Beyond Darkness - Aus der Dunkelheit - Martina Wilms - E-Book

Beyond Darkness - Aus der Dunkelheit E-Book

Martina Wilms

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Beschreibung

Der Tod ist das Ende des Lebens, aber nicht der Liebe, haben sie gesagt. Wenn sie nur geahnt hätten, wie verdammt richtig sie damit lagen. Mellas Tod ändert ihr gesamtes Leben. Sie ist nun eine Umbracorin, unsterblich und mit einer übersinnlichen Kraft ausgestattet, die sämtliche Naturgesetze ad absurdum führt. Endlich findet sie das, was sie bisher vergeblich gesucht hatte: die Liebe ihres Lebens. Doch ausgerechnet Lucas ist der Mann, der die Schuld an ihrem Tod trägt – und die beiden verbindet weit mehr miteinander als tiefe, verbotene Gefühle. Denn Lucas und Mella standen bereits vor ihrer Geburt im Mittelpunkt einer dunklen Verschwörung, die nicht nur sie das Leben kosten kann, sondern unsere Welt für immer zu verändern droht …

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-59-5

Alle Rechte vorbehalten

Für den Frieden und die Liebe.

Inhalt

Triggerwarnung

1.

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Triggerwarnung

Dark Romantasy ist ein Genre, das sowohl Romance- als auch Erotikelemente enthält, sich daneben aber auch mit düsteren, schweren Themen wie Gewalt, Krankheit und Tod auseinandersetzt. Die in diesem Buch dargestellten Inhalte könnten auf sensible Leserinnen und Leser belastend wirken.

1.

Ich hasse Weihnachten.

Weiße, dicke Flocken wirbeln mir um den Kopf, rauben mir die Sicht. Alles ist dumpf und still, als wäre ich gefangen im Inneren einer Schneekugel. Und irgendjemand hört nicht auf, sie zu schütteln.

Niemand hat es um diese Uhrzeit mehr nötig, die Straßen zu räumen – immerhin ist es Heiligabend und alle sitzen glücklich beisammen. Oder können wenigstens so tun.

Schnee knirscht unter meinen Stiefeln und meine Jeans sind nass bis zu den Knien, als wäre ich auf einer Nordpol-Expedition und nicht mitten in der Stadt auf einem Zwanzig-Minuten-Marsch.

Ich will nur noch nach Hause, die tiefgefrorene Lasagne in die Mikrowelle schieben und die Literflasche Merlot in mich hineinschütten, die in einer beunruhigend dünnen Tüte an meinem linken Arm baumelt. Wenigstens auf die Tankstelle ist noch Verlass an diesem Scheißabend.

»Das wird nichts mehr«, hatte die Heimleiterin gesagt und nebenbei auf ihre Uhr geschielt, während ich vor ihr stand, eine Dose mit den Keksen in der Hand, die wir früher immer gemeinsam gebacken haben.

Was hatte ich auch erwartet? Ein Weihnachtswunder? Dass Ben mit einem Strauß Rosen und großen Versprechungen vor meiner Tür steht? Dass meine Mutter mich ansieht und dieses eine Mal erkennt, wer ich bin? Dass alles wieder gut wird?

»Ich will Ihnen keine Hoffnung machen«, hatte diese blöde Kuh im Pflegeheim gesagt. »Gehen Sie nach Hause, Frau Will. Machen Sie sich ein paar schöne Tage. Immerhin ist es Weihnachten.«

Weihnachten. Drauf geschissen!

Ich biege in die schmale Sackgasse ein, und der Wind wird stärker, bläst mir eiskalt ins Gesicht, als wollte er mich mit aller Kraft davon abhalten, nach Hause zu kommen. Nur noch wenige Schritte trennen mich von meiner Wohnung, meiner Couch und einer Reihe schlechter, gewalttätiger Filme im Fernsehen. Genau das, was ich brauche.

Im Gehen grabe ich den Inhalt meiner Handtasche um. Mein Handy. Ein Lipgloss. Diverse Zettel, zerknüllt und nicht zerknüllt. Ein kleines Deospray für den Notfall und zur Krönung auch noch ein klammes Taschentuch – und nein, es ist nicht durchnässt vom Schnee. Igitt.

Wo sind nur diese Kackschlüssel? Tief wühle ich in dem durchweichten Ledersack und drehe den Inhalt von links auf rechts. Keine Schlüssel.

Ich sprinte die drei Stufen zu meiner Haustür hoch und streife mir die Kapuze ab. Vielleicht kann ich im Licht der Hausbeleuchtung mehr erkennen. Doch meine Tasche ist nichts anderes als ein schwarzes Loch, in dem sich definitiv alles befindet, was ich gerade nicht suche.

Das darf doch nicht wahr sein! Ich stehe vor meiner Haustür, friere mir den Hintern ab und komme nicht rein! Mist, Mist, Mist! Habe ich sie wirklich im Pflegeheim liegen lassen? Jetzt muss ich den ganzen Weg zurückgehen - und das bei diesem Wetter!

Ein Knall peitscht durch die Dunkelheit, ein Ächzen und dann –

Stille.

Wattewölkchen steigen von meinen Lippen auf, verlieren sich in der schwarzen Winternacht. Mein Herz pocht hart gegen meinen Brustkorb. Was zur Hölle war das? Es klang so, als wären zwei Autos zusammengestoßen, aber nichts ist zu sehen. Die Schneedecke auf der Straße ist vollkommen unberührt. Ich lausche in die Finsternis. Alles ist ruhig.

Wer weiß, vielleicht hat die dicke Nachbarskatze wieder eine Mülltonne umgerissen. Oder jemand hat eine Autotür zugeknallt und sich dann aus diesem Schneesturm in seine warme Wohnung gerettet. Was ich übrigens auch gern tun würde.

Muss ich jetzt wirklich den ganzen Weg zurücklaufen? Vielleicht sollte ich einfach Ben anrufen, er hat noch seine Schlüssel …

Nein. Im Leben nicht. Da laufe ich lieber. Nasser kann ich eh nicht mehr werden.

Ein Schatten huscht an mir vorbei und ich wirble herum.

Keine Spur von dem Katzenvieh, nicht einmal Pfotenabdrücke im Schnee. Mein eigener Atem dröhnt mir in den Ohren, hektisch, abgehackt. Gott, Mella, jetzt reiß dich zusammen! Vielleicht war es auch eine Ratte oder ein Vogel auf der Suche nach einem Unterschlupf. Nur …

Da steht jemand. Kein Zweifel. Keine fünf Meter von mir entfernt, ein Stück die Straße runter. Jemand, der vor einer halben Minute noch nicht da war. Und er bewegt sich nicht. Gekrümmt steht er da und sieht zu mir her. Hat er Schmerzen? Gab es vielleicht doch einen Unfall und er ist verletzt?

Ich schiebe meine Unruhe beiseite, mache einen Schritt in seine Richtung. »Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?« Der Wind bläst mir einen ganzen Schwung Schneeflocken ins Gesicht. Tausend Nadelstiche fahren mir bis ins Hirn – und als ich meine Augen wieder öffne, ist der Schatten fort. Wo ist er hin?

Zitternd sauge ich Atem ein und schiebe die Hand in meine Tasche. Wo ist das Deospray? Bei Gott, ich sprühe ihm die ganze Dose ins Gesicht, wenn es sein muss!

Das Schneegestöber wird dichter und dichter. Wieso habe ich nicht das Knirschen seiner Schritte im Schnee gehört, als er wegging?

Weil da niemand war, Mella. Es gab keinen Unfall. Oder siehst du ein Auto? Lichter? Einen Rettungswagen? Da ist niemand. Warum auch? Wer würde sich bei diesem Wetter an eine Straße stellen und darauf warten, jemanden überfallen zu können, mitten in der Stadt? Es ist Heiligabend, verflucht. Selbst die bösen Jungs sitzen unterm Tannenbaum und packen ihre Geschenke aus.

Ich zwinge mich zu einem Lachen, und gleich sieht alles viel besser aus. O Mann. Ich bin echt blöd. Es wird Zeit, dass ich in die warme Wohnung komme und endlich die Weinflasche von ihrem Korken befreie. Ich klingele jetzt bei meinen Nachbarn, dann kann ich den Wohnungsschlüssel gemütlich im hellen, warmen Treppenhaus suchen. Und sollte ich ihn wirklich im Pflegeheim vergessen haben, kann ich mir immer noch überlegen, ob ich Ben anrufe. Oder ein Taxi.

Ein gellender Schrei zerreißt die Nacht. Ein lautes Klirren. Was … Shit, die Tüte ist gerissen! Der schöne Merlot! Aber … wieso liege ich hier unten? Eben war ich doch noch … Mein Kopf, meine Brust – bin ich ausgerutscht? Scheiße, tut das weh!

Eine schwarze Wolke wirft sich über mich. Ein Gewicht, schwer wie ein Felsbrocken, zerquetscht meinen Brustkorb, Finger zerren an meiner Jacke. O nein … Weg, weg von mir! »Bitte, in meiner Handtasche ist Geld und mein Handy, mehr habe ich nicht, bitte …«

Ein Keuchen dringt an mein Ohr, ein Knurren wie von einem wilden Tier. Augen funkeln über mir wie glimmende Kohlen, weit aufgerissen, gierig. Fremder Atem streicht über meine Lippen.

Meine Schläge interessieren ihn nicht. Mit einem fiesen Geräusch zerreißt meine Bluse und Fingernägel bohren sich in mein Fleisch. Meine Hände rutschen an seiner schmierigen Jacke ab, fallen zu Boden. Er kniet sich darauf, nagelt mich mit seinem Körper am Boden fest. Ich kann mich nicht mehr rühren, nicht mehr atmen. Meine Fingernägel scharren sich durch Schnee und Eis, scheuern über den Asphalt, zersplittern zu Fetzen. Die Schreie verrecken in meiner Kehle. Ich kann nicht mehr, ich … Luft …

Er ist zu schwer, viel zu stark für mich. Er presst das Leben aus mir heraus, dieser Mann, gräbt sich in meinen Hals, schmatzend, stöhnend, bis Wärme aus mir hervorbricht. Mit jedem Herzschlag pulsiert sie aus meinen Wunden, liebkost meine eiskalte Haut mit ihrem sanften Streicheln.

Ruhe. Er soll mich in Ruhe lassen.

Ein widerliches Gurgeln, ein Schmatzen, Schlürfen – die Geräusche prügeln auf meinen Kopf ein und verwandeln sich in diese diffuse Schwärze, wie im Kino, wenn langsam das Licht ausgeht und der Film beginnt.

Plötzlich ein Schatten, ein heftiger Ruck reißt mich in die Höhe und zerschmettert mich auf dem harten Untergrund. Und dann bin ich ganz leicht, schwerelos. Ohne jeden Laut legt sich der Schnee auf meine Haut.

Weich.

Kühl.

Liebevoll.

Wie die tröstende Berührung meiner Mutter, wenn ich mir mal wieder das Knie aufgeschlagen hatte.

Weihnachtslieder dringen an mein Ohr, begleitet von dem unwiderstehlichen Duft nach gebratenen Äpfeln und Gemütlichkeit.

Stille Nacht, heilige Nacht …

Und alles fällt mir wieder ein: wie sehr ich dieses Fest geliebt habe. Wie ich es genossen habe, wenn der Duft nach warmen Plätzchen durch die Wohnung zog, wie Ben und ich gemeinsam den Baum schmückten und die Geschenke verpackten. Unser Lachen. Die Abende auf der Couch im Kerzenlicht, nur wir beide. Die Sterne … ich kann sie nicht sehen.

Alles schläft, einsam wacht …

Etwas ist noch da. Ein leises Stöhnen, ein Ächzen, doch ich schiebe es fort. Zu schön ist dieses Lied, das nur für mich gesungen wird.

Schlaf in himmlischer Ruh.

Schlaf in himmlischer Ruh.

Und ich schlafe ein.

2.

Mein Schädel ist so groß wie Mutter Erde.

Liebe Güte, wann hatte ich zuletzt so einen Kater? Wie ein Zahnarztbohrer gräbt sich ein aufdringliches Brummen in meinen Kopf. Nicht dieser sirrende, schnelle Bohrer, sondern der ganz fiese, langsame, bei dem man das Gefühl hat, alle Zähne fliegen einem aus dem Kiefer.

Ich werde nie wieder Rotwein trinken. Ach, was sage ich: Ich werde nie wieder irgendetwas trinken! Mein Körper fühlt sich an, als wäre er platt gewalzt, von der Straße gekratzt und anschließend aufgeblasen worden. Ich brauche eine Schmerztablette – und einen Eimer, denn lange geht das nicht mehr gut!

Der Zahnarztbohrer dröhnt in Wellen vor sich hin, rhythmisch, so als hätte in meinem Kopf ein neuer Techno-Club eröffnet. Da sind Worte, Stimmen, ganz in meiner Nähe. Ich habe den Fernseher angelassen, wieder einmal. Viel zu laut! Wo ist nur diese Scheißfernbedienung? Unbeholfen taste ich danach. Hm? Kalt und hart. Bin ich besoffen neben das Sofa gefallen und habe meinen Rausch auf dem Couchtisch ausgeschlafen? Das kann doch nicht wahr … aaaah!

Wie eine Nadel aus glühendem Stahl sticht grelles Licht durch meine Pupille direkt in mein Gehirn und frisst sich dort fest. Mein Atem geht flach, schnell.

Das hier ist nicht meine Couch. Scheiße, das ist nicht einmal mein Wohnzimmer! Das Dröhnen in meinem Kopf formt sich langsam zu Worten, gesprochen von Stimmen, die ich nicht kenne. Wo, zum Teufel, bin ich?

»Erklär es mir.« Eine Frau mit einer rauchigen Stimme, warm und weich wie ein alter Whiskey. »Wie konnte das passieren?«

»Ich weiß es nicht, Helena.« Ein Mann. »Es ging zu schnell. Er hat mich gegen ein geparktes Auto geschmettert und ist abgehauen, bevor mir überhaupt klar war, dass sich sein Talent bereits voll entwickelt hatte.« Er atmet einmal tief durch. »Zum Glück hat sie geschrien.«

Wer sind die beiden? Ärzte? Bin ich in einem Krankenhaus?

»Und? Du warst trotzdem zu spät!«

»Er hatte sich in sie verbissen, Helena! Da war nichts mehr zu machen.«

Ein Hecheln kommt aus meinem Mund. Der stechende Schmerz in meinem Kopf zerschneidet meinen Verstand in zwei Teile. Hat er wirklich verbissen gesagt?

»Das dachtest du.« Die Frau schnaubt. »Lucas, du hast einen Fehler gemacht. Und einen dämlichen noch dazu.«

»Ich habe mich schlicht getäuscht, Helena. Der Schnee war getränkt von ihrem Blut …«

»Rotwein, Lucas.«

»Ich habe die Situation einfach falsch eingeschätzt und dachte, ich würde das Beste daraus machen.«

»Es war Rotwein. Und billiger noch dazu.«

»Blut ist nicht gerade mein Spezialgebiet, Helena.«

Sie schnaubt erneut. »Eine Schande, wirklich.« Die Kälte in ihrer Stimme treibt mir eine Gänsehaut nach der anderen über die Wirbelsäule.

Und dann legt sich Stille über das Krankenzimmer. Sind sie fortgegangen? Aber ich brauche etwas, ein Schmerzmittel, ein künstliches Koma, irgendetwas, egal was! Mir ist kalt, so kalt. Oder heiß? Es schüttelt mich, ich weiß nicht genau, was es ist. Irgendetwas rinnt in einem schmalen Bach meine Kehle entlang und läuft in meinen Nacken, kitzelt die feinen Härchen auf meiner Haut. Weine ich etwa? Oder ist das Schweiß? Blut?

»Was hast du mit dem Novizen gemacht?« Ihre tiefe Stimme vibriert in meinem Schädel.

»Dafür gesorgt, dass er es nicht noch einmal tut.«

Hat der … habe ich das richtig verstanden? Er hat gesagt, dass er den Täter …? Bin ich überfallen worden? Scheiße, wenn ich meinen Atem nicht unter Kontrolle bekomme, hyperventiliere ich mich gleich ins Delirium. Was sind das nur für Ärzte? Warum geben sie mir nichts gegen meine Schmerzen? Bekommen die nicht mit, dass ich wach bin?

Ich ächze. Hört ihr mich? Helft mir! Bitte … helft mir doch! Meine Haut fühlt sich so gespannt an, so wund, wie verbrannt. Lange Fingernägel schieben sich in mein Haar, krallen sich fest und rucken meinen Kopf von links nach rechts, als sei ich ein Stück Vieh. Übelkeit schlägt über mir zusammen wie Wasser. Nur zu gern würde ich mich dieser Frau entwinden, ihre Hand wegschlagen, doch ich kann mich nicht rühren, nicht einmal den kleinen Finger heben. Weiße Punkte blitzen vor meinen geschlossenen Augenlidern auf. Da ist nur noch Schmerz, heiß wie Glut.

»Wie lange hat sie noch?« Seine Stimme ist sanft und leise, eine Wohltat gegen das Kreischen in meinem Kopf.

Nägel bohren sich auf der Suche nach dem Puls in meinen Hals, spitz wie kleine Dolche. Unsanft zerrt sie eines meiner Augenlider hoch und das Licht zerschießt meine Netzhaut. Schmerz dringt bis in den äußersten Winkel meines Verstandes ein, zerfrisst jede meiner Zellen. Mein Körper krampft, windet sich wie ein geköpfter Aal hin und her. Ich schnappe nach Luft. Diese Geräusche – bin ich das?

Eine kühle Hand legt sich auf meine Stirn und bedeckt meine Augen, schirmt sie ab von dem Licht. Das Zucken in meinen Nerven verebbt langsam und lässt einen verwüsteten Körper zurück.

»Es wird nicht mehr lange dauern. Ihr Puls ist schon nicht mehr fühlbar.« Endlich zieht sie ihre Krallen aus meinem Fleisch. »Wer weiß? Vielleicht schafft sie es ja.«

Vielleicht schaffe ich es? Schaffe ich was?

Zu überleben?

Ein Röcheln entkommt meinen Lippen, und eine zweite Hand legt sich auf meine Wange, vertreibt die Hitze, die mich erbeben lässt. Ich recke den Hals, biege mich nach hinten durch auf der Jagd nach köstlicher Luft. Nichts. Da ist nichts mehr. Ein Vakuum. Nur der Schmerz in meiner Brust, der mich ausdrückt wie einen Badeschwamm.

Ist das Ersticken? Fühlt es sich so an? Ich hechle, schnell und heftig, aber in mir ist es windstill. Der Atem erreicht meine Lungen nicht.

»Wie niedlich.« Die Frau lacht. »Du sorgst dich um sie.«

»Ich kenne sie nicht einmal. Aber ich muss es ihr nicht schwerer machen, als es ist.«

»Dann wird es dir auch nichts ausmachen, wenn ich dir sage, dass du ab sofort die Verantwortung für sie trägst.«

Seine lindernden Hände erstarren zu Stein.

»Jetzt sieh mich nicht so an, Lucas. Jede Verfehlung hat ihre Folgen, das war dir sehr wohl bewusst. Du hast sie hergeholt, also wirst du auch dafür Sorge tragen, dass sie keinen Mist baut.«

»Aber … ich konnte sie doch nicht dort liegen lassen, Helena! Ich dachte, sie wäre tot!«

»Und da sie das nicht ist, wirst du dich um sie kümmern. Herzlichen Glückwunsch, Schatz. Du hast deinen eigenen Schützling.«

Schlagartig lässt er mich los und überlässt mich einem Feuer, das meine Eingeweide verzehrt. »Nein! Wegen dieses einen Fehlers? Das könnt ihr nicht machen, Helena!«

»Still!« Ihre Stimme peitscht von den Wänden zurück. »Du hast es versaut, du ganz allein. Nicht ich. Er hat es so entschieden. Also trag die Konsequenzen.«

Der Mann atmet heftig ein und aus. »Was, wenn sie es nicht schafft?«

Meine Augenlider flattern, mein Körper zuckt unkontrolliert, krampft. Jede einzelne meiner Fasern schreit und kreischt und explodiert. Die Welt in mir und die um mich herum drehen sich, jede in eine andere Richtung. Feuer leckt an meiner Haut. Ich verglühe wie ein Stern.

»Hoffen wir einfach das Beste.« Ihre Stimme klingt dumpf, als wäre ich unter Wasser. »Du wirst es tun, Lucas, und zwar jetzt. Es ist alles vorbereitet.«

Das pulsierende Brummen zerreißt meinen Kopf. Sie reden, ich höre sie, aber ich verstehe sie nicht mehr. Der Schwindel in meinem Kopf verwandelt sich in ein Schleudern, ganz so, als wäre ich in einer Zentrifuge gefangen. Ich schnappe nach Luft wie ein gestrandeter Fisch, biege mich nach hinten, bis meine Wirbelsäule knirscht, und atme, sauge nach Luft, doch ich kann es nicht mehr, irgendwie mache ich es falsch, weiß nicht mehr, wie es geht …

Da zerplatzt etwas auf meinen Lippen. Eine Flüssigkeit rinnt in meinen Mund, zäh und klebrig. Medizin, endlich! Sie schmeckt ekelhaft, wie geschmolzenes Metall, verätzt meinen Rachen. Ich würge, huste, spucke. Ich muss dieses Zeug wieder loswerden, bevor ich es in einem Schwall herauskotze.

Ein Gurgeln breitet sich in meiner Kehle aus, ein Blubbern, als ob man mit einem Strohhalm in warmen Kakao bläst. Immer mehr dieser zähflüssigen Masse läuft mir in den Mund, drängt sich in meine Luftröhre. Ich ertrinke. Ich ersticke, ich weiß es. Keine Kraft mehr.

Mein Körper erstarrt und zerbricht wie ein dünnes Weinglas.

Alles wird dumpf.

Ganz still.

Und dann explodiert mein physisches Ich und ich vergehe in einer Woge aus weißem Schmerz, schreie und schreie, bis die Dunkelheit endlich kommt und mich gnädig mit sich zieht.

Tief ziehe ich Atem ein. Er rinnt meinen Rachen hinab, dehnt meine Lungen, bis eine erfrischende Kühle meinen gesamten Körper flutet. Ich fühle mich warm und wohl, treibe schwerelos in einer seichten Brandung, frei von allen Sorgen. Da ist so ein Duft … Er erinnert mich an damals, an diesen glutheißen Sommertag am Meer, der mit einem heftigen Gewitter endete. Klare, frische Luft, feuchte Erde. Wie eine Meeresbrise duftet es, herb und gewohnt und gut.

Ich rolle mich auf die Seite, kuschele mich tiefer in mein Kissen. Weich wie eine Wolke schmiegt es sich an meine Wange.

Moment mal.

Meine Wange? Meine Lungen, mein Körper?

Vorsichtig blinzle ich durch meine Wimpern. Nur Licht. Kein Schmerz.In meinem Kopf ist es so ruhig wie das Meer an einem windstillen Tag.

Aber wo um alles in der Welt bin ich hier? Das ist nicht meine Wohnung. Vielleicht ein Krankenhaus?Oder ein Sanatorium? Eine Art Anstalt?

Sonnenstrahlen schießen durch ein gewaltiges Fenster am anderen Ende des Zimmers und tauchen alles in goldenes Licht. Ein Mann steht davor, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Groß und schmal hebt sich seine Silhouette gegen die Sonne ab. Er wendet mir den Rücken zu und scheint ganz in die Aussicht versunken zu sein.

Langsam richte ich mich auf, ein wenig umständlich vielleicht. Über meinen Beinen liegt eine dicke Daunendecke und raschelt leise, doch der Mann am Fenster reagiert nicht.

Das Zimmer sieht nicht wirklich nach einem Krankenhaus aus. Die Wände bestehen aus weiß verputzten, groben Steinen und auf dem Boden liegen große Platten aus hellem Sandstein, der in der Sonne leuchtet. An der linken Wand steht ein Regal aus dunklem Holz, für das sogar ich eine Leiter bräuchte, um das obere Brett erreichen zu können. Überhaupt ist alles riesig in diesem Zimmer. In dem Bett könnte ich bequem auch quer schlafen. Der Rahmen aus poliertem Ebenholz mit seinen dicken Pfosten wiegt bestimmt so viel wie unser Golf … wie Bens Golf.

Zwei schwere Holztüren trennen den Raum von weiteren Zimmern ab. Neben dem Fenster steht ein Sofa aus beigefarbenem Cord, das offenbar aus den Siebzigerjahren übriggeblieben ist, davor ein Monstrum von einem Couchtisch aus massivem Holz mit einer Steinplatte darauf. Überall Stapel von Zeitschriften.

Nein, so gut bin ich nicht versichert, dass ich so ein Einbettzimmer bekommen würde!Noch dazu trägt der Mann am Fenster Jeans und ein einfaches, dunkles T-Shirt. Wenn er ein Arzt wäre, würde er einen weißen Kittel tragen, oder?

Was ist das hier also? Vielleicht eine Privatklinik? Habe ich etwa mein Gedächtnis verloren und bin doch gut versichert?

Ich kann noch so lange darüber nachdenken, ich werde allein wohl keine Lösung für dieses Rätsel finden. »Wo bin ich?«

Der Mann zuckt zusammen, als hätte ihn meine Stimme aus einem Nickerchen gerissen. Eisblaue Augen fixieren mich mit dem prüfenden Blick eines Psychiaters. »Mella.«

Gegen das Sonnenlicht kann ich kaum mehr von ihm erkennen als seine ungewöhnlich hellen Augen. Er kommt langsam auf mich zu und meine Nackenhaare stellen sich auf. Diese Stimme. Ich kenne sie. Ich habe sie gehört, als ich im Koma lag.

»Lucas?«

Überrascht zieht er die Augenbrauen hoch. Fast sieht er amüsiert aus. »Du hast uns belauscht?« Er hockt sich neben mich auf die Bettkante und taxiert mich aus leicht zusammengekniffenen Augen. Kein Kittel, dieser prüfende Blick. Ja, definitiv ein Psychiater, wenn auch ein attraktiver. Also doch eine Nervenheilanstalt? »Wie fühlst du dich?«

Ich rücke das Kissen in meinem Rücken ein wenig zurecht und räuspere mich. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Es fühlt sich so an, als hätte ich zu viel getrunken. Auf jeden Fall geht es mir besser als gestern Abend.«

»Gestern Abend?«

Sein Blick gefällt mir nicht.

Er kaut kurz auf seiner Unterlippe. »Du bist seit mehr als drei Monaten hier, Mella.«

»Drei Monate?« Mit einem Ruck setze ich mich auf. Das Zimmer dreht sich und der Psychiater mit ihm. Ich ignoriere den Schwindel, so gut ich kann. »Was ist denn passiert? Habe ich im Koma gelegen?«

»In etwa, ja.«

Drei Monate? Ich fasse es nicht. Irritiert schüttele ich den Kopf und der Schwindel verfliegt augenblicklich. Keine Spur mehr von Schmerzen. »Hatte ich einen Unfall?«

»So ungefähr.« Er zieht die Schultern hoch und lässt mich nicht aus den Augen.

Ich starre ihn an. »So ungefähr?«

Ein Unfall? Was ist denn nur passiert? Ich lasse mich langsam zurück in die Kissen sinken und lege mir die Fingerspitzen an die Schläfen, schließe die Augen. Erinnerungen zucken wie kleine Blitze über die Innenseiten meiner Lider. Es war Weihnachten. Da war eine Riesenflasche Rotwein. Schnee. Meine Wohnungsschlüssel. Jemand hockte auf meiner Brust und fraß mich auf.

Ich keuche und reiße die Augen wieder auf. Der Psychiater sitzt immer noch neben mir und beobachtet mich in aller Ruhe.

»Ungefähr? Wie kann man ungefähr einen Unfall haben? Bin ich … ich weiß es nicht mehr, das kann nicht sein … Bin ich vor ein Auto gelaufen? Bin ich durchgedreht? Es sah so aus wie …« Langsam verschränkt er die Arme vor der Brust und bleibt stumm. »Bist du mein Arzt?«

Er schmunzelt, und das wirkt wahnsinnig beruhigend auf mich. »Nein, dein Arzt bin ich ganz sicher nicht. Wie sage ich es am besten … du hattest einen Zusammenstoß mit einem unserer Leute.«

Ich blinzele und sortiere das, was ich soeben gehört habe, in meinem Kopf. »Ich bin wirklich überfallen worden?«

Er nickt knapp und eine dunkle Locke fällt ihm in die Augen. »Ja.«

»Ich bin überfallen worden von einem von euch?«

»Ja.« Lucas mustert mich ganz ruhig, ohne meine Verwirrung weiter zu beachten, und schiebt sich die Haarsträhne zurück hinters Ohr.

»Und ihr habt mich in dieses Krankenhaus gebracht, um mich gesund zu pflegen?«

»Nun …« Er wiegt unschlüssig den Kopf.

Ein schrecklicher Verdacht keimt in mir. Mein Körper kribbelt schmerzhaft, als hätte ich einen gewaltigen Sonnenbrand. »Ihr habt mich entführt?« Meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern.

Lucas reißt kurz die Augen auf. »Was? Nein, ganz so ist es nicht. Wie erkläre ich dir das am besten?« Er fährt sich mit der Hand durch die halblangen, dunklen Haare. Sein Blick schweift durch den Raum, als hätte er dort die Antwort auf meine Frage versteckt.

Mein Herz galoppiert wie ein Wildpferd, das nicht eingefangen werden will. Ich drehe gleich durch, wenn der noch länger vor sich hin druckst! »Jetzt sag mir einfach, was hier los ist!« Mein Atem geht viel zu schnell. Wenn ich so weitermache, werde ich wieder ohnmächtig. Was vielleicht nicht das Schlechteste wäre.

»Okay, ganz wie du willst.« Lucas atmet einmal tief durch und sieht mir fest in die Augen. »Du bist tot.«

Ich starre ihn an.

Verarscht der mich? Oder ist das eine Drohung? Soll ich jetzt lachen oder schreien? Was tut man, wenn einem so etwas gesagt wird?

»Ich bin tot«, wiederhole ich langsam.

Lucas nickt. Sein Blick hält mich fest.

»Also … ich bin tot«, stelle ich noch einmal fest.

Lucas nickt erneut und betrachtet mich, die Augen leicht zusammengekniffen.

»Aber ich sitze hier mit dir.«

Er nickt.

»Und rede.«

Wieder ein Nicken.

Ich nicke jetzt auch und starre ihn weiterhin an. Kurz denke ich über das nach, was ich soeben gehört habe und versuche, einen Sinn darin zu erkennen.

Ja, okay.

So wird es sein.

Ich vermute mal, ich bin schlicht und einfach durchgeknallt.

»Puh.« Ich kratze mich am Kopf, als könnte ich damit meiner Logik auf die Sprünge helfen. »Ich fasse das noch einmal kurz zusammen: Ich sitze hier, rede mit dir, habe drei Monate am Stück geschlafen, aber unterm Strich bin ich tot.«

Ein Schmunzeln umspielt seine Lippen. »Exakt.«

Ich nicke wieder. Verständnisvoll. Obwohl ich eigentlich überhaupt nichts verstehe. Ist das hier das Jenseits? Der Himmel? Die Hölle? Nirwana?

»Entschuldige, ich kenne mich mit diesem Thema nicht aus, aber ist es so vorgesehen, dass ich das verstehe? Denn wenn ich es verstehen soll, dann muss ich dir leider mitteilen, dass das nicht der Fall ist.«

Lucas atmet tief durch. »Es war ein dummer Unfall. Du hättest nicht tot sein sollen. Oder untot.«

Oh, das ist ein ganz neuer Aspekt, freut sich meine Logik. Meine Vernunft hingegen stöhnt theatralisch auf und schlägt sich die Hände vors Gesicht. »Ich bin also untot.«

»Eigentlich schon.«

Ich komme nicht mehr mit. Das, was er da sagt, ergibt wenig Sinn. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich vermuten, du wolltest du mir sagen, dass ich ein verdammter Vampir bin!«

Lucas scheint über seine Antwort sorgfältig nachzudenken.

Ich reiße die Augen auf. Das kann doch nicht sein Ernst …

»Man könnte dich so bezeichnen, ja.« Ruhig sieht er mich an.

Wenn er mich auf den Arm nehmen will, dann macht er das gut, verdammt gut! Wie ferngesteuert greife ich nach oben, befummele meinen Hals. Sind da Löcher? Bissspuren? Narben? Das darf doch alles nicht wahr sein – nein, das kann einfach nicht wahr sein. Es gibt keine Vampire! Das ist völliger Blödsinn!

»Bitte sag mir, dass ich einen mentalen Zusammenbruch hatte, in einer gemütlichen Klinik unter Drogen gesetzt wurde und du eine ganz normale, aber zugegebenermaßen recht ansehnliche Halluzination bist.«

In seinen Blick mischt sich eine Spur von Belustigung. »Glaub mir, wenn ich eine Halluzination wäre, wüsste ich das.«

»Also bist du ein Vampir?« Meine Stimme ist kaum noch zu hören.

»Wenn du es so nennen möchtest, ja.« Ungerührt sieht er mich an.

Ich fuchtele mit beiden Händen vor seinem Gesicht herum. »Aber du hast eben da hinten gestanden, am Fenster, in der Sonne.«

Er zuckt einfach nur mit den Schultern.

Es reicht. Wo um alles in der Welt bin ich hier nur gelandet? Der Typ ist bestimmt kein Arzt, wohl eher jemand, der sich aus irgendwelchen Gründen für einen Blutsauger hält! Eines weiß ich: Ich bin die einzige klar denkende Person in diesem Raum.

Ich werde gehen. Ich werde aufstehen und durch eine dieser Türen verschwinden.

Als ich die Bettdecke zurückschlage, keuche ich auf. »O mein Gott.« Mein Körper steckt in einem unförmigen Bausch aus Stoff, weiß wie die Unschuld. Meine Hände zittern. Vorsichtshalber halte ich mich an der Bettdecke fest. »Ist das ein Leichenhemd?«

Lucas antwortet nicht, sondern sieht mir lieber beim Durchdrehen zu.

Tot oder untot, das geht echt zu weit. Wütend strampele ich die Decken weg und stehe auf. Der Raum dreht sich vor meinen Augen wie ein fröhliches Karussell auf einem Jahrmarkt, bunte Blinklichter inklusive. »Scheiße«, wimmere ich. »Ich bin tot und mir ist schwindelig.« Das Zimmer dreht sich schneller, immer schneller und kippt schließlich nach links. Ich taumele, schnappe nach Luft und kann gerade noch verhindern, mich an Lucas festzuklammern. Und jetzt auch noch das … Mir wird übel!

»Badezimmer«, presse ich hervor und halte gleich darauf die Luft an, als der Brechreiz kalten Schweiß über meinen Körper treibt.

In aller Ruhe deutet er auf die Tür rechts vom Fenster. »Dort drüben.«

Verbissen kämpfe ich mir meinen Weg durch den schwankenden Raum, bis ich endlich vor der Badezimmertür stehe und mich am Türrahmen festkrallen kann wie ein Matrose am Mast seines Schiffes. In meinen Ohren rauscht es nur so, als hätte ich kein Gehirn, sondern einen Wasserfall im Schädel.

Du liebe Güte, wie kann mir so elend sein, wenn ich angeblich tot bin? Das ist doch Quatsch! Irgendjemand nimmt mich auf den Arm! Oder es ist ein Traum. Natürlich! Ganz bestimmt ist es ein Traum. Da kann dieser Typ auf meinem Bett noch so sehr das Gegenteil behaupten.

Allerdings ist mir immer noch kotzübel, Traum hin oder her.Ich atme durch die Nase, ein und aus und ein und aus. Schließlich schaffe ich es, die Tür aufzustoßen und stürze in ein fensterloses Bad.

Da drüben, das Waschbecken. Links und rechts kralle ich mich an dem weißen Porzellan fest, um nicht mit dieser Achterbahn von einem Badezimmer umzufallen. Meine Hände zittern so sehr, dass ich mir erst nach einigen Anläufen kaltes Wasser ins Gesicht schaufeln kann. Dicke Tropfen kühlen meine brennende Haut, und langsam lässt die Übelkeit nach.

Ich blicke auf und begegne grüngoldenen Augen im Spiegel. Meinen Augen.

Hm. Moment mal. Die Sonne, der Spiegel … Ha! Ich wusste es! Alles nur ein schlechter Traum, definitiv.

Lucas lehnt am Türpfosten. Mit einem Finger schaltet er die Deckenbeleuchtung ein und verschränkt die Arme wieder vor der Brust. Ich suche seinen Blick im Spiegel, halte mich immer noch am Waschbecken fest. »Sollten Vampire nicht überirdisch schön sein?«

»Das hat sich bloß jemand ausgedacht.« Seine Mundwinkel zucken amüsiert. »Du siehst im Moment eher so aus, als hätte eine Katze auf deinem Kopf geschlafen. Und zwar drei Monate lang.«

Ich mustere mein Spiegelbild ausführlich. Die Haut an meinem Hals, da, wo der Angreifer … Ich keuche. Sie ist makellos. Es ist keine Verletzung zu sehen, nicht einmal eine Narbe.

»Das mit dem Sonnenlicht, dem Weihwasser und den Knoblauchzehen ist auch Quatsch.« Er löst sich von seinem Türpfosten und kommt zu mir, reicht mir ein Handtuch. »Und glitzern tun wir schon gar nicht.«

Ich blinzle. Hat der … er hat doch nicht etwa einen Witz gemacht?

Sein Blick ruht auf mir. »Das mit dem Pflock durchs Herz ist allerdings wahr. Aber ich wüsste auch nicht, wie das irgendjemand überstehen sollte.«

»Nun, ich denke, dass ein Pflock durchs Herz für jeden problematisch wäre.«Ich drücke Lucas das Handtuch gegen die Brust und quetsche mich an ihm vorbei, trotte zurück zum Bett. Dort angekommen werfe ich mich missmutig in die Kissen. Wenn ich träume, muss ich nur aufwachen.

»Die Bezeichnung Vampir haben uns die Menschen verpasst. Sie wissen es nicht besser. Nicht jeder hier im Haus ist ein Blutsauger.«Er schaltet eine kleine Lampe auf dem Nachttisch ein und setzt sich wieder neben mich auf die Bettkante. Licht fällt durch den rosafarbenen Lampenschirm in den Raum und wirkt irgendwie beruhigend. »Wir nennen uns Umbracoren, Mella. Schattenherzen.«

Ich betrachte ihn kopfschüttelnd. »Nervenzusammenbruch und Beruhigungsmittel, das wird es sein. Du bist nichts als pure Einbildung. Oder ein Traum.«

Wieder stiehlt sich eine Art Belustigung in seinen Blick, die meine Laune definitiv nicht verbessert.

»Wenn ich eine von diesen Schattenherzen wäre, könnte ich mich dann in eine Fledermaus verwandeln?«

Lucas zuckt mit den Schultern und bleibt stumm.

»Wäre ich wenigstens unwiderstehlich erotisch? Könnte ich fliegen?«

»Weiß ich nicht.« Seine Augen blitzen.»Beides nicht.«

»Was weißt du eigentlich – außer, wie du mir auf die Nerven gehen kannst?« Ich will die Arme wütend vor der Brust verschränken und verheddere mich dabei in dem Leichenhemd.

Lucas beobachtet mich geduldig, die Augenbrauen hochgezogen. »Pass auf, Mella, ich habe keine Ahnung, wer du überhaupt bist oder wie ich dir auf die Nerven gehen kann. Sagen wir mal, das war ein Glückstreffer.« Er lächelt, doch ich ignoriere das. »Niemand weiß, was du kannst oder was du nicht kannst. Wir sind so unterschiedlich wie die Menschen. Allerdings gehen unsere Fähigkeiten ein wenig über die ihren hinaus.«

Na wunderbar. Mit solch kryptischen Sätzen konnte man meine Neugier immer schon wecken. »Und was für Fähigkeiten sollen das sein? «

»Wir haben unterschiedliche Talente. Einige von uns sind Gestaltwandler. Sie können sich in jedes Tier verwandeln, nicht nur in Fledermäuse. Besonders Begabte können zu Gegenständen werden, zu einem Baum, einer Halskette, einer Spülmaschine oder einer Erdbeere, was auch immer du dir vorstellen kannst.«

Die Vorstellung von einer Erdbeere mit Fangzähnen belustigt mich mehr, als sie es in dieser Situation sollte.

»Führ es mir vor«, sage ich. »Verwandle dich in mein Handy, damit ich jemanden anrufen kann, der mich hier herausholt.«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich kann das nicht.«

»Warum überrascht mich das nicht?« Missbilligend schüttele ich den Kopf. Mal sehen, wie lange er das noch durchhält. Ich sollte einfach mitspielen. »Was gibt es noch?«

»Lichtwandler und Schattenwandler. Sie reisen im Licht oder in der Dunkelheit von einem Ort zum anderen.«

»Das ist eine ganze Menge übersinnlicher Fähigkeiten.«

Lucas schüttelt den Kopf. »Jeder von uns hat nur ein Talent. Wir müssen abwarten, welches sich bei dir entwickelt. Alles Weitere sehen wir dann. Du solltest dich jetzt ein wenig ausruhen.«

»Angeblich habe ich die letzten drei Monate geschlafen. Warum sollte ich mich ausruhen wollen?«

Die letzten Sonnenstrahlen malen Muster auf den Sandsteinboden.

»Eine Verwandlung ist kein Spaziergang.« Lucas geht hinüber zum Fenster und zieht die Vorhänge zu, sperrt den Sonnenuntergang aus. Seine eisblauen Augen betrachten mich mitfühlend. »Ist nicht so einfach zu verstehen, oder?«

Ich werde nicht schlau aus ihm. »Warum bist du hier, Lucas?«

»Ich bin dein Ausbilder.« Er schiebt die Hände tief in die Taschen seiner Jeans. »Ich begleite dich, bis du dein Talent gefunden hast und damit umgehen kannst. Und ich bin zum Schutz hier.«

Ich ziehe die Knie an meine Brust, stütze mein Kinn darauf. »Und vor wem musst du mich beschützen?«

»Vor dir selbst. Und andere genauso.«

Meine Kinnlade klappt herunter. Wie – vor mir? Was soll ich denn bitte anstellen? Ich sitze hier angeblich in einem Haus voller übersinnlicher Wesen fest und er muss sie vor mir beschützen? So langsam wird es wirklich lächerlich. »Vor mir. Natürlich. Ich bin brandgefährlich. War ich immer schon«, erkläre ich ihm mit einem freundlichen Lächeln.

Lucas verzieht das Gesicht. »Es gibt noch ein letztes Talent. Die Blutsucht«, sagt er leise. »Blutsüchtige sind gefährlich und unberechenbar, vor allem, wenn die Verwandlung noch frisch ist. Es ist nicht einfach, dieses Talent zu beherrschen. Die Blutsüchtigen sind wie die Vampire, die du aus all deinen Geschichten kennst. Wild, gefühllos und tödlich.«

Oh. Die Zunge klebt mir am Gaumen und ich muss kräftig schlucken, bevor ich überhaupt wieder Speichel im Mund habe. »Und du vermutest, ich könnte eine Blutsüchtige sein?«

»Nein, keine Ahnung. Niemand kennt sein Talent, bevor es sich zeigt. Es könnte aber sein, dass du eine bist. Und dann brauchst du jede Unterstützung, um zu lernen, damit umzugehen und niemandem zu schaden.«

»Deshalb bist du mein Ausbilder?«

Er nickt. »Ja.«

»Weil du auch ein Blutsüchtiger bist?« Ich schiele unauffällig auf seinen Mund.

Nicht unauffällig genug, denn er lächelt und enthüllt schöne regelmäßige Zähne, von denen keiner sonderlich lang oder spitz ist. »Nein. Weil ich stark und erfahren genug bin, um dich aufzuhalten, wenn es darauf ankommt.«

Ich kratze mich am Kopf. »Das ist ganz schön verwirrend.«

»Ja, ich weiß. Ich erinnere mich noch daran, wie es bei mir war.«Er geht auf die schmucklose, dunkel gebeizte Holztür gegenüber vom Fenster zu. »Aber du schlägst dich ganz gut.«

Ich zucke mit den Schultern. »Natürlich tue ich das. Das hier ist nicht real. Wenn ich aufwache, ist alles wieder beim Alten.«

Lucas blinzelt irritiert. Langsam hebt er die Hand und legt sie auf der verschnörkelten goldenen Klinke ab, als wüsste er nicht, wohin damit. »So solltest du nicht denken.«

»Anders kann ich nicht denken.« Sonst werde ich bekloppt.

Er blickt auf die Türklinke, kaut auf seiner Unterlippe. Und plötzlich ist er bei mir, packt mit der Linken meinen Arm und zieht mit der anderen Hand ein kurzes Messer aus seinem Stiefel. Keine Sekunde später schießt ein brennender Schmerz von meiner Handfläche bis in den Ellbogen.

»Au!« Mit einem Ruck zerre ich meine Hand aus seiner Umklammerung und schubse ihn weg. »Bist du bescheuert?«

Ungerührt wischt er die Klinge an seinem Ärmel ab und schiebt sie zurück in seinen Stiefel. »Bist du jetzt überzeugt, dass du wach bist?«

Meine Handfläche brennt, als hätte ich glühende Kohlen gehalten. Quer über meine Haut verläuft eine hauchfeine Linie. Hellrotes Blut perlt hervor. »Verschwinde«, knurre ich ihn an.

Er seufzt. »Tut mir leid, wenn ich dir Angst gemacht habe.« Langsam geht er zurück zur Tür. »Aber du musst aufhören zu leugnen, was du bist.«

Ich platze gleich vor Wut. »Ich bin eine Frau, der gerade von einem Spinner die Hand aufgeschnitten wurde!«

Seine Augen verengen sich zu Schlitzen. »Ich versuche, dir zu helfen.« Seine Stimme ist bedrohlich leise. »Warte ab, was passiert. Wir reden morgen. Ich werde dich zum Schutz über Nacht einschließen.«

Ich schnaube verächtlich. »Wem sollte ich denn gefährlich werden?«

»Mir.« Er lächelt mich an. »Aber mit dir werde ich schon fertig.« Winzige Fältchen graben sich rund um seine Augen und bringen sie zum Strahlen.

Du lieber Himmel, wie kann er so sympathisch aussehen, nachdem er mir gerade eben eine Klinge in die Hand gerammt hat?

»Ich bin immer in der Nähe. Falls etwas sein sollte, ruf nach mir und ich werde sofort bei dir sein.«

»Bringst du dann ein größeres Messer mit?«

Er mustert mich wieder mit diesem Psychiater-Blick und schaltet das Nachtlicht aus. »Bis dann.« Die Tür scharrt über den Boden und fällt mit einem satten Knall ins Schloss. Es knirscht leise, als Lucas von außen den Schlüssel im Schloss herumdreht.

Ich werde jetzt schnell einschlafen. Wenn ich morgen aufwache, dann hoffentlich wieder in meinem wirklichen Leben und nicht in einer albernen Vampirgeschichte.

Ein Traum. Es ist nur ein Traum.

Ich rolle mich auf die Seite und schiebe mir die Hände unter die Wange. Aber … was? Meine Handfläche hat sich eben noch so angefühlt, als hätte ich an einen glühenden Eisenstab gefasst, aber jetzt spüre ich nichts mehr. Vorsichtig berühre ich die Wunde, darauf gefasst, jeden Moment vor Schmerz aufzuschreien. Seltsam. Es tut nicht weh. Aber da ist etwas, das sich anfühlt wie Sand.

Ich taste nach dem Schalter und kurz darauf erhellt das warme Licht der Nachttischlampe den Raum. Scharf ziehe ich Luft ein. Ein paar rostrote Brösel haben sich in meinen Handlinien verfangen, aber die Wunde ist fort. Meine Haut ist makellos, so als hätte das Messer sie nie berührt.

Ich keuche. O mein Gott! Was …?

Erst vorsichtig, dann immer hektischer rubbele ich in meiner Handfläche. Getrocknetes Blut rieselt auf die unschuldig weiße Daunendecke wie bräunlicher Schnee. Nichts verrät, dass eben noch ein tiefer Schnitt an dieser Stelle klaffte.

Ich schnappe mir den Lichtschalter, knipse ihn aus und presse meinen Hinterkopf in die Kissen. Schlafen, ich muss nur einschlafen. Dann wird alles wieder gut. Mit weit aufgerissenen Augen liege ich in meinem Bett und starre in die Dunkelheit. Das kann nicht real sein!

Es kann einfach nicht sein!

Punkt.

Keine Diskussion.

3.

Es klopft.

Ich grunze und rolle mich auf den Bauch, kuschele mich tiefer in die Kissen. Noch fünf Minuten …

»Mella?«

Na prima. »Ich bin wach, ich bin ja schon wach.« Mit beiden Händen fahre ich mir durchs Gesicht und raffe mich mühsam auf. Ich öffne meine Augen – und das Gähnen bleibt mir im Halse stecken. Lucas steht direkt vor meinem Bett und sieht auf mich herab wie ein Racheengel.

»Scheiße.« Mit dem Gesicht voran lasse ich mich zurück in die Kissen fallen.Dieser Mann ist ein Albtraum. Aber ich träume definitiv nicht.

»Was für eine nette Begrüßung.« Lucas zieht die Vorhänge zurück. Helles Sonnenlicht fällt in den Raum und blendet mich. Ich stöhne und reibe mir kräftig durch das Gesicht. Die Matratze gibt ein wenig nach. Lucas hat es sich offensichtlich wieder neben mir auf der Bettkante bequem gemacht.

Ich rücke weg von ihm und sehe ihn giftig an. »Was erwartest du? Du hast mir ein Messer in die Hand gestochen!«

»Ach Mella.« Aus ernsten, unergründlichen Augen erwidert er meinen Blick. »Ich wollte dir nur zeigen, dass das hier kein Traum ist.« Er nimmt meine Hand und drückt sie fest. »Oder fühlt sich das an, als ob du träumst?«

Nein, um ehrlich zu sein tut es das nicht. Seine Haut ist weich und warm. Ganz anders, als ich es von einem Untoten erwartet hätte. Er müsste klamme, kalte Hände haben, wäre bleich, mit starrem, totemBlick.Gut, Lucas ist blass. Aber seine Augen blitzen, als träfe ein Sonnenstrahl auf die Oberfläche eines Gletschersees. So lebendig.

Ein leises Brummen reißt mich aus meinen Gedanken. »Gibst du mir meine Hand zurück? Da sollte ich rangehen.« Lachfältchen graben sich um seine Augen. Sofort lasse ich ihn los und spüre, wie mir die Hitze in die Wangen schießt.

Er fummelt sein Smartphone hervor und liest die Nachricht auf dem Display, bevor er eine Nummer wählt und das Telefon ans Ohr hält. »Tom? Hör mal, sie schickt mich raus. Jetzt. Ja, schon wieder einer, ich weiß auch nicht. Keine Ahnung, wie lange es dauern wird. Kannst du? Eine Minute? Gut, danke.«

Er schiebt das Handy zurück in die Jeanstasche und steht auf. Sein Blick ist plötzlich anders. Abwesend und ernst. Er macht mich nervös.»Ich werde später noch einmal nach dir sehen. Dann können wir uns in Ruhe weiter unterhalten.«

Er geht weg? Wohin? Seine Aufgabe ist doch, auf mich aufzupassen!Ich öffne den Mund und klappe ihn direkt wieder zu, als die schwere Eichentür aufgestoßen wird und mit voller Wucht gegen die Steinwand knallt.

»Morgen Tom. Gut, dass du so schnell kommen konntest.«

Toms streichholzkurze Haare leuchten im Sonnenlicht wie flüssiger Honig, wild in alle Richtungen abstehend, als hätte er nicht so recht gewusst, wie man mit Haargel umgeht. Sein Gesicht ist auf männliche Weise jungenhaft. Etwas Übermütiges sprüht aus seinen blauen Augen, aber ich habe keinen Zweifel daran: Der kann auch anders. Neugierig mustert er mich von oben bis unten.

Lucas klopft ihm im Vorbeigehen auf den Rücken. »Ich bin schnell zurück. Hoffe ich jedenfalls.«

Tom beachtet ihn kaum. Er schiebt sich an Lucas vorbei und baut sich vor meinem Bett auf, als wäre es ein Zoogehege.»In Ordnung. Bis später.«

»Mach mir keinen Ärger, Mella.« Lucas schenkt mir ein Lächeln, das eher verkniffen als fröhlich aussieht, zieht die Tür hinter sich ins Schloss und schließt uns ein. Wer weiß, auf wie viele Schützlinge er noch aufpassen muss!

»Also!« Tom klatscht fröhlich in die Hände und klettert ohne weitere Umschweife zu mir ins Bett.

Ich ziehe die Bettdecke hoch bis ans Kinn und rücke weg von ihm. Was denkt der sich?

»Schönes Zimmer!« Er sieht sich um, nickt anerkennend. »Ich hatte es damals lange nicht so gemütlich. Du kannst sogar das Meer sehen. Sehr hübsch.« Er reckt den Hals und blickt aus dem Fenster.

Ich reiße die Augen auf. Das Meer? Da draußen ist das Meer? Wo, um alles in der Welt, bin ich hier gelandet?

»Dewitt hatte wohl keine Zeit mehr, mich vorzustellen. Ich bin Tom.« Mit einem strahlenden Lächeln hält er mir seine Hand hin. »Nun, eigentlich Tomás LeGris, aber Tom reicht.«

Ich nehme sie automatisch und lasse mich von ihm durchschütteln. »Das habe ich bereits mitbekommen.« Meine Stimme klingt eisig.

Er verzieht sein Gesicht zu einem Flunsch. »Warum bist du nur so schlecht gelaunt?«

Muss er das wirklich noch fragen? Ich mache eine ausladende Geste und sehe ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Er erwidert meinen Blick unbeeindruckt. »Das? Es gibt Schlimmeres, als hier zu sein.«

»Das sehe ich anders.« Ich ziehe die Decke noch ein wenig höher.

Tom scheint das als Einladung zu verstehen. Er sucht sich eine bequeme Position auf der Seite und rückt meine Kissen unter seinem Kopf zurecht. »Was, wenn dich ein Bus erwischt hätte? Dann wärst du jetzt einfach tot und Ende. So bleibst du für immer jung und knackig.«

Ich zucke einfach nur mit den Schultern. Was soll mir das sagen?

Er kneift die Augen zusammen. »Du weißt schon, dass wir für den Rest der Ewigkeit so aussehen wie zum Zeitpunkt der Wandlung, oder?« Ich sehe ihn stumm an. »Nein?« Er schüttelt den Kopf. »Hat Lucas dir nichts darüber gesagt?«

»Bisher nicht. Er hat nur etwas von Talenten erzählt.«

»Und?« Tom beugt sich so nah zu mir, dass sich sein Atem auf meine Haut legt. »Spürst du schon etwas?«

Nervös horche ich in mich hinein. Da drinnen herrscht Totenstille. »Sollte ich denn etwas spüren?«

»Hast du ungewöhnliche Gelüste oder Triebe? Persönlichkeitsveränderungen?«

»Nein. Da ist nichts, außer völliger Verwirrung. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich nicht glauben, dass ich tot bin.« Gut, das glaube ich auch nicht wirklich, aber wir unterhalten uns gerade so nett.

»Kann ich verstehen. Und unsere Herzen schlagen nun einmal weiter.«

Ich taste nach meinem Puls. Tatsächlich, da ist das vertraute Pochen. Aber … ich bin untot  - und mein Herz klopft trotzdem weiterhin in meiner Brust?Lucas’ Hand in meiner fällt mir wieder ein. Wie kann sein Körper warm sein, wenn er nicht mehr lebt? Und wie kann er tot sein, obwohl sein Herz noch schlägt?

Heimlich schiele ich auf Toms Mund. »Welches Talent hastdu?«

Ein Schatten huscht über sein Gesicht. »Ich? Ich bin ein Gestaltwandler.« Er sieht wieder aus dem Fenster. »Und nein, ich werde es dir nicht vorführen. Ich bin nicht sonderlich begabt. Aber ich bin ein Technik-Genie.«

»Wozu braucht ihr denn Technik?« Wenn man durch Licht und Dunkelheit reisen und sich mal eben schnell in eine Mikrowelle verwandeln kann, wird man wohl nicht auf einen Fernseher oder ein Telefon angewiesen sein.

»Sicherheitstechnik.« Er verschränkt die Hände im Nacken.

Sicherheitstechnik? »Wovor müsst ihr euch denn schützen? Vampire haben keine Feinde.«

»Jeder hat Feinde.« Er rollt sich noch ein wenig mehr auf die Seite und sieht mich an, als wäre ich einer von ihnen.

Dieser Typ ist mir viel zu nah. Ich ziehe die Decke bis zu meiner Nasenspitze hoch und zupfe dabei an dem bauschigen Etwas, in dem mein Körper steckt. »Ich würde gern schnell unter die Dusche springen und mir etwas anderes anziehen. Geht das?«

»Kann ich verstehen. Mich machen diese altmodischen Nachthemden auch nicht an. Los, steh auf, mach dich frisch, zieh dir etwas anderes an. Du hast genug Auswahl.« Mit einem Ächzen rollt er sich aus dem Bett und zieht die dunkle Schiebetür an der gegenüberliegenden Wand beiseite. Dahinter verbirgt sich ein riesiger, gut gefüllter Wandschrank.

Unfassbar.

Ich tapse barfüßig zu ihm. Wahnsinn. »Sind das meine?« Entzückt schiebe ich die Bügel hin und her.

»Nur für dich.« Er wirft einen Blick in die Schubladen.

»Tom?«

Er blickt auf.

»Würdest du bitte damit aufhören, meine Unterwäsche zu inspizieren?«

»Wenn du mich darum bittest?« Er grinst und sieht dabei aus wie ein Zehnjähriger. Mit der linken Hand deutet er auf die Tür neben dem Sofa. »Die Dusche ist da drin. Ich werde hier warten. Genug Zeitschriften hast du ja, wenn ich mir auch nicht sicher bin, ob Lucas und ich denselben Geschmack haben.«

Ich ziehe ein paar Klamotten aus dem Schrank. »Ihr werdet also in der nächsten Zeit ständig meine Babysitter sein?«

Tom fläzt sich auf die Couch und schnappt sich einen Stapel Magazine. »Ja, und das ist auch gut so. Denk an den Überfall. Dein Angreifer war ein Novize wie du, und sein Talent zeigte sich ausgerechnet, als du in der Nähe warst. Ein dummer Zufall. Er hätte dich um ein Haar zerfleischt.«

Plötzlich ist mir nicht mehr nach Diskutieren. Ich konnte nicht mehr atmen, weil jemand auf meinem Brustkorb saß und meine Kleider zerriss wie Papier, um an meine Haut zu kommen.Das Gespräch zwischen Lucas und dieser Helena, das ich belauscht habe …

»Was ist mit ihm passiert?« Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern.

Tom wendet seinen Blick ab, vertieft sich in eine der Zeitschriften. »Das Unausweichliche.«

Ich schlucke trocken. »Was heißt das? Wer war es? Lucas?«

Tom blickt auf. Sein Blick ist kalt, eiskalt. »Du wolltest dich umziehen, oder?« Etwas in seiner Stimme bringt mich zum Schaudern, und mir wird klar, dass dieses Gespräch jetzt beendet ist.

Tom begutachtet mich wohlwollend, als ich in Jeans und einem lässigen schwarzen Sweatshirt zurück ins Schlafzimmer komme. »Besser«, lautet sein fachmännisches Urteil. »Viel besser.«

Ich gehe an ihm vorbei und werfe einen Blick aus dem Fenster. Ein gigantischer Garten breitet sich vor mir aus, ein richtiger Park! Ein bisschen ungepflegt vielleicht, aber gerade dieses Wilde gefällt mir irgendwie. Am Horizont glitzert tatsächlich das Meer. »Können wir nach draußen gehen?« Ich drehe mich zu Tom um.

Der schüttelt den Kopf. »Nein, tut mir leid.«

»Aber ich fühle mich wirklich gut.«

»Du darfst nicht raus.«

»… weil ich vielleicht eine blutsüchtige Killerin bin?«

Tom zieht eine Grimasse und kommt zu mir. »Ich bin nicht stark genug, weißt du.« Er vergräbt die Hände tief in den Taschen seiner Jeans. »Ich wäre dir nicht gewachsen.«

Mein Mund steht offen. Tom könnte mich nicht aufhalten? Dieser große Kerl? Du meine Güte! »Was würdest du machen, wenn ich jetzt und hier meinen ersten Blutrausch hätte?«

Wortlos öffnet er seine Jacke. Unter seinem linken Arm steckt ein Messer in einerArt Halfter, und ich schlucke hart. »Ich würde mich mit allem verteidigen, was ich habe, und vermutlich den Kürzeren ziehen. Also.« Er zaubert eine Schachtel hinter seinem Rücken hervor und seine Augen leuchten wie die eines kleinen Kindes. »Lust auf eine Runde Scrabble?«

Gut, dann spielen wir eben Scrabble. Ich lasse mich auf die breite Fensterbank sinken, baue das Spielbrett zwischen uns auf. Sehnsüchtig blicke ich aus dem Fenster in den sonnigen Frühling dort draußen. Die Aussicht raubt mir den Atem. Dieser Park ist riesig, völlig verwildert, und jedes Mal, wenn ich hinausschaue, entdecke ich etwas Neues. Große, spitze Felsen ragen aus einem Bett von dunkelgrünem Moos empor, als hätte ein Riese sie achtlos dort hingeworfen. Geradeaus erstreckt sich der Blick ins Unendliche, man sieht nur noch das Meer, bis zum Horizont. Wunderschön. »Gibt es auch einen Strand?«

»Einen Badestrand? Nein.« Tom schüttelt den Kopf und schiebt mir das Bänkchen für die Buchstaben hinüber. »Der Garten endet an einer Klippe, da kommt man nicht so einfach runter. Oder rauf. Was gut ist für mich. Ein bisschen weniger zu überwachen.« Er grinst und hält mir ein grünes Säckchen hin.»Zieh«, fordert er mich auf. »Der jüngste Spieler beginnt.«

Ich angele mir einen Buchstaben heraus. »F.«

Tom greift in das Säckchen. »Und ein C.« Er grinst triumphierend. »Ich fange an.«

Ich schmunzle. »Du hast mir aber keine Superkräfte verheimlicht, oder?«

»Nein. Aber du wirst trotzdem verlieren.« Tom baut seine Buchstaben vor sich auf und zwinkert mir zu. Und er sieht keinen Tag älter aus als Dreißig. Geschäftig beugt er sich über das Spielbrett und legt einige Buchstaben ab. MORO.

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Was soll das denn sein?«

»Das, meine Liebe«, Tom schlägt einen süffisanten Tonfall an und notiert sich seine Punkte, »ist eine Sprache im Sudan.«

Ich starre ihn an. »Also doch Superkräfte.«

Tom lacht und greift nach dem Buchstabensäckchen. »Ich habe eben viel gelesen. Nachdem ich gelernt hatte, wie man liest.« Konzentriert sortiert er die neuen Buchstaben ein.

»Du bildest dich also seit mehreren hundert Jahren fort.« Amüsiert schüttele ich den Kopf. »Du hast dieses Spiel aber nicht zufällig erfunden, oder?«

»Nein.« Tom lacht. »Aber glaube mir, ich bin ein Fan der ersten Stunde. Du bist an der Reihe.«

Ich werfe einen Blick auf meine Auswahl. MXOYÄNA. Na, hervorragend. Nach kurzer Überlegung schnappe ich mir das M und das Ä und lege das Wort MÄR.

Er schnaubt. »Anfängerglück.«

Ich ignoriere ihn und hole mir zwei neue Buchstaben. H und W, o Mann. Ganz großartig.

Tom studiert das Spielfeld und legt kurzerhand AMBRA längs an meine MÄR. Verdammt! Er hat vermutlich das Wörterbuch auswendig gelernt. Während er seine neuen Buchstaben einsortiert, betrachte ich verkniffen meine. Was soll ich damit bloß anfangen?

»Wer ist dran?«

Ich fahre herum. Nahezu lautlos legt Lucas seine Jacke auf mein Bett und baut sich mit vor der Brust verschränkten Armen hinter mir auf.

»Ich.« Ich schiebe mein Bänkchen so, dass er die Plättchen darauf sehen kann. HOYWXON. Eine wirklich interessante und hübsche Buchstabenkombination.

Nur leider völlig sinnlos.

Lucas runzelt die Stirn. Er beugt sich über mich, streicht sich abwesend mit zwei Fingern durch seinen Fünftagebart, und studiert meine Ausbeute. Ein Duft nach Meer und Erde weht in meine Nase. Eisblau blitzen seine Augen unter langen, dunklen Wimpern hervor. Schließlich nimmt er ein paar meiner Buchstaben und legt sie auf dem Spielbrett an.

OXYMORON.

»Na toll.« Beleidigt lehnt sich Tom zurück. »Darauf wäre sie von allein doch nie gekommen!«

»Na, danke auch.« Ich ziehe eine Schnute.

Lucas lacht und tätschelt mir die Schulter. »Nimm‘s ihm nicht übel, Mella. Tom ist ein verdammt schlechter Verlierer.«

Tom schmollt, doch Lucas wird sofort wieder ernst und sachlich. »Tom, es gibt wieder Probleme mit dem Strom. Du wirst unten in der Zentrale erwartet.«

Tom springt sofort auf. »Bin schon weg. Revanche, Mella?« Fragend hält er mir das Buchstabensäckchen hin wie einen Fehdehandschuh.

Ich nehme es und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Jederzeit!«

»Gut. Dann werde ich dich schlagen – sofern du nicht wieder schummelst.« Tom zwinkert uns noch einmal kurz zu und eilt schneller aus dem Zimmer, als er eben in mein Bett gesprungen ist.

»Kennst du das Spiel auch schon so lange wie Tom?«

Lucas schiebt die Hände in die Hosentaschen und schaut aus dem Fenster. »Nein, mit Sicherheit nicht.«

Ich räume das Stoffsäckchen zusammen mit dem übrigen Zubehör zurück in die Schachtel und werfe ihm ab und an einen Blick zu. »Wie alt warst du, als du gestorben bist?«

»Vierunddreißig.« Er wendet sich zu mir um. Sein Haar glänzt dunkel, fast schwarz. Die kleinen Fältchen um seine Augen belegen, dass er früher gern gelacht hat. Doch heute wirkt er so ernst, so verschlossen. Was für ein Mensch er wohl war?

»Zu jung zum Sterben.« Ich schiebe den Karton zurück in das Fach unter den Beistelltisch.

»Vielleicht.« Er sieht mir ruhig in die Augen und ich werde zappelig. Ich komme mir vor wie damals, als ich das Referat über Charles Dickens halten musste und alles war, nur nicht gut vorbereitet. Sein Blick ist genauso prüfend wie der meines Lehrers damals. Wie kann man nur so kühl und gleichzeitig so … hm … anziehend sein? Ich reiße mich von ihm los und werfe sehnsüchtig einen Blick nach draußen. Bestimmt riecht es bereits nach Frühling, und ich bin hier eingesperrt.

»Wie wäre es mit einem Spaziergang?«

Erstaunt drehe ich mich zu ihm um. »Ich denke, ich darf das Zimmer nicht verlassen?«

Er zuckt mit den Schultern. »Nicht ohne mich. Wenn du versprichst, in meiner Nähe zu bleiben, schon.«

»Und wenn ich trotzdem versuche, abzuhauen?« Die Aussicht darauf, an die frische Luft zu kommen, macht mich übermütig.

Er mustert mich unter zusammengezogenen Brauen, ohne jede Spur von Humor. »Dann werde ich dich aufhalten.«

Plötzlich ist mir nicht mehr zum Scherzen zumute. Mein Blick huscht zu seinen Stiefeln. Ich habe schon einmal Bekanntschaft mit seinem Messer gemacht. Auf ein zweites Mal kann ich gut verzichten.

»Du wirst dieses Zimmer nicht ohne mich verlassen, verstanden?« Seine Augen bohren sich in meine.

Ich werde schon wieder nervös. Automatisch nicke ich.

»Zumindest nicht, bis du dein Talent entwickelt hast«, fügt er ein wenig sanfter hinzu.

»Hier entlang und dann nach links.« Lucas hält mir die Tür auf.

Der Flur dahinter ist erdrückend. Dunkel vertäfelt gähnt er uns entgegen wie ein endloser Tunnel. Der dicke, rote Teppich unter unseren Füßen verschluckt jeden unserer Schritte.

Am Ende des Korridors öffnet sich eine weitere Tür und eine Frau tritt heraus. Ihre Haare fallen in dunklen, schimmernden Kaskaden über ihre Schultern bis fast an den Saum des Minikleidchens, das ihren Körper so eng umfließt, als wäre sie darin eingenäht worden. Sie wirft sich das Haar über die rechte Schulter und ihr Gesicht erstrahlt unter einem atemberaubenden Lächeln.Auf schwindelerregend hohen Schuhen kommt sie uns entgegen, mit den seidigen Bewegungen einer Katze. Ich wünschte, ich hätte nur ein Fünftel ihrer Haare – sowohl was die Länge und als auch was das Volumen angeht.

»Helena.« Lucas lächelt sie an, und mir fällt alles aus dem Gesicht.

Das ist also Helena?

Die Helena?

Wow.

»Lucas.« Ihre Arme gleiten um seinen Nacken und sie haucht ihm einen Kuss auf die Wange. Aus dunkel umrandeten Augen mustert sie mich voller Neugierde.»Und wie ich sehe, ist Mella endlich aufgewacht.« Sie strahlt mich an und mir stockt der Atem. O Wahnsinn. Zum ersten Mal sehe ich sie, zierliche Eckzähne, einen Hauch spitzer als normal. Eine Blutsüchtige.Helena hält mir ihre Hand hin und ich ergreife sie. Ihre Haut fühlt sich an wie Seide, glatt und kühl.

»Ja, und ich weiß noch nicht so recht, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht.«

Lucas wirft mir einen kurzen Seitenblick zu.

Helena lacht ein glockenhelles, warmes Lachen und legt ihre andere Hand auf meine, mit der gütigen Geste einer Nonne. »Ich zumindest bin froh, dass du es geschafft hast. Lucas und ich haben uns deswegen Sorgen gemacht.« Sie wendet sich wieder ihm zu, schiebt ihren Arm unter seinen. »Wir haben nächtelang wachgelegen, erinnerst du dich?« Gemeinsam gehen sie den Gang hinunter.

Ich lasse mich ein wenig zurückfallen und beobachte die beiden von hinten. Die optische Verkörperung des perfekten Vampirmodells. Heimlich betaste ich meine Zähne mit der Zunge. Zum Glück fühlen sie sich an wie immer.

Nebeneinander steigen sie die Treppe hinab. Helenas Haare schwingen im Takt ihrer Hüften hin und her. »Was habt ihr noch vor an diesem schönen Tag?«

»Wir wollten in den Park, ein wenig frische Luft schnappen.«

»Zu schade, ich hätte euch gern begleitet, aber ich habe etwas Dringendes zu erledigen.« Sie macht eine bedeutsame Pause und lacht, wirft den Kopf in den Nacken, dass ihre Mähne nur so fliegt.

»Wir holen das ein anderes Mal nach, wenn du willst, Helena. Ich möchte sowieso erst herausfinden, welches Talent sie hat, bevor ich sie auf die anderen loslasse.«

Geschmeidig wie ein Panther gleitet Helena auf ihren schlanken Beinen die Stufen hinab, Lucas’ Arm fest umschlungen. Und sie wird für immer und ewig so aussehen. Ich seufze innerlich und trotte hinter ihnen her in eine lichtdurchflutete Eingangshalle. Durch bunte Fenster fallen Sonnenstrahlen in allen Farben herein und werfen lebendige Muster auf den Sandsteinboden.Überall stehen kleine Grüppchen und unterhalten sich, lachen oder diskutieren. Ein bisschen erinnert mich dieser Anblick an die Pausenhalle meiner Uni.

»Helena! Lucas!« Eine zierliche Endzwanzigerin mit glatten, rötlichen Haaren baut sich vor uns auf und mustert mich mit unverhohlener Neugier. »Und du bist …?«

»Mella, eine Novizin.« Lucas schenkt der Rothaarigen ein warmes Lächeln. »Und das ist Samantha, eine Freundin von Helena.«

Sie packt meine Hand und schüttelt sie. »Sam.«

Helena hakt sich bei mir ein, als wäre ich ihre beste Freundin. Gemeinsam schlendern wir fort von den anderen in Richtung Eingangsportal. »Du hast dein Talent noch nicht entdeckt?« Kurz drehe ich mich zu meinem Ausbilder um, doch Sam scheint Lucas völlig in Beschlag genommen zu haben.

Helena folgt meinem Blick und lacht. »Keine Sorge, ich bin sein Boss. Ich achte schon auf dich.« Sie öffnet die gigantische Eingangstür und schiebt mich nach draußen.

Warme Sonnenstrahlen treffen auf meine Haut. Drei Stufen grenzen an ein mit Moos und Algen übersätes Bett aus weißen Kieselsteinen. Mehrere Autos stehen in der Einfahrt, jedes von ihnen schwarz wie die Nacht.

»Aber schon bald kannst du selbst entscheiden, wohin du gehen willst, Mella.«

Mit einem leisen Sirren fährt die Scheibe des Jeeps herunter. »Scheiße, wo bleibt ihr denn?« Der Mann auf dem Fahrersitz verzieht sein Gesicht. »Wir wollten längst weg sein!«

»Ich bin aufgehalten worden.« Helena gleitet mit schwingenden Hüften zum Jeep. »Das hier ist Mella. Sie hat gerade erst ihre Verwandlung überstanden und ist jetzt ganz gespannt, was noch so in ihr steckt.«

Ein Lächeln umspielt seine schmalen Lippen. »Glückwunsch, Mella.« Er lehnt sich aus dem Fenster und streckt mir die Hand hin. Der Wind zaust in seinen dunklen Locken. »Julian Feroux. Ich bin so etwas wie Helenas Saufkumpan.«

Helena lacht glockenhell, und mir wird ganz anders. Julian zwinkert mir zu und schlägt dann zwei Mal mit der flachen Hand auf die Autotür. »Jetzt aber los! Nimm es nicht persönlich, Mella, aber wir haben es eilig. Die Damen trödeln jedes Mal, und es nervt.«

Helena hebt entschuldigend die Schultern. »Was soll ich da noch sagen? Geh zurück zu deinem Aufpasser und schick mir Sam raus, okay?« Sie stakst auf dem Kies um den Jeep herum und öffnet die Beifahrertür.