Biberspur - Bernd Wolff - E-Book

Biberspur E-Book

Bernd Wolff

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Beschreibung

Joochen schleppt schwer an seiner Last. Die Tragegurte des Rucksackes schneiden tief in die schmalen Jungenschultern. Langsam und verbissen geht er zur Schule. Die Klasse steht schon bereit. Höhnische Gesichter erwarten ihn. „Eh, Büffel heute mit Rucksack!", rufen sie ihm zu. „Neuster Modelook: Modell Rucksackbulle!" Doch die Neugier ist stärker als die Lust, ihn zu verspotten. Aber Joochen gibt sein Geheimnis nicht preis. Erst in der Biologiestunde beim Lehrer Schäper geht er nach vorn und schüttet den schweren Rucksack schweigend aus. Auf den Lehrertisch fällt etwas Dunkles, Pelziges. Die Klasse ist starr vor Aufregung. „Ein Biber, ein toter Biber!" Da ist keiner, der unbeteiligt gewesen wäre. „Auf den hat wer mit Schrot geschossen", sagt Joochen leise. Die Druckausgabe des spannenden Buches erschien erstmals 1979 bei Der Kinderbuchverlag Berlin. Das Buch wurde 1984 von der DEFA verfilmt (Regie: Walter Beck) mit Erik Schmidt, Jana Mattukat, Manfred Heine, Jörg Kleinau, Christiane Jentsch, Peter Sodann, Gunnar Helm, Tilo Braune, Gerry Wolf, Klaus Bamberg und anderen Darstellern.

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Impressum

Bernd Wolff

Biberspur

ISBN 978-3-86394-184-0 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1979 bei Der Kinderbuchverlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Detlev Komarek

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Prolog

Als der Schuss brach, schepperte sein Donner in der engen Wegschneise wie auf einer Kegelbahn.

Das hatte gesessen!

Aufatmend ließ der Schütze die Waffe sinken, versuchte dort vorn etwas zu erkennen. Aber da war nichts Bemerkenswertes mehr. Fährt der Dachs auf Lichtmess aus seinem Loch, dann dauern Eis und Kälte noch! Sollen sie! Mein erster Dachs! Und mitten im Winter! Mit fahrigen Bewegungen steckte er sich eine Beruhigungszigarette an, zwang sich zu warten, bis sie aufgeraucht wäre. Aber er sog hastig, verschluckte sich, hustete und sog wieder. Jedes Mal, wenn die Glut aufglimmte, fiel ein schwacher Schein auf das Gesicht unter der Hutkrempe: die schnabelartig vorspringende Nase, die ausgeprägten Wangenknochen, die spärlichen weißblonden Härchen auf der Oberlippe, an denen sich Feuchtigkeit niederschlug.

Schließlich warf er die halbaufgerauchte Zigarette fort, trat sie im Schnee breit, stakste mit schwingenden Schritten zum Anschuss.

Der erwies sich als weiter, als er anfangs geschätzt hatte, und inzwischen war die Dämmerung zwischen den Stämmen herabgesickert wie feuchter Nebel.

Er wurde unsicher.

Aber ich habe doch gesehen, wie er gezeichnet hat! dachte er.

Es wuchs hier allerlei Gestrüpp, Hirschholunder, Himbeere, junge Kiefernkusseln. Brombeerkraut, das die Dörrblätter noch nicht alle verloren hatte, und in der Senke sogar Seggen und trockenes Schilf. Es war schwierig nachzusuchen. Zudem begann es plötzlich zu schneien, langsame dicke Flocken, die unangenehm kalt auf der Haut zergingen.

Er zündete ein Streichholz an, aber der Luftzug löschte es aus. Er ließ ein zweites in der hohlen Hand verflackern, nun zuckten dunkle Schatten über die weiße Fläche, aber die Beute erblickte er noch immer nicht.

Schließlich zweifelte er, ob hier tatsächlich der Anschuss gewesen sei, auch fand er keine Spuren. So ging er etliche Schritte weiter, suchte dort, kehrte wieder um, wurde ratlos.

So genau ist das gar nicht raus, ob es ihn erwischt hat, dachte er, dann müsste ja was zu finden sein. Kann mich auch täuschen, war ja schon enorm dunkel. Kaum noch Büchsenlicht zu nennen! Werde ihn wohl verpatzt haben. Schade.

Zuletzt fand er ein Ästchen mit frischer Bruchstelle, und er untersuchte es beim Flackerschein eines Streichholzes und meinte, es wäre vielleicht abgeschossen. Da stand für ihn fest, dass er den Dachs oder was es war verfehlt habe. Er ärgerte sich ein bisschen, aber gleichzeitig war er auch froh, die erfolglose Nachsuche abbrechen zu können, denn er fror. Von der Elbe, wo er auf Enten aus gewesen war, wehte es eisig herüber, und auch vom Heufuderloch auf der anderen Seite zog es erbärmlich - er stellte sich vor, wie unangenehm es wäre, wenn er bei der Nachsuche irgendwo durch die morsche Eisdecke träte.

Das Schneetreiben wurde jetzt heftiger, und er schritt erst zögernd, aber dann immer schneller aus. Als er jedoch zu seinem Moped kam, das er am Waldrand in die Hecke geschoben hatte, war der nasse Neuschnee schon so hoch, dass die Räder sich fest mahlten und er schieben musste.

Auch das noch, dachte er verdrießlich, was habe ich mich nur damit aufgehalten!

Ich könnte mir ja den Hund von Ließmüller borgen, überlegte er, morgen noch einmal nachsuchen. Aber wenn das so weiterschneit... Außerdem ist der auch nicht spursicher.

Ach, sagte er sich, als er endlich freigewehten Straßenbelag unter den Sohlen spürte, ist ja Quatsch! Braucht ja keiner zu wissen, dass ich danebengeschossen habe, und Ließmüller schon gar nicht. Gibt bloß wieder dummes Gerede.

Aber schön wäre es doch gewesen, mein erster Dachs. Na, nicht zu ändern. Das flachste Mal dann!

Er war jetzt felsenfest überzeugt, dass er auf einen Dachs geschossen hatte, obwohl ihm das Tier am Anfang reichlich dunkel und bucklig vorgekommen war. Aber was sollte es denn sonst sein? In der Nacht sind alle Katzen grau, nach der Färbung konnte man nicht gehen...

Er trat das Moped an, schlingerte knatternd davon.

Im dicken Schneetreiben war er bald verschwunden.

1. Kapitel

Der Rucksack war kein Prachtstück: uralt und abgeschabt, faltig wie ein Wurzelweib. Der Drillich verwaschen, ausgeblichen von Regen und Wind, an manchen Stellen fädig durchgescheuert von spitzigen Gegenständen, die man in die Taschen gewürgt hatte. Riemenzeug runzlig und schrunzlig.

Und wenn man hineinroch, so schlug einem ein Gemisch von Gerüchen entgegen: Tabakskram, geronnener Leberschweiß, Wurstbrot, gefettete Lederstiefel, Skiwachs, bitterblanke Axtschneide, harziger Axtkuhfußstiel - kaum dass man das eine und das andere auseinander halten konnte.

Die ausknöpfbare Gummieinlage war gefleckt wie eine Landkarte, von wolkigen Linien, Wasserrändern und Schorfkrusten überzogen.

Aber die Tragegurte lagen breit und bequem auf den schmalen Jungenschultern und drückten nicht trotz der Last.

Die Last aber, die den Rucksack rund und ohne eine Delle nach unten zog, war erheblich. Eine weiche, anschmiegsame Last, und der Junge ging weit nach vorn gebeugt mit lang herausgestrecktem, dünnem Hals, keuchte. Blieb hin und wieder stehen, lüftete mit den Händen das Gewicht auf dem dunkelfleckigen Rücken. Strich sich den Schweiß von der Stirn, die nassverklebten Haare beiseite.

Überhaupt ging er merkwürdig gehemmt, fast misstrauisch, tapsend und unsicher im wässrigen Schnee, rutschte, fing sich ab. Blickte immer wieder kontrollierend auf die große runde Uhr am Handgelenk. Man merkte ihm an, dass er aufgeregt war.

Blieb stehen, horchte auf das Spechtgelächter fern vom Wald, das warme Taubengegurr im Verschlag bei Ließmüllers, die tappenden Hundeschritte hinter dem Tor, den hohen Milanschrei unter raschen, zerrissenen Wolken. Sonst war noch nichts zu hören.

Noch nicht.

Hin und wieder zog er durch die Nase hoch.

Er war lang, der Junge, lang und unbeholfen und schlaksig und reichlich dünn, mit großen roten Händen und großen Füßen - nichts schien zueinander zu passen. Aber wie er so ging, machte er den Eindruck, dass er sich schon noch zurechtwachsen würde, wenn er auch jetzt mitleiderregend aussah unter dem gewaltigen Rucksack, der ihn zu Boden drückte.

In der rotgefrorenen Hand schlenkerte ein Beutel, ein lächerlicher blaugepunkteter Faltbeutel mit eintrocknenden Schmutzspritzern. Die Umrisse der Gegenstände, die ihn ausbeulten, sahen aus wie die von Büchern. Federtasche und Stullenbüchse vielleicht.

Je näher er dem Schloss kam, desto finsterer zogen sich seine schmalen Brauen zusammen, desto öfter blickte er sich um, desto langsamer und unsicherer ging er. Schaute wieder und wieder auf die Uhr.

Aber die Last wurde schwerer und schwerer.

Hart klopfte die Schlagader am Hals, der Atem keuchte und pfiff. Dazu machte sich ein Wind auf, der ihm den feuchten Rücken durchschauerte.

Trotzig beschleunigte der Junge den Schritt. Er dachte unausgesetzt an die Begegnung, zu der es notwendig kommen musste, wenn er den Pfad hintenrum durch die Gärten verließ, und zu der es dann auch kam, als er den Schlosshof betrat. Da war es genau zwei Minuten vor dem Läuten.

"Eh! Seht mal den Büffel! Der kommt mit Rucksack zur Schule."

Sofort waren sie bei ihm, umkreisten, umringten ihn. Schlimmer als Kuhbremsen im Sommer.

"Was hast du da drin?"

"Neuester Modelook: Modell Rucksackbulle!" Da johlten sie alle wie toll.

Vorsichtig schob er sich mit dem Rücken gegen die Wand, ertastete einen der Ringe, an die man früher die Pferde angebunden hatte. Daran hielt er sich fest.

Er hatte es nicht anders erwartet, aber es war dennoch gemein, wie sie alle über ihn herfielen, und er konnte sich nicht wehren. Es war niederträchtig.

Unstet schaute er umher. Knurrte: "Geht euch gar nichts an!"

Die anderen umstanden ihn, neugierig, abwartend, mit offenen, auf eine Sensation erpichten Gesichtern. Natürlich auch Knut Wiedermann dazwischen, Tatti, der falsche Hund. Wie er einen frech und höhnisch anstarrte.

"Wir haben ein Recht darauf zu erfahren, was du hier anschleppst!"

"Einen Schietdreck habt ihr!"

Seine Abwehr reizte sie zum Angriff.

"Da hat er einen Büffelknochen drin!"

"Joochen, woolen wir uns einen Knoochen koochen?"

"Joochen, der Knoochen hat schon etwas geroochen, er liegt schon ein paar Woochen, der alte Böffelknoochen!"

Alte Sprüche, oft gehört. Fällt ihnen nichts anderes ein?

Er nahm die großen, rotgefrorenen Hände vor die Brust. musste dazu den blaubepunkteten Beutel zwischen die Beine in den Schlamm stellen. "Lasst mich in Frieden, ja!"

Noch eine Minute.

Immer mehr sammelten sich um ihn. Gesichter, die zu weißlichen Flecken verschwammen, höhnische Gesichter unter bunten Pudelmützen, Gesichter voll Lärm und Gelächter.

Wiedermann rempelte ihn jetzt an. "He, Toro, he!" Unsichtbar zwischen den Händen schwenkte er die Capa des Stierkämpfers.

Joochen zog durch die Nase hoch, spie vor die Füße.

"Mach dich fremd, du!"

Er schluckte. Auf seinen Wangen bildeten sich rote, hektische Flecken. Er machte sich nichts vor, er wusste, wie es weiterging. Gleich würden sie über ihn herfallen, ihn in den Dreck zerren, ihm den Rucksack abreißen, triumphierend öffnen...

Hätte er nicht langsamer gehen können, noch langsamer, draußen warten, bis es klingelte, in Kauf nehmen, wenn er zu spät käme?

Ja, wenn sie gleich die erste Stunde bei Schaper hätten...

Was hat er sich auch mit diesem Dings abzubuckeln! Da schrillte das Läuten.

Die Menge um ihn verlief sich allmählich, zögernd, widerwillig, weil ihnen da was durch die Lappen ging. Wiedermann hackte noch einmal mit der Schuhspitze aus. Sie traf den Blaupunktbeutel. Große Aufsichtsschüler trieben jetzt die Klassen zusammen.

"He, du Bergsteiger, komm!"

Joochen nahm den Faltbeutel auf, strich mit den Fingern den Schlamm ab, versuchte angestrengt, ihn im Gras der Rabatte sauber zu wischen. Er musste erst mit seiner Aufregung fertig werden. Im Grunde war er sehr erleichtert, dass es noch glimpflich ausgegangen war.

"Dawai, du Ferkel, los, los, rein mit dir!"

Die Umgangsformen der Ordnungsschüler waren auch nicht sehr fein.

Vorgebeugt, keuchend, immer noch die hektischen roten Flecke auf den Wangen, ging Joochen Leböff als letzter seiner Klasse durch das reichbehauene Renaissanceportal.

Natürlich hatte wieder jemand seine Hausschuhe versteckt, bestimmt Tatti Wiedermann, das Ekel. Auf Strümpfen ging Joochen über das Parkett der Gänge.

Ihr werdet schon sehen, dachte er grimmig, Augen werdet ihr machen...

Die Zeit bis zur dritten Stunde tröpfelte dahin wie das Tauwasser vom Dach: monoton und endlos.

Und immer fügte der Ordnungsschüler Wiedermann im Anschluss an die Bereitschaftsmeldung hämisch hinzu: "Und Leböff heute mit Rucksack!"

Man spürte, wie es ihn fuchste, dass er nicht wusste, was darin war, und wie es ihm darum zu tun war, Joochen lächerlich zu machen und die Klasse zum Johlen zu bringen.

"Ruhe!", donnerte Frau Sorfrey, die Deutschlehrerin. Sie war schon ein Vierteljahrhundert im Dienst und in der Zeit bedeutend und gewichtig geworden. Sogar ein spärlicher grauer Damenschnurrbart war ihr über den Mundecken gewachsen. Es passte zu ihr, dass sie donnerte.

Langsam, als wüsste sie, dass er ihr nicht entrinnen konnte, ging sie auf Joochen zu. Der erhob sich linkisch, versuchte, mit den Beinen den Rucksack zu verbergen. Die Klasse hielt den Atem an. "Warum auf Strümpfen?"

"Die Botten, eh, die Hausschuhe waren weg..." Ein schneller, beherrschender Blick über die Klasse. "Hergeben!"

Widerspruchslos kamen durch die Reihen ein Paar riesige Filzpantinen gesegelt.

"Sag deiner Mutter, sie könnte dir bei Gelegenheit die linke Socke stopfen. Oder deiner Schwester, wenn sie's schon kann!" Unterdrücktes Kichern.

"Corina macht das", feixte Knut Wiedermann.

Ein blasses Pferdeschwanzmädchen wurde rot, tippte sich gegen die Stirn. "Vielleicht du, Tatti!"

Frau Sorfrey wedelte unwirsch mit der Hand. "Ruhe - bitt ich mir aus!"

Sie blickte auf den Rucksack, den Blaupunktbeutel. "Ist deine Schultasche kaputt?"

Schniefen, eine Bewegung, die ja und nein heißen konnte.

"Du kannst heute Nachmittag zu mir kommen. Ich habe noch eine alte, die leihe ich dir solange. Erledigt!"

Und rasch, als befürchte sie, dass man ihr Entgegenkommen als Schwäche auslegen könne, fuhr sie fort: "Nach dieser unterhaltsamen Einlage dürft ihr nun beweisen, was ihr so auf dem schönen Gebiet unserer Muttersprache könnt, Superlativ von Präsenspartizipien. Zettel vor: Übungsdiktat!"

"Die tät ich mir als Hauptfeldwebel vorstellen!", tuschelte Knut Wiedermann seinem Nachbarn Ecki zu und verdrehte die Augen.

Anders reagierte Jabloko, der freundlich lächelnde, apfelgesichtige Russischlehrer Pabel.

"Dieses erinnert mich an eine Anekdote, die mir ein ehemaliger Schüler erzählt hat."

Schnaufend ließ er sich am Lehrertisch nieder, packte die Bücher zurecht, sah verheißungsvoll auf, lächelte. Die Klasse starrte ihn gespannt an.

"Nun also, er studierte im Süden der SU Petrolchemie, und das erste halbe Jahr hatten sie zusätzlichen Russischunterricht, um überhaupt den Vorlesungen folgen zu können. Die Russischlehrerin aber war Georgierin; schwarzhaarig, stell ich mir vor, schwarzäugig, temperamentvoll, sicher ehrgeizig. Sie wollte die Wortbildung immer an ganz besonders typischen russischen Wörtern erklären, zum Beispiel, und nun merkt auf: an dem Wörtchen Ruksak, typisch russisch, hergeleitet von Ruka, Hand, und sakruitch, sakruiwatch, schließen. Das verschlägt euch die Sprache, wie? Mir auch. Und was meint ihr, was unsere Studenten zu tun hatten, um ihr klarzumachen, dass es sich hierbei um ein Fremdwort aus dem Deutschen handelte! Als sie es schließlich begriffen hatte, zitierte sie von da an nur noch das typisch russische Wort Pionerlager..."

Über dem Lachen vergaßen sie gänzlich Joochens Gepäckstücke.

Als es zur dritten Stunde klingelte, stand die Klasse mustergültig angetreten vor dem Biologiekabinett. Das hatte der Ordnungsschüler Knut Wiedermann veranlasst. Jetzt musste die Entscheidung fallen, so viel wenigstens war aus Joochen Leböff herauszubekommen.

Lehrer Schaper blieb einen Moment stehen, pfiff durch die Zähne, nickte dann verstehend. Er dachte sich sein Teil.

"Wiedermann, schließ auf!"

Schlüssel klirrten. Die schwere Tür mit den Drechseleien quietschte ein wenig.

Lehrer Schaper stand abwartend, Klassenbuch und Aktentasche in der Hand, und ließ die Kinder an sich vorüberziehen. Er hatte den Rucksack des Jungen längst bemerkt.

Helmut Schaper war noch nicht sehr lange hier an der Schule. Es hieß von ihm, dass er streng sei; er nahm die Schüler tüchtig heran. Schon mancher hatte das heimliche Zittern bekommen, wenn der Lehrer ihn so unbewegt fixierte mit Augen, die durchsichtig schienen, vor denen man nichts verbergen konnte. Augen wie aus Glas oder aus Eis, so kalt, dass es einen durchfröstelte.

Zudem wusste jedermann, dass er hierher versetzt worden war, weil er einen Schüler seiner ehemaligen Schule geohrfeigt hatte. Doch kaum jemand machte sich die Mühe, darüber nachzudenken, wie das zusammenging: Dieser unterkühlte, zurückhaltende Lehrer und eine solch unbeherrschte Tat. Es genügte, dass er es in der Anfangsstunde selbst erzählt hatte mit nüchternen, dürren Worten, die auf alles andere als eine Sensation aus waren.

"Damit ihr wisst, woran ihr mit mir seid!", lautete die Begründung.

Nein, man erkannte zwar an, dass er viel konnte und gerecht war, aber man liebte Lehrer Schaper nicht. Man ging ihm nach Möglichkeit aus dem Wege.

Joochen Leböff blieb mit seinem Rucksack vorn am Lehrertisch stehen. Er zitterte ein wenig. Gleichzeitig hatte er das unangenehme Empfinden, dass ihm kalte Schweißtröpfchen an der Innenseite der Arme entlangliefen.

Joochen hatte immer ein bisschen Angst vor dem Lehrer. Schließlich war der es gewesen, der ihm gleich in seiner ersten Stunde den verfluchten Beinamen angehängt hatte.

"Le boeuf - der Ochs, Ia vache - die Kuh. Fermez la porte - die Türe zu! Natürlich nicht Ochs, sondern mindestens Büffel! Bist du ein alter Hugenotte?"

Aber das hier war eine Sache, die musste, außerhalb von Sympathie oder Abneigung, durchgestanden werden. Die Gerechtigkeit verlangte es. Kein anderer, der sonst noch helfen konnte!

"Nun, was hast du für mich Schönes?", fragte Lehrer Schaper und zog ein wenig die Braue hoch.

Joochen nahm hölzern den Rucksack ab, klemmte ihn zwischen di Beine, schnallte die Klappe auf und zurrte dann den zu einer Schlinge geschnürten Riemen lose.

Die Klasse drängte heran auf huschenden Hausschuhen, stellte sich herum, gaffte mit langen Hälsen. Der Lehrer wehrte es ihnen nicht.

Joochen hob den Rucksack an, seine Adern schwollen vor Anstrengung. Er packte ihn an den unteren .Zipfeln, an denen die Tragegurte eingehakt wurden, schüttete ihn einfach auf den Lehrertisch aus.

Hervor rutschte etwas Bräunliches, Zottiges, Pelzernes, glitt heraus, bumste auf den Tisch. Ein graues, häutiges Teil klatschte auf das Klassenbuch, ein breiter, flacher, fast haarloser, geschuppter Schwanz. Ein Hinterfuß streckte sich zitternd, wie lebend; Schwimmhäute zwischen den Zehen. Gleichzeitig breitete sich ein Geruch aus nach Tannennadeln, Nässe, Moder und dann noch nach etwas anderem, Scharfem, Unbekanntem, das keiner von ihnen bisher gerochen hatte.

Da lag also ein Tier, ein großes dickes totes Tier.

Die langen dunkleren Pelzgrannen waren verklebt, die Unterwolle schimmerte flockig, heller, sie steckte voller Kiefernnadeln. Langsam bildete sich eine kleine Pfütze auf dem Tisch. Es lag da, das Tier, wie eine riesenhafte braune Maus oder Ratte mit dicker stumpfer und ziemlich hellhäutiger Nase und vergleichsweise winzigen Ohren. Stumm, verlegen stand die Klasse, drängelte, stieß höchstens, um besser sehen zu können.

Lehrer Schaper beugte sich herab, betastete das Tier mit seinem gelben Fallstift, hob ihm die Oberlippe an. Gewaltige Nagezähne mit braunrötlichem Schmelzbelag wurden sichtbar; mit einem kleinen Biss hätten sie den gelben Stift zertrennen können, aber alles blieb ruhig.

"Ehh!", sagte Corina und schüttelte sich.

"Ein Biber. Ein toter Biber."

Nun war es heraus. Niemand in der Klasse, der schon je einen lebenden gesehen hätte, auch Lehrer Schaper nicht. Castor fiber albicus, der Elbbiber.

"Wo hast du ihn her?"

"Gefunden", antwortete Joochen. "Gestern drüben im Bruch gefunden. Lag dort gleich am Weg, taute unterm Schnee hervor, ich denke, was ist denn das? Ganz nass ist er noch, Sie sehen ja selber. Den ganzen Rucksack hat er mir eingesaut..."

Joochen musste schlucken, vor Aufregung oder Empörung. Jetzt hier in der Öffentlichkeit sah das Tier noch anders aus als gestern im schackrigen Wald oder abends im Schuppen. Es war ungeheuerlich.

"Und du hast ihn einfach so mitgenommen? Wenn er nun die Tollwut...?"

Schon bekamen welche käsige Gesichter, wischten sich die Hände ab, mit denen sie mal eben den Biber angetippt hatten. Bloß das nicht!

"Vielleicht hat er ihn selber erschlagen?", vermutete Knut Wiedermann.

Joochen schüttelte überlegen abweisend den Kopf, kramte in der Tasche. Vorsichtig öffnete er die Handfläche.

"Und was ist das?"

Inmitten der roten Hand, wo schwarzkrustige Linien zu einer murkligen Grube zusammenkrochen, lag zwischen Krümeln, Bröseln und einer etwas verbogenen Zahnklammer eine kleine, graue, matt glänzende Bleikugel, etwas kleiner als Luftgewehrmunition.

"Auf den hat wer mit Schrot geschossen. Das Genick ist ganz hin. Den hat wer ermordet. So!"

Ermordet. Ein hartes Wort. Aber wer da eben noch darüber lachen wollte, verstummte. Denn da lag das Tier, bewegte sich nicht, und nur die Wasserlache auf dem Tisch wurde immer größer. Schimmerte sie nicht vielleicht ein bisschen rot?

"Wer das gewesen ist! Der kann ja was erleben!"

"Wie willst du ihn kriegen, Mann?"

"Aber eine Gemeinheit ist das, sag bloß nicht?"

Der Lehrer sah von einem zum anderen, und er merkte, es gab keinen, der unbeteiligt gewesen wäre.

Wahrscheinlich hätten sie weiter so dahingelebt wie bisher, dachte er, wie alle Tage, mit ihren großen und kleinen Sorgen, ihren Freuden und Freundschaften, ihren Kabbeleien, aber dieses Ereignis verändert sie plötzlich, macht sie zu Partnern. Rüttelt sie auf.

Sie standen etwas verlegen, betasteten ratlos die schwarzen röhrenförmigen Grabekrallen der Vorderläufe, hatten diesen eigenartig strengen Apothekengeruch in der Nase und überlegten. Da war keiner, der nicht bereit gewesen wäre, etwas zu unternehmen.

Aber was?

Es war einer jener seltenen Augenblicke, wo alle sich einig sind. Der erste Biber, den sie je sahen, war ein toter. Vielleicht gar der letzte seiner Art.

"Den müsste man ausstopfen!", sagte Knut Wiedermann rau. "Und dann für die Schule, fürs Biokabinett..."

Das war verlockend. So hätte man ihn immer bei sich, könnte ihn bei den Schlossführungen voll Stolz allen zeigen: Seht her, der letzte Biber, wir haben ihn, sozusagen in letzter Sekunde noch, erhalten...

Der Lehrer strich sich über die Stirn.

"Ich erinnere mich dunkel, irgendwo gelesen zu haben", sagte er langsam und nachdenklich, "dass alle Totfunde der vom Aussterben bedrohten Tiere gesammelt und wissenschaftlich untersucht werden. Man will die Ursachen ergründen, um Maßnahmen ergreifen zu können. - Ich werde mich erkundigen, wo das ist... Und du komm heute Nachmittag zu mir!", wandte er sich an Joochen. "Mit dem Rucksack, wenn du ihn nicht gleich hier lassen willst."

Er überlegte. In seinem Gesicht arbeitete es. "Und zieh dich vorsichtshalber warm an. Bis dahin weiß ich, was zu tun ist", fügte er hinzu.

Dann bedeutete er den Schülern, dass sie sich wieder auf ihre Plätze zu begeben hätten. Seine Augen blickten plötzlich freundlicher, wärmer.

2. Kapitel

In dem ungeheizten Fremdenzimmer von Ließmüllers Gaststätte "Zum Taubenschlag" ging Helmut Schaper auf und ab und war voller Unruhe. Über ein halbes Jahr hauste er nun schon hier, und er hatte den sterilen Mottenpulver- und Kleiderstaubgeruch immer noch nicht vertreiben können. Vielleicht hatte er auch nicht gewollt. Heute störte er ihn mehr denn je.

Er zog ein Bild aus dem Ausweis: Eine junge Frau mit etwas verkrampftem Fotolächeln hielt ein dralles Kleinkind auf dem Arm, schwer zu sagen, ob Junge oder Mädchen. Schaper wusste es. Diese zwei hatten zu ihm gehört und waren jetzt von ihm geschieden. Lächerlich die Begründung, die ihm die Margrit gegeben hatte: "Ich hab immer geglaubt, ein Lehrer hätte mehr Freizeit als die anderen; vormittags ein paar Stunden Unterricht - und dann die vielen Ferien. Du aber bist nur mit deiner Schule verheiratet, kennst kein Zuhause, keine Familie. Korrekturen, Mentorentätigkeit, jeden Schiet und Klunker lässt du dir anhängen. Nur deine eigene Familie, die gilt nichts bei dir. Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit! Wir sind dir doch bloß im Wege... Mach, was du willst, aber gefälligst ohne uns!"

Zuerst hatte er nicht glauben wollen, dass das endgültig war und dass ausgerechnet ihm das passieren musste. Dann versuchte er sich damit zu trösten, dass es vielen so ging wie ihm.

"Was willst du, das ist doch schon fast normal", hatte er seiner Mutter geantwortet.

Aber es nahm ihm sein Selbstvertrauen und seine Wärme. Er zog sich in sich selbst zurück. Nun hockte er hier in der ungemütlichen Kneipe in Lettrau und war fest entschlossen, sich auf nichts wieder einzulassen. Sich nicht zu engagieren. Sich abzukapseln, sich herauszuhalten, sich vorzubereiten auf den großen, den entscheidenden Schritt: Bewerbung um Einsatz in einem der jungen Nationalstaaten. Jetzt, da er durch nichts mehr gebunden war. Im Grunde hatte er das schon immer gewollt. Ja, Lettrau kam ihm zupass.

Und da musste der Junge auftauchen mit seinem Biber.

Ausgerechnet dieser Junge und ausgerechnet mit einem Biber. Du hättest ihm keine drei eigenen Schritte zugetraut, gestand er sich ein, und er vergegenwärtigte sich, wie Joochen Leböff immer stumm und teilnahmslos in der Bank saß, sich nie meldete, nach Aufruf mit einem roten Kopf sich mühsam zwei, drei Worte abstotterte. Der offensichtlich Angst hatte vor ihm, vielleicht des dahergeredeten Wortes mit dem Büffel wegen. Mein Gott, einer, der ein Scherzwort nicht vertragen kann, eine Memme. Und der war nun zu ihm gekommen, hatte Hilfe von ihm erwartet.

Das hatte ihn angerührt, da hatte er sich hinreißen lassen herumzutelefonieren. Hatte sich eingesetzt. Hatte schon viel zuviel getan.

Aber nun ist Schluss.

Es ist nichts dabei herausgekommen, wird er dem Jungen sagen, ich habe nichts erreicht. Am besten, du gehst wieder.

Es tut mir leid. Ja, das wird er sagen: Es tut mir leid, Großer Büffel, aber du musst wieder umkehren.

Wiederum, der Junge hatte ihn so gläubig angesehen. Und sich in der Stunde danach das erste Mal gemeldet.

Unschlüssig und mit sich selbst zerstritten, ging der Lehrer auf und ab.

Der Märzhimmel schleppte dunkelblau und schwer von Westen her über die Feldmark. Ein kühler Wind pustete durch und durch; mitunter war er voll von treibenden eisigen Wassertröpfchen. Die Knospen an dem sperrigen Fliederstrauch vorm Eingang schienen zwar schon dicker zu sein als vor drei Wochen, aber immer noch hart und knurplig und vor Nässe braunviolett glänzend mit erst ganz zarten hellgrünen Kanten. Der wirkliche Frühling war noch weit, trotz der fünf, sechs frierenden Schneeglöckchen unter dem Strauch.

"Hast du dich auch warm genug angezogen?" Lehrer Schaper sah zweifelnd auf den dünnen Jungen mit den großen roten Händen, die wie aufgesprungen in der Nässe aussahen, und er blickte in das Wetter hinaus und überlegte, ob er es denn tatsächlich wagen solle. Mit dem Rücken der Stulpenhandschuhe klopfte er Joochen gegen die Brust, um die Dicke der Kleidung festzustellen, und er dachte erschrocken: Mein Gott, nur Haut und Knochen, der Kerl.

"Nicht, dass du mir vom Sozius frierst! Du hast vielleicht keine Vorstellung, wie kalt das werden wird. - Warte, ich gebe dir noch einen Schal."

Er sah ihn einen Moment an mit durchdringenden, sehr hellen Augen, trat dann polternd ins Haus und kehrte mit einem grauen Strickschal wieder, gut, um die halbe Klasse darin einzuwickeln. Ein Geschenk seiner Mutter. Er legte ihn Joochen dreifach um den Hals, verknotete die kreuzweis um die Brust geführten Enden auf dem Rücken, wobei er den schweren Rucksack anheben musste, zögerte immer noch.

"Ich sage dir, es ist kein Pappenstiel!"

Joochen war von einer großen, wilden Freude erfüllt. Das Wetter, so erbärmlich es war, gefiel ihm, und das weiche wollige Kratzen des Schals am Hals gefiel ihm, und die unerwartete und ihm völlig neue Fürsorge des Lehrers gefiel ihm, aber alles wohl bloß deshalb, weil er den Mut gefunden hatte, etwas zu unternehmen wegen des toten Bibers, weil er etwas in die Wege geleitet hatte. Und das trotz der ablehnenden Haltung der Eltern, einzig auf Dörtes Rat hin. Es sollte nur endlich losgehen!

"Sie werden schon auf uns warten, dort, wo Sie angerufen haben. Wenn wir uns nicht bisschen beeilen..."

Der Lehrer hob die Schultern.

"Na gut", sagte er schließlich, "probieren wir's!"

Er trat den Kickstarter durch.

Hinter Lettrau konnten sie zügig aufdrehen.

Die Straße war breit und in dem flachen, leicht abschüssigen Land gut überschaubar; dazu war sie freigefahren, dunkel vor Nässe. Aber an den Rändern hatten sich breite schmutzige Bänder von Streusplitt angehäuft; mitunter lag auch welcher auf der Fahrbahn und prasselte gegen das Kotblech.

"Reifenmörder!", knurrte der Lehrer.

Wo die Kurven ausgebaut waren, zogen sich von den kranken, schmutzigen Randschneeresten breite Schmelzwasserrinnsale quer über die Straße. Das war nicht ungefährlich, besonders, wenn die Temperaturen wieder etwas anzogen, vorläufig aber machte es ihnen nichts aus.

Schaper fuhr achtzig. Sein ausgeblichener gesteppter Anorak blähte sich wie ein Krötenbuckel. Joochen presste sich krampfhaft dagegen, Schloss unter dem eiskalten Pfeifen und Fauchen des Fahrtwindes die Augen; er wollte nicht, dass sie tränten.

Für einen Moment ging es ihm durch den Kopf, ob es nicht gescheiter gewesen wäre, er hätte den Biber Biber sein lassen und wäre auf dem Hintern zu Hause geblieben. Der Rucksack zog und drückte an den mageren Schultern, die bestimmt schon blaue Flecken hatten, aber man konnte jetzt nicht groß herumhuppeln auf dem Sozius, die Last verteilen. So sank er immer mehr in sich zusammen, bis er spürte, dass der Rucksack auf der oberen Kante des Gepäckträgers auflag. Das erleichterte etwas.

Er dachte an seine Eltern und was die wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass er hier des Bibers wegen unterwegs war. Die Mutter hatte schon gestern beim Anblick des toten Tieres und des verschmutzten Anoraks fast einen Überschlag bekommen. Aber immerhin könnte er sich heut mit dem Lehrer herausreden. Der hatte ihn bestellt, das war Fakt. Und überhaupt!

Er reckte sich wieder, öffnete die Augen zu schmalen, verwegenen Schlitzen, verzog verächtlich den Mund. Und überhaupt war er jetzt nicht der ewig unsichere verklemmte Schüler Joochen Leböff, sondern Gordon Byk! Das war ein gewaltiger Unterschied!

Gordon Byk, der Rächer, der schon andere Dinger erlebt hatte als das bisschen Nieseln in der Luft. Gordon Byk, der hier einsam über die Landstraßen raste, um einen Mörder zu verfolgen. Der auch in den schwierigsten Situationen sein Lächeln behielt, denn er konnte es sehen lassen mit dem Gebiss, das er hatte. Der musste nicht so eine traurige Trense einklemmen wie dieser Joochen Leböff, der sie allerdings meist in der Tasche trug, weil er nicht herumlaufen wollte wie ein Gaul.

Als die anderen Joochen mit seinem Büffelnamen zu hänseln begannen, weil sie merkten, dass er sich hänseln ließ, da hatte er Gordon Byk erfunden.

Erst wollte er zwar Buffalo Bill sein, der mit Jippijee über die ganze Bande herfahren und sie zur Räson bringen würde. Aber dann las er, dass Buffalo Bill nur ein gewöhnlicher und vielleicht besonders skrupelloser Aasjäger gewesen sei, der massenhaft Bisonherden hinschlachtete und damit den Prärieindianern die Ernährungsgrundlage entzog. Und obwohl er das nicht glauben konnte und das Buch unwirsch aus der Hand legte, weil es ihm seinen Helden nahm, so wollte er doch von nun an nichts mehr mit Buffalo Bill gemein haben.

Gerade rechtzeitig fand er in Dörtes deutsch-russischem Wörterbuch die Vokabel Byk. Byk gleich Bulle, Büffel, Stier; Byk gleich Brückenpfeiler. Ein und dasselbe Wort. Blödsinn. Allmählich aber ging ihm auf, dass es da Ähnlichkeiten gab; das Ausladende der Hörner und der Brückenbögen, der gedrängte Bug von Pfeiler und Körper, das Wilde, Unüberwindliche, sich dem allgemeinen Strom Entgegenstellende.

Als Vorname gefiel ihm Gordon. Besser als Joochen - Knoochen. Das hatte etwas von Gordischem Knoten an sich: von Alexander dem Großen - von Welteroberern und schnellen Entschlüssen. So wollte er gern sein.

Ein Mann beginnt erst mit seinem Namen. Joochen Leböff nannte sich Gordon Byk. Und fühlte sich stark durch sein Pseudonym.

Die Nässe wurde jetzt durchdringender, eiskalter dünnfädiger Dauerregen, der ihnen ins Gesicht prasselte. Der Anorak des Lehrers wurde dunkler auf den Schultern.

Joochen drehte den Kopf zur Seite. Er hatte das Gefühl, als gefrören seine Wangenknochen zu Eis. Mühsam blinzelte er hinter der deckenden Schulter hervor.

Das ist Wahnsinn, was ich hier mache! dachte der Lehrer. Kompletter Wahnsinn! Wenn uns die Margrit so sehen würde, sie fasste sich bestimmt an den Kopf. Wegen eines toten Tieres! Als ob das den Aufwand rechtfertigte. Wenn dem Jungen was passiert, kommst du in Deubels Küche. Ach, Schaper, du wirst auch nie klug!

Krumme kahle Apfelbäume jagten mit einem Geräusch wie Sensenwetzen an ihnen vorüber; einmal strich im Gleitflug ein schmutzigweißer Bussard ab und blockte auf einem Feldstein auf. Die Erde taute jetzt sattbraun und schwarz unter den Schneeresten hervor. Manchmal standen ausgedehnte Pfützen auf den Äckern. Es war ein trostloses Bild.

An einem spärlichen, lückenhaften Waldstück von stakligen Kiefern, durch das der Wind fauchte, hielt der Lehrer an. Schwerfällig drehte er sich zu seinem Beifahrer um, schob die Brille hoch, die von außen nass und von innen beschlagen war.

"Ein Mangel, dass ich keine Scheibenwischer dran habe!"

Er putzte an der Sichtfolie herum.

"Besser, wir machen kehrt, was?"

"Warum?"

"Wenn du krank wirst, wie soll ich das verantworten?"

"Und wenn uns der Bibermörder durch die Lappen geht, wer soll das verantworten?"

"Du bist ganz schön fanatisch..."

Joochen hatte ein nasses rotes Gesicht und zog durch die Nase hoch, und Lehrer Schaper war innerlich gerührt, dass der Junge trotzdem nicht aufgeben wollte, obwohl man sah, wie es ihn mitnahm.

Hättest du ihm nie und nimmer zugetraut! dachte er.

"Lass man gut sein, es hat keinen Zweck!"

Langsam, mit den Füßen nachschiebend, wendete er die Maschine. Nun peitschte ihnen der Regen ins Genick. Zurück also!

"Wie viel Kilometer sind es denn noch?", fragte Joochen.

"Vielleicht zehn..."

"Dann fahren wir!"

"Nichts da! Ich habe die Verantwortung."

Helmut Schaper rückte die Brille wieder zurecht, drehte am Gasgriff. Als er den Gang einlegte, spürte er eine schlenkernde Bewegung hinter sich. Mühsam fing er sich ab.

Der Junge war nach hinten abgesprungen. Ein Glück, dass der weiche Rucksack den Sturz milderte.

"Bist du wahnsinnig? Was machst du da?", schrie Schaper ihn an. Joochen fingerte an sich herum.

"Wollte zu Fuß gehen..."

Sie blickten sich an. Keiner wich dem anderen aus. So dicht bei dicht schienen die Gesichter fremd. Sie sahen sich neu. Sie erkannten sich tiefer, weil jeder die Entschlossenheit sah in den Augen des anderen.

"Also gut. Aber zieh dir den Rucksack über den Kopf, dass du nicht so nass wirst", entschied Helmut Schaper schließlich. Kein Wort mehr. Es bedurfte keiner weiteren Erklärung unter Männern. Joochen stieg steifbeinig wieder auf. Wie Nadeln stach die Nässe ihn ins Gesicht.

Er versuchte, sich einen Regentropfen von der Nasenspitze zu lecken. Ihm war so, als hätte der Lehrer Gordon zu ihm gesagt.

3. Kapitel

Am Anfang war Joochen enttäuscht. Er hatte sich alles viel bedeutender vorgestellt. Der Situation entsprechend. Das hieß: Großstadtmaßstäbe.

Aber schon der Ort war nicht recht für voll zu nehmen: Kaum hatte die Straße, vom Wald hereinführend, die ersten Häuser erreicht, da schwang sie auch schon im Bogen wieder hinaus; es war das Ortseingangsschild nicht wert.

Ein wenig Hoffnung gab dann das Haus, vor dem sie hielten. Es reckte sich höher, stattlicher als die anderen, war von einer moosbewucherten Ziegelmauer umgeben, Lindenbäume davor und Kastanien im Hof - das machte schon was her. Und dann das Schild aus gestanzter Plaste:

Biologische Station Behrby - Landesforschung und Naturschutz.

Joochen straffte sich und ruckte den Rucksack zurecht, denn das war ja wahrhaftig nichts Geringes.

Aber seine Hochstimmung wurde rasch wieder gedämpft. Kein Pförtner, der sie anhielt, kein Hund, der ihnen entgegenblaffte, kein Namensschild und noch nicht einmal eine Klingel am Haus; sie traten einfach so ein und standen in einem langen halbdunklen Flur, mutterseelenallein.

Schließlich entschloss sich Lehrer Schaper nach mehrmaligem Räuspern, an der ersten besten Tür zur Linken anzuklopfen. Sie erhielten tatsächlich Antwort und traten ein.

Der Raum wirkte blendend hell nach dem dunklen Flur, weißes Neonlicht flimmerte von der Decke. Hinter einem Schreibtisch, wüst voll mit allem möglichen Papierkram, wuchtete sich ein langer Mensch hoch. Schmales Gesicht mit Indianernase, eine graue Haarsträhne, die zwischen den Augen herabhing. Olivgrünes verschossenes Hemd, am obersten Kragenknopf geöffnet. Großkarierter Westover. Der Mann versuchte, verbindlich zu lächeln. Es wurde eine Frage daraus.

"Ich hatte angerufen. Wir kommen wegen des Bibers", erklärte Lehrer Schaper.

"Ach so, ja. Natürlich. Wegen des Bibers also. So setzen Sie sich doch. Wollen Sie ablegen?"

Er reichte eine lange schmale Hand herüber, stellte sich vor: "Vornkal", versuchte, notdürftig auf dem Schreibtisch Ordnung zu schaffen; es wurde nur ein Hinundherschieben daraus.

"Wollen Sie ein Glas Tee? Sie sind sicher durchgefroren?" Er sprach in einem schleppenden, leicht schwingenden Tonfall, das G wie J und mit rollendem R.

Er stand auf, ging zur Tür, rief irgendwohin in den Flur hinaus: "Mutti, mach mal Tee!"

Joochen spürte hier, in dem überheizten Raum, wie ihm die Zähne zu klappern begannen. Er biss die Kiefer fest zusammen, aber das nützte nichts. Er überlegte, ob er nicht lieber die Klammer eintun sollte, aber dann traute er sich doch nicht, weil es nicht gut aussah und er dann so nuschelig sprach, und sie würde das Schnattern auch nicht aufhalten können.

So saß er denn, in sich zusammengesunken. Die Enttäuschung war ihm anzusehen.

Dieser kahle Büroraum mit dem blechernen Aktenschrank und dem Schreibtisch, an dessen Vorderseite ihm ein gelber Inventaraufkleber entgegenleuchtete, die Geländekarten voller Stecknadelköpfe an der Wand - ja selbst der Mann mit den, wie Joochen jetzt entdeckte, Kamelhaarpampuschen an den Füßen, als wäre er aus der Lettrauer Schule entlaufen - das alles war so gänzlich anders; als er es sich vorgestellt hatte, dass er jegliche Hoffnung verlor. Deswegen waren sie in dem Unwetter hierher gerast?

Ja, aber was hatte er denn anderes erwartet? Etwa, dass schon am Ortseingang Verkehrsposten stünden, die sie geleiteten, dass man bei ihrem Nahen die Torflügel aufriss und auf dem Hof dann ein Empfangskomitee bereitstand? O Joochen, Joochen!

Vornkal saß jetzt wieder hinter dem Schreibtisch, stützte den Kopf leicht auf, musterte seine Gäste aufmerksam. Wieder versuchte er zu lächeln. Es gelang ihm jetzt schon besser.

"Also erzählen Sie!", forderte er sie auf.

"Wie ich am Telefon schon sagte", begann Lehrer Schaper, "unser Joochen hier", er legte ihm die Hand auf die Schulter, "hat gestern in der Nähe von Lettrau einen toten Biber gefunden, vermutlich durch einen Schuss getötet, und den bringen wir Ihnen nun..."

Joochen versuchte mit klammen Händen den Rucksack zu öffnen, zurrte heftig an der Schleife, ließ den nun schon vielfach bestaunten Fund einfach auf die Erde plumpsen, blickte Vornkal triumphierend an: Was sagst du nun?

Der sagte gar nichts. Zwar machte er eine Bewegung, als wolle er das Ausschütten verhindern, aber da war nichts zu verhindern mehr. So zuckte er nur resignierend die Schultern, ging um den Schreibtisch herum, kniete sich hin, untersuchte.

Und eine Glatze kriegt er auch bald! dachte Joochen etwas gehässig und starrte auf die kahle Wirbelstelle, er müsste eigentlich Hintenkahl heißen...

Auf dem Flur polterten Schritte, dann wurden Stimmen laut. Jemand öffnete die Tür, und ein junger Mann in Armeetarnjacke und mit Langschäftergummistiefeln jonglierte ein Tablett mit bauchiger Teekanne und drei Tassen herein. Aus der Tülle stieg ein dünner Dampffaden auf.

"Die Frau vom Doktor schickt das. Zum Aufwärmen."

Joochen war im Moment verwirrt. Frau vom Doktor? Dann ist der Vornkal also...? Sieht man ihm gar nicht an! - Mit Kamelhaarsocken! Und der Neue, der Junge? Der mit den Seemannsstiefeln?

"Walter Randolf. Mein Mitarbeiter. Im übrigen Biberexperte, der richtige Mann für euch", stellte ihn Dr. Vornkal vor, dann wandte er sich an ihn, und seine Stimme klang nicht mehr so schleppend wie vorhin: "Wie steht's mit dem Hochwasser?"

Randolf sah sich suchend um, dann setzte er das Tablett kurzerhand auf dem Schreibtisch ab. Er reichte den Besuchern die Hand, drückte schnell und kräftig zu. Dabei begann er schon zu berichten.

"Verläuft planmäßig und normal. Paar Rehe haben wir rausgezogen auf der anderen Seite und wieder ausgesetzt. Der eine Bock hat mich ein bisschen erwischt, trotz Bastgehörn. Muss nachher mal Sepso draufmachen. - Ja, mit Abgängen ist zu rechnen, beim Rehwild, aber der Bestand erholt sich ja immer schnell.

Den Bibern wird es wohl nichts geschadet haben. Zwei Jungbiber hatten den Rettungshügel angenommen... Wenn das Wasser steigt, werde ich morgen früh noch einmal rausfahren."

Mit aufgesperrtem Munde hatte Joochen zugehört. Der da vor ihm stand mit offenem, jungenhaftem Gesicht, mit herabhängenden Langschäfterstulpen und aufgeknöpfter Tarnjacke, der sich hin und wieder beim Erzählen eine tiefe rote Schmarre an der Daumenwurzel ableckte und dessen Kleidung so roch wie Großvaters alter Rucksack, fremd und wild - schien es nicht ganz und gar Gordon Byk zu sein, wie er ihm vorschwebte?

Das gibt's nicht! dachte Joochen, und er fühlte eine heiße Welle Sympathie für diesen selbstsicheren jungen Mann. Er fühlte sich zu ihm hingezogen wie zu niemandem zuvor.

"Den Biber dort habe ich gefunden", sagte er und deutete auf den Fußboden.

"Ja, ich seh schon", erwiderte Randolf interessiert und hockte sich hin wie soeben Dr. Vornkal. Seine Knie mit den starren Langschäfterstulpen waren breit nach außen gespreizt.

"Bis zum Sezierraum haben wir es wohl nicht mehr geschafft?", bemerkte er. Dr. Vornkal hob nur wieder resignierend die Schultern und deutete mit einer Kopfbewegung entschuldigend auf den Jungen.

Randolf begutachtete das Tier, drehte, wendete, befühlte es.

"Ein dreijähriger Bock", murmelte er vor sich hin. "Sicher zur Ranz unterwegs, um ein Weibchen zu suchen. Der liegt aber schon eine Weile, wie? Schade, er ist gut über den Winter gekommen. Seine zwanzig Kilo wird er haben, schätze ich."

"Mindestens", sagte Joochen und rieb sich seine Schultern. "Und was wird nun?"

"Wir werden die Todesursache ermitteln und ihn dann einschicken. An der Universität wird man biochemische Untersuchungen vornehmen, feststellen, ob er Parasiten hat..."

"Er ist erschossen worden!"

"Hast du es gesehen? Warst du dabei?"

"Sie sagen ja selbst, dass er schon lange liegt. Nein, ich habe die Beweise!"

Wieder wurde die murklige kleine Schrotkugel vorgezeigt, wieder in Gemeinschaft mit dem anderen Tascheninhalt. Verlegen steckte Joochen schnell die Zahnklammer fort.

Randolf erhob sich, betrachtete eingehend das Beweisstück.

"Gut, das wäre schon ein Anhaltspunkt. Überlass sie uns, vielleicht nützt sie. - Ich sehe da eine Menge Trödel auf uns zukommen. Nehmen wir das Protokoll auf, was, Chef?"

"Na, trinkt erst mal. Der Tee wird ja noch kalt", meinte Dr. Vornkal. "Der Biber läuft uns nun nicht mehr weg. Leider." Er goss mit umständlicher Armbewegung ein.

Die dritte Tasse, die eigentlich für ihn selbst gedacht war, schob er Randolf zu. Joochen fand das mächtig anständig von ihm, wo doch Randolf wie er selbst aus Kälte und Nässe kam. Der Doktor stieg wieder in seiner Achtung.

Der holte inzwischen einen Plastesack, tat den toten Biber hinein, spannte dann einen Bogen in die Schreibmaschine, um das Protokoll aufzunehmen. Genau musste Joochen berichten, wann, wie und wo. Insbesondere das Wo interessierte sehr, und er musste auf der Karte zeigen, an welcher Stelle im Bruch das war. Erstaunlicherweise kannte sich Randolf ziemlich gut aus, und der Name Heufuderloch war ihm ein Begriff.

"Warum hast du ihn mitgenommen?"

Warum? Joochen zuckte die Schultern.

"Kann man den denn da verkommen lassen? So ein seltenes Tier?"

"Und du hattest gleich den Rucksack parat?"

"Nee!" Joochen lachte. "Natürlich nicht. Den habe ich mir erst zu Hause gesucht. Erbstück von meinem Opa. Erst wusste ich gar nicht, wie ich den Biber nehmen sollte, aber dann dachte ich, den findet jemand, und dann ist er weg. Also auf den Armen, und als das nicht mehr ging, quer über einen Windbruchstuken und mit dem Hals drunter. Im Genick hab ich ihn nach Hause geschleppt. - Mein Anorak sieht vielleicht aus! Den will mir Dörte erst mal heute waschen."

"Und wer ist Dörte?", erkundigte sich Randolf.

"Seine Schwester. Zehnte Klasse", meldete sich Schaper zu Wort.

Während der Protokollaufnahme hatte er ziemlich stumm dabeigesessen.

"Netter Zug von dem Mädchen", kommentierte Randolf, "findet man selten..."

Nachher saßen sie noch zusammen und fachsimpelten. Der Lehrer nutzte die Gelegenheit, an Ort und Stelle Wissenswertes über die Naturschutzarbeit zu erfahren, und Joochen ging es mehr um den Biber speziell.

Die Wissenschaftler freuten sich über das Interesse an ihrer Arbeit, das sie nicht sehr oft zu spüren bekamen hier in ihrem abgeschiedenen Ort Behrby. Außerdem wollten sie die zwei nach ihrer anstrengenden Fahrt nicht gleich wieder davonschicken.

"Aber der geschossen hat", fragte Joochen, "gibt's denn das, dass da einfach so einer wie der einen Biber über den Haufen knallen darf?"

"Das gibt's natürlich nicht", sagte Dr. Vornkal mit seiner schleppenden und schwingenden Redeweise. "Das gibt's überhaupt nicht, das gab's noch nie! Selbst beim Alten Fritzen kostete es fünfzig Reichsthaler Strafe, wenn einer einen Biber wilderte, und dem ging's nur um die Felle, vielleicht ums Bibergeil. Uns aber geht es um die Erhaltung der Art!"

"Gesetzt den Fall, man findet den Unglücksschützen, was sicher nicht leicht sein wird - was geschieht mit ihm?", wollte der Lehrer wissen.

"Es gibt entsprechende Rechtsgrundlagen", erklärte Randolf, "danach wird er beurteilt. Wahrscheinlich ein Ordnungsstrafverfahren. War es ein Mitglied der Jagdgesellschaft, und den Anschein hat es, werden wir Entzug der Jagderlaubnis beantragen. War es ein Wilderer, kommt ein Strafverfahren wegen unerlaubten Waffenbesitzes hinzu. Aber das glaube ich nicht. Bewusst gewildert wird heute nicht mehr."

"Nicht mehr?"

"So ist es. Seit Beginn der sechziger Jahre, als man auf einmal nicht mehr die wertvollen Pelze nach Westberlin verschieben konnte, hat sich der Bestand merklich erholt. Das ist erwiesen; wir haben Statistiken geführt."

Nach einer Weile sagte der Lehrer beeindruckt: "Dass wir mit der Sicherung der Grenze den Biber vor dem Aussterben bewahrt haben, hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Das ist ein interessanter Fakt. - Es stimmt doch, was ich jetzt sage?"

Die Männer von der Station sahen sich an, zuckten die Schultern.

"Wissen Sie", erklärte Dr. Vornkal und begann mit einem Stift zu spielen, "es gibt Kollegen von uns, durchaus ernst zu nehmende Kollegen, die behaupten, in zehn Jahren gibt es keinen einzigen Elbbiber mehr. Wir beide", er deutete auf sich und Randolf, "teilen diesen Pessimismus nicht, aber wir sind keine Propheten. Die Lage ist ernst genug. Es gibt gegenwärtig noch um die vierhundert Exemplare.

Unser Problem sind nicht die gelegentlichen Totfunde, unser Problem ist der progressive Biotopverlust. Die Einschränkung des Lebensraumes, verstehen Sie? Der Biber braucht Altwässer und Sumpf, er braucht Niederungen mit vielen Weichhölzern und artenreicher Wasserflora - wasserbauliche Maßnahmen, wie Meliorierung und Uferversteinung, Vorfluter, Entwässerung der Sümpfe, Flurholzbereinigung - das ist für ihn der Tod. Noch nicht einmal in erster Linie die Abwasserbelastung der Flüsse, obwohl die auch zu Sekundärschäden führen kann, aber die Erfahrung zeigt, dass der Biber sogar stark verschmutzte Gewässer, wie zum Beispiel die Mulde, annimmt, wenn der Biotop ihm zusagt. So, und nun machen Sie sich Ihren Vers darauf!"

"Eine Garantie für die Arterhaltung, wenn Sie so wollen", ergänzte Randolf, "gibt es nur, wenn es uns gelingt, Biber und Biberbiotop sinnvoll in unsere hochkultivierte Landschaft einzubeziehen. Und diese Sache schaffen wir nicht allein, nicht eine Handvoll Wissenschaftler, und seien sie noch so besessen. Da müssen wir in die Betriebe gehen, mit dem Gesetz in der Hand, und auf den Tisch klopfen und sagen: Hier, Betriebsleiter, richte dich danach, sonst...! Kein Staat der Welt hat etwas Gleichwertiges zu bieten wie unser Landeskulturgesetz vom 14. 5. 1970. Man muss es nur kennen. Das beste Pfund, mit dem wir wuchern können, ist eine breite Aufklärung der Bevölkerung. Wir haben allein in der Biberbeobachtung hundertsiebzig ehrenamtliche Helfer, ganz abgesehen von den staatlichen Einrichtungen bei den Räten der Bezirke und Kreise. Nur in Gemeinschaft mit diesen Institutionen haben wir eine Chance, wirksamen Naturschutz zu betreiben."

Das war das Stichwort, auf das Joochen gewartet hatte. Da saß er hier in der Männerrunde als gleichberechtigtes Mitglied, mehr noch, ohne sein Handeln wäre sie nie zustande gekommen. Das gab ihm den Mut.

"Kann man da mitmachen?", fragte er beklommen.

"Das liegt an dir. Wir freuen uns über jeden", antwortete Randolf und erhob sich. "Aber jetzt muss ich erst mal diese alten Treter von den Füßen kriegen, ich glaube ja, ich stehe in einem Aquarium. Und ich habe keine Lust, auch noch wunde Füße zu bekommen wie der Doktor..."

Joochen schluckte. Daher also die Kamelhaarpampuschen. Und er hatte es für Bequemlichkeit gehalten!

Randolf erwähnte beiläufig, dass er beim Bergen des Rehbockes hatte über Bord springen müssen, und das Wasser war tiefer, als er vermutet hatte.

Gordon, dachte Joochen begeistert, Gordon Byk, wie ich ihn mir vorgestellt habe!

Auch der Lehrer stand auf.

"Meine Güte, es wird ja schon dunkel, und wir mit der ES..."

"Sie können den Jungen auch hier lassen", schlug Dr. Vornkal verbindlich vor. "Wir richten die Dachkammer her, und morgen kommt er mit dem Bus nach."

Die Aussicht war verlockend, aber Joochen lehnte ab. Er wollte nicht als Memme gelten. Nicht vor einem, der in das strudelnde, quirlende Hochwasser gesprungen war. Nicht vor Gordon Byk.

"Vielleicht habe ich vor dem bisschen Mückenspucke Angst!", prahlte er und spürte gleichzeitig, wie eine heiße Welle ihn zu überfluten schien. "Ich bin doch nicht aus Zucker!"

Er schloss die Augen, die Welle gab ihn wieder frei.

So zogen sie denn die feuchte Kleidung wieder über. Joochen nahm den schlaffen Rucksack auf. Im letzten Moment hängte Randolf dem Jungen noch ein altes Regencape um.

"Und wenn es wenigstens etwas Wind abhält! Kannst es ja bei Gelegenheit zurückbringen oder schicken", schlug er vor, "und grüße deine Schwester von mir. Sie imponiert mir."

Als Joochen hinter dem Lehrer zusammengekauert durch den nasskalten Abend raste, hatte er das Gefühl, als hätte sich soeben etwas Entscheidendes in seinem Leben ereignet.

Er biss die Zähne zusammen und trotzte der Kälte.

4. Kapitel

Ehe Joochen mit steif gefrorenen Fingern den Klingelknopf ertasten konnte, wurde ihm schon die Tür geöffnet. Es war Dörte.

"Ich habe Schapers Hirsch gehört", flüsterte sie. "Da dachte ich mir, dass du es bist. - Dicke Luft!"