Besuch bei drei Damen oder die seltsame Reise des Dr. Mondmann - Rüdiger Schneider - E-Book

Besuch bei drei Damen oder die seltsame Reise des Dr. Mondmann E-Book

Rüdiger Schneider

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Beschreibung

Kann man eine alte, verlorene Liebe wieder auffrischen? Zum Beispiel zu einer erheblich jüngeren Dame, mit der man in Gibraltar einen Affen geklaut hat? Dr. Mondmanns Reisetagebuch hilft einem Klienten, der vor einer ähnlichen Frage steht, bei einer wichtigen Entscheidung. - Nach 'Crazy Crissy' und 'Crazy Doc' der dritte Mondmann-Roman

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Die Namen der handelnden Personen in diesem Roman wie auch die Ereignisse sind erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Insbesondere möchte ich aus strafrechtlichen Gründen betonen, dass der Affenklau von Gibraltar nie stattgefunden hat.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

1

Darf man eine alte, ja eigentlich zerrüttete Liebe wieder auffrischen, einen neuen Versuch wagen? Der Vorteil: Man kennt sich. In guten wie in schlechten Zeiten. Ebenso müsste man auch nicht mehr die Basisinformationen austauschen. Den Namen, das Alter, den Beruf, den Verdienst, der ja bei aller Romantik nicht unwichtig ist. Man spart sich das Abtasten des Umfelds, hat sich nicht wieder neue Namen zu merken von Hund, Katze, Enkeln und Kindern. Hobbies, Reiseziele, Lieblingsspeisen sind bekannt. Der ganze Fragenkatalog eines ersten Kennenlernens entfällt. Vertraut ist man auch mit gewissen Eigentümlichkeiten. Sie konnte es zum Beispiel nicht leiden, wenn ich morgens lange schlief, mich nicht rasierte und mich beim Frühstück wie ein Zisterziensermönch verhielt, dem das gemurmelte „Guten Morgen!“ schon wie eine lange Predigt erschien, während sie sich mit einem Redeschwall auf mich stürzte.

Zehn Jahre waren seit meiner Flucht von Irmgard vergangen, die Warnsignale verblasst. In der Erinnerung überwog das Schöne und ich brauchte dazu noch nicht einmal ein Fläschchen Wein, um das so zu sehen. Ich hätte mich einfach so am Telefon melden können. „Hallo, hier ist der Max. Wie geht es dir?“ So ganz sicher war ich mir nicht. Nach zehn Jahren hätte sie auch fragen können: „Welcher Max?“ Dann hätte ich gesagt:

„Der Maximilian Winter. Ich war fünf Jahre dein Untermieter.“

„Warum rufst du an?“

Ehrlicherweise hätte ich sagen müssen: „Ich bin jetzt verrentet und auf dem Weg in die Einsamkeit. Niemand braucht mich mehr. Aber an dich erinnere ich mich noch. Ich weiß nicht, ob wir es noch einmal versuchen sollten. Deshalb rufe ich an. So schlecht war die Zeit doch nicht.“

Konnte ich einen solchen Versuch wagen? Oder sollte ich mir sogar eine Flasche Sekt unter den Arm klemmen, die gut dreißig Kilometer von Brohl, wo ich seit der Trennung von Irmgard wohnte, nach Bonn fahren und in der Abenddämmerung bei ihr klingeln? Was, wenn sie nicht allein war? Eine dumme Situation, wenn ich plötzlich einem Nachfolger gegenüberstand und ihn fragte: „Ist die Irmi noch frei? Nein? Entschuldigung! Wollte nicht stören. Auf Wiedersehen.“

Natürlich war auch Angst dabei. So locker würde ich kaum reagieren, wenn ich bei ihr klingelte und ein Mann öffnete mir. Womöglich ein junger Adonis, den sie sich von einer ihrer Reisen mitgebracht hatte. Damit musste man ja heutzutage rechnen. Sie hatte immer schon von Marokko geschwärmt. Irmgard war zwar so alt wie ich, 66, würde aber immer noch ziemlich passabel aussehen. Schlank, hochgewachsen, rothaarig. Dass da womöglich ein paar Falten hinzugekommen waren, würde einen jungen Marokkaner nicht stören. Irmgard hatte als Filialleiterin einer Bonner Bank gut verdient, verfügte jetzt neben einer satten Rente noch über ein paar Depots, die sie sich beizeiten angelegt hatte.

Es konnte aber auch anders laufen. Vielleicht war sie freudig erregt, angenehm überrascht, umarmte mich. „Ach, Max, du! Wie schön! Was für eine Überraschung!“

Würde es so laufen, hätten wir uns zunächst viel zu erzählen. Zehn Jahre Pause sind keine Kleinigkeit.

„Arbeitest du noch bei der Bahn?“ würde sie mich fragen.

„Nein. Seit einem Jahr bin ich kein Zugbegleiter mehr. Bin in Rente. Gott sei Dank. Die Strecke von Bonn nach Basel hing mir zum Hals heraus. Vierzig Jahre lang. Nur dreimal unterbrochen von einer Tour nach Mailand oder Sylt. Ich habe seit einem Jahr viel Zeit.“

„Und die willst du jetzt mit mir verbringen?“

„Gerne. Natürlich nur, wenn du möchtest.“

„Und deine Flucht damals? Warum?“

„Weiß ich nicht mehr. War wohl ein Fehler.“

Das Nichtwissen wäre natürlich gelogen. Aber wie gesagt: Das Unangenehme verblasst, das Schöne verhält sich wie ein Diamant widerstandsfähig gegenüber der Zeit.

Statt einer Umarmung konnte es allerdings auch eine skeptische Musterung geben. Sie würde mit kritischem Blick mein Bäuchlein betrachten und sagen: „Vor zehn Jahren warst du noch schlanker. Aber immerhin bist du nicht geschrumpft.“ Sie konnte zynisch sein. Doch sie hätte recht. Statt im Fitness-Studio zu schwitzen, hockte ich mich lieber an die Theke. Zwischen Bonn und Basel durch den Zug zu laufen war mir als sportlich ausreichend erschienen. Ein Freund von Wanderungen und Spaziergängen war ich auch nicht gewesen, während Irmgard es liebte, lange Strecken den Rhein entlang zu gehen. Einmal hatte sie mich von Bonn nach Mehlem mitgeschleppt und auch zurück, wonach ich mich bei der Bundesbahn für drei Tage krankmeldete, weil ich keinen Schritt mehr laufen konnte. Auch war ich eher missmutig ihren kulturellen Bedürfnissen gefolgt. Wir besuchten regelmäßig das Bonner Frauenmuseum, wobei uns keine neue Ausstellung von Künstlerinnen entging. Auf der weiß gestrichenen Fassade des Kunsttempels sprang einem in riesigen Lettern FRAUEN♀MUSEUM entgegen, die Wortteile getrennt durch das Gendersymbol, einen Kreis mit Kreuz nach unten, das in der Astrologie dem Planeten Venus entspricht, während man das männliche Zeichen mit Pfeil nach oben nicht zu Unrecht dem Planeten Mars zugeordnet hatte. Ich stimmte Irmgard zu, dass die patriarchalische Welt zu zertrümmern war, stiftete sie doch nur Krieg und Krisen. Aber dass damit auch der häusliche Friede den Bach hinunter gehen sollte, leuchtete mir nicht ein. Der Kriegspfad sollte doch bitte vor der eigenen Haustür enden. Sich schon beim Frühstück mit Frauenrechten auseinanderzusetzen, störte meine Behaglichkeit. Damit war auch der Grund für meine Flucht gegeben. Ich wollte meine Ruhe haben. Die ewigen Auseinandersetzungen zermürbten mich. Statt sie zu den Kunstausstellungen im Museum und den Themenabenden im Bonner Frauenzentrum zu begleiten, begann ich mich für die Klöster der Umgebung zu interessieren und beneidete die Mönche um ihre stillen Zellen. Aber auch das war kein Leben für mich. Nach der Flucht suchte ich Internetbekanntschaften, scheiterte regelmäßig, brach mir einmal sogar den Fuß bei einem ungeschickten Sprung aus dem Wohnzimmerfenster einer Dame, die mich zum Abendessen eingeladen hatte.

Jetzt war ich ein Jahr in Rente, hockte in einer bescheidenen Wohnung, vereinsamte, eine neue Beziehung wollte nicht gelingen. Hörte ich den Satz „Ich möchte mit dir alt werden!“ wurde mir gruselig zumute. Gerne hätte ich geantwortet: „Bleib lieber mit mir jung!“ Aber das, weil ich in die Jahre gekommen war, war ziemlich unrealistisch. Um morgens oder auch mittags aus dem Bett zu kommen, brauchte ich immer länger. Ich vergaß und verwechselte Namen, verlegte Gegenstände, die ich nicht mehr wiederfand, die Sehschärfe ließ zu wünschen übrig, wegen beginnender Schwerhörigkeit musste ich den Fernseher immer lauter stellen, das frische Blond meiner Haare war einem hellen Grau gewichen, die Hand zitterte beim Löffeln von Suppe, was mir besonders peinlich war, wenn ich – selten kam es vor – zu einem Essen eingeladen war. Traurig blickte ich auf meinen leeren Teller, sah anderen beim Genuss einer Garnelensuppe mit Sahnehäubchen zu. Um nicht unangenehm aufzufallen und die Tischdecke zu beschmutzen, hatte ich mich entschuldigt, behauptet, allergisch gegen Garnelen zu sein. Was überhaupt nicht stimmte. Erst wenn es mit Messer und Gabel an die Mahlzeit ging, war ich treffsicherer und aß mit.

Ich steckte in einem Dilemma. Die Zweisamkeit wollte nicht gelingen, das Alleinsein quälte mich, verursachte schlaflose Nächte. So kam ich auf die Idee, die Beziehung mit Irmgard wieder aufzufrischen, einen Versuch zu wagen. Die Bremer Stadtmusikanten fielen mir ein: „Was Besseres als den Tod finden wir allemale.“ Was sollte schon passieren? Sie konnte sagen: „Nein danke, du spinnst! So was wie dich finde ich an jeder Ecke.“ Womit sie wie immer recht hätte. Ich wäre für einen Moment gewiss traurig, enttäuscht, fiele aber nur in den Zustand zurück, in dem ich mich auch vorher schon befand. Es war nichts zu verlieren. Trotzdem zögerte ich, hatte Bedenken und entschied mich schließlich, mir Rat bei einem Fachmann zu holen. Im Internet studierte ich die Adressen und Websites von Lebensberatern und stieß schließlich auf die Seite ‚Schöner leben mit Dr. Mondmann‘.

2

Der Name Dr. Mondmann kam mir bekannt vor. Den hatte ich schon einmal gehört oder gelesen. Eine Zeitlang überlegte ich, durchforschte mein schon etwas schwächer gewordenes Gedächtnis. Aber dann erinnerte ich mich. Ja, richtig, ich hatte noch während meiner Zeit mit Irmgard etwas über ihn in der Zeitung gelesen, im Lokalteil des ‚Bonner Generalanzeiger‘, den Irmgard täglich bezog. Ich erinnerte mich, weil es wegen des Artikels einen heftigen Streit mit ihr gegeben hatte. Mondmann führte als Anstaltsleiter eine Männerpsychiatrie auf dem Bonner Venusberg. Es schien da sehr idyllisch zuzugehen. Die Männer konnten nach Herzenslust spielen. Skat, Pokern, Schach, Poolbillard, Sport treiben wie etwa Tennis oder Fußball, musizieren, malen, ohne Zeitlimit ferngucken, an Trommel- und Kochkursen teilnehmen, einmal die Woche einen therapeutischen Vortrag von Dr. Mondmann hören und jedem war täglich eine persönliche Sprechstunde eingeräumt. Die Gäste, wie Mondmann seine Patienten nannte, hatten auch Ausgang, nahmen den aber nicht in Anspruch, weil sie in der Welt draußen das wahre Irrenhaus vermuteten. Womit sie, wie ich Irmgard gegenüber zu verstehen gab, meiner Meinung nach gar nicht so Unrecht hatten. Die Anstalt beziehungsweise das Heim war eine frauenlose Oase. Nur Mondmann genehmigte sich wegen der Verwaltungsarbeit eine Sekretärin. Heftig diskutiert wurde in der wissenschaftlichen Welt das Mondmannsche Gesetz. Mondmann hatte den volkstümlichen Spruch „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau.“ um eine gewisse Variante erweitert. Schließlich gab es nicht nur erfolgreiche Männer, sondern auch gescheiterte. Und für die galt laut Mondmann: „Hinter jedem gescheiterten Mann steckt eine Verrückte!“ Das war das Mondmannsche Gesetz.

Irmgard, als sie mir beim Frühstück den Artikel vorlas, hatte den Kopf geschüttelt und dann laut gerufen: „So ein Blödsinn!“ Und danach hinzugefügt: „Ihr seid doch selber schuld, wenn ihr im Leben scheitert oder an einer Beziehung zerbrecht. Könnt ihr doch nicht den Frauen in die Schuhe schieben. Da oben auf dem Venusberg, in diesem sogenannten Heim, leben Schwachsinnige, die die Steinzeit noch nicht hinter sich haben.“

„Scheint aber schön dort zu sein“, hatte ich zaghaft eingewandt. „Die dürfen alle spielen, ohne dass ihnen jemand dazwischen quatscht.“

Ein vernichtender Blick traf mich. „Lass die Anspielung, Max! Meinetwegen kannst du auch spielen. Aber du hast ja nichts. Kommst du von einer Tour zurück, liegst du nur maulfaul auf dem Sofa und zappst dich durch die Fernsehkanäle. Und wenn du die Beschäftigung mit deiner Märklinbahn Spielen nennst, bist du fünfzig Jahre zu spät dran. Es ist einfach albern, wie du auf dem Boden hockst, ein Schaffnermützchen aufhast und die Trillerpfeife betätigst. Ich schäme mich jedes Mal, wenn eine Freundin zu Besuch kommt und dich so sieht. Und damit du Bescheid weißt: Erwische ich dich noch einmal mit dieser blöden Bahn, dann ist mein Bett für dich tabu.“

Ich hatte schüchtern gemault, Protest eingelegt, war eine Woche lang bockig, spielte weiter mit der Bahn, bis ich mir schließlich überlegte, was schöner war. Märklin oder Irmgard. Da hatte ich die Anlage für drei Nächte abgebaut und in den Keller gebracht.

Ich erinnerte mich auch noch an eine zweite Meldung im ‚General-Anzeiger‘. Die kam etwas später. Das war kurz vor meinem Umzug nach Brohl. Das vergnügliche Männerheim auf dem Venusberg war abgebrannt. Bei den ersten Ermittlungen vermutete man einen feministischen Anschlag. Wie es wirklich war, weiß ich nicht. Ich habe die Angelegenheit nicht weiter verfolgt. Den ‚General-Anzeiger‘ hatte ich bei Irmgard gelesen. In Brohl steckte ich meine Nase nur in die Lokalblättchen, die einem kostenlos in den Briefkasten geschoben wurden. Auf jeden Fall gab es diesen Mondmann noch. Er hatte jetzt, wie ich auf seiner Website lesen konnte, eine Praxis in der Bonner Südstadt. Ich rief dort an, hörte eine freundliche weibliche Stimme: „Praxis schöner leben, Dr. Mondmann. Was kann ich für Sie tun?“

Ich bekam einen Termin gleich für den nächsten Tag.

3

Mit nur einer Beratungsstunde, so überlegte ich mir, käme ich gewiss hin. Das würde ich für eine solche Weichenstellung im Leben aus eigener Tasche bezahlen. Die DEVK, die Deutsche Eisenbahn Versicherungskasse, würde die Kosten wohl kaum übernehmen. Was sollte ich da als Grund angeben? Psychologische Entscheidungshilfe hinsichtlich der Wiederaufnahme einer vergangenen Beziehung? Die würden mir den Vogel zeigen. Seien Sie bitte ernsthaft krank! So etwas bezahlen wir nicht.

Dafür kostete die Fahrt nach Bonn nichts. Als Eisenbahner im Ruhestand hatte ich ein großzügiges Kontingent von 16 Freifahrten im Jahr. So fuhr ich also an einem sonnigen Tag im Mai von Brohl nach Bonn, ging vom Hauptbahnhof zu Fuß in die Südstadt, war angenehm überrascht von der gemütlich eingerichteten Praxis in einem stilvoll renovierten Altbau, der den Charme der Gründerzeit ausstrahlte. Solche Häuser haben etwas Anheimelndes, Nostalgisches, ja sogar Erhabenes. Im Zeitalter der kühlen Glasfassaden fühle ich mich wohl bei ihrem Anblick.

An der Rezeption wurde ich empfangen von der Dame, mit der ich telefonisch den Termin vereinbart hatte. Ich nannte meinen Namen, antwortete, als ich nach meiner Kasse gefragt wurde: „DEVK. Ich brauche aber nur eine Entscheidungshilfe. Das übernehmen die nicht. Ich bezahle bar aus meiner eigenen Tasche.“

„Brauchen Sie nicht“, entgegnete die Dame mit freundlichem Lächeln. „Der Doktor findet schon was.“

Ich musste nicht warten, konnte direkt durchgehen in einen Raum, der wie ein behagliches Wohn- oder Arbeitszimmer wirkte. Die Decken, wie in den Bürgerhäusern üblich, waren hoch und mit Stuckrosetten verziert. Pflanzen umrahmten ein großzügiges Fenster, Gemälde hingen an den Wänden. Ich erkannte einen Hundertwasser und einen Chagall. Es gab eine Sitzecke mit Couchtisch und Ledersesseln. Eine Wand war einem Regal vorbehalten, in dem sich Bücher reihten. In Nähe des Fensters stand ein wuchtiger, antiker Schreibtisch. Daran saß Mondmann, der sich jetzt bei meinem Eintritt erhob, mir mit einem Lächeln entgegenkam und die Hand schüttelte. Der Doc war groß. Ich schätzte ihn auf mindestens 1 Meter 90. Mit seinen runden Backen bekam sein Gesicht etwas freundlich Einladendes wie bei einem chinesischen Buddha. Hinter runden Brillengläsern, etwas verschmitzt wirkend, lächelten blaue Augen. Bei dem weißen Haarkranz, der den Kopf umrahmte, standen einzelne Büschel zur Seite und erinnerten an den Anblick einer Schleiereule. Ich schätzte den Doktor auf vielleicht 65 Jahre.

Er zeigte auf die Sitzecke. „Setzen wir uns dorthin und dann erzählen Sie, wo der Schuh drückt. Möchten Sie dabei einen Tee oder einen Kaffee oder ein Wasser?“

„Kaffee. Gerne“, antwortete ich.

„Hildegard“, rief Mondmann durch die noch offene Tür, „sei doch bitte so lieb und versorge uns mit zwei Tassen Kaffee!“

„Wenn Sie rauchen möchten“, wandte er sich wieder mir zu, „hier dürfen Sie. Ich bin kein Fanatiker des gesunden Lebens. Die Hauptsache, die Seele hat ihren Frieden. Und wenn Sie zu dem Kaffee auch einen Cognac möchten, auch das ist erlaubt.“

Er zwinkerte mir zu. „Der ist allerdings in meinem Schreibtisch. Hildegard muss nicht alles wissen.“

„Au!“ dachte ich. „Das ist zwar schön, der Service kann aber teuer werden.“ Noch kannte ich nicht das Beratungshonorar und wollte einer unangenehmen Überraschung vorbeugen.

„Ich muss Ihre Beratung privat bezahlen. Es ist nur eine Entscheidungshilfe. Meine Kasse übernimmt das nicht. Wie viel wird es sein?“

„Ach, was!“ winkte Mondmann ab. „Natürlich übernimmt das Ihre Kasse. Es kommt nur auf einen triftigen Grund an. Da Sie, wie Sie sagen, vor einer Entscheidung stehen, welche auch immer es ist, werden Sie doch gewiss grübeln und weniger gut schlafen als sonst. Stimmt’s?“

„Ja“, sagte ich. „Stimmt schon.“

„Sehen Sie, Sie leiden also an Insomnia mit traumatischer Genese. Das ist ein klinisch relevantes Symptom. Das muss behoben werden.“

„Insommnia?“

„Schlaflosigkeit.“

„Aber das ist doch nur wegen einer Frau“, wandte ich ein.

„‘Nur‘ sagen Sie! Sie verkennen den Ernst der Lage. Das ist für uns Männer der wichtigste und häufigste Grund. Ich habe da so meine Erfahrungen. In der Kindheit ist es die Mutter. Später die Freundin oder Ehefrau. Damit ist nicht zu spaßen. Das kann sogar auf dem Friedhof enden. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie viele Männer schon von einer Frau ruiniert worden sind oder sich wegen einer Frau ruiniert haben?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“

„Sollten Sie aber. Wie alt sind Sie jetzt?“

„66.“

„Sehen Sie, Sie wünschen sich doch bestimmt noch mindestens zwanzig friedvolle Jahre. Das gelingt Ihnen aber nur ohne Frau oder mit der richtigen.“

Wir setzten uns, und während ich in einen weichen Sessel sank, nickte Mondmann, der mir gegenüber Platz genommen und die Beine übereinander geschlagen hatte, zu und sagte: „So dann legen Sie mal los!“

„Ich bin seit einem Jahr verrentet“, begann ich, „fühle mich wie in einem Vakuum, habe keinen richtigen Appetit, langweile mich, grübel viel über die Vergänglichkeit des Lebens, bin einsam und dachte, hätte ich doch wenigstens eine Frau. Aber alle Versuche scheiterten. Entweder wollte die Dame nichts von mir wissen oder ich nicht von ihr. Da kam ich auf die Idee, eine alte Liebe wieder aufzufrischen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob diese Idee gut ist.“

„Wie lange ist das denn her?“

„Zehn Jahre.“

„Oh, oh! Das ist eine lange Strecke. Haben Sie denn zwischendurch einmal Kontakt mit ihr gehabt?“

„Nein. Nie.“

„Sie wissen also nichts. Ob sie überhaupt noch lebt, vielleicht einen anderen hat. Wie alt ist die betreffende Dame denn?“

„So alt wie ich. 66.“

„Und wie ist die Beziehung auseinander gegangen?“

„Ich weiß es nicht. Irgendwie war ich zermürbt, mit den Nerven am Ende. Sie redet viel, setzt Bedingungen für den Beischlaf und …“

Mondmann unterbrach mich. „Bedingungen für den Beischlaf? So, so. Welche?“

„Nun ja. Ich bin Eisenbahner und liebe es, ab und zu mit meiner Märklinbahn zu spielen. Sie findet das albern und lächerlich, will mir dieses Hobby verbieten. Und außerdem will sie mich immer zu Frauenveranstaltungen mitschleppen. Mir hängt das Thema zum Hals raus.“

„Eine Feministin?“

„Ja. Aber eher eine gemäßigte.“

„Nun“, meinte Mondmann, „wenn Frauen ihre Rechte einfordern, ist nichts dagegen zu sagen. Aber Sie fühlten den häuslichen Frieden dadurch gestört?“

„Ja, so ziemlich. Mir gingen die Diskussionen auf den Wecker. Das fing schon beim Frühstück an und konnte sich ohne Beischlaf die ganze Nacht fortsetzen. Einmal war ich auch wegen meiner Prostata in Behandlung.“

„Hmm. Und jetzt überlegen Sie sich tatsächlich einen neuen Versuch zu starten?“

„Ja. Mein Trieb hat nachgelassen. Man könnte sich arrangieren.“

Mondmann warf mir einen skeptischen Blick zu, legte die Stirn in Falten. In diesem Moment betrat die Dame von der Rezeption den Raum mit einem Tablett. Sie schob zwei Tassen mit Untertellern und Löffeln auf den Tisch, eine Kanne mit Kaffee, eine Dose mit Zucker und ein Kännchen mit Milch. Dazu gab es noch eine Schale mit Gebäck.

„Danke, Hildegard!“ sagte Mondmann. Als sie gegangen war, erhob er sich, ging hinter den Schreibtisch, setzte sich, öffnete an der Seite eine Tür, seine Hand erschien mit einer Flasche.

„Genehmigen wir uns erst einmal einen Cognac.“

4

Mondmann hatte die Flasche Cognac auf den Schreibtisch gestellt, beugte sich noch einmal zu dem Schreibtischfach nach unten, seine Hand erschien mit zwei Gläsern. Er klemmte die Flasche unter den Arm, kehrte mit dieser Ausrüstung zurück zur Sitzecke, stellte alles auf dem Couchtisch ab, blieb zunächst noch stehen, holte aus seiner Jacketttasche eine Pfeife, eine Schachtel Streichhölzer und einen Beutel mit Tabak, legte das auch auf den Tisch. Dann wanderte er noch einmal durch den Raum zu einer Vitrine, kam mit einem Aschenbecher, setzte sich nun mir wieder gegenüber.

„Einen kleinen Schluck werden Sie doch nicht ablehnen“, sagte er. „Wer Sorgen hat, braucht auch Likör.“

Er sah mich freundlich an, lächelte und meinte: „Nun seien Sie mal ganz entspannt und machen sich keine Gedanken wegen des Honorars. Sollte Ihre Kasse nicht zahlen, verlange ich von Ihnen keinen Cent. Sie müssen wissen, dass unsere Praxis hier sozusagen ehrenamtlich läuft. Das werden Sie auf der Website schon an den Öffnungszeiten gemerkt haben. Mittwoch bis Freitag jeweils von 11-14 Uhr. Das Haus gehört meiner Frau Hildegard, wir zahlen also keine Miete. Unsere Altersvorsorge ist gesichert. Das meiste Honorar bringt nicht die Praxis. Dafür sorgen Bücher zu Themen der Lebensführung und ein nicht unbedeutender Anteil stammt von meiner Unternehmensberatung. Bei manchen Konzernen hat es nämlich endlich geklingelt. Sie haben gemerkt, dass das Prinzip der Profitmaximierung und des stetig wachsenden Leistungsdrucks den Zug letztlich zum Entgleisen bringt. So habe ich mich also auf das Thema spezialisiert ‚Wohlfühlen am Arbeitsplatz‘ und führe entsprechende Beratungen durch. Die Krankschreibungen nehmen ab und die Leute kommen wieder gerne und mit einem viel fröhlicheren Gesicht. Von diesem Geld kann ich mir zwar keinen Hubschrauber leisten, aber es ist genug.“

Was Mondmann da sagte, beruhigte mich. Ich wehrte nicht ab, als er mein Glas füllte, zog nun auch meinerseits Tabak aus der Jackentasche, dazu das Heft mit dem Papier, drehte mir eine Zigarette. Bei Irmgard hatte ich zur Strafe immer auf den Balkon gehen müssen. Jetzt empfand ich es als sehr angenehm und die Zunge lösend, gemütlich in einem Raum in einem Sessel sitzen zu können. Wo konnte man das noch? Selbst in der kleinsten Eckkneipe wurde man vor die Tür geschickt. Man war in unserer modernen Zeit umzingelt von Vegetariern, Veganern und Nichtrauchern. Gott sei Dank hatten sie noch kein Rezept gefunden gegen die Sterblichkeit und waren bei aller strengen Lebensführung genauso davon betroffen wie der liederliche Mensch. Ich fasste etwas Mut, fragte Mondmann, wie das denn mit der Anstalt auf dem Venusberg gelaufen sei. Ich hätte in der Zeitung davon gelesen, aber den Fall nicht weiter verfolgt. Brandstiftung etwa durch Feministinnen?

„Nein, nein! Gar nicht“, sagte er. „Die Frauen waren ja froh, dass ihre Männer entsorgt waren. Und den Männern ging es recht gut. Da wollte keiner mehr weg. Den Brand hat der Eigentümer des Heims gelegt. Ein Banker. Der Gewinn war ihm zu schmal. Da hat er auf etwas Lukrativeres spekuliert. Die Grundstückspreise da oben auf dem Bonner Berg sind nämlich exorbitant hoch. Das ist keine Gegend für Einrichtungen à la Mutter Theresa. Nun ja, das ist jetzt schon ein paar Jährchen her. Hier unten geht es uns gut. Da oben war es eigentlich verdammt viel Arbeit rund um die Uhr. Aber ich will nicht klagen. Es war okay, hat Spaß gemacht und diente vor allem einem guten Zweck. Verwirrung und Not bei den Männern unserer Gesellschaft sind nämlich ziemlich gestiegen. Wir haben keine festen Strukturen mehr wie früher etwa bei den Indianern. Aber glauben Sie deshalb bitte nicht, dass ich gegen Feminismus oder Powerfrauen bin. Im Gegenteil. Ich liebe und bewundere sie. Wie etwa eine Madame Curie oder Clärenore Stinnes, die Autorennen fuhr und 1927 mit einem Oldtimer die Welt umrundete. Das sind echte Powerfrauen. Daneben siedeln sich mit diesem Begriff nur leider allzu viele Zicken an, die die Männer in den Wahnsinn treiben.“

Mondmann nahm einen Schluck Cognac, stopfte die Pfeife, zündete sie an, blies ein paar Kringel in die Luft, lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Nun aber zu Ihnen und Ihrem Problem. Deswegen sind Sie ja hier und wir müssen nach einer Lösung suchen. Ich erzähle Ihnen jetzt meinen ersten Eindruck von Ihrem Problem.“

5

„Nun“, begann er, „Ihren ersten Informationen entnehme ich, dass Ihre Dame, wie heißt sie übrigens…?“

„Irmgard.“

„Also… dass Irmgard die Dominante in Ihrer Beziehung war. Sie sprachen ja unter anderem davon, dass sie Sie zu Veranstaltungen ‚mitgeschleppt‘ hat. So haben Sie sich ausgedrückt. Eigentlich wollten Sie nicht, haben es aber ihr zuliebe gemacht. Oder vielmehr, sie wollten einem Streit ausweichen, die Harmonie bewahren und fürchteten womöglich die Verbannung aus ihrem Bett. Gab es auch den umgekehrten Fall? Sie wollten Irmgard zu einer Veranstaltung mitnehmen, an der Ihnen etwas lag?“

„Ja, ja, gab es schon. Einmal, das ist schon länger her, war der FC Bayern zu Gast beim Bonner SC, ein Pokalspiel. Da wollte ich Irmgard mitnehmen, hatte auch schon zwei Karten besorgt. Aber sie hat nur gemeint, ich sollte mir den Quatsch alleine angucken.“

„Und? Haben Sie?“

„Nein. Ich habe die Karten verfallen lassen.“

„Sehen Sie! Sie haben auf etwas verzichtet, was Sie gerne gemacht hätten. Allein sind Sie dann nicht mehr hingegangen, weil Irmgard Ihnen mit ihrem Kommentar die Laune verdorben hat. Sie hat Ihnen den Gang ins Stadion vermiest. Ist sie manchmal auch zornig geworden?“

„Ja, das konnte sie. Widersprach man ihr, war sie leicht erregbar. Ab und zu hat sie in die Obstschale gegriffen und mich mit Apfelsinen oder Bananen beworfen. Und einmal, da stand ich vor ihr, hatte meinen rechten Zeigefinger erhoben und gesagt: ‚In dem Ton redest du bitte nicht mit mir!‘ Da hat sie blitzschnell meinen Zeigefinger gepackt, sich in den Mund geschoben und zugebissen. Ich habe stark geblutet.“

„So, so. Und Ihre Reaktion?“

„Ich habe mich für zwei Nächte in ein Bonner Hotel zurückgezogen. Aber dann fühlte ich mich allein, hatte Sehnsucht und bin zurückgekehrt.“