Bienendemokratie - Thomas D. Seeley - E-Book

Bienendemokratie E-Book

Thomas D. Seeley

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Beschreibung

»Ein wunderbares Buch über den besten Freund des Menschen unter den Insekten…« Edward O. Wilson Die Bienenkönigin ist keine absolute Herrscherin. Im Gegenteil: Bienen entscheiden alle gemeinsam als Schwarm, sie erforschen kollektiv einen Sachverhalt und debattieren lebhaft, um letztlich einen Konsens zu finden. Der bekannte Verhaltensforscher Thomas D. Seeley untersucht seit Jahrzehnten in akribischer Kleinarbeit das Leben der Bienen. In seinem spannend geschriebenen Buch zeigt er anschaulich, was wir von diesen wunderbaren Insekten lernen können und dass die Entscheidung mehrerer klüger als die Einzelner sein kann. Ein reich bebildertes, ebenso faszinierendes wie anregendes Buch. »Seeleys Enthusiasmus und Bewunderung für Bienen sind ansteckend, seine Forschungen meisterhaft.« New York Times »Brillant.« Nature »Fesselnd und bezaubernd.« Science »Das hinreißendste Wissenschaftsbuch des Jahres.« Financial Times

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Seitenzahl: 446

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Thomas D. Seeley

Bienendemokratie

Wie Bienen kollektiv entscheiden und was wir davon lernen können

Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel

FISCHER E-Books

Inhalt

Prolog1. EinleitungKollektive IntelligenzTanzende BienenDirty DancersDas Summen einfangen2. Das Leben im BienenvolkEin Wesen aus vielen TeilenEin einzigartiger JahreszyklusFortpflanzung der KolonieSchwärmen3. Traumwohnung für HonigbienenNester wilder BienenvölkerLage, Lage, LageWas es gratis gibtImmobilienbewertung4. Die Diskussion der KundschafterinnenLindauers SchwärmeMeine SchwärmeUnermüdliche Entdecker5. Einigung auf die beste StelleDie beste von N?15 Liter MittelmaßEinblick in den Geist der BienenDas entscheidende ExperimentDer Schwarm weiß es am besten6. Auf dem Weg zum KonsensLebhafte und lustlose TänzeDie Qualität einer Stelle, dargestellt durch die Stärke des TanzesDie Starken werden stärkerDas Erlöschen abweichender Ansichten7. Der Umzug beginntAufwärmen vor dem FlugPfeifende heiße BienenUngestüme SchwirrläuferinnenKonsens oder Quorum?Wozu die Quorums-Wahrnehmung?8. Der fliegende Schwarm wird gesteuertSchwarmjägerAnführer und NachfolgerVerschlossene DuftorganeDie Armee der FlitzerComputeralgorithmen zur visuellen Verfolgung von BienenZusammentreffen der Lotsen9. Der Schwarm als kognitives GanzesDer begriffliche Rahmen der EntscheidungsfindungSensorische Transformation in einem SchwarmEntscheidungstransformation im SchwarmAktionstransformation im SchwarmKonvergenz zur optimalen Konstruktion?10. Der kluge SchwarmLektion 1: Stelle die Gruppe der Entscheidungsträger aus Individuen mit gemeinsamen Interessen und gegenseitigem Respekt zusammenLektion 2: Halte den Einfluss des Anführers auf das Denken der Gruppe so gering wie möglichLektion 3: Bemühe dich um mehrere Lösungsmöglichkeiten für das ProblemLektion 4: Bereichere die Kenntnisse der Gruppe durch DiskussionenLektion 5: Sichere Einheitlichkeit, Genauigkeit und Geschwindigkeit durch QuorenEpilogDanksagungAbbildungsnachweiseBilder im TextBilder im BildteilBildteilRegister

Prolog

Imker beobachten und beklagen es schon seit langem: Ihre Bienenvölker schwärmen gern im späten Frühjahr und Frühsommer. Die Mehrzahl der Bienen aus einem Volk – eine Masse von einigen zehntausend Arbeiterinnen – fliegt mit der alten Königin davon und bildet ein neues Volk. Der Rest bleibt zu Hause, füttert eine neue Königin heran und sorgt so für den Fortbestand des alten Volkes. Die ausgeschwärmten Bienen lassen sich als riesige Traube, die wie ein Bart aussieht, an einem Ast nieder und klammern sich dort stunden- oder sogar tagelang aneinander. Während dieser Zeit tun die obdachlosen Insekten etwas wahrhaft Verblüffendes: Sie entscheiden in einer demokratischen Diskussion über ihren neuen Wohnort.

Dieses Buch beschreibt, wie der demokratische Entscheidungsprozess bei den Bienen abläuft. Es wird davon die Rede sein, wie einige hundert der ältesten Bienen aus dem Volk als Nistplatz-Kundschafter tätig werden und die Landschaft nach dunklen Winkeln absuchen. Wir werden erfahren, wie sie die gefundenen potentiellen Wohnorte bewerten, ihre Kundschafterkollegen mit lebhaften Tänzen über ihre Entdeckungen in Kenntnis setzen, in einer hitzigen Debatte den besten Nistplatz auswählen, das ganze Volk zum Abflug veranlassen und die Wolke schwärmender Bienen zu dem neuen Zuhause dirigieren. Im typischen Fall handelt es sich dabei um einen hohlen, einige Kilometer entfernten Baumstamm.

Warum habe ich dieses Buch geschrieben? Ich verfolge damit ein doppeltes Ziel. Einerseits möchte ich Biologen und Sozialwissenschaftlern eine einheitliche Zusammenfassung der Forschungsergebnisse der letzten 60 Jahre präsentieren. Den Ausgangspunkt bilden dabei die Arbeiten von Martin Lindauer in Deutschland. Bisher verteilten sich die Informationen zu dem Thema über Dutzende von Fachartikeln, die in zahlreichen Fachzeitschriften erschienen sind. Deshalb war nur schwer zu erkennen, in welchem Zusammenhang jede Einzelentdeckung zu allen anderen steht. Die Frage, wie Honigbienen in einer persönlichen Zusammenkunft den Konsens suchen und so zu einer demokratischen Entscheidung gelangen, ist sicher von großer Bedeutung für Verhaltensforscher, die sich für die Entscheidungsprozesse in Tiergruppen interessieren. Darüber hinaus wird sie sich hoffentlich auch für Neurowissenschaftler als wichtig erweisen, die sich mit den neuronalen Grundlagen der Entscheidungsfindung beschäftigen, denn in den Wegen der Informationsverarbeitung, die zu Entscheidungen führen, gibt es zwischen Bienenvölkern und dem Gehirn von Primaten verblüffende Ähnlichkeiten. Außerdem hoffe ich, dass die Geschichte der wohnungssuchenden Bienen sich auch als hilfreich für Sozialwissenschaftler erweisen wird, die nach Wegen suchen, um die Entscheidungsprozesse in Menschengruppen zuverlässiger zu gestalten. In dieser Hinsicht können wir von den Bienen eine wichtige Lektion lernen: Auch in einer Gruppe freundlich gesinnter Individuen mit gemeinsamen Interessen kann der Konflikt ein nützliches Element der Entscheidungsfindung sein. Oder anders gesagt: Häufig zahlt es sich für eine Gruppe aus, wenn sie eine Frage sorgfältig durchdiskutiert und so die beste Lösung für ein schwieriges Problem findet.

Mein zweites Motiv war der Wunsch, Imkern und dem allgemeinen Lesepublikum davon zu berichten, welchen Spaß mir die Untersuchung von Honigbienenvölkern gemacht hat. Ich verdanke diesen wunderschönen kleinen Lebewesen viele Stunden der reinsten Entdeckerfreude, die aber (wie könnte es anders sein) auch durch Tage und Wochen der fruchtlosen und manchmal entmutigenden Anstrengung unterbrochen waren. Um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie spannend und schwierig die Bienenforschung ist, berichte ich über zahlreiche persönliche Erlebnisse, Spekulationen und Gedanken über den Ablauf wissenschaftlicher Untersuchungen.

Die hier beschriebenen Arbeiten bauen auf ein festes Fundament des Wissens auf, das der kürzlich verstorbene Professor Martin Lindauer (1918–2008) in den 1950er Jahren mit seinen Untersuchungen an wohnungssuchenden Bienen legte. Ich widme dieses Buch meinem Freund und Lehrer Martin Lindauer, dessen Pionierarbeiten für mich zur Anregung für meine eigenen Forschungsreisen im Wunderland der Bienengesellschaft wurden.

Tom Seeley

Ithaca, New York

1.Einleitung

Geh zur Biene,

du Dichter.

Betrachte ihre Wege

und werde weise.[1]

 

George Bernard Shaw,Mensch und Übermensch

Honigbienen sind Süße und Licht – sie produzieren Honig und Bienenwachs. Deshalb ist es kein Wunder, dass Menschen die kleinen Lebewesen schon in uralter Zeit zu schätzen wussten. Selbst heute, da üppige Süßigkeiten und helles Licht Allgemeingut sind, stehen diese hart arbeitenden Insekten bei uns in hohem Ansehen. Das gilt insbesondere für die rund 200 Milliarden Bienen, die in Partnerschaft mit kommerziellen Imkern leben und zu unserem Nutzen eine lebenswichtige landwirtschaftliche Aufgabe erfüllen: Sie fliegen herum und bestäuben.[2] In Nordamerika sind bewirtschaftete Honigbienen die wichtigsten Bestäuber für rund 50 Obst- und Gemüsesorten, die zusammen den nahrhaftesten Anteil unserer täglichen Ernährung bilden. Den Honigbienen verdanken wir aber auch ein anderes großes Geschenk, und das füllt nicht unseren Magen, sondern unser Gehirn: Jedes wimmelnde Bienenvolk ist ein Musterbeispiel für eine Gemeinschaft, deren Mitglieder Erfolg haben, weil sie zugunsten gemeinsamer Ziele gemeinsam arbeiten. Wie wir noch genauer erfahren werden, können wir von den kleinen sechsbeinigen Schönheiten etwas über den Aufbau reibungslos funktionierender Gruppen lernen, insbesondere solcher, die die Möglichkeiten der demokratischen Entscheidungsfindung in vollem Umfang ausschöpfen.

Unsere Lehren werden wir von nur einer Honigbienenspezies beziehen: Apis mellifera, der bekanntesten Insektenart der Welt.[3] Sie war ursprünglich in Westasien, dem Nahen Osten, Afrika und Europa heimisch, aber heute findet man sie dank der Verbreitungsbemühungen ihrer menschlichen Bewunderer in den gemäßigten und tropischen Klimazonen der ganzen Welt. Sie ist eine wunderschön soziale Biene. Diese Schönheit erkennen wir an den Bienenstöcken mit ihren Waben, feinen Anordnungen aus sechseckigen Zellen, die in dünnstem Bienenwachs ausgeführt sind (siehe Bildteil, Abb. I). Ebenso erkennen wir sie an ihrer harmonischen Gesellschaft, in der Zehntausende von Arbeiterinnen im aufgeklärten Eigeninteresse zum gemeinsamen Wohle der Kolonie zusammenarbeiten. Die soziale Schönheit der Honigbienen werden wir auf den folgenden Seiten in allen Einzelheiten kennenlernen; dazu sehen wir uns an, wie ein Bienenvolk bei der Auswahl seiner neuen Wohnung zu nahezu perfekten Entscheidungen gelangt.

Die Auswahl des richtigen Wohnortes ist für ein Honigbienenvolk eine Frage von Leben und Tod. Wenn die Kolonie sich falsch entscheidet und eine zu kleine Nisthöhle bezieht, die keine ausreichenden Honigvorräte für den Winter aufnehmen kann oder zu wenig Schutz vor Wind und hungrigen natürlichen Feinden gewährt, geht sie zugrunde. Da also die Entscheidung für eine ausreichend geräumige, komfortable Heimstatt so lebenswichtig ist, kann es eigentlich nicht überraschen, dass die Wahl des Heimatortes nicht wenigen allein agierenden Bienen überlassen bleibt, sondern von mehreren hundert Insekten gemeinsam gefällt wird. Das vorliegende Buch zeigt, wie eine solche recht große Findungskommission fast immer eine gute Wahl trifft. Wir werden erfahren, wie die Wohnungssucher-Bienen in der Umgebung nach geeigneten Nistplätzen fahnden, über ihre Entdeckungen berichten, eine freimütige Diskussion über die Alternativen führen und letztlich zu einer Übereinkunft darüber gelangen, welche Stelle zum neuen Wohnort für die Kolonie wird. Kurz gesagt, werden wir die geniale Funktionsweise der Bienendemokratie kennenlernen.

Was die innere Funktionsweise eines Bienenvolkes angeht, muss ich gleich zu Beginn ein verbreitetes Missverständnis ausräumen: die Vorstellung, ein Bienenvolk werde von einer wohlwollenden Diktatorin regiert, Ihrer Majestät, der Königin. Der Gedanke, eine Kolonie halte zusammen, weil eine allwissenden Königin (oder ein König) den Arbeiterinnen sagt, was sie zu tun haben, ist viele Jahrhunderte alt; sie geht auf Aristoteles zurück und hat sich bis in die Neuzeit gehalten. Aber sie ist falsch. Allerdings stimmt es, dass die Königin das Kernstück des ganzen Unternehmens bildet – ein Volk von Honigbienen ist eine ungeheuer große Familie mit der Königin als Mutter und ihren vielen tausend Nachkommen. Ebenso stimmt es, dass die vielen tausend fürsorglichen Töchter (die Arbeiterinnen) letztlich bemüht sind, ihrer Königinmutter das Überleben und die Fortpflanzung zu sichern. Die Königin des Bienenvolkes ist aber nicht die oberste Entscheidungsinstanz, sondern der oberste Eierproduzent. Im Sommer legt sie Tag für Tag eintönig die rund 1500 Eier ab, die notwendig sind, um die Arbeitskraft der Kolonie zu erhalten. Von dem sich ständig wandelnden Bedarf der Kolonie hat sie keine Ahnung – sie weiß zum Beispiel nicht, dass hier mehr Wabenbauer und dort weniger Pollensammler gebraucht werden; auf solche Anforderungen stellt das Personal der Arbeiterinnen sich von selbst ein. Soweit man weiß, übt die Königin nur in einem Punkt die Vorherrschaft aus: Sie verhindert, dass weitere Königinnen großgezogen werden. Dies erreicht sie mit einem Drüsensekret, der »Königinnensubstanz«, die von den Arbeiterinnen mit den Antennen aufgenommen und in alle Winkel des Bienenstocks verteilt wird.[4] Auf diese Weise verbreiten die Arbeiterinnen die Nachricht, dass die Königinmutter noch lebt und wohlauf ist, so dass kein Bedarf für die Aufzucht einer neuen Königin besteht. Die Königinmutter ist also nicht die Chefin der Arbeiterinnen. Einen allwissenden zentralen Planer, der die Tausende und Abertausende von Arbeiterinnen eines Bienenvolkes beaufsichtigen würde, gibt es nicht. Die Arbeit im Bienenstock wird vielmehr von den Arbeiterinnen selbst gemeinsam geregelt: Jede von ihnen ist immer aufmerksam, sucht auf Inspektionsgängen nach Aufgaben, die erledigt werden müssen, und wird selbständig im Dienste der Gemeinschaft tätig. Da die Arbeiterinnen eng zusammenleben, durch das Netzwerk ihrer gemeinsamen Umwelt verbunden sind und über ein gemeinsames Signalrepertoire verfügen, mit dem sie sich über dringende Aufgaben informieren können – beispielsweise indem Nahrungssammlerinnen durch einen Tanz zu Blüten voller süßem Nektar dirigiert werden –, erreichen sie mit ihrer Tätigkeit auch ohne Aufsicht eine dauerhafte Harmonie.

Kollektive Intelligenz

Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht das in meinen Augen erstaunlichste Beispiel dafür, wie die vielen Bienen in einem Bienenvolk ganz ähnlich wie die vielen Zellen eines Organismus ohne Aufseher kooperieren und eine Funktionseinheit bilden, deren Fähigkeiten weit über die ihrer Einzelteile hinausgehen.[5] Insbesondere werden wir betrachten, wie ein Honigbienenvolk bei der Auswahl seines Nistplatzes eine Form der kollektiven Intelligenz erlangt. Wie in Kapitel 2 genauer beschrieben wird, findet die Wohnungssuche der Bienen im späten Frühjahr und Frühsommer statt, wenn die Kolonien an ihren bisherigen Nistplätzen (Bienenstöcke und hohle Baumstämme) übervölkert sind, so dass ein Schwarm sie verlässt. In einem solchen Fall bleibt ungefähr ein Drittel der Arbeiterinnen zu Hause und zieht eine neue Königin heran, so dass die Ausgangskolonie erhalten bleibt; die anderen zwei Drittel – einige zehntausend Individuen – fliegen mit der alten Königin davon und gründen ein Tochtervolk. Die Auswanderer legen zunächst nur ungefähr 30 Meter zurück und sammeln sich dann in einer Traube, die wie ein Bart aussieht. Darin klammern sie sich mehrere Stunden oder auch einige Tage lang zusammen (siehe Bildteil, Abb. II). Nachdem der Schwarm sich auf diese Weise eingerichtet hat, schickt er einige hundert Wohnungssucher aus, die rund 70 Quadratkilometer der umgebenden Landschaft nach potentiellen Nistplätzen absuchen; sie finden vielleicht ein Dutzend oder mehr Alternativen, bewerten jede einzelne davon anhand der vielen Kriterien, die das Traumhaus einer Biene definieren, und wählen dann auf demokratische Weise den Lieblingsplatz für das neue Heim. Das gemeinsame Urteil der Bienen fällt fast immer zugunsten der Stelle aus, die ihren Bedarf an einer ausreichend geräumigen, schützenden Unterkunft am besten erfüllt. Kurz nachdem sie ihre Wahl getroffen haben, setzt der Schwarm die Entscheidung um: Die ganze Bienenmasse fliegt direkt zu dem neuen Nistplatz, meist einem gemütlichen Hohlraum in einem einige Kilometer entfernten Baumstamm.

Die bezaubernde Geschichte über die Wohnungssuche der Bienen stellt uns vor zwei faszinierende Rätsel. Erstens: Wie kann ein Schwarm von Bienen mit winzigem Gehirn, der an einem Ast hängt, eine so komplizierte Entscheidung fällen und dabei auch noch eine gute Wahl treffen? Die Antwort auf diese erste Frage werden wir in den Kapiteln 4, 5 und 6 erfahren. Und zweitens: Wie kann ein summender Schwarm von mehreren zehntausend fliegenden Bienen gemeinsam steuern und zusammenbleiben, um quer durch die Landschaft zu dem ausgewählten Nistplatz zu reisen – wobei dieser in der Regel ein kleines Loch im Stamm eines unauffälligen Baumes in einem abgelegenen Winkel des Waldes ist? Die Lösung für dieses zweite Rätsel wird in den Kapiteln 7 und 8 deutlich werden.

Wie wir noch genauer erfahren werden, erlangen die 1,5 Kilo Bienen in einem Schwarm ihre kollektive Klugheit auf ähnliche Weise wie die 1,5 Kilo Neuronen in unserem Gehirn: Sie organisieren sich so, dass die Gruppe insgesamt erstklassige kollektive Entscheidungen trifft, obwohl jedes Individuum nur über begrenzte Informationen und geringe Intelligenz verfügt. Die Ähnlichkeit zwischen einem Bienenschwarm und einem Gehirn mag oberflächlich erscheinen, sie hat aber einen wahren Kern. Während andere Soziobiologen und ich in den letzten 20 Jahren die Mechanismen der Entscheidungsfindung in Insektengesellschaften untersuchten, beschäftigten sich die Neurobiologen mit den neuronalen Grundlagen der Entscheidungsfindung im Primatengehirn.[6] In den Bildern, die sich aus diesen beiden ganz unterschiedlichen Forschungsrichtungen herauskristallisierten, zeigten sich faszinierende Ähnlichkeiten. Auf der einen Seite untersuchte man die Aktivität einzelner Neuronen eines Affengehirns in Verbindung mit den Entscheidungen über Augenbewegungen, auf der anderen die Aktivität einzelner Bienen eines Honigbienenschwarms in Verbindung mit Entscheidungen über den Nistplatz. Wie sich dabei herausstellte, ist der Entscheidungsprozess in beiden Fällen im Wesentlichen ein Wettbewerb zwischen Alternativen, die sich Unterstützung sichern (Neuronenimpulse und Besuche von Bienen); ausgewählt wird dann die Alternative, deren angesammelte Unterstützung als Erste einen kritischen Schwellenwert überschreitet. Solche Übereinstimmungen legen die Vermutung nahe, dass es für den Aufbau von Gruppen, die weitaus klüger sind als ihre klügsten Individuen, allgemeine Organisationsprinzipien gibt. Diese Prinzipien werden wir in Kapitel 9 genauer untersuchen: Dort vergleichen wir die Mechanismen von Bienenschwarm und Primatengehirn, und in Kapitel 10 fassen wir noch einmal zusammen, was wir an den Bienenschwärmen über die Strukturen von Gruppen gelernt haben, die als kluge Entscheider tätig werden.

Unter Menschen sind Entscheidungen von Gruppen weit verbreitet und sehr wichtig, ob sie nun im kleinen Maßstab (zum Beispiel als Verabredungen zwischen Freunden und Kollegen), im mittleren Umfang (zum Beispiel demokratische Entscheidungen in Bürgerversammlungen) oder im großen Maßstab (Parlamentswahlen oder internationale Abkommen) getroffen werden. Wie nicht anders zu erwarten, haben Menschen schon seit Jahrtausenden darüber nachgedacht, wie man optimale Gruppenentscheidungen trifft. Das Thema spielte bereits in Platons Staat (360 v. Chr.) eine Rolle, zweifellos aber auch schon lange davor; dennoch bleiben, was die Verbesserung solcher gemeinsamer Entscheidungen angeht, immer noch viele Fragen offen. In Kapitel 10 werde ich einige Vorschläge machen, die ich als »Schwarmschlauheit« bezeichne, weil wir sie von den Bienen gelernt haben; sie betreffen die Frage, wie Menschengruppen sich im Interesse einer verbesserten Entscheidungsfindung organisieren können. Der amerikanische Essayist Henry David Thoreau äußerte Skepsis gegenüber der Klugheit der Massen und schrieb: »Die Masse erreicht nie das Niveau ihres besten Mitglieds, sondern stuft sich im Gegenteil auf die Ebene des geringsten herab.«[7] Eine noch schlechtere Meinung über Gruppenintelligenz hatte der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche; er schrieb: »Der Irrsinn ist bei einzelnen etwas Seltenes – aber bei Gruppen … die Regel.«[8] Mit Sicherheit treffen Gruppen in vielen Fällen schlechte Entscheidungen – man denke nur an die Blasen am Aktienmarkt oder die Massenpanik in brennenden Gebäuden; die Realität der Bienenschwärme, die gute Entscheidungen treffen, ist für uns aber ein Zeichen, dass eine Gruppe tatsächlich auch einen hohen kollektiven Intelligenzquotienten erlangen kann.

Tanzende Bienen

Die Wissenschaftsgeschichte, die in diesem Buch erzählt wird, beginnt vor fast 70 Jahren, im Sommer 1944, in Deutschland. Damals machte Karl von Frisch, ein angesehener Zoologieprofessor an der Universität München, eine umwälzende Entdeckung, für die er später den Nobelpreis erhalten sollte: Ein Insekt, die Bienenarbeiterin, kann die Artgenossen in ihrem Bienenstock mit Hilfe ihres Tanzverhaltens über Richtung und Entfernung einer reichhaltigen Futterquelle in Kenntnis setzen.[9] Von Frisch wusste zu jener Zeit bereits seit fast 30 Jahren, dass eine einsame Kundschafterin, die eine reichhaltige Nektarquelle gefunden hat, aufgeregt in ihren Bienenstock zurückkehrt und dort einen auffälligen »Schwänzeltanz« aufführt. Mit diesem Verhalten zieht sie die Blicke anderer Bienen auf sich: Sie läuft auf der senkrechten Oberfläche einer Wabe geradeaus, tänzelt dabei mit dem Körper von rechts nach links, hält dann inne, wendet sich nach rechts oder links und kehrt im Halbkreis mit einem »Rundlauf« zum Ausgangspunkt zurück. Es folgt ein weiterer »Schwänzellauf«, ein weiterer Rundlauf und so weiter (Abb. 1). Der Schwänzeltanz besteht also aus einer Reihe von kreisförmigen Tanzfiguren, die sich jeweils aus einem Schwänzellauf und einem Rundlauf zusammensetzen. Von Frisch wusste auch, dass eine Biene den Tanz sekunden- oder sogar minutenlang fortsetzt und dabei von arbeitslosen Kundschafterinnen verfolgt wird. Diese, so von Frisch, »beteiligen sich an allen ihren Manövern, so dass die Tänzerin selbst bei ihren wunderlichen Drehbewegungen einen ganzen Kometenschweif aus Bienen hinter sich herzuziehen scheint«.[10] Wie er außerdem entdeckte, fliegt eine Nahrungssammlerin, die während mehrerer Tanzrunden hinter der Tänzerin hergelaufen ist, anschließend aus dem Bienenstock und sucht nach der Futterstelle, die von der Artgenossin angekündigt wurde. Bis 1944 glaubte von Frisch, die Sammlerin würde von der Tänzerin nur etwas über den Duft der besuchten Blüten erfahren – immerhin hält sie ihre Antennen ganz in die Nähe der Tänzerin und nimmt so den anhaftenden Duft auf –, um dann angeregt in immer größeren Kreisen zu suchen, bis sie die Blüte mit dem Duft, den sie sich gemerkt hat, findet. Was von Frisch dann aber 1944 entdeckte, war geradezu unglaublich: Die Sammlerinnen suchen nicht überall im Umkreis des Bienenstockes nach Blüten mit dem passenden Duft, sondern nur in der Nähe der Stelle, an der sich zuvor auch die Tänzerin aufgehalten hat. Das gilt auch dann, wenn diese an einem abgelegenen Ort gesucht hat, beispielsweise an einem schattigen Weg am Seeufer weit weg vom Bienenstock. Die Sammlerinnen beziehen also von der erfolgreichen Kundschafterin zweifellos Informationen nicht nur über den Duft der Nahrungsquelle, sondern auch über ihre Lage. Wurde diese Information innerhalb des Bienenstockes durch den Tanz der Bienen übermittelt?

Abb. 1

Das Bewegungsmuster einer Bienenarbeiterin beim Schwänzeltanz auf einer senkrechten Wabenoberfläche im Stock ihrer Kolonie. Gezeigt sind zwei Runden des Schwänzeltanzes.

Wie sich herausstellte, lautet die Antwort eindeutig ja. Im Sommer 1945, mitten im Chaos Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, kehrte von Frisch zu seinen tanzenden Bienen zurück. Er beobachtete jetzt ihre Bewegungen genauer als je zuvor und suchte nach Anhaltspunkten für die Lösung seines Rätsels. Wie er dabei entdeckte, vollzieht eine Biene mit dem Schwänzeltanz im dunklen Inneren des Bienenstockes im Kleinformat den vorausgegangenen Flug durch die sonnenbeschienene Landschaft nach. Damit teilt sie die Lage der gerade besuchten, reichhaltigen Futterquelle mit (Abb. 2). Die Codierung der Lage funktioniert dabei folgendermaßen: Die Dauer des Schwänzeltanzes – die die Tänzerin trotz der Dunkelheit mitteilt, indem sie während des Tanzes laut mit den Flügeln summt – ist direkt proportional zu der draußen zurückgelegten Strecke. Eine Sekunde mit Schwänzeln und Summen entspricht im Durchschnitt einer Flugstrecke von etwa 1000 Metern. Und der Winkel des Schwänzeltanzes relativ zur Senkrechten auf der Wabe entspricht dem Winkel der Flugrichtung im Verhältnis zur Sonne. Läuft eine Kundschafterin also beim Schwänzeltanz senkrecht nach oben, gibt sie damit an, dass die Futterquelle sich genau in Richtung der Sonne befindet. Weicht die Tanzrichtung um 40 Grad von der Senkrechten ab, bedeutet das: »Die Nahrung befindet sich 40 Grad rechts von der Sonne« (Abb. 2). Was vielleicht am erstaunlichsten ist: Die Bienen, die der Tänzerin folgen und ihre Tanzbewegungen aufnehmen, können den Tanz entschlüsseln und die Informationen in ihre Flugrichtung umsetzen.

Abb. 2

So gibt eine Biene die Informationen über Richtung und Entfernung eines reichhaltigen Blütenstandes weiter. Codierung der Entfernung: Die Dauer des Schwänzeltanzes ist proportional zur Flugstrecke. Codierung der Richtung: Außerhalb des Stockes registriert die Biene ihre Flugrichtung relativ zum Sonnenstand; im Inneren richtet sie die Richtung ihres Schwänzeltanzes im gleichen Winkel relativ zur Senkrechten aus. Zwei Sammlerinnen nehmen die Informationen von der tanzenden Biene auf.

Während von Frisch die geheimen Botschaften des Schwänzeltanzes entschlüsselte, arbeitete bei ihm auch der junge Doktorand Martin Lindauer, der sich als von Frischs begabtester Schüler erweisen sollte und das Innenleben der Honigbienenkolonien weiter aufklärte (Abb. 3). Lindauer spielt für das vorliegende Buch eine besonders wichtige Rolle: Er leistete Pionierarbeit bei der Untersuchung der Honigbienen-Demokratie, wie sie in einem Bienenschwarm bei der Auswahl einer neuen Behausung praktiziert wird.

Abb. 3

Karl von Frisch (der ältere Herr in der Mitte), Martin Lindauer (der junge Mann ganz links) und andere Studierende bei der Vorbereitung eines Experiments mit Bienen, um 1952.

Lindauer wurde in einem kleinen Dorf am Fuße der bayerischen Alpen als zweitjüngstes von 15 Kindern einer armen Bauernfamilie geboren. Er wuchs in engem Kontakt zur Natur auf – zu der auch die Bienen in den Bienenstöcken seines Vaters gehörten –, war aber auch ein hervorragender Schüler und erhielt ein Stipendium für ein angesehenes Internat in Landshut. Im April 1939, acht Tage vor dem Abitur, wurde er zu Hitlers Arbeitsdienst eingezogen und musste Schützengräben ausheben. Sechs Monate später musste er zur Wehrmacht wechseln und wurde einer Panzerabwehreinheit zugeteilt. Im Juli 1942, während heftiger Kämpfe an der russischen Front, wurde er durch eine explodierende Granate schwer verletzt. Dies erwies sich als seine Rettung. Er wurde von der Front abgezogen, die anderen 156 Männer seiner Kompanie zogen in die Schlacht um Stalingrad. Nur drei von ihnen kamen lebend zurück.[11]

Während Lindauer sich in München von den Verletzungen erholte, empfahl ihm sein Arzt, die Universität zu besuchen und sich die Vorlesungen des berühmten Professors Karl von Frisch über Allgemeine Zoologie anzuhören. Später erinnerte sich Lindauer, wie er von Frisch über Zellteilung reden hörte und dabei in »eine neue Welt der Menschlichkeit« zurückkehrte, in der Menschen nicht zerstören, sondern Neues schaffen.[12] Er entschloss sich, Biologie zu studieren, und nachdem er im Sommer 1943 als schwerverwundeter Soldat aus der Armee entlassen worden war, nahm er in München sein Studium auf. Im Frühjahr 1945 begann er unter von Frischs Leitung mit den Forschungsarbeiten für seine Doktorarbeit über Honigbienen.

Dirty Dancers

Lindauer hatte eine besondere Begabung dafür, im Vorübergehen kleine Dinge zu bemerken, die sich irgendwann als wichtig erweisen sollten – irgendeine seltsame Anomalie zum Beispiel oder eine überraschende Besonderheit im Verhalten. Wegen dieses speziellen Talents hatte Lindauer sich der Frage zugewandt, wie Honigbienen ihre Behausungen auswählen – später sprach er von »dem schönsten Erlebnis« seiner wissenschaftlichen Arbeit.[13] Alles begann an einem Nachmittag im Frühjahr 1949, als Lindauer an den Bienenstöcken vor dem Zoologischen Institut vorüberging und eine goldene Masse aus Bienen erblickte, einen Schwarm, der an einem Busch hing. Als er stehen blieb und die Traube betrachtete, fielen ihm mehrere Bienen auf, die an der Oberfläche des Schwarmes den Schwänzeltanz aufführten. Dabei verschafften sie sich mit ihrem üblichen, lebhaften Verhalten Aufmerksamkeit, aber sie liefen nicht auf einer Bienenwachswabe umher, dem normalen Tanzboden der Bienen, sondern auf den Rücken anderer Bienen. Anfangs vermutete er, bei diesen Schwarmtänzerinnen handele es sich um Kundschafterinnen, die dem Schwarm das Futter brachten; alle tanzenden Bienen, die er und von Frisch im Laufe der vorangegangenen Jahre beobachtet hatten, waren solche Nahrungssammlerinnen gewesen. Aber wenn es um das Beobachten von Bienen ging, brachte Lindauer eine besondere Geduld auf: Er trieb sich in der Nähe des Schwarmes herum, behielt die Tänzerinnen im Auge und gelangte nach und nach zu der Erkenntnis, dass sie nicht wie Nahrungssammlerinnen aussahen: Anders als Bienen, die Pollen transportieren, trugen sie keine Ladung aus Blütenstaub bei sich, und im Gegensatz zu Nektarsammlerinnen würgten sie auch nie Nektartropfen hoch, um sie an andere Bienen weiterzureichen. Außerdem sah er etwas Seltsames: Viele Tänzerinnen kamen schmutzig und staubbedeckt beim Schwarm an. Mit einer Pinzette pickte er einige dieser recht schmuddeligen Bienen vom Schwarm, staubte sie mit einem kleinen Pinsel ab und untersuchte den Schmutz unter dem Mikroskop. Dabei fand er keine Pollenkörner, sondern nur unterschiedlich geformte Staubteilchen. »Schwarz von Ruß«, berichtete er, »rot von Ziegelstaub, weiß von Mehl oder grau und staubig, als hätten sie ein Loch in die Erde gegraben.«[14] Als er an den rußschwarzen Bienen schnupperte, erinnerte ihn der Geruch an einen Schornsteinfeger.

Lindauer gelangte zu dem Schluss, dass diese staubigen, schmutzigen Tänzerinnen sicher keine Nahrungssammlerinnen waren. Er hatte den Verdacht, dass es sich um Nistplatz-Kundschafter handelte, die mitten in den Trümmern des ausgebombten München potentielle Nisthöhlen entdeckt hatten – einen unbenutzten Schornstein hier, einen Hohlraum in einer zusammengebrochenen Ziegelmauer dort oder sogar eine vergessene Mehlkiste in einem verlassenen Keller – und ihren Artgenossen die Lage der entdeckten Stellen mit dem Schwänzeltanz mitteilten. Er war erpicht darauf, seine Vermutungen durch weitere Untersuchungen an Schwarmbienen zu überprüfen, aber 1949 – die deutsche Wirtschaft lag noch in Trümmern, und in von Frischs Labor waren die Bienen knapp – hatte der Chef die Imker des Instituts angewiesen, alle Schwärme sofort einzufangen, damit keine Bienen verlorengingen. Damit wurde die Nistplatzsuche der Bienen unterbrochen, und das bedeutete, dass auch Lindauer mit seiner Untersuchung dieses Vorganges vorerst nicht weiterkam. Er bemühte sich aber weiterhin hartnäckig um die Erlaubnis, einige Schwärme in Ruhe zu lassen, so dass er ihre tanzenden Bienen studieren konnte. Zwei Jahre später, im Sommer 1951, erteilte ihm von Frisch die Genehmigung, alle Schwärme aus den Bienenstöcken, die im Garten des Zoologischen Instituts in München gehalten wurden, nach Belieben zu untersuchen.

Später, in den Kapiteln 3 bis 6, werden wir die faszinierende Geschichte der demokratischen Entscheidungsfindung, die Lindauer 1951 erstmals untersuchte, in allen Einzelheiten betrachten.[15] Vorerst soll nur davon die Rede sein, wie er seine Hypothese überprüfte, dass es sich bei den Bienen, die auf einem Schwarm ihre Tänze aufführen, um Nistplatz-Kundschafterinnen handelt, die potentielle neue Wohnorte bekanntmachen. Im Sommer 1951 studierte er die Tänze auf neun Schwärmen. Geduldig saß er stunden- oder tagelang neben jedem einzelnen Schwarm und markierte jede tanzenden Biene zu Beginn des Tanzes mit einem Farbtupfer. Gleichzeitig hielt er fest, welche Richtung und Entfernung sie mit dem ersten Tanz anzeigte. (Lindauer ging dabei von der plausiblen Annahme aus, dass die Schwarmbienen ihre Informationen über Entfernung und Richtung im Tanz auf genau die gleiche Weise codieren wie die Nahrungssammlerinnen, die von Frisch studiert hatte.) Aber durch seine weiteren Beobachtungen gelangte Lindauer zu einem überraschenden Befund: Wenn die ersten Tänzerinnen beim Schwarm eintreffen, bringen sie Nachrichten über ein Dutzend oder mehr weit auseinanderliegende Orte mit; nach einigen Stunden oder Tagen jedoch berichten sie in immer größerer Zahl nur noch über einen einzigen potentiellen Nistplatz. Am Ende, ungefähr in der letzten Stunde bevor der Schwarm zu seinem neuen Zuhause fliegt, geben die auf dem Schwarm tanzenden Bienen nur noch eine einzige Entfernung und Richtung an. Nun stellte Lindauer folgende Überlegung an: Wenn die auf dem Schwarm tanzenden Bienen zuvor nach Nistplätzen gesucht hatten und ihre Funde mit dem Tanz bekanntmachten, sollte die Stelle, auf die sie am Ende ausnahmslos hinwiesen, der Lage des neuen Nistplatzes entsprechen. Um diese Voraussage zu überprüfen, bemühte er sich, den Schwärmen auf dem Flug zu ihrer neuen Heimat zu folgen: Er rannte hinter dem fliegenden Schwarm her durch die Straßen und Gassen von München (Abb. 4). Dreimal hatte er Erfolg. Und in allen drei Fällen passte der Ort, den die Bienen zum Abschluss ihres Tanzes genannt hatten, zur Adresse des neuen Nistplatzes. Lindauers Dirty Dancers waren also echte Behausungskundschafter.

Abb. 4

Das Münchner Stadtviertel rund um das Zoologische Institut. Der Plan zeigt die Flugrouten von vier Schwärmen, denen Lindauer von ihrem vorübergehenden Quartier im Institutsgarten zu ihren neuen Nistplätzen (Schwärme 1 bis 3) oder zu einem vorübergehenden Rastplatz (Schwarm 4) folgen konnte.

Das Summen einfangen

Im Juni 1952, als Lindauer schon den zweiten Sommer mit der Beobachtung seiner Bienenschwärme beschäftigt war, kam ich 6500 Kilometer entfernt in einer kleinen Ortschaft in Pennsylvania zur Welt. Ein paar Jahre später zog meine Familie nach Ithaca im Bundesstaat New York, das seither eigentlich immer meine Heimatstadt war. Ich wuchs in Ellis Hollow auf, einer ländlichen Gemeinde wenige Kilometer östlich von Ithaca, und dort streifte ich häufig allein durch die umgebende wilde Natur: schattige Laubwälder an steilen Berghängen, sonnendurchflutete aufgegebene Felder an Stellen, wo die Landschaft sanft abfiel, und der gewundene Cascadilla Creek, ein Bach, der am Talboden breite Sümpfe verband. Meinen schönsten Fund machte ich ungefähr eine Meile von unserem Haus entfernt an einer unbefestigten Straße, die zu einem alten Bauernhaus führte. Dort, an einer sonnigen Stelle neben einem Goldrautenfeld, entdeckte ich zwei hölzerne Bienenstöcke, die einem Imker gehörten. Ich suchte den Ort gern auf. Wenn ich neben einem Bienenstock saß, hörte ich, wie die Bienen, schwer mit leuchtend bunten Pollen beladen, am Eingang landeten und mit summenden Flügeln das Nest belüfteten, und ich roch den Duft reifenden Honigs. Dass Tausende von Insekten so dicht und harmonisch zusammenleben konnten und dass sie aus Wachs raffinierte Waben bauten und mit köstlichem Honig füllten, erschien mir fast wie ein Wunder und hinterließ einen tiefen Eindruck. Nicht weniger eindrucksvoll war das, was ich sah, wenn ich im hohen Gras neben den Bienenstöcken lag: Tausende von summenden Bienen schossen kreuz und quer über den blauen Sommerhimmel wie Sternschnuppen.

Ganz und gar hingerissen von den Bienen war ich dann an der Highschool, zu einer Zeit, als meine Klassenkameraden sich vorwiegend für Sport, Motorräder und Mädchen interessierten. Neugierig auf Honigbienen war ich schon seit der dritten Grundschulklasse, als ein Imker zu einer Vorführung in der Schule gewesen war, und besonders hatte ich mich gefreut, als ich als Pfadfinder in der Junior Highschool ein Ehrenabzeichen für die Untersuchung von Insekten erhalten hatte. In meinen Tagträumen bestellte ich sogar aus dem Katalog von Sears einen Bienenstock und ein paar Bienen, und dann begann ich mit der Imkerei. Ganz und gar jedoch packte mich die Begeisterung erst an einem Sommertag im Jahr 1969, als ich einen Schwarm entdeckte, der an einem Ast hing. Schnell nagelte ich ein paar Bretter zu einem einfachen Bienenstock zusammen, schüttelte die Bienen hinein und brachte sie nach Hause. Jetzt hatte ich diese kleinen Funken des Wunderbaren in einer Kiste, die ich nur vorsichtig zu öffnen brauchte, um sie eingehend zu beobachten. Das tat ich jeden Tag nach der Arbeit mehrere Stunden lang, und immer wieder faszinierten mich die raffinierten Verhaltensweisen der einzelnen Bienen und der Frieden in ihrer großen Gemeinschaft.

Im Herbst 1970, als mein erstes Studienjahr am Dartmouth College begann, war mir noch nicht klar, dass die Bienenforschung ein ernsthafter Beruf sein kann. Ich wollte Arzt werden und die Imkerei als Hobby betreiben. Aber die Bienen zogen mich immer mehr in ihren Bann. Ich machte Bienen oder Imkerei zum Thema nahezu aller meiner Studienarbeiten. Als Hauptfach wählte ich die Chemie, so dass ich zu einem Fachmann für die chemische Sprache (die Pheromone) der Bienen werden konnte, deren Entschlüsselung zu jener Zeit gerade begann. Jeden Sommer fuhr ich nach Hause nach Ithaca, wo ich am Dyce Laboratory for Honey Bee Studies der Cornell University arbeiten konnte. Roger A. Morse (»Doc«), der Leiter des Instituts, verstand meine Leidenschaft für die Bienen nur allzu gut und gab mir den Rat, über eine Promotion nachzudenken.[16] Während der letzten beiden Jahre am Dartmouth College wurde mir nach und nach bewusst, dass mein Interesse an der Insektenforschung größer war als die medizinischen Neigungen; obwohl ich mich an drei medizinischen Fakultäten bewarb und auch angenommen wurde, war ich begeistert, als ich von der Harvard University die Zusage erhielt, bei dem angesehenen Insektensoziologen Edward O. Wilson eine Promotionsarbeit in Angriff zu nehmen; Wilsons 1971 erschienenes Buch The Insect Societies hatte gewaltigen Eindruck auf mich gemacht.[17]

Als ich im Herbst 1974 an die Harvard University kam, hatte ich das Glück, Bert Hölldobler zugeteilt zu werden, einem brillanten Fachmann für das Verhalten der Ameisen; er war ein junger Mann mit einer ungeheuren persönlichen Ausstrahlung und sollte vorläufig meine Doktorarbeit betreuen. Bert war kurz zuvor von der Universität Frankfurt in die Vereinigten Staaten gekommen. Die Harvard University hatte ihn als ordentlichen Professor eingestellt, damit er an der Hochschule Karl von Frischs Ansatz der Tierverhaltensforschung einführte: genaue Beobachtung des Verhaltens von Tieren, die in ihrem natürlichen Umfeld leben, in Verbindung mit eingehenden experimentellen Untersuchungen der Mechanismen, die hinter ihrem Verhalten stehen. In Deutschland hatte Bert bei Martin Lindauer studiert und kannte deshalb die Bienen ebenso gut wie die Ameisen, denen seine größte Liebe galt. Er unterstützte meine Zuneigung zu den Bienen, und wir wurden schnell gute Freunde.

Bert Hölldoblers Beziehung zu Martin Lindauer war für mich wichtig, denn ich wusste, dass ich mit meiner Doktorarbeit Lindauers Untersuchung der Frage, wie ein Honigbienenvolk als Einheit, als eine Art Superorganismus funktioniert, weiterführen wollte. Besonders erpicht war ich darauf, die Entscheidungsprozesse in einem Honigbienenschwarm detaillierter zu analysieren. Schon am Dartmouth College hatte ich Lindauers kleines Buch Communication among Social Bees (dt. Verständigung im Bienenstaat) gelesen; besonders fasziniert hatte mich dabei das Kapitel 2 mit der Überschrift »Verständigung durch Tanz bei Schwarmbienen«; darin hatte er die Ergebnisse seiner Untersuchungen zur Nistplatzwahl von Bienen zusammengefasst.[18] Ich war davon so gefesselt, dass ich Lindauers vollständigen Bericht über die Arbeiten ausfindig machte, einen Fachartikel von 62 Seiten, ausschließlich auf Deutsch, mit der Überschrift »Schwarmbienen auf Wohnungssuche«.[19] Für mich stellte sich dabei nur ein Problem: Ich konnte kein Deutsch. Meine Lösung bestand darin, am Dartmouth College einen Deutsch-Anfängerkurs zu belegen, ein Deutsch-Englisches Wörterbuch zu kaufen, Lindauers Artikel zu kopieren und den Text geduldig zu entziffern. (An die Ränder schrieb ich mit Bleistift die Bedeutung jedes neuen deutschen Wortes; dieses Exemplar mit seinen vielen Anmerkungen ist jetzt 38 Jahre alt und ein hochgeschätzter Teil meiner Sonderdrucksammlung.) Als ich über dem Artikel brütete, wurde mir klar, dass Lindauers erste Forschungsarbeiten zum Thema der kollektiven Entscheidungsprozesse von Schwarmbienen nur vorläufige Kenntnisse über das Thema vermittelten und dass sie wie alle guten wissenschaftlichen Untersuchungen mehr Fragen aufwarfen, als sie beantworteten. Darüber hinaus war ich erstaunt – und, wie ich zugeben muss, auch entzückt –, dass in den fast 20 Jahren, seit Lindauer seine Befunde 1955 veröffentlicht hatte, niemand die Analysen weiter vorangetrieben hatte. Ich entschloss mich, genau das zu tun, und begann mit den Arbeiten für meine Dissertation (siehe Bildteil, Abb. III).

In dem vorliegenden Buch möchte ich für Biologen und das allgemeine Lesepublikum darlegen, was Lindauer in den 1950er Jahren und ich selbst und andere seit den 1970er Jahren in Erfahrung gebrachte haben. Es handelt davon, wie die Arbeiterinnen in einem Honigbienenschwarm in einem demokratischen Entscheidungsprozess darüber bestimmen, wo sie ihr neues Nest bauen – eine Frage auf Leben und Tod. Durch die Untersuchungen wurde deutlich, wie die Evolution das Verhalten der Bienen im Laufe der Jahrmillionen so gestaltet hat, dass es zu einer einzigen kollektiven Intelligenz zusammenfließt. Die Geschichte über die Bienen bietet auch nützliche Richtlinien für Menschengruppen, deren Mitglieder gemeinsame Interessen haben und gute kollektive Entscheidungen treffen wollen. Vor allem aber möchte ich mit diesem Buch einen Blick auf das Privatleben eines Honigbienenvolkes werfen. Wenn es dazu beiträgt, dass wir diese kleinen Lebewesen mit all ihrer Schönheit und ihrem Sozialverhalten, aber auch mit ihrem Beitrag zur Schaffung einer blühenden, fruchtbaren Welt besser zu schätzen wissen, hat es seinen Zweck erfüllt.

2.Das Leben im Bienenvolk

… dies ist ein amazonisches

oder weibliches Königreich.[20]

 

Charles Butler,The Feminine Monarchie, 1609

Die Honigbiene Apis mellifera ist nur eine der fast 20000 Bienenarten, die es auf der Welt gibt.[21] Bienen sind eine erstaunlich vielgestaltige Gruppe – manche sind kleiner als ein Reiskorn, andere füllen eine Teetasse zur Hälfte aus –, aber alle stammen von einer einzigen Spezies vegetarischer Wespen ab, die vor rund 100 Millionen Jahren lebte; damals, in der frühen Kreidezeit, trampelten noch riesige Dinosaurier über die Erde, und die ersten Blütenpflanzen erschienen gerade erst auf der Bildfläche. Selbst heute ähneln viele Bienenarten in ihrem äußeren Erscheinungsbild erstaunlich stark den Wespen, aber was das Verhalten angeht, sind die beiden Gruppen ganz verschieden. Nahezu alle Wespen, darunter die bekannten Echten Wespen und Hornissen, sind Räuber: Sie töten andere Insekten oder Spinnen (häufig durch ihren Stich), um die Eier legenden Weibchen und ihre heranwachsenden Jungen mit proteinhaltiger Nahrung zu versorgen. Die Bienen dagegen haben die Vorliebe ihrer Urahnen für Fleisch aufgegeben und sind stattdessen darauf angewiesen, proteinreiche Blütenpollen zu sammeln. Die Gewohnheit, Pollen zu fressen, ist auch eine Erklärung für das flauschige, manchmal fast teddybärenhafte Aussehen vieler Bienen; ihr Körper ist dick mit weichen Haaren besetzt, die die Pollen sehr wirksam festhalten, wenn die Biene durch eine Blüte krabbelt.

Sowohl Bienen als auch Wespen suchen regelmäßig Blüten auf: Beide Insektengruppen nutzen den zuckerhaltigen Blütennektar als Energiequelle, aber nur zwischen den Bienen mit ihrer Vorliebe für Pollen und den Blütenpflanzen hat sich in den Jahrmillionen, seit beide Gruppen entstanden, eine starke gegenseitige Abhängigkeit entwickelt. Heutzutage sind Bienen und Blüten wie füreinander gemacht. Bienen können sich nur mit Hilfe der Blüten ausreichend ernähren, und viele Blütenpflanzen sind nur mit Hilfe der Bienen zur geschlechtlichen Fortpflanzung in der Lage.[22] Mit ihrem behaarten Körper und der Fixierung auf Blüten als Proteinlieferanten dienen die Bienen den Pflanzen als fliegende Penisse: Sie nehmen die Pollenkörner aus den platzenden Staubgefäßen einer Blüte auf und legen sie auf der klebrigen Narbe einer anderen wieder ab. Bringt man ein Honigbienenvolk in ein Gebiet mit vielen Blüten – einen Garten, eine Obstplantage, einen blühenden Wegesrand oder eine Prärie –, gibt man dieser Lebensgemeinschaft im Prinzip einen großen, von morgens bis abends tätigen »Escortservice« durch die kleinen Freundinnen der Blüten.

Honigbienen sind unter den Bienen ungewöhnlich: Sie leben in wimmelnden Gesellschaften, deren große Nester mit ihren Waben die Kisten der Imker oder, wie wir noch genauer erfahren werden, geeignete Hohlräume in Baumstämmen ausfüllen. Die Individuen der meisten anderen Bienenarten dagegen leben allein und bauen kleine Nester in engen Röhren, die sie in Pflanzenstängel oder in den Sandboden gebohrt haben.[23] Der typische Lebenslauf einer solchen Solitärbiene beginnt im späten Frühjahr oder Frühsommer, wenn ein befruchtetes Weibchen aus seinem Winterquartier ins Freie kommt (die Männchen sind schon im vorherigen Herbst gestorben). Während der nächsten Wochen baut die Bienenmutter ein Nest mit mehreren Kammern, stattet jede Kammer mit einem klebrigen, mit Nektar angefeuchteten Ball aus Pollen aus, legt auf jede Pollenkugel ein weißliches Ei, verschließt die Kammern und überlässt es dann den Nachkommen, zu fressen und im weiteren Verlauf des Sommers erwachsen zu werden. Sie stirbt, lange bevor ihre Jungen ausgewachsen ins Freie kommen, sich miteinander paaren und sich auf den kommenden Winter vorbereiten. Die meisten Bienen sind Einsiedler.

Ein Wesen aus vielen Teilen

Wenn wir durch die Glasscheiben eines Schau-Bienenstockes blicken oder vorsichtig den Deckel eines gewöhnlichen Bienenstockes abheben und ins Innere spähen, sehen wir das genaue Gegenteil von Einsiedlern: Hier leben Tausende und Abertausende von Bienen zusammen.[24] Praktisch alle sind Arbeiterinnen, und alle sind Töchter einer einzigen Königin, die in ihrer Mitte lebt. Die Arbeiterinnen sind zwar Weibchen und tragen die vollständige Ausrüstung zur Versorgung von Jungen, ihre Eierstöcke sind aber schlecht entwickelt, und sie legen nur selten Eier ab.[25] Wenn wir nun die Waben des Bienenstockes sorgfältig durchsuchen, machen wir irgendwann die Königin ausfindig: Sie sieht ähnlich aus wie die Arbeiterinnen, ist aber ein wenig größer und hat sowohl einen längeren Hinterleib als auch längere Beine (siehe Bildteil, Abb. IV). Ihre Größe ist eindrucksvoll, am auffälligsten aber ist, wie langsam und wahrhaft majestätisch sie sich über die Waben bewegt und wie sie von ihren Töchtern, den Arbeiterinnen, behandelt wird. Wenn die Königin vorwärtsschreitet, treten die Arbeiterinnen zurück und machen ihr den Weg frei; hält sie inne, treten rund ein Dutzend Arbeiterinnen eifrig vor, um sie zu füttern und zu pflegen – eine Entourage aus Versorgungsbienen, die sie vollständig umringen. Anders als die Arbeiterinnen legt die Königin eine erstaunliche Zahl von Eiern: Im späten Frühjahr und Frühsommer, wenn die Brutfürsorge in der Kolonie ihren Höhepunkt erreicht, dauert es noch nicht einmal eine Minute, ein Ei in einer Zelle unterzubringen, und insgesamt summiert sich die Zahl der Eier auf mehr als 1500 am Tag (mit einem Gesamtgewicht, das fast dem der Königin entspricht, siehe Bildteil, Abb. V). Im Laufe eines Sommers produziert die Königin einer Kolonie etwa 150000 Eier; in den zwei bis drei Jahren ihres voraussichtlichen Lebens sind es also ungefähr eine halbe Million.

Die meisten der mattweißen Eier, welche die Königin ablegt, werden befruchtet; bei einigen bleibt die Befruchtung jedoch aus. Während ihrer ersten Lebenswoche ist die Königin vom Stock ihrer Kolonie weggeflogen und hat sich mit 10 bis 20 Männchen aus anderen Bienenvölkern aus der Gegend gepaart; dies reicht für einen lebenslangen Vorrat von rund 5 Millionen Samenzellen. Diese speichert die Königin in scheintoter Form in der Samentasche, auch Receptaculum seminis genannt, einem kugelförmigen Organ, das hinter den großen Eierstöcken im hinteren Teil des Hinterleibes liegt. Jedes Mal, wenn die Königin ein Ei ablegt, entscheidet sie, ob sie zur Befruchtung einige Samenzellen hinzugeben soll oder ob sie die Samenzellen zurückhält; damit bestimmt sie über das Geschlecht der Nachkommen: Befruchtete Eier werden zu Weibchen, unbefruchtete zu Männchen. Ob eine befruchtete Eizelle sich zu einer unfruchtbaren Arbeiterin oder zu einer eierlegenden Königin entwickelt, hängt davon ab, wie sie behandelt wird. Wenn sie in einer normal großen Zelle der Wabe heranwächst und dort nach dem Schlüpfen, also als Larve, von Arbeiterinnen mit Larvennahrung der üblichen Qualität gefüttert wird, entwickelt sie sich zu einer Arbeiterin. Wird die befruchtete Eizelle dagegen in einer großen, speziell für sie gebauten Königinnen- oder Weiselzelle abgelegt, die vom unteren Ende einer Wabe herabhängt, erhält die darin schlüpfende Larve eine üppige Ernährung aus nährstoffreichen Sekreten (dem sogenannten Gelée Royale), und ihre Entwicklung schlägt einen Weg ein, der zur Entstehung einer Königin führt. Für die befruchteten Eizellen der Bienen bestimmt die Nahrung also das Schicksal.

Eine Königin hält bei weniger als fünf Prozent ihrer Eizellen die Samenzellen zurück, aber diese wenigen unbefruchteten Eizellen sind wichtig: Aus ihnen gehen die Söhne hervor, die Drohnen der Kolonie (Abb. 5). Sie sind die stämmigsten Bienen des Volkes: Mit ihren riesigen Augen können sie Ausschau nach jungen Königinnen halten, die auf dem Hochzeitsflug sind, und eine mächtige Flugmuskulatur versetzt sie in die Lage, die Königinnen mit Geschwindigkeiten von bis zu 35 Stundenkilometern zu verfolgen.

Abb. 5

Drei Typen ausgewachsener Honigbienen.

Gleichzeitig sind sie auch die faulsten Bienen einer Kolonie. Im Gegensatz zu den Arbeiterinnen, die im Haushalt des Bienenstocks alle anfallenden Arbeiten erledigen – Reinigung von Zellen, Fütterung der Larven, Bau von Waben, Reifung des Honigs, Durchlüftung des Bienenstockes, Bewachung der Eingänge und so weiter –, treiben sich die Drohnen zu Hause einfach in entspannter Muße herum; von Zeit zu Zeit nehmen sie aus den Honigvorräten der Kolonie eine Mahlzeit ein, oder sie betteln bei ihren Schwestern, den Arbeiterinnen, um Fütterung. Dennoch leisten sie zum Erfolg der Kolonie einen Beitrag von grundlegender Bedeutung: Durch die Paarung mit jungen Königinnen aus Nachbarvölkern geben sie Gene an zukünftige Generationen weiter und helfen damit ihrer Kolonie, in dem unaufhörlichen Evolutionswettbewerb Sieger zu bleiben. Und wenn es um Sex geht, sind Honigbienen-Drohnen keine Kinder von Traurigkeit. Wenn eine Drohne im Alter von ungefähr zwölf Tagen geschlechtsreif geworden ist, fliegt sie an jedem sonnigen Nachmittag aus dem Stock hinaus und sucht nach Betätigung. Auf nach wie vor rätselhafte Weise findet das Männchen im Umkreis von wenigen Kilometern um sein Zuhause den Weg zu den traditionellen Paarungsgebieten der Honigbienen (den »Drohnen-Versammlungsgebieten«), und auf diesen luftigen Kontakthöfen wartet es, bis eine junge Königin auftaucht. Sobald das geschieht, heftet das Männchen sich an ihre Fersen. Wenn es ihm gelingt, schneller als die Konkurrenten zu sein und die Königin zu berühren, übergibt er ihr im Flug, 10 bis 20 Meter hoch in der Luft, seine Samenzellen. Kommt der Kontakt nicht zustande, fliegt das Männchen nach Hause, ruht sich aus, nimmt Nahrung auf und versucht sein Glück später noch einmal.

Einerseits kann man sich ein Honigbienenvolk also als Gesellschaft aus vielen tausend Individuen vorstellen: den gerade beschriebenen Königinnen, Arbeiterinnen und Drohnen. Um aber die charakteristischen biologischen Eigenschaften dieser Bienenspezies zu verstehen, ist es oftmals nützlich, die Kolonie etwas anders zu betrachten: nicht als Gebilde aus Tausenden von einzelnen Bienen, sondern als ein einziges lebendes Gebilde, das als einheitliches Ganzes funktioniert (siehe Bildteil, Abb. VI).[26] Mit anderen Worten: Es kann nützlich sein, sich eine Honigbienenkolonie als Superorganismus vorzustellen. Genau wie ein menschlicher Organismus, der aus einer Vielzahl von Zellen besteht und dennoch als zusammengehöriges Ganzes tätig wird, so funktioniert auch der Superorganismus eines Honigbienenvolkes als einheitliches Ganzes, obwohl es aus zahlreichen Bienen zusammengesetzt ist. In der Tatsache, dass beide Sichtweisen – die Kolonie als Superorganismus und als Gesellschaft – ihre Berechtigung haben, spiegelt sich ein Weg wider, auf dem die Evolution viele Male Einheiten auf einer höheren biologischen Organisationsebene aufgebaut hat: Einheitliche Gesellschaften werden aus Einheiten niedrigerer Ordnung zusammengesetzt. Bei der Entstehung der vielzelligen Lebewesen beispielsweise begünstigte die natürliche Selektion manche Zellgesellschaften, deren Mitglieder nicht miteinander konkurrierten, sondern zusammenwirkten. Stück für Stück führte diese Selektion einer engen Zusammenarbeit zu den ungeheuer stark integrierten Zellgesellschaften, die wir heute beispielsweise als Kolibris oder Menschen kennen. Eine ganz ähnliche Selektion zugunsten extremer Zusammenarbeit brachte bei manchen Tierarten auch die zutiefst harmonischen, reibungslos funktionierenden Gesellschaften hervor, die wir als Superorganismen bezeichnen. Dazu gehören nicht nur die Bienenvölker, sondern auch die riesigen Kolonien der Blattschneiderameisen, Treiberameisen oder pilzzüchtenden Termiten.

Ein Honigbienenvolk ist also weit mehr als nur eine Ansammlung von Individuen: Es ist ein zusammengesetztes Lebewesen, das als integriertes Ganzes funktioniert. Man kann sich eine solche Kolonie durchaus als ein einziges lebendes Gebilde vorstellen, das bis zu fünf Kilo wiegt und alle grundlegenden physiologischen Prozesse vollzieht, die zum Leben notwendig sind: Aufnahme und Verdauung von Nahrung, Aufrechterhaltung des Nährstoffgleichgewichts, Kreislauf der Nährstoffe, Gasaustausch, Steuerung von Wassergehalt und Körpertemperatur, Wahrnehmung der Umwelt, Verhaltensentscheidungen und Fortbewegung.[27] Betrachten wir beispielsweise die Steuerung der Körpertemperatur, also der Temperatur der Kolonie (Abb. 6): Vom Spätwinter bis zum Vorfrühling, wenn die Arbeiterinnen ihre Jungen großziehen, wird die Innentemperatur einer Kolonie zwischen 34 und 36 Grad Celsius gehalten und liegt damit etwas niedriger als die Körpertemperatur eines Menschen; das gilt für eine Umgebungstemperatur von –30 bis +50 Grad Celsius. Dies erreicht die Kolonie, indem sie die Menge der abgegebenen Wärme aus dem Ruhestoffwechsel steuert; bei extremer Kälte wird dieser Stoffwechsel außerdem verstärkt, so dass auch die Wärmeproduktion steigt. Angetrieben wird der Stoffwechsel eines Bienenvolkes durch den Honig, der im Stock gespeichert ist. Auch andere Anzeichen sprechen für die stark integrierten Funktionen eines Honigbienenvolkes, so die Kolonieatmung: Die Anreicherung des bei der Atmung entstehenden Kohlendioxids im Stock wird begrenzt, indem die Bienen die Lüftung verstärken, wenn die CO2-Konzentration einen Wert von einem bis zwei Prozent übersteigt; es gibt auch einen Koloniekreislauf: Die wärmeproduzierenden Bienen im Inneren des Stockes, wo sich auch die Brut befindet, werden ausreichend mit Honig versorgt, der aus den Honigwaben an der Peripherie herangeschafft wird; und es gibt die Kolonie-Fieberreaktion: Zur Krankheitsbekämpfung steigt die Temperatur im Nest, wenn die Kolonie durch eine Pilzinfektion der Bienenbrut gefährdet ist. Das beste Anzeichen dafür, dass die Kolonie wie ein Superorganismus funktioniert, ist jedoch nach meiner Vermutung die Fähigkeit eines Honigbienenschwarmes, bei der Auswahl eines neuen Nistplatzes als intelligente Einheit seine Entscheidung zu treffen.

Abb. 6

Die höhere, gleichbleibende Temperatur im Nest einer Honigbienenkolonie im Vergleich zur Lufttemperatur in der Umgebung.

Ein einzigartiger Jahreszyklus

Um zu verstehen, warum Honigbienenschwärme bei der Auswahl ihres Wohnortes so sorgfältig vorgehen, muss man den einzigartigen Jahreszyklus dieser Tiere verstehen: Er hängt entscheidend davon ab, dass die Hohlräume, in denen die Kolonie nistet, sowohl ausreichenden Schutz als auch ausreichenden Platz bieten.[28] Im Gegensatz zu allen anderen sozialen Insektenarten, die in kalten Klimazonen zu Hause sind, überstehen Honigbienen den Winter nicht in einem Ruhezustand, sondern als vollständig funktionsfähige Kolonien in Nestern, die sie selbst beheizen. Um auf diese Weise überleben zu können, zieht sich jede Kolonie im Winter zu einem gepackten, gut isolierten Bienenhaufen zurück, der ungefähr so groß ist wie ein Basketball. Die Oberflächentemperatur des Haufens wird bei über 10 Grad Celsius gehalten und liegt damit wenige Grad über der Grenze, bei der Arbeiterinnen ins Kältekoma fallen. Die Wärme reicht also aus, damit auch die am Rand befindlichen Bienen am Leben bleiben (Abb. 7). Das Innere des Haufens heizen die Bienen auf, indem sie ihre beiden Flugmuskelpaare (von denen das eine die Flügel hebt und das andere sie nach unten zieht) isometrisch zusammenziehen; damit erzeugen sie viel Wärme, aber höchstens geringfügige Flügelbewegungen. Die Flugmuskulatur stellt also für die Biene eine erstaunlich leistungsfähige Heizung dar. Natürlich fliegen Bienen, indem sie mit den Flügeln schlagen – die energetisch anspruchsvollste Fortbewegungsart bei Tieren –, und die Flugmuskulatur der Insekten gehört zu den Geweben mit dem aktivsten Stoffwechsel. Eine fliegende Biene verbraucht eine Energiemenge von rund 500 Watt je Kilogramm Körpergewicht – zum Vergleich: Eine olympische Rudermannschaft bringt es höchstens auf ungefähr 20 Watt je Kilogramm. Zu jedem Zeitpunkt zittert aber nur ein kleiner Anteil der Bienen in dem Haufen mit maximaler Intensität. Die Energiemenge, die von den zwei Kilo Bienen im Winter erzeugt wird, liegt also nicht bei 1000, sondern nur bei ungefähr 40 Watt; eine ähnlich große Wärmemenge erzeugt eine kleine Glühbirne. In einer behaglichen Höhle, die Schutz vor dem wärmeraubenden Wind bietet, überlebt eine Kolonie mit einer solchen Wärmeproduktion recht angenehm den Winter. Wie wichtig die schützende Wohnhöhle ist, zeigt sich am traurigen Schicksal der wenigen Bienenvölker, die keine Unterkunft finden und im Freien nisten müssen (siehe Bildteil, Abb. VII); sie werden mit ziemlicher Sicherheit absterben, wenn die winterliche Kälte einsetzt.

Abb. 7

Der Aufbau eines Honigbienenschwarms im Winter.

Ein Honigbienenvolk lebt rund ums Jahr von Flower Power: Die mindestens 20 Kilo Honig, die das Volk während des vorangegangenen Sommers in seinen Honigwaben gesammelt hat, dienen als Brennstoff, der den ganzen Winter über die Wärmeproduktion ermöglicht. Wenn man ein Bienenvolk auf eine Waage legt und über das ganze Jahr hinweg jeden Tag das Gewicht misst, so erkennt man, dass es im Laufe des Winters stetig abnimmt: Die Kolonie verbraucht ihre Honigvorräte, und im Sommer, wenn die Lager wieder aufgefüllt werden, geht das Gewicht stetig nach oben (Abb. 8). Meine Bienenvölker in Ithaca im Bundesstaat New York beispielsweise füllen ihre Waben vor allem während der 60 Tage zwischen dem 15. Mai und dem 15. Juli; in dieser Zeit blühen nacheinander zahlreiche Pflanzen, die üppige Nektarmengen produzieren, darunter Robinien und Linden, Sumach sowie verschiedene krautige Pflanzen, beispielsweise Löwenzahn, Himbeeren, Seidenpflanzen und Klee. An einem solchen Tag, wenn die Luft warm ist, die Sonne kräftig scheint und Nektar in Hülle und Fülle zur Verfügung steht, nimmt das Gewicht des Bienenvolkes, das ich zu Hause auf einer Waage halte, um mehrere Kilo zu; dabei handelt es sich praktisch ausschließlich um frischen Honig. Folgen mehrere solche Tage aufeinander, sprechen Imker von einer »Tracht«.

Abb. 8

Die wöchentliche Gewichtsveränderung eines Honigbienenvolkes (Bienenstock mit Bienen und Futtervorräten).

Innerhalb der kurzen Sommersaison einen ausreichenden Brennstoffvorrat für den Winter anzulegen ist für ein Honigbienenvolk eine der schwierigsten Aufgaben. Honig ist zwar eine konzentrierte, energiereiche Nahrung, aber 20 Kilo davon füllen fast einen 16-Liter-Eimer oder mehr als 50 jener Honiggläser, die im Supermarkt neben der Erdbeermarmelade stehen. Wie viel Arbeit und Speicherplatz sind notwendig, um einen derart gewaltigen Kalorienvorrat anzulegen? Was die Arbeit angeht, so muss man bedenken, dass frisch gesammelter Nektar eine (durchschnittlich) 40-prozentige Zuckerlösung ist, während reifer Honig zu ungefähr 80 Prozent aus Zucker besteht. Eine Biene, die Nahrung sammelt, bringt im Regelfall ungefähr 40 Milligramm Nektar nach Hause. Daraus kann man berechnen, dass das Sammeln des Nektars für die Produktion von 20 Kilo Honig mehr als eine Million Sammelflüge der Arbeiterinnen aus dem Bienenvolk erfordert. Wenn man dann noch bedenkt, dass die Bienen während eines solchen Fluges viele Kilometer zurücklegen und unzählige Blüten aufsuchen, so erkennt man, welche umfangreichen Anstrengungen sie im Laufe des Sommers unternehmen, um ihr Volk durch den Winter zu bringen.

Und wie steht es mit dem Speicherplatz? Um einen Honigvorrat von einem Kilo anzulegen, sind Waben mit einer Fläche von 250 Quadratzentimetern notwendig, und da 250 Quadratzentimeter Waben in der Nesthöhle jeweils ein Volumen von 0,9 Liter einnehmen (für die Waben voller Honig und die zugehörigen Durchgangswege für die Bienen), kann man ausrechnen, dass die Speicherung von 20 Kilo Honig eine Nisthöhle mit einem Volumen von rund 18 Litern erfordert. Wenn also ein Bienenvolk sich sein zukünftiges Zuhause aussucht, muss es auf Baumstamm-Hohlräume, deren Volumen kleiner ist, verzichten. Im Idealfall findet es eine Nisthöhle, die noch etwas geräumiger ist und weitere honiggefüllte Waben sowie Kammern für die Brut der Kolonie aufnehmen kann; diese besetzt im Frühjahr unter Umständen mehr als die Hälfte aller Zellen in einer Kolonie, weil die Mannschaft als Vorbereitung auf das Schwärmen ausgebaut wird. Imker haben übrigens einen klugen Weg gefunden, um den Drang der Bienen, ihre Nester mit Honig zu füllen, auszunutzen. Sie bringen ihre Völker in Stöcken unter, die mit rund 160 Litern weitaus mehr Platz bieten, als die Bienen in der Natur brauchen; damit veranlassen sie ihre Völker dazu, erstaunliche Honigmengen anzuhäufen – ein Volk erzeugt während eines Sommers unter Umständen mehr als 100