Manne Forschtrat - Bernd Wolff - E-Book

Manne Forschtrat E-Book

Bernd Wolff

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Beschreibung

Diese Geschichte spielt in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Harz, in dem kleinen Ort Möncherode. Dort lebt Manfred Witteweg. Der wird von seinem Lehrer Hüttenrauch „Manne Forschtrat“ genannt, weil er in ihm einen künftigen Naturforscher sieht. Noch sind aber Ferien. Und da passiert es. Forschtrat lässt sich auf eine unvorsichtige Wette ein – mit einem noch unvorsichtigerem Wetteinsatz. Falls er gewinnt, bekommt er ein Fernglas, falls nicht verliert er Boiko, seine sprechende Krähe: „Den Bären binde mal wem anders auf! Blaubeeren ja, Himbeeren auch, Waschbären nein!“ „Waschbären doch, wetten?“ „Okee!“, versuchte sich Peeke in Englisch. „Wenn du mir einen zeigst, einen richtigen, denn schenk ich dir mein Glas!“ „Das biste jetzt schon los, Peeke!“ Peeke Siemer lacht, dass der Feldstecher auf seinem Bauch hin und her hüpft. „Du“, sagt er plötzlich, „wenn du bis Schulanfang keinen hast, also dann krieg ich deine komische Krähe, klarer Fall, ja?“ „Boiko?“ „Jetzt haste wohl doch Angst mit deiner Angeberei, Forschtrat, wa?“ „Angst! Vor dir wohl etwa. Ich hab gesagt, ich fang einen, und damit basta!“ „Ist ’ne Wette! Wie heißt das Vieh? Borke? Schon mal merken, den Namen ...“, prahlt Peeke überzeugt. „Den Käfig lieferste gleich mit, aber vorher schön anstreichen, rot ist meine Lieblingsfarbe!“ Und damit hat sich Forschtrat ganz schön was aufgehalst – eine böse Sache. Und er versucht zumindest einen jungen Waschbär in eine Falle zu locken – ohne Erfolg. Und es gibt noch mehr Schwierigkeiten – zum Beispiel mit der neuen Lehrerin, die nicht so viel Ahnung von Biologie zu haben scheint, obwohl sie auch dieses Fach unterrichten soll, und mit seiner Klasse, die ihn einfach auslacht. Da will Forschtrat einfach verschwinden. Doch das lässt Hüttenrauch nicht zu. „Merkst du denn nicht, dass so kein Mann handelt, einfach vor Schwierigkeiten ausrücken?“, erklärt Lehrer Hüttenrauch nun vollkommen ernst. „Wenn Darwin vor Schwierigkeiten haltgemacht hätte, wär er niemals mit der Beagle losgefahren, oder Humboldt oder Brehm, sie alle wären zu Hause hinter dem Ofen geblieben! Forschtrat, wer wird denn die Flinte ins Korn werfen, wenn die andern mal ein bisschen lachen! Die sind doch alle dumm, die wissen doch nicht, was mit dir los ist. Lach doch mit!“ Und dann stellt er ihm noch eine Frage: „Forschtrat“, sagt er, „was macht eigentlich unser Procyon lotor?“ Womit wir wieder bei den Waschbären wären und bei der Wette. Ob Manne seine sprechende Krähe behalten kann?

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Impressum

Bernd Wolff

Manne Forschtrat

ISBN 978-3-95655-043-0 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1968 bei Der Kinderbuchverlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Detlev Komarek

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Erstes Kapitel

Der August hat einen solchen Sommer zustande gebracht, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat, und Möncherode schon gar nicht. „Können Sie sich wohl mal erinnern, Herr Kanter“, fragt die alte Mutter Marten den noch älteren Lehrer Neunzig, der an seinem Krückstock vorbeihumpelt und über das Rheuma ächzt, „dass wir je solchen Sommer hatten?“

„Neun Monate Winter, die restliche Zeit kalt, anders kenne ich die Berge nicht, woher hätt ich denn sonst das Reißen, woher? Aber in der heutigen Zeit gelten wohl die alten Regeln nicht mehr, tjaja.“

Und der alte Lehrer Neunzig hinkt stöhnend weiter, hofft auf ein leeres schattiges Bankplätzchen im Kurpark, und Mutter Marten renkt sich wieder beim Fremdenstübchenfensterputzen die kurzen Arme aus und schimpft in Gedanken auf den Staub, den die Autos alle so machen, man hat immer nur Arbeit davon, immer nur Arbeit.

„Aber das sage ich dir, Hildchen“, zetert auch Frau Siemer im Selbstbedienungsladen und kramt den letzten Zehnmarkschein aus dem Portemonnaie, „wenn das nicht bald anders wird mit der Hitze, dann musst du uns wohl oder übel noch die Margarine anschreiben, mein Alter versäuft mir den letzten Groschen! Er sagt: ,Hau du erst mal bei diesen Temperaturen dicke Bäume um!‘, und er braucht das für seine Malaria, sein Magen kriegt sonst Sprünge. Auf die Sprünge will ich ihm schon selber helfen, aber denkst du, er macht sich was draus? Die Männer sind ja alle so unvernünftig heutzutage! Gib mal noch drei Flaschen Harzer Brunnen, ist ja auch egal jetzt …“

In der Forstsiedlung Hirschbraake blickt die kleine Frau Witteweg währenddessen sorgenvoll zum Himmel auf und beginnt das Wasser für die Nerze einzuteilen.

„Wie wird das bloß der Oskar aushalten da unten im Süden?“, seufzt sie dabei und sucht den Hohlweg ab, ob nicht bald der Briefträger kommt, doch der sitzt unterwegs unter einem Baum, die Hosenbeine hochgekrempelt, kühlt die rot gescheuerten Füße im Quellbach und liest erst mal Zeitung.

Auch Förster Paschek hat so seine Bedenken.

„Die Kulturen stehen gut, der Mairegen war Gold wert, aber die Bestände! Hoffentlich macht uns nicht noch letzten Endes der Borkenkäfer zu schaffen, wie damals, achtundvierzig! Arbeitet mir bloß schleunigst den Windbruch auf, müsste schon lange fertig sein, verdammt noch eins!“

„Von wegen!“, brummt Opa Witteweg, der Brigadier. „Die Gnitzen lauern in der Braake, und wehe, du wagst dich einen Schritt hinein! Bei lebendigem Leibe fressen sie dich auf, dies Viehzeug. Wenn das so weitergeht, müssen meine Leute woanders eingeteilt werden nämlich, oder wir lassen uns allesamt krankschreiben und fahren an die Ostsee hoch, so!“

Den August kümmern die Sorgen der Erwachsenen nicht. Tagtäglich schickt er seine Sonne über den Himmel, rund und reif und saftig wie ein Goldparmänenapfel, und die Dächer der alten Fachwerkhäuser von Möncherode biegen sich wie trockene Brotschnitten, das Kasekenhai und das Bielshai, der Wurzelbrink und das Kunstbachtal weiter oben leuchten feurig rot von dem Gepluster der Weidenröschen, und wenn man Glück hat und ist nicht Forstimker Heidetraus Arbeitsbienen in den Weg gerannt, dann kann man mittendrin die braune Kuhherde läuten hören und weiden sehen, und man unterhält sich ein bisschen mit Papa Palm, der dasteht, als ginge ihn das alles nichts an, den breitkrempigen Hirtenhut auf und an der dicken schwarzen Hirtenjacke man gerade den obersten Knopf aufgemacht, und darüber noch den schwarzen Lederrucksack und das Bandelier mit den glänzenden Messingbeschlägen, und er spricht unerschütterlich und weise: „Disse Bärenhitze, de gaht ook wedder, un wie schwinne de wedder gaht! Ek lat man vorsichtshalwer min Senndachstüg anne, denn bruuk ek mek öwer nischt te wunnern. Sett, Lux!“

Papa Palm wundert sich auch über nichts, noch nicht einmal darüber, dass sein Freund Manne heute noch nicht gekommen ist. Und auch an den anderen Stellen ist Manne nicht aufzutreiben, weder bei der Mutter in der Nerzfarm noch beim Opa im Walde, und schon gar nicht drückt sich Manne etwa unter Mutter Martens Fenster oder gar im Selbstbedienungsladen herum. Manne steht im Hof und weiß nicht recht, was er machen soll.

Au wei, denkt er darum, ich möcht jetzt lieber nicht der Vater sein da im Donaudelta, den Baustaub zwischen den Lippen, pui! Und Hütte, er krebselt sich bei dieser Glut im Tatragebirge ab, schlimm, schlimm!

Er lockt Boiko. Der hockt in der allerhintersten, allerschattigsten Käfigecke, lässt die schwarzen Schwingen herabhängen und japst in kurzen Atemstößen durch den weit geöffneten Schnabel. Er hat keine Lust, sich von Manne abrichten zu lassen.

„Du kriegst was Besonderes, mein Schöner, sollst mal sehen!“, redet ihm Manne zu und beschließt, zu Fleischer Immerling zu gehen die drei Kilometer. „Wie wär’s mit Hackus?“

Schon weiß Manne wieder, was er machen kann.

„Soso, hundert Gramm Gehacktes also?“. wiederholt Fleischer Immerling und verschränkt die behaarten Arme vor der blau gestreiften Fleischerschürze. „Hundert Gramm Gehacktes, wenn ich recht gehört habe? Soll dann vielleicht noch etwas dazukommen, ein Viertelchen Elefantenkeule zum Beispiel oder fünfzig Gramm Eisbärenschinken unter Umständen?“ Dabei rührt er sich nicht vom Fleck.

„Sie haben wohl so was nicht?“, fragt Manne entgeistert, steht missmutig vor dem Fleischerladen und überlegt: Sechs Kilometer für umsonst, was machen wir denn nun? Und da, gerade in dem Moment, läuft ihm Peeke Siemer in die Quere, Peeke der Lange, der Kapitän der 2. Schulfußballmannschaft, der Pionierkreismeister im Skispringen und - leider, leider - der drittschlechteste Schüler des vergangenen Jahres, aber noch sind ja Ferien, da braucht man an so etwas nicht gleich zu denken.

„Was hasten du da?“, fragt Manne und tippt Peeke vor den Bauch, „Wo hasten das her, men?“

Peeke wölbt den Brustkasten noch ein paar Zentimeter mehr hervor.

„Klasse, wa?“, lobt er und greift selbst danach und strafft mit einer lässigen Handbewegung den Trageriemen. „Hat mir mein Onkel vermacht, der Trainer ist, weißte, und ich soll mein Naturtalent nicht verkümmern lassen hier in dem Nest, Junge! - Du, das ist noch eins von früher, eins aus dem Krieg, du, da haben bestimmt mal Offiziere durchgekuckt oder Generale, so was kriegste heute gar nicht mehr, so’n Feldstecher, heiliger Bimbam!“

„Will ich auch gar nicht!“, erwidert Manne und blickt begehrlich das Fernglas an. „Blaubacke hat da auch ein viel besseres ...“

„Vielleicht hat der ein besseres! Aber nicht mit so was!“, trumpft Peeke hitzig auf und zeigt auf die Metallbeschläge, in die neben die Abbildung eines Soldaten in französischer Uniform Entfernungsmarken eingraviert sind. „Nicht mit so was, Forschtrat, du bist ja bloß neidisch.“

„Neidisch!“ Manne tippt sich an die Stirn. „Das hab ich wohl nötig, was! Ich hab meinen Boiko auch ohne so ein Dings gekriegt, und wenn ich bloß wollte, könnte ich auch ein junges Reh haben, und jetzt fange ich mir nämlich noch einen Waschbären, dass du es nur weißt! Und alles ohne deinen komischen Opernkieker von Urgroßvater Bräsig!“

Peeke biegt sich vor Lachen. Er klatscht sich auf die Knie vor lauter Vergnügen.

„Ist es ein Händewaschbär oder Ohrenwaschbär oder Abwaschbar? Dann fang dir man noch gleich einen Schuhputzbären dazu und einen Zähneputzbären und einen Kämmebären. Oder ist es vielleicht Teddy Bummi von Meister Nadelöhrchen?“

„Du brauchst es ja nicht zu glauben, du weißt ja auch gar nicht, was es hier alles gibt, ,in diesem Nest‘.“

„Aber keine Waschbären, das weiß ich zufällig genau!“

„Aber Waschbären, das weiß ich zufällig auch genau!“

„Den Bären binde mal wem anders auf! Blaubeeren ja, Himbeeren auch, Waschbären nein!“

„Waschbären doch, wetten?“

„Okee!“, versuchte sich Peeke in Englisch. „Wenn du mir einen zeigst, einen richtigen, denn schenk ich dir mein Glas!“

„Das biste jetzt schon los, Peeke!“

Peeke Siemer lacht, dass der Feldstecher auf seinem Bauch hin und her hüpft.

„Du“, sagt er plötzlich, „wenn du bis Schulanfang keinen hast, also dann krieg ich deine komische Krähe, klarer Fall, ja?“

„Boiko?“

„Jetzt haste wohl doch Angst mit deiner Angeberei, Forschtrat, wa?“

„Angst! Vor dir wohl etwa. Ich hab gesagt, ich fang einen, und damit basta!“

„Ist ’ne Wette! Wie heißt das Vieh? Borke? Schon mal merken, den Namen ...“, prahlt Peeke überzeugt. „Den Käfig lieferste gleich mit, aber vorher schön anstreichen, rot ist meine Lieblingsfarbe!“

„Dann streich dir sonst was rot an, dass du noch mehr aussiehst wie ein Pavian, meinen Boiko kriegst du jedenfalls nicht!“

„Erst abwarten, und dann Schnaps trinken, sagt mein Vater immer“, wehrt Peeke ab. „Kannst ihn ja denn am ersten September gleich mitbringen.“

„Den Schnaps?“

„Quatsch, den Bollkopp doch, oder wie das Biest heißt! Aber wehe, du vergisst es!“

Nur wenige der vielen Kurgäste, die mit schweinsledernen oder rindsledernen oder Papp- oder Luftkoffern, Reiselords und Campingtaschen nach Möncherode kommen, lernen in den vierzehn Tagen Urlaub den Steinklimp kennen, und die sich hineinverirren, kehren bald wieder um und freuen sich über das Tageslicht.

Aus einer schmalen Schlucht, durch die sich zwischen Brennnesseln und Springkraut und Farn und Himbeersträuchern und gewaltigen Fichtenfüßen und über Steinblöcke ein Bächlein zwängt und nebenher noch ein ganz schmaler Gehsteig, aus dieser Schlucht wuchtet eine mächtige zerschründete Felswand empor, von Birken besiedelt und Heidekraut und Heidelbeeren. Überall gähnen kleine Höhlen und Spalten und Verstecke, herabgestürzte Baumtrümmer sind an den Granitzacken hängen geblieben. Hin und wieder in einer Herbststurmnacht oder bei Frühlingsschmelzwasser springt plötzlich ein Steinblock auf und poltert und rappelt und stürzt sich zugrunde, zerknickt zwei oder drei Hirschholunderbüsche und zerschellt unten.

Auf der anderen Seite der Hang ist sanfter und bloß halb so hoch, mit dürrem hartem Gras bewachsen und wenigen Buchen und einer ganzen Menge Fichten, hohe, uralte Fichtenriesen, deren Ästearme selbst schon wieder wie kleine Baumstämme so dick sind und die der Felswand doch noch nicht einmal bis zum Bauchnabel reichen. So eine Schlucht ist der Steinklimp, den die Kurgäste kaum kennen und wo Manne nun schon den siebenten Tag hinter einem Felsvorsprung an der sanften Hangseite auf der Lauer liegt und bald verrückt wird vor der Fliegenwolke, die immer und immer über ihm summt.

Heute muss es klappen! denkt Manne, und er denkt immer nur das eine. Wenn nicht heute, dann klappt es überhaupt nicht mehr, dann höre ich auf.

Aber er weiß, wenn es heute nicht klappt, dann liegt er morgen wieder hier und dient den Bremsen als Frühstück und denkt: Aber heute ganz bestimmt!

Manne zerdrückt vorsichtig an seinem linken Unterarm eine Mücke, die da, den Rüssel in seiner Haut und das letzte Beinpaar elegant hochgebogen, sich seelenruhig satt getrunken hatte, und dort, wo sie saß, ist jetzt ein Blutfleck. Schon summen die lästigen Fliegen heran und wollen auch etwas davon haben. Ärgerlich scheucht Manne sie weg.

Wenn Hütte das wüsste! denkt er, und ihm ist etwas ungemütlich dabei. Hoffentlich kriegt er es nicht raus!

Kurz vor den Ferien hatte ihn Lehrer Hüttenrauch an diesen abgelegenen Platz geführt und gar nichts gesagt. Mitten in der Abenddämmerung, als sie schon bald wieder aufbrechen wollten und heimgehen, da hatte er ihn am Ärmel gezupft und in das Dunkel gezeigt. Da war plötzlich ein Tier wie ein Fuchs, aber ein Fuchs war es nicht, eher eine Wildkatze, aber eine Wildkatze schon gar nicht, obwohl Manne selbst noch in der Dunkelheit die geringelte Rute erkennen konnte. Aber so ein merkwürdiger Gang, so tollpatschig und tapsig, und plötzlich richtete sich das Tier auf den Hinterläufen auf, und mit einer Beweglichkeit ohnegleichen kletterte es einen Fichtenstamm hinauf und entschwand seinen Blicken, nur die Borkenschüppchen hörte er noch rieseln.

Nachher, auf dem Weg, als sie wieder sprechen durften, hatte Hütte ihn gefragt: „Na, Forschtrat, was meinst du?“

Manne sah ihn verlegen an und stockerte: „Dass Dachse auf Bäume klettern? Für Marder war es doch zu groß ...“

„Richtig!“, bestätigte Hütte. „Und was sagt unser kluger Brehm dazu? Procyon lotor, mein Lieber, der Waschbär ...“

„Ein Waschbär, ein Schupp?“

Jetzt wurde Manne erst richtig aufgeregt.

„Gar nicht so ungewöhnlich!“, beruhigte ihn Hütte. „In Westfalen kommen sie schon seit neunzehnhundertdreißig in freier Wildbahn vor, und wir haben in der Umgebung von Berlin ein Vorkommen von schätzungsweise an die tausend Tieren, du solltest mal die Obstplantagen- und Hühnerstallbesitzer fluchen hören! - Wie die Bären zu uns hergefunden haben, kann ich dir auch nicht verraten, ausgerissen wahrscheinlich aus irgendeiner Farm oder einem Zoo oder einem Zirkus ... Mal sehen, wie sie sich einführen.“

Später dann war er mit seinem Auftrag herausgerückt:

„Wir müssen sie ganz genau beobachten, ob sie den Singvögeln schaden und den drei Obstbäumen von Möncherode, genau, mit aufschreiben und so, aber ich bin die meiste Zeit nicht da, Ferienlager, Studienreise in die Hohe Tatra, Hochgebirgsflora, weißt du - rate mal, an wen ich da gedacht habe?“

So war Manne zu seinem Auftrag gekommen, und er hatte inzwischen schon festgestellt, dass da irgendwo ein Bau mit mehreren Jungtieren sein musste, und deshalb liegt er jetzt hier in der Steinklimpschlucht unter einer Fliegenwolke und lässt Papa Palms alte selbst gebaute Kastenfalle nicht aus den Augen. Wenn das Hütte wüsste!

Daran will Manne lieber nicht denken, was dann passiert, aber es kann auch sein, dass Hütte ihn versteht. Man muss sich das mal vorstellen: wie Manne mit einer sprechenden Krähe, einer Schildkröte, die Löwenmäulchenblüten, aber nur rote, frisst, einem Hund, der bei Fuß geht und auch sonst pariert, und einem Schupp, der an jedem Bächlein stehen bleibt und sich erst mal die Pfoten wäscht, wie Manne mit seinen Tieren durch Möncherode spaziert! Heimleiter Paulaths Kurgäste würden auf der Straße stehen bleiben und den Mund aufsperren, die Einheimischen würden sich bedeutungsvoll anblicken und sich zuflüstern: „Manne, der Forschtrat, der Tierfänger, der Dompteur, geht da, hast du schon gesehen?“ Und Schnippel, solche Augen würde sie machen, und Peeke, gelb und grün würde er werden vor Zorn und zähneknirschend sein Fernglas abliefern. Zum Schluss käme noch Hütte und sagte: „Forschtrat, ich sehe, dem Schupp geht es besser als in der Wildnis, ich könnt’ mich in den Bauch beißen, dass ich nicht selbst drauf gekommen bin!“ Und alle Welt würde sehen, was für Freunde Hütte und Manne sind.

Manne schnaubt ärgerlich. Kriecht ihm doch so ein Fliegenbiest in sein linkes Nasenloch! Mann, Mann, was man so alles ausstehn muss als Naturforscher!

Im Steinklimp aber, unten am Bach, lauert Papa Palms alte Kastenfalle. Rasch blickt Manne hinunter. Hat sich etwa schon was gefangen dort unten? Aber noch ist alles so wie vorher. Also - warten! - Das mit der Falle war ja auch so ein Ding! Manne ist es nicht ganz wohl, wenn er daran denkt.

Im oberen Kunstbachtal war Manne auf Papa Palm und seine Herde gestoßen. Wie immer, wenn sie zusammenkamen, hatten sie einen richtigen Männerschnack gemacht:

„Sag mal, Papa Palm, die alte Falle, die du da auf deinem Hof stehen hast neben der Werkstatt, wozu hast du die denn benutzt früher?“

Papa Palm blickte misstrauisch den Jungen an, den Ouark, den Dreikäsehoch, der da neben ihm stand, wollte der ihm auf den Zahn fühlen? Papa Palm zog seine kohlschwarz geräucherte Tabakspfeife aus der einen Tasche und aus der anderen einen riesigen prallen Tabaksbeutel aus Marderpelz und begann sich umständlich die Pfeife zu stopfen. Zwei-, drei-, fünf-, zehnmal pinkerte er an seinem Feuerzeug, fischte dann aus einer vierten Tasche eine Schachtel Streichhölzer hervor und rauchte an.

„Es ist nämlich, weil meiner Mutter, der ist neulich ein Nerzrüde ausgerissen, einfach nicht wiederzukriegen, aber der ist nicht weg, der kommt jede Nacht wieder, jeden Morgen siehst du unten seine Spuren. Ob man den damit ...?“

„Alles kannste dadermit fanken, Füchse un Wildkuder un in'n Winter sogar Hasen.“

„Ich denke, du hast nur Ratten und so’n Viehzeug damit gefangen, Papa Palm?“

„Ratten? Na ja, Ratten, immer feste weg, natürlich Ratten!“ Papa Palm hatte es nicht gerne, dass man sich heute noch in Möncherode Wilderergeschichten über ihn zuflüstert, das war früher, abgetan, Schluss! Mit dem kaputten Knie kann er sowieso man gerade noch die Kühe auf die Weide treiben, und das ist gut so, und mehr ist vom Übel.

Jetzt, nach sieben Tagen Ansitz, nach sieben Tagen zwischen Fliegen, Bremsen, Mücken, Gnitzen, nach sieben erfolglosen Tagen, da tut es Manne schon bald wieder leid, dass er überhaupt erst die schwere Falle von Papa Palm bis hierher geschleppt hat. Wäre nicht der Wunsch, einen jungen Waschbären zu haben, etwas, woran aber auch keiner aus der Schule nur im entferntesten denkt, Manne säße gewiss jetzt woanders! So aber nimmt er alle Entbehrungen auf sich.

Nach alter Gewohnheit sucht er die Felswand ab. Plötzlich zuckt er zusammen. War da nicht was? Angestrengt starrt er, bis es ihm vor den Augen flimmert. Da war doch was! Das Jagdfieber fällt über ihn her.

Und dann an einer ganz anderen Stelle, nur für einen Moment: ein listiges Fuchsgesicht, eigentlich höchstens ein Fuchs-Kindergesicht, und eben auch nicht Fuchs, sondern Waschbär - aber schon ist es wieder weg.

Manne schluckt und schluckt. Na, los schon! denkt er. Komm schon, ich tu dir doch wirklich nichts!

Plötzlich sind sie wieder da, zwei, nein, drei Junge, an einem umgestürzten Baumstamm spielen sie miteinander wie kleine Katzen, jagen sich, balgen sich, springen mit allen vier Läufen zugleich in die Luft, fühlen sich vollkommen unbeobachtet, so, als lauere nicht unten am Bach Papa Palms alte Wildererkastenfalle auf sie.

Nun macht schon! ermuntert sie Manne in Gedanken und bekommt ganz feuchte Handflächen vor Aufregung und einen ganz trockenen Gaumen. Tut mir doch schon den Gefallen!

Sein Herz hüpft wie dumm. Es wird gelingen, es muss ganz einfach!

Waschbär, denkt er, tu mir die einzige Freude und geh in die Falle. Du sollst es wunderbar bei mir haben, das verspreche ich dir! Im Wäldchen kannst du die Eier von Vater Zweizahns Puten suchen ... Komm, Waschbär, komm!

Manne liegt da, den Mund aufgesperrt, um mehr zu hören und leiser zu atmen, und seine Augen flehen den Waschbären an. Und die Waschbären ziehen sich allmählich den Hang hinab, nach dem Wasser zu, und Mannes Gedanken locken und locken.

Auf einmal richtet sich der eine, der größte, hoch, mit einem Ruck, ganz steif im Nu. Er windet nach unten, in die Schlucht hinein.

Manne erschrickt. Hat er ihn bemerkt? Hat sich der Wind gedreht?

Waschbär, es ist doch nichts, komm doch! Bitte!

Lange verharrt der kleine Schupp so, auch die anderen haben jetzt etwas mitbekommen. Plötzlich sind sie verschwunden. - Nein, dort tauchen sie wieder auf. Alle drei sichern nach der gleichen Stelle, und nun sind sie weg, endgültig, weg und basta, und Manne kann jetzt getrost aufstehen, einen Schlager pfeifen oder alle Fliegen totklatschen, die er in seiner Wut erwischt, oder auch nur mit einem Magen voll Ärger nach Hause gehen, das ist alles jetzt egal, denn: Es nähern sich Stimmen.

Manne erstarrt. Wer um alles in der Welt hat denn jetzt hier herumzukrauchen?

Förster Paschek etwa? Dann muss er flüchten.

Was aber dort unten auf dem schmalen Pfad herantänzelt, das sieht beim besten Willen nicht nach Förster aus, mit weißer Bluse und blauem Raschelmantel und einem graugelben Jägerhütchen auf und, ach du liebe Güte, mit Hackenschuhen an den Füßen! Dahinter der junge Mann mit den zweihundertsechsundsiebzig Locken auf dem Kopf ist auch nicht gerade ein wilder Jäger. Statt die Gegend zu beobachten und das Wild wahrzunehmen, starrt er das Jägerhütchen verzückt an und erzählt dem Schwanenhals darunter etwas und schert sich den Teufel um alle Waschbären der Welt!

Das ist ja nun die Höhe! denkt Manne und bläst die Backen auf. Können die sich wahrhaftig keinen anderen Weg aussuchen? „Eike“, sagt unten das junge Mädchen mit weicher dunkler Stimme, „Eike, wohin führst du mich hier bloß?“

In den Steinklimp, du dumme Gans! denkt Manne. Und hier hast du gar nischt zu suchen!

Das Mädchen bleibt stehen.

„Eike, ich hab Angst!“

„Wovor?“, fragt er verwundert.

„Denk doch mal“, sagt sie, „morgen, da lässt um diese Zeit dein Pilot gerade die Maschine anrollen, und überübermorgen zockelst du schon wieder durch die Straßen von Baku und stellst deine Koffer erst mal neben dem alten Nussverkäufer ab, der seine Nüsse alle selber isst, und dann schwitzt du weiter zum Internat hin, und ich armes Wurm sitze hier ganz allein und habe keinen Menschen, den ich kenne, alles so fremde Leute - kannst du mich nicht ein bisschen mitnehmen?“

Ihr könntet schon lange weg sein! denkt Manne, dann hätt ich wenigstens jetzt meinen Waschbären!

Der Lockenmann nimmt ihr Gesicht in beide Hände und reibt seine Nase an ihrer.

„Du Dumme“, sagt er, „du brauchst doch wirklich keine Angst zu haben ...“

Das geht Manne nun doch über die Hutschnur. Was zuviel ist, ist zu viel. Manne springt auf.

„Knutscht euch gefälligst woanders, aber nicht hier im Wald! Alles verscheucht ihr einem, Tolterjane!“, schreit er aufgebracht, und ehe die beiden sich gefasst haben, ist er schon zwischen den Büschen verschwunden, und es nützt auch gar nichts mehr, dass der junge Mann jetzt den Hang emporrennt: Manne ist nicht mehr aufzufinden.

Was soll ich denn man bloß jetzt Peeke sagen? denkt Manne verzweifelt, schon auf dem Weg nach Hirschbraake, und er köpft vor lauter Zorn eine Fingerhutstaude nach der anderen. Und ich hätte ganz bestimmt einen Waschbären gehabt, jetzt schon wär ich Waschbärenbesitzer gewesen. Diese verdammten Kurgäste aber auch!

Zweites Kapitel

Wer als Kurgast nach Möncherode in das wunderschöne Ferienheim TANNENBLICK eingewiesen wird, den schickt Heimleiter Paulath zunächst zu Onkel Thalmann in die „berühmte historische Schmugglergaststätte“ KÖHLERTRÄNKE hinter den Hosenbeinwiesen rechts. Meistens hat er dann schon für den Rest des Urlauberdurchganges seine Ruhe.

Ist aber jemand so unersättlich, dass er nach zwei oder drei Tagen um neue Wandervorschläge bittet, dann schabt sich der Heimvater am Kinn, und seine Stirn furcht sich nachdenklich. „Höchstens Hirschbraake - aber da ist keine Gaststätte, nur paar Häuser, da wohnt der Förster und noch zwei Familien. Uninteressant! Bleiben Sie man bei Onkel Thalmann.“

Heimleiter Paulath ist nicht von hier, sonst wüsste er, dass Hirschbraake früher einmal mindestens so bedeutsam war wie die KÖHLERTRÄNKE.

Einstmals entstand es als Mühle, und der Müller wusste genau, warum er sie mitten in der Braake, in Bruch und Sumpf, anlegte, wo ein Uneingeweihter sich bei Nacht und Nebel bös verirren konnte. Aber was hatte wohl ein Uneingeweihter nachts hier verloren?

Heute noch erzählt man sich, dass in den Mehlsäcken aus dieser Mühle wohl zeitlebens mehr Hirsch- und Rehwildbret gereist ist als Gerstenkleie, und den Giebel der heutigen Försterei schmücken immer noch verwitterte Zielscheiben von Schützenfesten, groß wie Wagenräder, die älteste, immer wieder nachgemalt und trotzdem kaum noch zu entziffern, mit der Jahreszahl 1759.

Als aber dann der Schützenkönig-Müller von einem seiner Wilderergänge nicht mehr zurückkam, weil, wie es in einer vergilbten Gerichtsakte heißt, „der forstgehülffe Beckmeyster ihn bey eynem seyner reviergänng hatt anbetroffen/ da er wollt eynen Reh Bock darvon thragen/ und hatt ihm eyne kugel in das hertz geschossen/ und ihn sollchermaszen vom leben zum thode gebracht/ und seynem gottlosen wilderer threyben eyn end gesetzet ..“, da fand sich niemand mehr, der in die abgelegene Mühle ziehen wollte, und die Gebäude verfielen.

Jahrzehnte später wurde Möncherode französisch, gehörte plötzlich, ohne dass es darum gebeten hatte, dem frischgebackenen Königreich Westfalen an, und sein König war Napoleons Bruder Jerome, den die Leute mit grimmigen Gesichtern und knurrendem Magen „König Immer-lustik“ nannten. Da erinnerten sich die jungen Möncheröder, die nicht für Napoleon gegen Russland ziehen wollten, an die alte Mühle in der Hirschbraake, und dort verbargen sie sich vor den Werbern. Damals kam es vor, dass manche kleinen französischen Trupps, die durchs Gebirge zogen, auf Nimmerwiedersehen verschwanden, und man munkelte, Christian Schildknecht mit seinen Jungen werde sie wohl zuletzt gesehen haben ... Heute ist der Forstsiedlung Hirschbraake nichts mehr von ihrer rauen Vergangenheit anzusehen. Der Bach hat sich durch stillgelegte Bergwerksstollen ein neues Bett gesucht, der Sumpf, die Braake, ist ausgetrocknet, der Forstwirtschaftsbetrieb hat die Häuser übernommen. Kurgäste, die wirklich einmal hier durchkommen, stimmen darin mit Heimleiter Paulath überein: „Nichemal Brause kiebtes hier, was issen da Pesonderes dranne?“ Für Manne aber ist Hirschbraake etwas Besonderes: Sein Zuhause.

Manne reckt sich vor dem Spiegel in der Küche und bürstet sich. Er lässt das Wasser über die Bürste laufen, bis sie schwer wird und trieft, und dann streicht er das Haar hinter, dass es am Kopf glatt anklitscht. Lehrer Hüttenrauch soll sich freuen, wie ordentlich Manne zur Schule kommt, für Hütte gelingen Manne selbst solche Unmöglichkeiten. Sogar die neuen Schulbücher hat er gestern Abend noch für ihn eingebunden, das Biologiebuch in extra grünes Weihnachtspapier mit lauter kleinen Schneefichten darauf und Rehen dazwischen, man erkennt es auf den ersten Blick heraus. Vielleicht aber ist es auch nur das schlechte Gewissen über das verratene Waschbärengeheimnis, das Manne so eifrig sein lässt?

„Manne, mach hin!“, ruft es vom Hof. „Sonst kannst du nämlich gehen!“ Harrys Jawa heult auf, sie möchte Bewegung haben. Es wird allerhöchste Zeit!

Manne schnappt seine Schultasche. Er sieht: Auf dem Küchentisch dampft die Milch.

Egal, die ist sowieso zu heiß, denkt er, höchstens, dass man sich den Mund verbrennt, und dann muss ich dauernd pusten und kann mir mit ihm nichts erzählen! Die Mutter wird schon nicht schimpfen, wenn sie von der Nerzfarm rüberkommt. Und wenn ... Soll er Hütte warten lassen? Er flitzt die Treppe hinunter und ist auf dem Hof.

„Mensch, mache!“, nörgelt Harry. „Bis du fertig bist, kriegt Thalmanns Kater Junge. Dein Bruder hat nicht so viel Zeit, dein Bruder muss Kreuzerle schaffen, von nichts ist nichts. Sitzt du?“ Schon brausen sie los. Das Hoftor bleibt natürlich wieder offenstehen, der Opa würde schön schimpfen, wenn er’s wüsste.

„Hallo Manne!“, ruft Boiko aus seinem Käfig hinterher und behämmert mit dem dicken Schnabel die Gitterstäbe. Manne winkt ihm nur kurz zu. Ab heute geht es wieder andersrum, ab heute ist er im Dienst.

Harry rast wie ein Wilder. Den Hohlweg von Hirschbraake herauf prescht er mit siebzig Sachen. Wehe, wenn da was entgegenkommt! Manne hüpft auf dem Sozius, als hätte er Sprungfedern unter. Bestimmt würde er im Hochsprung eine dicke Eins bekommen, noch dicker als die von Peeke Siemer, aber jetzt ist kein Turnen dran und Peeke schon gar nicht, darüber kann er sich nachher noch Kopfschmerzen machen.

Harry dreht das Gesicht halb herum.

„Sitz ruhig!“, herrscht er ihn an.

Manne denkt sich was anderes aus. Er jodelt. Manne ist ein Cowboy. „Siebentausend Rinder …“, jodelt er. Harrys Jawa ist sein wilder Mustang.

Harry nimmt die linke Hand vom Lenker und dirigiert.

„... immerzu lauter Ochs, lauter Kuh!“, singt er mit, sehr laut, vor allen Dingen laut.

Auf einmal steht was im Hohlweg: etwas Braunes - eine Kuh! Dahinter noch eine und noch welche. Lauter braune Kühe mit Glocken um den Hals, keine siebentausend, aber den Hohlweg versperren sie doch. Gerade noch so, dass Harry die Jawa zum Stehen bringt.

„Verdammt!“, schimpft er aufgeregt. „Muss der ausgerechnet hier angeklunkert kommen mit seinem Viehzeug?“

Aber da hinkt schon gemütlich der alte Palm heran, wie immer die Piepe zwischen den Gelbzähnen und Lux an der Leine, und darum schweigt Harry und macht nur noch ein bitterböses Gesicht. „Beinah hätten wir deine Kühe auf die Hörner genommen, Papa Palm!“, ruft Manne und ist heilfroh, dass sie es nicht gemacht haben.

„Dat lat man beter bliewen!“, nuschelt Papa Palm sein komisches Platt hinter den Zähnen hervor. „Kannste nämlich bei koppheister gahn!“

Er nickkopft ein bisschen und zieht mit seiner Herde vorbei. „Fängt ja gut an heute!“, knurrt Harry und tritt die Maschine wieder an. Bis zur Höhe kommt sie nicht mehr auf Touren. Langsam quält sie sich das letzte Stück hinauf. Jetzt singen sie nicht mehr beim Fahren.

Rechts und links von Harrys Lederrücken geht Möncherode auf: Sie sind auf dem Berg. Unten kriecht gerade ein Wolkenschatten drüberweg, und die Morgensonne hüpft vor ihm her über die krummen Dächerbuckel, als spielte sie Huckekästchen. Jetzt ist sie bei der Schule, jetzt schon auf dem Sägewerk, wo Harry als Elektromonteur arbeitet, noch arbeitet für das nötige Kleingeld, denn im nächsten Jahr will er aufhören und sich studieren schicken lassen, und dann muss Manne immer zu Fuß die dreieinhalb Kilometer zur Schule. So schnell wie die Sonne müsste er dann laufen können, denn die rennt mittlerweile schon das Kunstbachtal hinauf, und der Wolkenschatten saust hinterher und löscht das fädchendünne Blinkern des Kunstbaches aus. Nur der Pingenberg liegt noch im Licht.

Bergab kann die Maschine gleich wieder rollen. Vom Hang her kommen die Fichtenwipfel herangehastet und wachsen im Nu Möncherode zu und das Tal und die zottigen Berghäupter dahinter: Sie tauchen in den Wald!

Noch zehn Minuten höchstens, bis Manne vor seinem Freund Hütte stehen wird, ach was, vor seinem Klassenlehrer Hütte! Das hat er ihnen damals gleich mitgeteilt, dass er sie bekommt, jetzt, wo seine Zehnte entlassen ist. Manne freut sich noch und noch darauf, und gleichzeitig möcht er ihm bald auch wieder nicht begegnen, denn gestern, als er in den Steinklimp kam, da war Papa Palms Kastenfalle plötzlich verschwunden, nirgends zu finden, und was sagt er jetzt Hütte, wenn ein anderer einen Waschbären nach dem anderen wegfängt? Und was sagt er Papa Palm und was Peeke Siemer? Man muss schon sagen, in eine böse Sache hat sich Manne da eingelassen, jetzt wär es ihm schon bald lieber, es gäbe keine Waschbären in Möncherode. Richtig still geworden ist Manne auf einmal auf Harrys Soziussitz.

Die ersten Häuser von Möncherode. Manne passt auf, ob ihn nicht jemand sieht aus seiner Klasse.

Zum Donnerwetter, was ist denn in Harry gefahren? Manne fasst sich ans Kinn, mit dem er gegen Harrys Schulterknochen geprallt ist. Er spürt, wie die Lippe anschwillt. König Drosselbart werden sie ihn jetzt vielleicht noch nennen zu allem Übel. Was ist los?

Nichts ist los. Harry steht mitten auf der Straße mit seiner Jawa, die Beine nach unten gespreizt, und vor ihnen geht wer über die Fahrbahn. Was heißt geht und was heißt wer? Eine Dame schreitet vor ihnen über die Fahrbahn. Die Dame lächelt Harry dankend an. Das Klicken ihrer Bleistiftabsätze übertönt das Knurren der Jawa. Die Dame trägt eine aufgetriebene Tasche unter dem Arm und auf dem Kopf ein graugelbes Jägerhütchen aus Wildleder. Der offene blaue Regenmantel weht wie ein Schleier hinterher.

Ach, du mein Schreckchen! Manne macht sich auf dem Sozius ganz klein. Muss die einem denn immer in die Quere kommen? Angeben wie eine Lore Affen, aber keine Ahnung vom Straßenverkehr. Immer diese Kurgäste!

Harry dreht sich um und grient von einem Ohr zum anderen. „Flotte Biene, was?“, meint er mit Kennermiene, nicht gerade leise. Ausgerechnet! Aber Harry muss es ja wissen. Mannes Geschmack allerdings ist da mehr etwas anders, mehr so wie Schnippel Schierling vielleicht. Ein richtiger Naturforscher nämlich durchschaut solche Modepuppen, der weiß, dass sie beispielsweise in der Steinklimpschlucht lange nicht mehr so flott sind. Harry soll ihm gestohlen bleiben mit dieser Biene. Er soll endlich weiterfahren, sonst entdeckt sie ihn womöglich noch!

Auf dem Schulhof kribbelt es wie in einer Ameisenburg. Es dauert lange, bis die Lehrer die Appellordnung hinkriegen. Schließlich hat man sich eine Ewigkeit nicht gesehen.

Manne steht und steht und kuckt sich die Augen aus: Wo steckt bloß Lehrer Hüttenrauch? Hat er ihn ganz und gar übersehen mit seinem Falkenblick? Noch einmal suchen seine Augen die Menschengruppen ab.

Plötzlich stutzt er: Hoppla, was ist das? Er zuckt richtig zusammen. Das graugelbe Jägerhütchen und den blauen Regenmantel kennt er doch! Unwillkürlich betastet er seine geschwollene Lippe: Was um alles in der Welt hat die denn nun auf dem Schulhof zu suchen?

Dort drüben kommt gemächlich, als alles schon steht, Peeke Siemer angeschlendert. Er stellt sich neben Manne.

Der boxt ihn in die Seite und weist mit dem Kopf.

„Du“, flüstert er und kommt sich auf einmal richtig erfahren vor, so wie Harry zum Beispiel, „flotte Biene, was?“

Peeke grinst anerkennend.

„Heiliger Bimbam!“ bestätigt er. „So eine ist mir auch noch nicht über den Weg gelaufen. - Haste nu ’n Waschbären?“ Manne wehrt ab: „Nachher!“

„Haste einen?“

Manne schüttelt den Kopf.

„Hab ich ja gleich gesagt“, stellt Peeke gleichmütig fest, „krieg ich deinen Bello.“

„Hör zu“, flüstert Manne, „erkläre ich dir nachher, die Biene da hat nämlich schuld ...“

Peeke unterbricht ihn: „Gib’s zu, Forschtrat, dass du ’ne Pfeife bist, und morgen schaffste mir deinen Krähenvogel her, klarer Fall.“

„Gar nicht!“, sagt Manne, doch bevor er sich zu weiteren Bemerkungen entschließen kann, entdeckt er ihn plötzlich: Hütte! Aus dem Schulhaus tritt er zusammen mit Direktor Niemann. Hütte! Alles andere ist im Moment nebensächlich. Wo hat er so lange gesteckt? Nun wird keine Zeit mehr sein für ein kleines Gespräch. Sogar der Ausblick wird Manne verwehrt, immer steht jemand davor!

In der ersten Reihe jucht eine auf, natürlich, ein Mädchen! Kein Ernst bei der Sache! Und die daneben kichern gleich zur Gesellschaft mit, pruschen hinter der vorgehaltenen Hand, als gäbe es sonst was zu sehen. So ein albernes Geheck! Na ja, Schnippel muss auch dabei sein, wär ja auch ein Wunder! - Das Lachen steckt an: der ganze Schulhof lacht.

Manne hebt sich auf die Zehen und macht einen langen Hals. Er renkt sich bald die Halswirbel aus, aber er kann nichts Rechtes erkennen. Es klingt fast, als lachten sie Lehrer Hüttenrauch entgegen. Oder lachen sie ihn etwa aus? Das ist ja wohl nun ein Unding, oder? Doch! Manne ist fassungslos. Ist denn das die Menschenmöglichkeit?

Und jetzt sieht er: Lehrer Hüttenrauchs Gesicht ist dunkelbraun, aber nicht überall. Rings um den Mund und hinauf bis zu den Ohren strahlt es käseweiß. Lehrer Hüttenrauch hat ein zweifarbiges Gesicht, so ähnlich wie Fleischer Immerlings Wartburg: unten hell und oben rot.

Lehrer Hüttenrauch lächelt etwas verlegen. Er ist ein bescheidener Mensch und so viel Beifall nicht gewohnt. In den Ferien war er mit seiner ehemaligen Klasse an der Ostsee gewesen und hatte sich ein Bartgestrüpp wachsen lassen. Vorgestern auf der Kreislehrerkonferenz hat ihn nun aber der Schulrat beiseite genommen und diskret, aber bestimmt gesagt: „Ich glaube, Kollege, einer von uns beiden müsste sich rasieren.“

Lehrer Hüttenrauch hat sich gedacht, dass der Schulrat ihn meint, und da die Ferien um waren, wollte er ihm den Gefallen tun. Jetzt hat er die Bescherung: der ganze Schulhof lacht! Was soll man da machen? Und ehe er sich’s versieht, zuckt es auch schon vergnügt um des Lehrers Mundwinkel, und seine wasserblauen Augen verengen sich zu schmalen Spalten, und so lacht er eben, mit den anderen um die Wette, der Schulhof ist ein einziges großes Gelächter. Noch nie hat ein Schuljahr so lächerlich begonnen, und schuld ist Lehrer Hüttenrauch. Seht doch, dort die Dame mit dem Jägerhütchen, die Lachtränen kullern ihr über die Wangen! „Wie ein Clown!“, jubelt nebenan Peeke. „Wie ein richtiger Clown!“ Vor Begeisterung klatscht seine Hand Manne auf die Schulter. Manne gibt ihm eins in die Rippen, und man weiß nicht, ist es für den Schlag oder die Redeweise oder gar für Peekes Boiko-Ansprüche.

„Lachen ist gesund“, stellt Direktor Niemann fest und zwingt sich gewaltsam zum Ernstsein. Er rückt an seiner großen Brille, und das ist das Zeichen, dass es jetzt ruhig zu werden hat. „Und Singen ist noch gesünder!“

Er winkt hastig der Pionierleiterin, und die bringt ihr Akkordeon in Bewegung. Drei - vier: „Heut ist ein wunderschöner Tag ...“

Hin und wieder gickert doch noch einer dazwischen, der sich überhaupt nicht beruhigen kann, aber das geht im Gesang unter. Manne singt mit Begeisterung. Sein Gesicht ist selig verklärt. Er ist stolz auf seinen Freund und Lehrer. Über sich selbst lachen, das kann eben nur Hütte. Manne ist überzeugt davon. Gleich nach dem Appell wird er hingehen und ihn begrüßen. Auch sein Missgeschick mit den Waschbären wird er ihm erzählen. Wer solchen Freund wie Hütte hat, der kommt mit der Ehrlichkeit am weitesten.

Da, jetzt holt Direktor Niemann das Jägerhütchen hervor. Wer weiß, was die hier will!