Die Wildgrube - Bernd Wolff - E-Book

Die Wildgrube E-Book

Bernd Wolff

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Beschreibung

Dieses Buch beginnt mit dem Ende eines schönen Sommerurlaubs in den polnischen Beskiden und mit einem ziemlich heftigen Zusammenstoß: „Werner! Gib acht! Das Tier!“, schrie die Mutter. Frederic fuhr auf. Rechts im Jungwuchs, dreißig Meter vor ihnen, undeutlich im Gefleck von Licht und Schatten, stand groß und rot ein Stück Wild hart an der Fahrbahnkante. Der Vater trat so heftig auf die Bremse, dass es alle nach vorn riss. In dem Moment sprang das Tier. Es traf genau gegen die Frontscheibe. Ein Hagel von Glas überschüttete sie. Frederics Kopf prallte gegen den Nacken des Vaters. Der Wagen brach aus, schlingerte, schüttelte, bockte. Als der Vater ihn fast zum Stehen gebracht hatte, rutschte er seitwärts in den Graben und knallte gegen einen Baum. Krachen, Klirren, Knirschen. Stille. Frederic hob den Kopf, unwillkürlich fuhr die Hand zum Mund, der schmerzte wild. Da begriff er. Dort hingen die Eltern, die Schwester unbeweglich. Gepäckstücke waren durcheinandergepoltert. Er riss und stemmte an seiner Tür, die sofort nachgab, fast wäre er hinausgestürzt. Der Boden war hier tief und schräg, sodass er kaum festen Halt fand. Die Familie kommt ins Krankenhaus, wo auch der 13-jährige Junge gründlich untersucht wird, zum Glück hat er keine bleibenden Schäden und darf als erster wieder nach Hause – allerdings allein. Zum ersten Mal ganz allein. Und er ahnt schon, worum er sich alles kümmern muss: Blumen gießen, Staub wischen und saugen, Aquarium sauber machen, Treppe und Hausflur aufreiben, für Susanne die Schularbeiten besorgen, wenn sie so weit ist. Mit ihr üben. Und die Urlaubssachen, die müssen doch wohl noch da irgendwo in dem Auto sein ... Alles wegen dem Biest! Und natürlich hat er eine große Wut auf dieses Biest, mit dem ihr Lada so kurz vor zu Hause zusammengestoßen war. Er hat aber nicht nur eine große Wut auf das Tier, sondern auch eine Idee. Zunächst einmal kehrt er zum Ort des Unglücks zurück und schaut nach, ob dort noch etwas zu sehen ist: Frederic suchte die Stelle, an der das Wild plötzlich aufgetaucht war, fand auch im feuchten Boden des Jungholzes den Wechsel ohne Mühe, sprang hinab und forschte in dem schlammigen Durcheinander nach Spuren, erklomm die Böschung mit heftigem Ruck, vernahm grelles Hupen. Haarscharf rauschte es an ihm vorbei. Und dann entwickelt er einen Plan, wie er sich rächen kann – am besten wie die Urmenschen, die auch schon Tiere in Wildgruben gefangen hatten. Doch beim Ausheben einer solchen Falle wird er beobachtet …

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Impressum

Bernd Wolff

Die Wildgrube

ISBN 978-3-95655-039-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1988 bei Der Kinderbuchverlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Detlev Komarek

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Das Auto rauschte die lange kurvenreiche Bergstraße hinab. Es war, als blähe der warme Fahrtwind es auf, sodass man schlucken musste, um den Druck auf den Ohren loszuwerden.

„Eine Lust ist das, wie der Wagen läuft. Er wittert seinen Stall, unser Rolleken“, sagte der Vater gut gelaunt. Er sang: „Müde kehrt ein Wandersmann zurück nach der Heimat, seiner Liebe Glück …“ Er dehnte sich. „Massiere mir mal den Nacken, Frederic, das Kreuz bricht mir durch. Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.“

Eigentlich war der Junge zu faul. Zwölf Stunden endloser Fahrt fast ohne Pausen in dieser Hitze, warten am Zoll, warten an der Raststätte, warten an Tankstellen - das hatte ihn mitgenommen. Er fühlte sich verschwitzt und müde und hätte sich gern in die Ecke gekuschelt und gedöst wie die Schwester. Aber er begriff auch, dass es der Vater ungleich schwerer hatte. Seufzend rappelte er sich hoch und begann, die Schultern da vor sich zu knurpeln. Es waren knochige Schultern, die Muskelstränge wie harter Gummi, und Frederic walkte und kniff und verzog das Gesicht dabei. Er spürte, wie der Vater wohlig ächzend mitging. Der Hals, sonnenverbrannt und voller weicher blonder Härchen im Genick, rollte mit, der Kopf wiegte sich im Takt, mit Inbrunst schmetterte der Fahrer: „Und die Gärtnersfrau, so hold und bleich ...“

Frederic sah nah vor sich die Stelle am Wirbel, wo das Haar schon dünn wurde, sie war ihm noch nie zuvor aufgefallen, und es rührte ihn eigentümlich, so etwas wie Altern an dem Mann zu bemerken, der im Urlaub in den Beskiden so unverwüstlich mit ihnen gewandert war, getobt und getollt und herumgealbert und gebadet hatte. Es war der schönste Urlaub bisher gewesen, jetzt aber näherten sie sich ihrem Zuhause. Frederic kannte die Straße, jede Kurve zwischen den Bergflanken hinab, jedes Waldstück. Von hier konnten es nur noch sechs oder sieben Kilometer sein, ein Katzensprung.

„Lasst doch den Unsinn jetzt während der Fahrt“, tadelte die Mutter, „du gehst dann gleich unter die Dusche, Werner, da wirst du wieder frisch, achte lieber auf die Straße.“

Der Vater wandte den Kopf und blickte sie schmachtend an. Er sang: „... doch bei jeder Rose, die sie bricht, rollt eine Träne ihr vom -“

„Werner! Gib acht! Das Tier!“, schrie die Mutter. Frederic fuhr auf. Rechts im Jungwuchs, dreißig Meter vor ihnen, undeutlich im Gefleck von Licht und Schatten, stand groß und rot ein Stück Wild hart an der Fahrbahnkante. Der Vater trat so heftig auf die Bremse, dass es alle nach vorn riss. In dem Moment sprang das Tier. Es traf genau gegen die Frontscheibe. Ein Hagel von Glas überschüttete sie. Frederics Kopf prallte gegen den Nacken des Vaters. Der Wagen brach aus, schlingerte, schüttelte, bockte. Als der Vater ihn fast zum Stehen gebracht hatte, rutschte er seitwärts in den Graben und knallte gegen einen Baum. Krachen, Klirren, Knirschen. Stille.

Frederic hob den Kopf, unwillkürlich fuhr die Hand zum Mund, der schmerzte wild. Da begriff er. Dort hingen die Eltern, die Schwester unbeweglich. Gepäckstücke waren durcheinandergepoltert. Er riss und stemmte an seiner Tür, die sofort nachgab, fast wäre er hinausgestürzt. Der Boden war hier tief und schräg, sodass er kaum festen Halt fand. Er zerrte Susanne heraus, die schlaff und schwer in seinen Armen hing, schleifte sie ein Stück den Graben hinauf, bettete sie dort. Hastete zurück, versuchte die Fahrertür zu öffnen, schaffte es mit großer Anstrengung, riss den Vater hinter dem Lenkrad hervor, das so dicht an ihn herangerückt war. Wie ein Sack legte sich der Körper auf ihn, hing dann im Haltegurt fest, den er so schnell nicht lösen konnte, er heulte vor Verzweiflung. Er wusste nicht, wie es gelang, doch dann rutschte der Vater auf ihn, und er plagte sich mit ihm ab. Schon griffen helfende Hände zu, jemand musste inzwischen angehalten haben. „Mutti ist noch drin“, keuchte er, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Er kam zu sich, lange Zeit oder wenige Augenblicke später, weil ihm jemand in den Mund blies. Unwirsch schob er das Gesicht beiseite, richtete sich auf. „Liegen bleiben!“, herrschte ihn eine tiefe Stimme an. „Der Rettungswagen kommt gleich.“ Das Gesicht hatte er noch nie gesehen, Schnurrbart, Glatze. Es bedeutete ihm nichts.

„Ist Mutti raus?“, brachte er mühsam hervor. Die Lippe war ihm unförmig angeschwollen, es schmeckte nach Blut. Im Kiefer puckerte es.

„Ja, ja. Gib Ruhe!“ Das Gesicht verschwand, stattdessen öffnete sich über ihm der Himmel. Er war hoch und weit, die Wolken, die in großer Höhe dahinschwammen, hatten rötliche Säume von Abendlicht, und in einer Esche, die ihre Fiederblätter unbeweglich spreizte, sang, als wäre nichts geschehen, ein Amselhahn. Voll und rund tropften die Töne herab, und immer, wenn er später an diese Stunde dachte, verband sich ihm alles mit dem Abendlied der Schwarzdrossel. Er lag und dachte an nichts, außer dass er auf seltsame Art davongekommen war. Noch drang das Geschehen nicht mit aller Härte in sein Bewusstsein. Er war erleichtert und fand es beruhigend, einfach so dazuliegen und den Gesang in sich fließen zu lassen. Wenn nur der Schmerz in den Zähnen nicht wäre!

Dann neben ihm das tiefe Knurren einer schweren Maschine, so nah, dass es peinvoll den Schädel zu sprengen drohte, es ging auch nicht fort. Als es endlich erstarb, war auch von der Amsel nichts mehr zu hören. „Kann ich helfen?“ Eine fremde Männerstimme.

„Bist du Arzt?“ Das war der Glatzkopf.

„Nein. Aber manchmal ein bisschen Zauberer. Sie leben doch wohl alle?“ Schritte knirschten, näherten sich schließlich Frederic. Wieder beugte sich ein Gesicht über den Jungen, ein schmales Oval mit vom Sturzhelm angedrückten feuchtdunklen Haaren. Eindringlich forschende, fast schwarze Augen, leicht gebogener Nasenrücken, ein Mund, der überrascht lächelte. „Hier ist ja einer voll da. Halt durch, Junge, Hilfe naht. Beiß die Zähne zusammen.“

„Geht nicht“, es kam Frederic vor, als habe er eine Kartoffel im Mund, „die sind raus.“

Der junge Mann strich ihm über den Kopf. „Bist ein tapferer Bursche. Wirst auch wieder küssen können.“

„Was - was ist mit Mutti? Und Vati, sag!“

„Gleich ist der Arzt da. Reg dich jetzt nicht auf. Alles okay.“

Der Fremde erhob sich, nun war wieder der Himmel über Frederic. Undeutlich hörte er Gemurmel. „Wie ist das passiert?“ - „Dem muss was reingerannt sein, ein Reh oder was.“ - „Am hellerlichten Nachmittag?“

„Abend, Kamerad. Hast du mal eine Zigarette? Nichtraucher? Das ist dumm, mir zittern richtig die Knie. Als ich die Frau geborgen habe, ist mir bald schlecht geworden, das blutige Gesicht. Und leicht war die auch nicht gerade. Herrgott, wann kommen denn nun die Brüder?“ - „Ein Jammer, dass es auch immer wieder Kinder erwischt. Wie es aussieht, kamen die aus dem Urlaub, morgen geht die Schule an.“ - „Die Schule? Die kannst du vergessen, vorläufig.“ - „Hauptsache, es bleibt kein Dauerschaden.“ - „Sieh dir mal das Knie von dem Mann an, ganz verdreht. Und kein Aas von Arzt in Sicht. Ich muss weiter, Mensch.“

Frederic vernahm das alles, aber es gab keinen Sinn für ihn. Hatte da jemand den Fernseher laufen? Und was könnte das mit der Amsel zu tun haben, die ein paar Bäume weiter wieder sang und sang?

Oben fuhren die Wolken, unbeteiligt und purpurn, irgendwie war ihm, als spüre er das ungeheure Wirbeln der Welt.

„Da kommen sie“, sagte der junge Mann, „mit Blaulicht.“

2. Kapitel

Die Frau stand hinter der Gardine und schaute auf die Straße, als unten der Streifenwagen vorfuhr. Sie ahnte nichts Gutes.

„Mann, Ulf, wollen die wieder zu dir?“

Rademacher kam, mit bloßem Oberkörper, sich abfrottierend, aus dem Bad. „Wer soll was von mir wollen?“

„Na, die da, die Polizei.“

Er trat neben sie, lugte hinunter. „Der dicke Mehmicke. Kann schon sein, Ria, lass ihn gar nicht erst ins Wohnzimmer.“

„Bist du da?“

Er zuckte die Schultern, polterte unvermittelt: „Gerade wollte ich ein Bier trinken, hab mich richtig drauf gefreut.“

Der Hund bellte, ehe es klingelte. Rademacher drängte ihn ab ins Schlafzimmer, dann ging er öffnen. „Du, Hugo? Wo brennt’s denn?“ Es klang nicht sehr erfreut.

Der dicke Hauptwachtmeister war etwas außer Atem. „Eure Treppen, Ulf! Darf ich reinkommen?“

Widerwillig gab Rademacher ihm den Weg frei. „Ich komm gerade eben von der Schicht. War’n heißer Tag.“

Mehmicke ließ sich unaufgefordert in einen Sessel fallen und wischte mit dem Taschentuch Stirn und Nacken. Hinter der Tür miezte der Hund, kratzte an der Schwelle. Rademacher stand abwartend, seine Frau trat neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Also, die Sachlage ist so“, begann der Hauptwachtmeister, „vor einer halben Stunde hab ich einen Unfall aufgenommen. Oberhalb Beumke, an der geraden Strecke. Ein Lada, ziemlich lädiert. Insassen mit der Schnellen Medizinischen ins Krankenhaus. Ja.“ Er schaute die Frau an. „Zwei Kinder dabei.“

Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Das ist ja furchtbar“, sagte sie.

„Unfallursache, nach Zeugenaussagen, ein Stück Wild.“

Rademacher wurde hellhörig. „Also habt ihr’s nicht?“

„Nein, wir haben es nicht, konnten uns auch nicht drum kümmern. Aber du weißt ja, wie das in solchen Fällen ist: Tollwutverdacht und so, dir muss ich das nicht erklären.“

Rademacher warf wütend das Frottierhandtuch über eine Lehne. „Herrgott, warum kommt ihr damit zu mir? Ich hab Feierabend. Den ganzen Tag geschuftet bei dieser Glut. Zum Monatsende spielen sie doch immer verrückt, da muss der Plan erfüllt sein auf Biegen und Brechen. Warum gehst du nicht zum Prillwitz?“

„Hab angerufen, keiner nimmt ab. Also wird er auf Jagd sein.“

„Oder hinten im Garten, Bohnen pflücken, gießen, was weiß ich. - Zu mir kommst du vorgefahren.“

„Du hast kein Telefon. Und einer muss sich kümmern, je schneller, desto besser.“

„Ich muss mir erst eine Waffe besorgen, wer weiß, ob der Stützpunkt überhaupt besetzt ist, hätte doch Zeit bis morgen ... Ja, ja, schon gut, ich mach es.“

Mehmicke stand auf, wischte nun auch das Schweißband seiner Dienstmütze trocken. „Dass wir nichts gefunden haben, besagt nicht, dass das Tier nicht irgendwo im Graben liegt. Und dass der nächste Beste, der es entdeckt, es in seinen Kofferraum packt als willkommenen Braten. Sag nichts, das haben wir alles schon gehabt. Und wenn es tollwutpositiv ist, was angenommen werden muss, weil du nachher sowieso nichts mehr nachweisen kannst, dann die Fahndung, wer alles damit in Berührung gekommen ist. Eine ganze Lawine: Arzneikosten, Arbeitsausfall, das geht doch gleich in die ... zig Tausende. Besser ist es, du hängst mal deinen Feierabend dran, Ulf. Wärst vielleicht ohnehin auf Jagd gegangen. Na, mach’s gut, ich will noch veranlassen, dass das Unfallfahrzeug abgeschleppt wird. Weidmanns Heil also!“

Rademacher schloss die Tür hinter ihm. „Du hast es gehört“, meinte er resignierend zu seiner Frau. Sie legte ihm die Arme um den Hals. „Aber sag mal: Die Kinder, du! Ist das nicht schlimm?“

Er blickte sie abwesend an. „Da kümmert sich das Krankenhaus drum.“ Sie ließ die Arme fallen. Er suchte seine Jagdkleidung hervor. „Mir völlig unverständlich, so auf freier Strecke“, sinnierte er, „klar, da führt ein Rotwildwechsel über die Straße, und oben an der Unart steht das Warnschild. Aber das nehmen ja solche Leute nicht für voll.“

Sie sagte schroff: „Den Hund lass hier.“

Erstaunt blickte er auf, lachte irritiert. „Kannst du mir auch nur einen Fall sagen, wo bei Rotwild Tollwut aufgetreten ist in den letzten Jahren? Wer weiß, was das Stück jetzt schon aus der Dickung getrieben hatte, irgend so ein verrückter Pilzsucher vielleicht. Nein, das hat nichts gehabt, jede Wette. Außerdem ist Lümmel geimpft. Ja, wenn ich seine Nase hätte …“

Sie wandte sich ab. „Nein, du hast keine solche Nase, kein Gespür. Nimm ihn schon mit, ich hab eh noch zu tun.“

Was hat sie? dachte er immer noch in leichter Beunruhigung, als er eine halbe Stunde später an der Fernverkehrsstraße oberhalb vom Wegehaus Beumke die Beiwagenmaschine in einen Seitenweg schob. Ist es wegen dieser Kinder? Sie ist manchmal so komisch. Ja, wenn wir eigene hätten!

Der Wachtelrüde umtänzelte ihn blaffend, Rademacher nahm ihn an die Leine. Er griff die Doppelflinte, die man ihm am Waffenstützpunkt ausgehändigt hatte, die Patronentasche, das Fernglas, zurrte die Plane fest, überprüfte, ob alles sicher war, stand dann einen Moment, atmete tief. Es gelang ihm, die unruhigen Gedanken abzuschütteln.

Aus dem Bachtal drang feuchte Kühle herauf, schon hing Dämmerung in den Bäumen. Seltsam, dachte er, die Schwarzdrosseln flöten wie im Mai, was denen so einfällt. Langsam schritt er die Straße hinauf, ein nicht mehr ganz junger Mann in grüner Joppe, mit grünen Hosen und Jagdstiefeln, untersetzt und kräftig, ein Mann mit straffem Gang und aufmerksamem Blick, dem so schnell nichts entging.

Hinter der nächsten Biegung fand er das Wrack. Als er näher trat, knirschten die Krümel der Frontscheibe unter den Sohlen. Das Fahrzeug war seitlich gegen den Ahorn geprallt, der Baum hatte genau zwischen Beifahrersitz und Rückbank den Holm eingedrückt, das Verdeck geknautscht, das Chassis verbogen. Beide rechten Türen gingen nicht zu öffnen, dafür sperrten die auf der anderen Seite.

Rademacher verdrängte den Gedanken an die Insassen. Mehmicke hatte gesagt, sie seien ins Krankenhaus geschafft worden, also bestand doch wohl Hoffnung? Er ging herum, besah sich die Lage. Mit einem bisschen Glück könnten sie halbwegs glimpflich davonkommen.

Den Ahorn hat es auch böse zugerichtet, stellte er fest, Rinde abgeplatzt, Splint zerfetzt, da dringt über kurz oder lang die Fäule ein, schade um den Baum. Und nur, weil so ein Irrer denkt, es käme auf die drei Sekunden an, die er eher zu Hause ist. Bringt sich und die Kinder in Gefahr!

Er untersuchte die Wagenfront genauer, Lampen, Motorhaube. An der Fahrerseite fand er in der Fassung der Scheibe zwischen steckengebliebenen Glasbröseln eingeklemmt einige rote Haare, drahtig, mit leichter Spiraldrehung. Er zeigte sie dem Hund, der aufgeregt daran witterte. „Jetzt wissen wir’s, Lümmel. Ein Stück Rotwild, voll dagegen. Na, das ist beiden nicht bekommen.“ Er versuchte sich vorzustellen, wie es das Tier noch im Sprung in der Luft herumgewirbelt hatte durch den heftigen Anprall, sich auf der Fahrbahn mehrfach überschlagend, wie es dann mühsam wieder auf die Läufe gekommen und gegenüber in das Gekräut eingewechselt war. Aber ein tollwutkrankes Tier macht keine so hohen Fluchten, sagte er sich, das lässt sich einfach umschieben, dies hier hat die Gefahr erkannt und wollt ihr entkommen. Dem fehlte nichts.

Er führte den Wachtel zunächst an der linken Fahrbahnseite hinauf, die Rutschspuren beachtend und den Abrieb der Reifen. Fünfzig Meter oberhalb der Unfallstelle stieß er auf den Wechsel, der aus dem Jungwuchs links über die Straße führte und den er kannte.

„Such, Lümmel“, forderte er den Hund auf. Er rechnete nicht damit, auf der Straße irgendetwas zu finden; gäbe es wirklich Spuren, so hätten sie die später kommenden Fahrzeuge längst getilgt. So überquerte er den Damm und begann im jenseitigen Graben erneut zu suchen. Endlich schien der Wachtel etwas gefunden zu haben, aufgeregt fuhr er, die Nase am Boden, hin und her, zog und zerrte. Dennoch ließ Rademacher sich Zeit, prüfte selbst, glaubte auch, im Grase Rotes zu entdecken, doch das Licht war hier, wo Fichten dunkel herabhingen, schon zu ungewiss.

„Such“, trieb er erneut den Hund an, der nun zügig der Fährte folgte, an der wohl jetzt kein Zweifel mehr bestand. Erst steil bergan, dann immer am Hang hin, als habe das verletzte Tier Mühe gehabt, die Steigung zu nehmen. An einer Stelle, wo es offensichtlich längere Zeit verharrt hatte, fanden sich nun auch für den Jäger sichtbare Zeichen, er glaubte sogar so etwas wie Panseninhalt zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Der Hund zerrte und jappte, und Rademacher hätte ihn nun wohl schnallen können, doch er unterließ es. Nebel zogen durch das Gekräut, und in der Höhe kamen die ersten Sterne auf.

Der Jäger orientierte sich über die Richtung, in die das kranke Stück geflüchtet war, seitlich den Hang hinauf; er verließ die Fährte und ging den Berg direkt an. Dem Hund war es offensichtlich nicht recht, aber er folgte.

Oben breitete sich eine ehemalige Windwurffläche, die aber schon wieder aufgeforstet war. In ein, zwei Jahren würden hier sichtbar die Fichtenreihen das Bild bestimmen, jetzt aber dehnten sich weit und rot die Weidenröschen. Darin ein Stück Wild auszumachen war bei der schwindenden Helligkeit unmöglich. Dennoch prüfte der Jäger über den Lauf der Doppelflinte das Büchsenlicht, es reichte kaum mehr für einen halbwegs sicheren Schuss, nicht mit dieser Waffe.

„Also morgen, in aller Frühe, vor der Schicht“, redete er dem Hund zu. „Komm, Lümmel, halali!“

Als sie hinabstiegen, strich auf lautlosen Schwingen ein Waldkauz über ihnen mehrfach hin und her. Das Band der Straße schimmerte hell herauf, als habe es wie ein Fluss die letzte Tageshelligkeit eingefangen. Dort unten waren im Scheinwerferlicht Leute zugange; der Abschleppdienst holte das Wrack ab.

3. Kapitel

Erst im Krankenhaus kam Frederic zu Bewusstsein, dass das, was geschehen war, möglicherweise sein Leben verändern konnte. Zwar um sich hatte er keine Befürchtungen. Man hatte ihn behorcht, beklopft und geröntgt, ihm Blut abgenommen und Urin, man hatte seinen Blutdruck gemessen und ein EKG gemacht - die Kälte der Metallplatten an den Gelenken! -, nun lag er, angetan mit einem merkwürdigen, auf dem Rücken offenen Nachthemd, in einem fremden Bett und konnte und konnte nicht einschlafen. Wo ihm der Schneidezahn herausgebrochen war, bohrte und zog es, aber man hatte ihm Medikamente gegeben, der Schmerz blieb erträglich, beanspruchte ihn nicht voll. Wie viel fremde Menschen um ihn, seit der schnurrbärtige Glatzkopf ihm seinen Tabaksatem in den Mund geblasen hatte, aber - eben nur fremde!

Susanne lag zwar im gleichen Zimmer, drüben am Fenster, aber sie rührte sich nicht, piepte nur ein bisschen beim Atmen. Schwester Brigitte hatte ihm erzählt - beiläufig und beruhigend, während sie ihm das Bett richtete die Kleine habe eine Platzwunde am Kopf, inzwischen schon genäht. Wahrscheinlich sei sie mit dem Scheitel gegen die Tür geprallt, daher rühre dann wohl auch ihre Gehirnerschütterung. Außerdem zeigte die Röntgenaufnahme, dass ein Halswirbel leicht angebrochen sei, nichts Beängstigendes, mehr so eine Art Riss. Das verwachse sich in dem Alter ganz schnell, nur müsse das Kind jetzt vorsichtshalber diese Halskrause tragen, diesen Gipskragen, und ganz still auf dem Rücken liegen, damit es nicht etwa zu Komplikationen käme. Sie sei hoffentlich kein Zappel? Und wenn schon, schließlich habe man sie angeschnallt, ihr ein wirksames Beruhigungsmittel gegeben, da passiere gar nichts. Nur er, der große Bruder, müsse jetzt ein bisschen vernünftig sein und sie nicht anreden und stören.

Schwester Brigitte war groß und stabil und wirkte so, als gäbe es für sie überhaupt keine komplizierten Fälle; sie hatte versucht, ihm allerlei Tröstliches zu erzählen, aber das war übrig geblieben: die Kleine im Gipspanzer und wahrscheinlich auf längere Zeit hier in Behandlung. Frederic lauschte auf das Röcheln, und sein Herz schwoll ihm vor Mitleid.

Über die Eltern konnte oder wollte die junge Frau keine Auskunft geben, sie lagen auf einer anderen Station, in einem anderen Haus, ja in einer ganz anderen Straße.

„Was wird ihnen schon passiert sein? Nichts, was nicht zu reparieren wäre, denk ich, man muss immer das Beste annehmen. Wenn es dich beruhigt, kann ich ja in der Nacht mal rüberrufen, aber jetzt gibt es erst mal zu tun. Ihr seid nicht die einzigen hier und nicht die wichtigsten, andere brauchen mehr Hilfe. Ein ausgeschlagener Zahn, was ist das schon.“

Frederic starrte ins Dunkel, seine Glieder schienen ihm bleischwer, aber seine Gedanken waren aufgeputscht und wirbelten fortwährend Bilder hervor, als seien sämtliche Fernsehprogramme durcheinandergeraten. Da war das Freilichtmuseum in Roznov, rote Geranienblüten vor kleinen, balkenbraunen Bauernfenstern, das Rot wandelte sich in Blut, das auf Sitzpolster tropfte. Die kahle Stelle am Haarwirbel des Vaters, darauf sträubten sich winzige dünne Fussel wie Schimmel. Aus endlos hohem Wolkenblau tauchte das lachende Gesicht der Mutter wie aus perlender Flut, schüttelte sich, dass die Tropfen flogen, die auf einmal Bienen waren, golden summend vor Susannes Heidelbeermund, auf und nieder webend im Gegenlicht. Und dann flog etwas Großes, Massiges, Rotes auf ihn zu und überschüttete ihn mit gläsernem Hagel.

Nachträglich packte Frederic das Grauen, er fror am ganzen Körper, die Zähne schnatterten ihm. Nur allmählich gab sich der Schock. Dieses Biest, dachte er, ausgerechnet uns springt es in den Wagen, was hat es denn überhaupt dort zu suchen auf unserer Straße, warum tut denn da keiner was dagegen? Wut überkam ihn, er schlug mit den Fäusten auf das Deckbett, erschrak, blickte zu Susanne, die atmete schwer.

Das Biest, einzig und allein dieses Vieh, ist an dem Unglück schuld, dachte er, umbringen müsste man diese Viecher, radikal! Dabei waren wir schon so gut wie zu Hause.