie drehte sich zu mir um und zog die Augenbrauen hoch.

»Also, ich will Falafel«, sagte ich.

So gingen wir alle zusammen tanzen und ich musste nicht allein in mein Wohnheim.

Seit den Tortellini auf dem Balkon hänge ich öfter mit Hanna rum. Nicht in der Uni, denn da sitze ich immer hinten und sie ganz vorne. Aber nach der Vorlesung fällt ihr immer ein Grund ein, mich anzusprechen. Manchmal kommt sie mit in die Bücherei, manchmal nimmt sie mich aber auch mit in irgendein Café.

Zum ersten Mal betrunken erlebte ich sie in einem Fake-Irish-Pub am Odenplan, und da stellte ich auch fest, dass sie die allerbeste Lache hatte. Ich wusste, dass sie witzig war, weil sie ständig trockene Kommentare abgab. Aber wenn sie Alkohol trank, spielten ihre Gesichtszüge verrückt und man konnte sehen, wie ihr ganzer Brustkorb bebte. Ich hätte mich auch gern getraut, so laut herauszulachen. Jedenfalls versuche ich seitdem andauernd, ihren Brustkorb wieder zum Beben zu bringen.

Als ich mich nach der Vorlesung zum ersten Mal dabei erwischte, wie ich nach ihr Ausschau hielt und mir wünschte, sie würde mich fragen, ob wir noch was zusammen unternehmen wollen, war ich überrascht. Ich hatte den Verdacht, dass die anderen Hanna so sahen wie meine Klassenkamerad·innen in Skåne mich gesehen hatten, weshalb ich eigentlich nichts mit ihr zu tun haben wollte, gleichzeitig aber Mitgefühl hatte. Vielleicht interessierte sie mich auch als Studienobjekt, weil ich bis heute nicht wusste, wie so etwas zustande kam. Oder ich genoss einfach ihre Gesellschaft. Keine Ahnung, was es war, jedenfalls konnte ich bald an kaum noch etwas anderes denken als an Hanna. Ein bisschen wie bei einer Sonnenfinsternis.

Sie füllt uns zwei Gläser Wasser ein und wir trinken sie in einem Zug leer. Wir sind in der Küche in der Artillerigatan und die Fliesen fühlen sich kalt unter meinen heißen, pochenden Füßen an. Es ist still hier, bis auf die Geister-Clubmusik in meinen Ohren. Das einzige Licht kommt von den Straßenlaternen, orange und großstädtisch.

Wir haben bis zum Morgengrauen mit Lottie und den anderen getanzt, danach sind Hanna und ich nach Hause gelaufen. Ich will gar nicht wissen, wie viel Geld ich für Drinks ausgegeben habe, aber noch weniger will ich wissen, wie viele Drinks Hanna mir ausgegeben hat. Ich werde mich einen Monat lang nur von Reis und Linsen ernähren.

Als wir unsere Jacken und Taschen an der Garderobe abholten, sagte sie, dass ich bei ihr schlafen könne, weil es im Nachtbus zum Wohnheim kalt und langweilig sein würde.

»Nee, geht nicht, ich muss morgen früh lernen.«

»Hast du den Laptop nicht dabei?«

Mein Laptop war in meiner Tasche. Und da kam ich mir auf einmal leichtsinnig vor, weil ich ihn die ganze Nacht in der Garderobe gelassen hatte. Hanna meinte, wir könnten zusammen frühstücken und danach lernen, das würde eh mehr Spaß machen. Das sah ich anders, weil ich mich nicht konzentrieren konnte, wenn jemand anders im Raum war, aber was den kalten, langweiligen Nachtbus anging, hatte sie recht.

Jetzt putzt sie sich gerade im Badezimmer die Zähne und ich ziehe das Schlafshirt an, das sie mir rausgelegt hat. Ich krieche ins Doppelbett, linke Seite, und das Bettzeug ist kalt und steif an meinen Beinen. Als sie wiederkommt, sind ihre Haare ums Gesicht herum nass und auf der Haut glänzt Feuchtigkeitscreme. Sie hat ein Blister mit Tabletten in der Hand. Nachdem sie sich im Schneidersitz aufs Bett gesetzt hat, fragt sie mich, ob ich müde sei und schlafen wolle. Bin ich, ich bin sehr müde und sage: »Ja, glaub schon.«

Sie wedelt mit dem Blister. »Okay, weil das Schlaftabletten sind, und sobald ich eine nehme, muss ich innerhalb einer halben Stunde einschlafen.«

»Weil sonst was passiert?«

»Weil ich sonst wach bleibe, aber so, als würde ich träumen. Als wäre ich in so einem Traumzustand gefangen.« Sie sieht mich ernst an. »Supergruselig.«

»Kann ich mir vorstellen«, sage ich, obwohl ich es nicht kann.

»Also, soll ich jetzt eine nehmen? Sind wir fertig mit Reden?«

»Ja. Okay. Gute Nacht.« Ich stopfe die Decke um meine Beine fest. Sie schluckt die Tablette mit etwas Wasser vom Nachttisch und schlüpft unter die Decke.

Wir schweigen eine Weile und irgendwie ist es ein bisschen unangenehm. Ich bin es nicht gewohnt, mit einer anderen Person im gleichen Zimmer zu schlafen, und frage mich, ob man so leise sein muss, als wäre die andere gar nicht da? Ich lausche ihrem Atem.

Vielleicht ist die Stille ihr auch zu viel, denn auf einmal sagt sie: »Ich bin froh, dass wir Freundinnen sind.« Sie dreht sich zu mir und stützt sich mit dem Ellbogen auf.

»Ja, ich auch.«

Sie sieht mich an, das Gesicht von der orangen Straßenlaterne beleuchtet. Ich frage: »Ist es dir wirklich egal, ob du beliebt bist und die anderen dich mögen?«

Sie atmet aus. »Keine Ahnung, meistens schon.« Sie legt sich wieder auf den Rücken. »Manchmal aber auch nicht.« Ihre Stimme klingt ein bisschen zittrig, sie wirkt aufgebracht. Das Bett knarzt unter uns, als sie sich anders hinlegt. »Manchmal schiebe ich bei Freundinnen plötzlich Paranoia, dass sie mich gar nicht mögen, und rede mir ein, dass sie irgendwelche Hintergedanken haben, was natürlich Quatsch ist, aber ich rede es mir so lange ein, bis ich traurig bin oder sauer. Und wer weiß, vielleicht hab ich ja recht.« Sie räuspert sich. »Vielleicht bin ich einfach schwer zu mögen? Das geht sogar meiner Mutter so, aber egal, ich mag sie auch nicht. Keine Ahnung, ist wahrscheinlich normal, dass man seine Mutter nicht mag, aber dass sie einen auch hasst, ist nicht normal, oder?«

Ich sage nichts dazu. Übelkeit ist im Anmarsch, ein ekelhafter Geschmack auf der Zunge. Die Stimmung ist so schnell gekippt, dass ich nicht hinterherkomme. Wir waren tanzen und hatten Spaß und jetzt sind wir auf einmal bei superdüsteren Themen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich frage mich, ob das, was sie mir erzählt hat, ein Tabu ist. Wir berühren einander nicht, aber es fühlt sich so an. Ihre Ängste sind ansteckend, kriechen zu mir rüber. Ich würde am liebsten die Hände ausschütteln, weil ich mich so komisch fühle.

Nach einer Weile sagt sie: »Ich glaube, wir haben zu lange geredet.«

»Oh nein, die Tablette?«

»Ja, ich bin über den Punkt drüber.«

»Sicher?«

»Na ja«, sagt sie. »An der Zimmerdecke kleben Makkaroni, also ja, ziemlich sicher.«

»Mann, Hanna, du machst mir Angst«, sage ich. »Soll ich den Krankenwagen rufen?«

»Was? Nein! Gib mir einfach das Buch.« Sie zeigt auf den Nachttisch auf meiner Seite. Darauf liegt eine zerfledderte Ausgabe von Fullmetal Alchemist. Ich gebe sie ihr, sie macht die Taschenlampe ihres Handys an, legt es neben sich aufs Bett und kehrt mir den Rücken zu. »Gute Nacht«, sagt sie und von da an höre ich nur noch das Seitenrascheln beim Umblättern.

Ich starre an die Decke, sehe aber keine Makkaroni. Mein Puls ist laut und ich befürchte, dass sie ihn durch die Matratze spürt. Auf einmal bin ich entsetzt, weil ich mir Hanna als Freundin ausgesucht habe, völlig sorglos. Es ist doch offensichtlich, dass diese Freundschaft etwas für Fortgeschrittene ist und ich von ihr keine Basics lernen kann. Wenn ich es schaffe, bis morgen früh ganz still hier zu liegen, muss ich keine Zeit mehr mit ihr verbringen, verspreche ich mir. Schlafen erscheint mir unmöglich, aber irgendwie muss es doch möglich sein, denn ich wache davon auf, dass Hanna mich am Arm rüttelt. »Sickan. Aufwachen.«

Im Zimmer ist es jetzt hell und ich bin verwirrt. Hanna sieht zerstört aus, als hätte sie jemand durchgeschüttelt. »Dein Handy vibriert«, sagt sie, obwohl es ganz still ist. »Da hat jemand schon zweimal angerufen, ich dachte, das wär vielleicht wichtig.«

»Echt?«, frage ich und greife nach meinem Handy. Und es stimmt, zwei verpasste Anrufe. Von Papa.

Ohne Hanna anzusehen, schleiche ich aus dem Schlafzimmer, schließe die Tür hinter mir und gehe auf den Balkon. Draußen ist es eisig, das weckt mich auf. Papa geht beim ersten Klingeln dran.

»Hallo? Siv?«

»Ja, ich bins. Hi.«

»Hab ich dich geweckt? Tut mir leid.«

»Was ist denn los, Papa?«

»Oma. Sie ist gestorben.«

Vielleicht liegt es an der kalten Luft, aber ich spüre nichts.

Gar nichts. Ich bin ganz leer.

Stattdessen ist da nur Pragmatismus, und ein Gedanke: Ich kann nicht mehr.

Die Außenuhr an der Tankstelle in Södertälje zeigt 05:30. Ich bin mit dem Bus vom Wohnheim hierhergefahren und hellwach, die Morgenkälte lässt mich von einem Fuß auf den anderen wippen. Ich scanne jedes Auto beim Tanken ab und halte bei geeigneten Kandidaten den Daumen raus, bevor sie wieder auf die Autobahn Richtung Süden auffahren.

Beim Trampen habe ich eine goldene Regel: nur in Autos steigen, in denen eine erwachsene Frau sitzt. Bei Männern steige ich grundsätzlich nicht ein, weder Singular noch Plural. Leider halten Autos mit Männern darin, egal ob Singular oder Plural, am häufigsten und bereitwilligsten an, um mich mitzunehmen.

Der Tau kriecht in meine Stoffschuhe, hinterlässt dunkle Ränder. Es ist erst April, das Gras noch nicht wieder grün, aber es wagen sich schon ein paar todesmutige Blumen heraus, weiß, manchmal gelb. Ich trage weite Klamotten und habe mich geschminkt, weil ich nicht zu jung wirken will. Ich stehe an der Auffahrt, meine Tasche neben mir auf dem Boden. Die Strecke eignet sich gut zum Trampen. Entweder die E4 über Land runter nach Helsingborg oder die E22 an der Ostküste Richtung Kalmar und Kristianstad. Wenn man früh genug aufsteht, erwischt man die Langstreckenfahrerinnen. Sobald eine der größeren Städte erreicht ist, muss man sein Glück auf der Landstraße versuchen oder ein Busticket nach Åhus kaufen, meine Skånska Heimatstadt.

Eine Frau mittleren Alters mit Hijab schließt die Tankklappe und steigt in ihren grauen Ford. Sie lässt sich von meinem Daumen anhalten und ich habe Glück, dass sie bis nach Kalmar fährt. Sie trägt Bootcut-Jeans und Blazer und ihr Auto riecht sauber. Die Beerdigung ist übermorgen. Ich schaue aufs Handy, keine Mitteilungen. Ich schalte es aus und stecke es in die Tasche.

Beim Umzug nach Stockholm bin ich auch getrampt. Meine Eltern meinten, ich solle mit dem Zug fahren, und boten mir sogar an, das Ticket zu bezahlen. Ich schaute nach, wie viel ein Ticket nach Stockholm kosten würde, und beschloss, dass ich diese Summe lieber auf meinem Konto hätte. Mama überwies mir das Geld und obwohl ich sie nicht zum ersten Mal anlog, war es kein schönes Gefühl.

Sie fuhren mich zum Bahnhof und begleiteten mich ans Gleis. Ende August, hohe Wolkenschleier. Der Wind trieb Mama Tränen in die Augen.

»Ihr müsst nicht warten«, sagte ich. »Der Zug kommt bestimmt gleich.«

»Klar warten wir, Siv«, sagte Papa. »Wir winken dir noch.« Er trug eine Mütze, die er festhielt, sobald ein Windstoß sie ihm vom Kopf reißen wollte.

»Ihr könnt wirklich schon gehen. Ich komme alleine klar.« Ich fühlte mich so gestresst, dass ich Mama bei den Schultern nahm und sie umarmte. Ihre Wange war windtränenfeucht. Ich verwechselte sie nicht mit echten Tränen, weil ich wusste, dass sie vom Wind immer weinen musste.

»Okay, wenn dir das lieber ist?«, sagte Papa.

»Ja, kurz und schmerzlos.«

Papa und ich umarmten einander steif, dann verabschiedeten sie sich mit aufmunternden Worten von wegen Hauptstadt erobern. Als der Zug einfuhr, stand ich längst draußen auf dem Parkplatz und hielt Ausschau nach einer Frau, die Richtung Norden fuhr.

Es war mein erstes Mal Trampen und direkt ein Riesenerfolg. Zwar dauerte es ewig, nach Stockholm zu kommen, aber die Aussicht war herrlich und das Ganze so aufregend, dass es für meinen Geschmack bis in alle Ewigkeit hätte dauern können. Manche Fahrerinnen hörten laute Rockmusik und manche erzählten bizarre Geschichten, eine züchtete teure Katzen und es war einfach alles so wild und neu für mich. Außerdem war mein Bankkonto um sechshundert kronor reicher. Ich dachte, wenn ich in Stockholm ein völlig neuer Mensch werden wollte, bräuchte ich etwas, das die Metamorphose greifbar machen würde, und in diesem Moment erschien mir nichts symbolträchtiger als ein neuer Name. An diesem Tag wurde ich Sickan Hermansson und ließ Siv irgendwo bei Vaggeryd auf der E4 zurück.

Es ist gerade mal siebzehn Uhr, als ich die Einfahrt meiner Eltern betrete. Das Christenpärchen, das mich das letzte Stück von Kalmar mitgenommen hat, wollte mich unbedingt bis vor die Haustür fahren. Aber ich hatte sie gebeten, mich eine Straße weiter abzusetzen, und winkte ihnen, als sie weiterfuhren. Ihr breiter Skånska