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Kernthema vieler bildungssoziologischer Diskussionen ist nach wie vor soziale Ungleichheit. Die soziale Herkunft ist ein wesentlicher Einflussfaktor für den (beschränkten) Zugang zu Bildung und auch für die Leistungsbereitschaft. Theoretisch zutreffende, durch empirische Forschung gesicherte Beschreibungen zur Erfassung und Erklärung dieses Phänomens sind eine große Herausforderung für interdisziplinäre Forschungen. Diese Herausforderungen sind nicht nur wissenschaftlicher Natur, sondern stellen sich in der Verantwortlichkeit für gesellschafts- und bildungspolitische Reformmaßnahmen, deren Grundlage sie bilden. Zunächst wird nun ein kurzer Überblick zur Entwicklung, zu Themen und Theoriekonzepten in der Bildungssoziologie gegeben; diese Bereiche werden in den nachfolgenden Kapiteln vertiefend ausgeführt und diskutiert, bevor in die Berufs- und Professionssoziologie eingeführt wird.
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Seitenzahl: 253
Veröffentlichungsjahr: 2017
Barbara Rothmüller
Franz Wagner
Eine bildungs- und professionssoziologische Einführung für Studierende
© 2017 Barbara Rothmüller Franz Wagner
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-9269-0
Hardcover:
978-3-7345-9270-6
e-Book:
978-3-7345-9271-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
(Maria Dammayr)
In einer Informationsbroschüre der Studierendenvertretung der Universität Linz wurde die Bildungs- und Professionssoziologie in folgender Weise kurz beschrieben und allgemein vorgestellt:
Die (vergleichende) Entwicklung der institutionellen Ausformung von Bildungseinrichtungen, die Frage nach dem Einfluss von Bildung auf die individuellen Lebenschancen und vor allem die Thematisierung sozialer Ungleichheit im Zusammenhang mit Bildungsprozessen stehen im Zentrum bildungssoziologischer Diskussionen und Analysen. Bildungsexpansion, Durchlässigkeit des Bildungssystems, Integrations- und Differenzierungsleistungen, Statuszuweisungsprozesse, Bildungsfolgen, Investitions- und Ressourcenfragen, Genderthemen, internationaler Wettbewerb – viele Themenbereiche und empirische Ergebnisse sind unter den aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen soziologisch zu reflektieren.
Viele (neue) Berufe in sozialen, pflegerischen und pädagogischen Handlungsfeldern gelten als Professionen, zeichnen sich durch hohe Autonomie aus und begründen dies unter anderem mit formalisierten Zugangs- und Qualifikationsregelungen. Professionssoziologie thematisiert Prozesse der Professionalisierung und Deprofessionalisierung, die Kriterien professionellen Handelns bzw. die Herausbildung / Übernahme eines professionellen Habitus auf dem Hintergrund der (auch bildungs- und qualifikationsbedingten) Phänomene sozialen Wandels in der Arbeitswelt.
Die Perspektive auf den Lebensbereich Arbeitswelt und die Fokussierung auf die dort wahrnehmbaren Phänomene des sozialen Wandels stellen grundlegende verbindende Aspekte zwischen den Bereichen Bildung, Beruf und Professionalisierung dar. Bildung und berufliche Qualifizierung, Bildung und Arbeitsmarkt, Bildung und Chancengleichheit, geschlechtsspezifische Phänomene im Bildungswesen und in der Wirtschaft, Bildung und Demokratisierung bzw. gesellschaftliche Teilhabe, Professionalisierungsprozesse über (neue) Bildungswege und damit gravierende Veränderungen in vielen Berufsfeldern – es gibt eine Reihe von (zusammenhängenden) Fragen, welche aus soziologischer Sicht gegenwarts- und zukunftsrelevant zu thematisieren, zu kommentieren und zu analysieren sind.
Derzeit ist die Forderung nach „praxisrelevanten“ Inhalten in der Lehre sehr deutlich zu hören und jegliche theoretische „Arbeit“ hat es ungleich schwerer, das eigene Anliegen zu vermitteln. Das aus dem Griechischen kommende Worttheoreinhat ursprünglich die Bedeutung von Betrachten, Schauen, Zuschauen, Erkennen; im aristotelischen Sinne wird es zur Suche nach Wahrheit undtheoriadient der Erforschung der Wahrheit. Im universitären Kontext wird diese „Wahrheit“ mit wissenschaftlichen Mitteln gesucht, und zwar kontinuierlich. Wissenschaftliche Beschäftigung mit einem Thema bedeutet also nicht nur bestehendes Wissen zu vermitteln, sondern ebenso die Haltung zu leben und zu lehren, dass über die vorläufigen Kenntnisse hinweg immer nach neuen Verständnissen und Sichtweisen gesucht wird. Nach Thomas von Aquin sollen Studierende nicht lernen, etwas zu wiederholen, was andere gedacht haben, sondern vor allem selbst daran interessiert sein und wissen wollen, wie sich die Welt darstellt. Die theoretische Herangehensweise an Themen oder Fragestellungen erfordert eine gewisse Distanz zur unmittelbaren Praxis, denn es geht nicht in erster Linie um unmittelbar umsetzbaren Nutzen, sondern vor allem um Erkenntnis. In diesem Sinne sind die hier vorgestellten Themenbereiche, Fakten, Überlegungen und Fragen als Einladung zu sehen, die gesellschaftliche(n) Wirklichkeit(en) und Wirkungsfaktoren rund um die Bereiche Bildung, Beruf, Professionalisierung usw. soziologisch zu denken, zu sehen und zu benennen.
Ein Themenschwerpunkt der Bildungssoziologie ist die enge Verschränkung zwischen Bildung und Arbeitsmarkt; neben der institutionalisierten Bildung stellt die berufliche Differenzierung ein wichtiges Merkmal gesellschaftlicher Organisation dar. Professionalisierungsprozesse verändern Berufsinhalte und Berufsbilder in einer Weise, in der wichtige Fragen – zum Beispiel jene der sozialen Kontrolle – neu gestellt werden müssen.
In der Schnittmenge von Bildungs-, Berufs- und Professionssoziologie werden verschiedene Theorien verwendet. Sehr verbreitet zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Bildung und Arbeitsmarkt ist zum Beispiel der Arbeitskräftebedarfsansatz, bei dem das technische System vorherrschender Sachzwänge im Vordergrund steht, oder die Humankapitaltheorie, in welcher Bildung als Investition gesehen wird. Es gibt aber auch Sichtweisen, welche mehr als nur Marktbeziehungen berücksichtigen. Professionalisierungstheorien gehen häufig auch auf Herrschaftsbeziehungen oder Individualisierungstrends ein.
Kernthema vieler bildungssoziologischer Diskussionen ist nach wie vor soziale Ungleichheit. Die soziale Herkunft ist ein wesentlicher Einflussfaktor für den (beschränkten) Zugang zur Bildung und auch für die Leistungsbereitschaft. Theoretisch zutreffende, durch empirische Forschung gesicherte Beschreibungen zur Erfassung und Erklärung dieses Phänomens sind eine große Herausforderung für interdisziplinäre Forschungen. Diese Herausforderungen sind nicht nur wissenschaftlicher Natur, sondern stellen sich in der Verantwortlichkeit für gesellschafts- und bildungspolitische Reformmaßnahmen, deren Grundlage sie bilden. Zunächst wird nun ein kurzer Überblick zur Entwicklung, zu Themen und Theoriekonzepten in der Bildungssoziologie gegeben; diese Bereiche werden in den nachfolgenden Kapiteln vertiefend ausgeführt und diskutiert, bevor in die Berufs- und Professionssoziologie eingeführt wird.
Einleitende Skizzen zu wichtigen bildungssoziologischen Fragen und Themenstellungen geben einen kurzen Überblick über die vertiefenden Ausführungen in den nachfolgenden Kapiteln und dienen der strukturierenden Information über den speziellen Gegenstandbereich.
Bildung wird im 21. Jahrhundert als „…zentrale individuelle und gesellschaftliche Ressource“ gesehen (Quenzel/Hurrelmann 2010: 11). Bildung ist aber auch ein Thema, über das vor allem deshalb so intensiv und widersprüchlich diskutiert wird, weil Bildung zum einen in allen Lebensbereichen eine Rolle spielt, vom Arbeitsmarkt bis zur Gesundheit, von sozialer Ungleichheit bis zur Persönlichkeitsbildung, und weil der Begriff Bildung zum anderen mit sehr vielen Bedeutungen besetzt ist, die in den meisten öffentlichen Diskussionen mehr oder weniger unreflektiert mitschwingen.
Weil Bildung in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Feldern einen entscheidenden Faktor darstellt, wird sie als der Schlüssel auch zur Lösung vieler Probleme in diesen Bereichen gesehen: von der Qualifizierung für den Arbeitsmarkt, als wichtige Ressource für das persönliche Glück und die gesamte gesellschaftliche Entwicklung und das wirtschaftliche Wachstum, für die demokratische Entwicklung, als Beitrag zur Autonomie, zur individuellen Selbstverwirklichung, zum funktionierenden Gemeinwesen und zum Abbau von Ungleichheiten.
Die Anforderungen und Ansprüche an das Bildungssystem und an die Menschen, die in den Bildungsinstitutionen arbeiten, sind groß und von unterschiedlichen Interessen und Werteorientierungen getragen und beeinflusst. Bildung mit all ihren sozialhistorischen und kulturgeschichtlichen Hintergründen stellt auch ein wesentliches gesellschaftliches Differenzierungs- und Orientierungssystem dar. Wie empirische Untersuchungen belegen, stellt das Bildungssystem selbst eine Art
„Bildungstrichter“ dar, der bestehende soziale Ungleichheiten immer wieder reproduziert, obwohl es ja Ziel demokratischer Bildungspolitik war und sein muss, soziale Ungleichheiten zu verringern. So schaffen durchschnittlich 40 Prozent der Kinder von Selbständigen oder Angestellten und Beamten den Universitätszugang, während es vergleichsweise aus der Arbeiterschicht nur etwa 10 Prozent der Kinder schaffen. Auch im Zusammenhang mit Geschlecht und sozialer Ungleichheit bzw. ungleich verteilten Lebenschancen spielt Bildung eine zentrale Rolle: Frauen sind im Bereich des Grundschulwesens überrepräsentiert, auf universitärer Ebene stark unterrepräsentiert; weltweit hat etwa jedes 6. Kind überhaupt keine Chance, Lesen und Schreiben zu lernen, ein Drittel aller nicht eingeschulten Mädchen leben in Afrika und zwei Drittel der fast 900 Millionen Analphabeten sind weiblich. Vermittelt uns das Bildungssystem auch solche Fakten und lernt uns damit umzugehen?
Die Ansprüche an das Bildungssystem sind enorm; eine öffentliche Auseinandersetzung über Ziele, gesellschaftlichen Auftrag und Funktionen, über Identität und Selbstverständnis von Schulen und anderen Bildungsinstitutionen findet kaum statt; zentralistisch orientierte Steuerungsmechanismen und marktwirtschaftlich legitimierte Argumente scheinen auch in der Bildungspolitik im Vordergrund. Es gibt viele Gründe, Bildung generell neu zu denken: von den Ergebnissen der Hirnforschung über das Lernen bis zum Einsatz und den Möglichkeiten neuer Technologien. Bildung im arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Kontext allein zu thematisieren, greift zu kurz – so wichtig und bedeutend diese Verbindung auch ist: immer stehen Wirtschaftswachstum und Bildungsinvestitionen in engem Zusammenhang. Spannend sind also auch Fragen wie: inwiefern (weltweite) Krisenphänomene auch als Bildungsprobleme interpretiert werden können, ob sich Bildung / Schulbildung auch um die Schlüsselprobleme unseres Zusammenlebens kümmert, ob die emanzipatorischen Möglichkeiten der Schule genützt werden, ob Bildung / Schulbildung jenen Ort der Reflexion zur Verfügung stellt, der eine Entwicklung von eigenständiger und sozial verantwortungsvoller Orientierungs- und Handlungsfähigkeit begünstigt. Schule / Universität bereitet dann sinnvoll auf das Leben (nicht nur das Arbeitsleben) vor, wenn auch Raum geschaffen wird zur Thematisierung der eigenen gesellschaftlichen (und wirtschaftlichen) Situation, wenn dadurch Erkenntnisse gewonnen werden, um die eigene Lage im Zusammenhang interpretieren zu können und auch sozial verantwortungsvolle Handlungsstrategien in Verbindung mit einer stabilen sozialen Identität entwickelt werden können. Wissensvermittlung wird immer ein Bestandteil des schulischen / universitären Bildungsauftrags sein. Bildungsinstitutionen sollten aber auch zum mitmenschlich verantworteten Umgang mit Wissen befähigen, denn noch immer gilt: Wissen ist Macht.
Bildung, Lernen und Ausbildung und die Voraussetzungen und Bedingungen dafür und die Konsequenzen daraus haben deshalb einen zentralen gesellschaftlichen Stellenwert. Die Schulpflicht ist für uns eine Selbstverständlichkeit, das duale Berufsausbildungssystem hat international Nachahmer gefunden, es gibt eine Vielzahl universitärer und außeruniversitärer Forschungsinstitute, die sich mit Bildungsfragen auseinandersetzen, die Ausbildung für PädagogInnen ist staatlich organisiert – und dennoch gibt es in den letzten Jahren wieder verstärkt Klagen über die mangelnde Leistungsfähigkeit des Bildungswesens. Die Geschichte liefert Hinweise darauf, dass derartige Beschwerden in allen Hochkulturen vorgebracht wurden und auch im deutschsprachigen Raum „…werden seit 100 Jahren regelmäßig Bildungskatastrophen ausgerufen.“ (Roth 2011: 13)
Ein berühmtes Zitat ist uns allen in Erinnerung: Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir (non scholae, sed vitae discimus). Weniger bekannt ist allerdings, dass dieses Zitat, das wohl motivierend sein soll, im Hinblick auf die spätere Lebenstüchtigkeit einige Erschwernisse des Schulalltags besser akzeptieren zu können, eine Sinnumkehr des Originalsatzes von Seneca ist. Seneca hatte seinerzeit sich kritisch zur Schule geäußert:Non vitae, sed scholae discimus(nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir). Ziehen wir doch auf der Grundlage eigener Schul- und Bildungserfahrungen kurz Bilanz: Wofür haben wir gelernt? Für Prüfungen, richtig reproduzierte Antworten, Tests, Scheine, Zertifikate, Zeugnisse, Bestätigungen, Diplome? Neben diesem individuellen Aspekt ist in letzter Zeit die Institution Schule selbst, sind schulische Organisationsformen ins Zentrum der Aufmerksamkeit und der Kritik geraten (Gesamtschule usw.). Breite gesellschaftliche Initiativen (Beispiel Volksbegehren: „Österreich darf nicht sitzenbleiben“) versuchen die Öffentlichkeit auf die Zukunftsrelevanz bildungspolitischer Fragen und Entscheidungen hinzuweisen und Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Bildung der zentrale Motor gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und demokratischer Entwicklung ist.
„Ja, unsere Bildung ist in der Krise, und dennoch ist Bildung unsere einzige Chance, den Weg aus der globalen Krise zu finden und zu gehen.“ (Spitzer 2010: X) Spiegeln solche Erwartungen aktuell zwar wieder einen hohen Stellenwert von Bildungs- und Erziehungsfragen, so muss doch festgehalten werden, dass dieser sehr wechselhaft und widersprüchlich sich entwickelt: in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten wird zwar der Ruf nach dem Zentralschlüssel Bildung zur Lösung aller Probleme lauter, gleichzeitig werden aber Sparmaßnahmen auch im Bildungsbereich umgesetzt.
Die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs Bildung und die starke Einbettung von Bildung und damit verbundenen Themen, Anliegen und Fragen in kulturelle, wirtschaftliche, politische (staatsideologische), technologische und allgemein gesellschaftliche Kontexte lässt (fast) alle Diskussionen von vornherein kontrovers ablaufen – sind doch davon Grundverständnisse von Staat und Gesellschaft berührt, Grundverständnisse des Verhältnisses Individuum und Gesellschaft, von den möglichen Formen des menschlichen Zusammenlebens generell angesprochen. Damit erhalten aber viele bildungspolitische und bildungsideologische Fragen auch bildungssoziologische Relevanz: Soziologische (zeit- und gesellschaftsdiagnostische) Befunde und Sichtweisen dienen der beschreibenden und ideologiekritischen Analyse jenseits unreflektierter normativer und möglicher stark interessengeleiteter Ansprüche an das Bildungswesen (vgl. Prisching 2008: 10)
In den letzten 20 Jahren hat die Bedeutung der Bildungssoziologie und der bildungssoziologischen Forschung wieder enorm zugenommen. In den Jahrzehnten davor fristete sie hingegen ein „recht tristes Mauerblümchendasein in der Soziologie“ (Becker 2011: 5).
Die aktuelle Bedeutung hat ihre Grundlage einerseits in der steigenden Wertigkeit der individuellen Kumulation von Bildungskapital, um im stärker werdenden Wettbewerb der Existenzsicherung bestehen zu können und andererseits in der hohen Bewertung von Bildung im weltweiten Wettbewerb, denn übereinstimmend wird argumentiert, dass Bildung und Bildungsinvestitionen entscheidende Faktoren für die internationale ökonomische Positionierung sind und in Zukunft sein werden. Bildungspolitische Diskussionen konzentrieren sich auf Ergebnisse diverser Prüfungs- und Evaluierungsverfahren und untersuchen die Funktionalitäten bzw. kritisieren das Leistungspotenzial des Bildungssystems. Bildungssoziologische Befunde lieferten auch eine Bilanz zu den in den letzten Jahrzehnten umgesetzten Bildungsreformen; auch diese Ergebnisse sind widersprüchlich. Die zunehmende Bedeutung der Bildungsforschung ergibt sich zum einen aus diesen Widersprüchlichkeiten in den Ergebnissen, zum anderen folgt sie den institutionellen Prozessen der Bildungsexpansion. Parallelen zwischen bildungspolitischen Diskussionen in der Öffentlichkeit und bildungssoziologischen Hochkonjunkturen ergeben sich auch aus der inhaltlichen Nähe zu gesellschaftspolitischen Themen (zum Beispiel: Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit), denn ExpertInnen aus der Bildungsforschung werden in der Politikberatung vermehrt beigezogen, um Reformmaßnahmen begleitend umzusetzen und zu evaluieren.
Lester F. Ward, einer der Begründer der amerikanischen Soziologie und erster Präsident der ASA (American Sociological Association) und Emile Durkheim, der im europäischen Raum als bildungssoziologischer Pionier gesehen werden kann, haben von Anfang an die Bedeutung von Erziehung und Bildung für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung betont (vgl. Kahlert 2010: 70). Durkheims Lehrstuhl für Sozialwissenschaften an der Universität Bordeaux war zugleich ein pädagogischer Lehrstuhl und der Erziehungsprozess wurde von Durkheim weniger als individuelles Anliegen denn als soziale Tatsache dargestellt. Beide erforschten Integrationsmechanismen, durch welche Individuen zu Mitgliedern der Gesellschaft werden. Institutionen des Erziehungs- und Bildungswesens wurden als bestimmende Agenten des gesellschaftlichen Wandels und der sozialen Integration der Jugend charakterisiert. Durkheim stellte auch die Forderung auf, die Soziologie zur wissenschaftlichen Grundlage der Ausbildung von PädagogInnen zu machen.
Bildungssoziologische Fragen beinhalten im Kern das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft und wurden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts immer wieder neu thematisiert (etwa Theodor Geiger oder Karl Mannheim an der London School of Economics; beide gehören zu den Wegbereitern der Erziehungs- und Bildungssoziologie).
„Der eminent gesellschaftliche Charakter der Erziehung steht über allem Zweifel. Gesellschaft ist ohne Erziehung nicht denkbar, wie andererseits Erziehung nur in der sozialen Sphäre möglich ist. Weshalb denn auch das Erziehungsdenken immer dem Gesellschaftsdenken entspricht“(Geiger 1930: 405).
Geigers Anliegen war, den pädagogischen Gegenstand mit soziologischen Methoden zu bearbeiten. In der Pädagogischen Soziologie wurden die Spannungen zwischen Freiheit und Selbstbestimmung auf individueller Ebene und den zwingenden und bestimmenden gesellschaftlichen Strukturen thematisiert. Im Nationalsozialismus wurde diese Diskussion (unfreiwillig) unterbrochen, denn sowohl für die Pädagogik wie auch für die Soziologie war auf der Grundlage der gesellschaftlichen Bedingtheit des menschlichen Handelns die Bedrohung durch kollektiven Druck ein bedeutendes Thema (vgl. Sommerkorn 1993: 32).
Viele bildungssoziologische Impulse stammten in der Zwischenkriegszeit nicht aus der klassischen Soziologie, sondern aus Nachbardisziplinen, etwa der Pädagogik. (vgl. Sommerkorn 1993: 31). Die Gedanken Durkheims wurden zu seiner Zeit auch wenig diskutiert; in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Zusammenhang mit wichtigen Debatten zu Bildungsreformmaßnahmen aber wieder neu entdeckt.
Einige Forschungsarbeiten der deutschen Nachkriegszeit konzentrierten sich auf den universitären Bereich, zum Beispiel die Analysen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zu Bildungsvorstellungen, Arbeitsmotivation und Lebensbedingungen von Studierenden oder die Studie von Helmut Plessner, in welcher er die Lage der deutschen Hochschullehrer untersuchte.
Der Soziologe Helmut Schelsky begutachtete 1957 die Voraussetzungen und Auswirkungen einer deutschen Schulreform und formulierte darin, die Schule sei die „primäre, entscheidende und nahezu einzige soziale Dirigierungsstelle für Rang, Stellung und Lebenschancen des einzelnen“ (Schelsky 1957: 17f). Die Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschien 1959 mit einem Sonderband zur ‚Soziologie der Schule’ (die Beiträge bezogen sich vor allem auf englische und amerikanische Quellen) und im selben Jahr wurde der Fachausschuss für Soziologie der Bildung und Erziehung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gegründet.
Mit der Rezeption einer ‚Sociology of Education’ aus dem angelsächsischen Raum sowie mit den Forderungen nach Reformmaßnahmen im Zuge der Kritik der Leistungen des Bildungswesens wurden die Grenzen zwischen Pädagogik und Soziologie unklarer:
„Im Zuge der immer intensiver werdenden Zusammenarbeit zwischen den beiden Disziplinen kann man mitunter nur mühsam zwischen einer als Sozialwissenschaft sich verstehenden Erziehungswissenschaft und einer das Erziehungssystem als einen zunehmend wichtigen Teilbereich industrieller Gesellschaften analysierenden Soziologie unterscheiden. Beide Disziplinen verstehen sich mehr und mehr als integrale Bestandteile einer breit angelegten Sozialisations- und Bildungsforschung“(Hurrelmann 1974: 17).
Bedeutenden Einfluss auf die deutsche Erziehungssoziologie hatte auch Talcott Parsons, der in einem gleichnamigen Aufsatz 1959 „The School Class as a Social System“ beschrieb und darin das gesellschaftliche Umfeld der Schule analysierte. Schule, so diagnostizierte Parsons, steht in engem funktionalen Zusammenhang mit anderen sozialen Institutionen: Familie, Berufs- und Arbeitswelt, Jugendgruppen. Die Schule hat damit nicht nur klassische Erziehungs- und Sozialisationsfunktionen, sondern auch Qualifikations- und Selektionsaufgaben zu erfüllen und wird damit wichtig für die Zuteilung von (Aus-) Bildungsund Lebenschancen. Mit diesem engen Zusammenhang von Schule und Gesellschaft werden die Funktionen des Bildungs- und Erziehungssystems in die Nähe der Fragen sozialer Schichtung gebracht. In diesem Zusammenhang (Ungleichheit, Schicht, Mobilität usw.) lässt sich die Bildungssoziologie auch als Teil der Allgemeinen Soziologie begreifen (vgl. Sommerkorn 1993: 35).
Mitte der 1960er Jahre des vorigen Jahrhunderts gab es in Deutschland öffentliche Diskussionen über Rückstände in der vor allem technologischen Entwicklung im Vergleich zum Osten („Sputnikschock“). In der Folge kam es auch zur medialen Auseinandersetzung über bildungspolitische Reformmaßnahmen. Der Altphilologe Georg Picht beklagte in der Zeitschrift „Christ und Welt“ lautstark in einer Serie „Die deutsche Bildungskatastrophe“ (Picht 1964) und der Soziologe Ralf Dahrendorf veröffentlichte in der Wochenschrift „Die Zeit“ Beiträge mit der Überschrift „Bildung ist Bürgerrecht – Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik“. Die anklagende Meinung Pichts gründete sich vor allem auf eine ökonomisch vergleichende Sichtweise, während Dahrendorf auf der Grundlage verfassungsmäßig gesicherter Grundrechte (Bildung, Chancengleichheit) die in der Realität feststellbare Ungleichheit der Bildungschancen argumentierte. Dieser Punkt und die Frage, inwiefern das Bildungssystem selbst zur Reproduktion sozialer Ungleichheit beiträgt, wurden damit in die weitere bildungssoziologische Diskussion und Forschung als bestimmendes Thema eingeführt.
Zwischen 1970 und 1980 rückten die Themen rund um Bildung und soziale Ungleichheit wieder in den Hintergrund, als Grund dafür werden die offensichtlich vergeblichen Reformbemühungen um die Chancengleichheit angeführt. Die bildungssoziologischen Diskussionen beinhalteten allerdings vor allem die herkunftsbedingte Ungleichheit – weitere Ungleichheitsdimensionen wie Geschlecht, Religion, Migrationshintergrund wurden fachspezifisch noch nicht ausführlich diskutiert (vgl. Krais 1996). Parallel mit den Initiativen in der Frauen- und Gleichstellungspolitik wurden ausgehend von der Frauenforschung Aspekte der Geschlechterungleichheit in den Bildungschancen thematisiert und das Bürgerrecht auf Bildung wurde auf dem Hintergrund der Möglichkeiten verstärkter beruflicher und allgemein sozialer Teilhabe von Frauen öffentlich behandelt. Gleichstellungserfolge zwischen den Geschlechtern werden „…eng mit der bildungspolitisch und rechtlich aktiv unterstützten Herstellung von Chancengleichheit zwischen Jungen und Mädchen bzw. Frauen und Männern in den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen verbunden“ (Kahlert 2010: 72). Aktuell ist allerdings festzuhalten, dass die bisherigen Erfolge im Bildungsbereich sich noch nicht adäquat in der Arbeitswelt widerspiegeln; Mädchen haben zwar hinsichtlich der Bildungsbeteiligung und der Bildungsabschlüsse zu den Burschen aufgeschlossen, die Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern am Arbeitsmarkt (z.B. Bewerbungssituation, Entlohnung) bleibt aber weiterhin ein wesentliches gesellschaftspolitisches Anliegen.
Die ‚zweite Bildungskatastrophe’ im deutschsprachigen Raum wurde nach Veröffentlichung der Daten der PISA-Studie 2002 (Programme for International Student Assessment) diagnostiziert. Im internationalen Vergleich hatten Jugendliche in Deutschland und in Österreich in den gemessenen Kompetenzvergleichen Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften relativ schlecht abgeschnitten; Diskussionen über unterschiedliche Ergebnisse einzelner Bundesländer wurden mehr politischideologisch als fachlich-wissenschaftlich ausgetragen. Bildungssoziologische und öffentliche Beachtung fanden die Ergebnisse der internationalen Leistungsvergleiche aber insofern, als sie im „…Zusammenhang von familiären Lebensverhältnissen im Berufs- und Bildungsstatus sowie dem Migrationshintergrund der Eltern“ gesehen und erklärt werden konnten (Kahlert 2010: 73). Die Einflussfaktoren soziale Herkunft, das bestehende Beziehungsgefüge zwischen den Jugendlichen, die bisherigen Bildungsprozesse der Familienmitglieder spielen eine wesentliche Rolle für das schulische Leistungsverhalten und damit für die unterschiedlichen Möglichkeiten des Eintritts in ein erfolgreiches Berufsleben.
National und international gab es als Folge der intensiven Diskussionen um die Ergebnisse und die daraus ableitbaren bildungspolitischen Reformschritte viele Förder- und Rahmenprogramme im Bereich interdisziplinärer Bildungsforschung; die bildungssoziologischen Schwerpunkte konzentrieren sich dabei hauptsächlich auf den Themenbereich Bildungsungleichheiten.
Zum Gegenstandsbereich der Bildungssoziologie gehören im Prinzip alle (soziologisch zu untersuchenden) Prozesse und Phänomene im Bildungsgeschehen, er umfasst das gesamte Bildungssystem; die Kindergärten, die Gesamtheit allgemeiner und berufsbildender Schulen, den wissenschaftlichen Hochschulbereich genauso wie die Erwachsenenbildung.
Bekannt wurde Horkheimers Satz in seiner Rede zum Thema ‚Begriff der Bildung’ an der Universität Frankfurt: „Erwarten Sie nicht, dass ich ihn definiere“ (Horkheimer zit. in Sommerkorn 1993: 34). Die Schwierigkeiten und Probleme der begrifflich-inhaltlichen Abgrenzung (vgl. Kap. 3) wirken sich nicht unmittelbar auf die Kernthemen der Bildungssoziologie aus, denn hier wird vor allem ein ‚allgemein’ soziologischer Blick auf das Bildungssystem und auf alle darin beteiligten AkteurInnen gerichtet. Das soziale Handeln dieser AkteurInnen mit all seinen Folgen setzt aber wiederum voraus, dass zu diesem Agieren ein gewisses Maß an ‚Bildung’ notwendig ist (nicht nur formale Wissensbestände und Qualifikationen, sondern auch Orientierungen über gesellschaftliche Vorgänge und Fähigkeiten, diese entsprechend zu verarbeiten). In diesem weiten Verständnis können von der Bildungssoziologie auch viele theoretische und methodische Impulse für allgemeine soziologische Fragestellungen ausgehen.
Ein stark „identitätsstiftendes Moment“ in der jüngeren Entwicklung der Bildungssoziologie war die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenschwerpunkt ‚Chancengleichheit’ und die Diskussion jener sozialen Barrieren, welche der politisch geforderten Gleichheit der Bildungschancen – und damit der Lebenschancen – entgegenstanden (Sommerkorn 1993: 39).
Vor 40 Jahren diente zur Gestaltung einiger Reformen das aus den USA übernommene Konzept der ‚kompensatorischen Erziehung’, bei der die schulische Formalerziehung familiäre Defizite auszugleichen gefordert war. In der weiteren Entwicklung nahmen immer mehr ökonomische Leistungs- und Wettbewerbsaspekte den zentralen Stellenwert ein.
Aktuell beschäftigt sich die Bildungssoziologie mit den Bildungssystemen, den Fragen zur Bildungsungleichheit und den Bildungsfolgen. Motor hinter all diesen Bereichen ist die bedeutende Frage der Ungleichheit, die Beschäftigung mit dem Bildungssystem wie auch die Auseinandersetzung mit den Folgen von Bildungsmaßnahmen und Bildungsreformen scheint von dieser wesentlichen Frage getrieben.
Die entscheidenden Fragestellungen lauten also:
Wie hat sich die institutionelle Gestaltung von Bildungseinrichtungen entwickelt?
Wie wirken sich verschiedene Ungleichheitsdimensionen auf den Bildungserfolg aus?
Wie wirken sich durch Bildung bewirkte Statuszuweisungen auf die beruflichen Karrieren oder Lebenschancen aus?
Zahlreiche Konsequenzen sind mit ‚Bildung’ in Verbindung zu sehen: Erwerbschancen, Einkommen, berufliche Position, Wissen, Kulturkompetenzen, politisches Interesse und Partizipationsfähigkeiten usw. Nachgewiesenermaßen steigt die Erwerbsbeteiligung und sinkt das Arbeitslosigkeitsrisiko mit dem Bildungsniveau; Wirtschaftswachstum und Produktivität korrelieren mit den Bildungsausgaben.
Soziologische Diskussionen im Kontext von Bildung und Erziehung thematisieren u.a.:
- den Stellenwert von Sozialisation und Erziehung auf dem Hintergrund jeweiliger ökonomischer, politischer und allgemein gesellschaftlicher Entwicklungen
- die gesellschaftlichen Aufgaben, welche die Schule als soziales (Teil-) System für viele andere gesellschaftliche (Teil-)Systeme in enger Verflechtung übernimmt
- soziale Ungleichheiten von Bildungschancen und ‚stabile’ Bildungsungleichheiten
- Bildungsinstitutionen im gesellschaftlichen Wandel sowie Auslese- und Statuszuweisungsprozesse, welche im und durch das Bildungssystem geschehen (Selektion und Allokation)
- Bildungsexpansion, Faktoren individueller Bildungsentscheidungen (Verweigerung)
- individuelle Bildungsaktivitäten und ihre soziale Kontextuierung
- die institutionalisierten Prozesse des Lehrens, des Lernens, des Prüfens und des Zertifizierens und die damit verbundene Funktionalisierung (Zugänge, Abgrenzungen)
- das Verhältnis von Bildung und Berufschancen (hier sind Verbindungen zu den berufs- und professionssoziologischen Themen und Fragestellungen), Weiterbildung
- Interaktionsbedingungen und (beabsichtigte sowie unbeabsichtigte) Sozialisationswirkungen in der Schule; die Schule selbst als Institution - den Ausbildungs- und alltäglichen Handlungskontext von PädagogInnen (auch hier in der Verbindung mit Professionalisierungsprozessen im pädagogischen Handlungsfeld)
- vertiefend die Frage der Chancengleichheit von Frauen / Mädchen im Bildungssystem (geschlechtsspezifische Rollenbilder in Schulbüchern, Probleme der Koedukation, Technikdistanz undgender-gapin den Naturwissenschaften, Diskrepanz von Bildungs- und Berufsabschlüssen, usw.).
Aus diesen (nicht vollständigen) Themenbereichen lässt sich unschwer erkennen, dass es viele Berührungspunkte mit zentralen Fragen der Allgemeinen Soziologie gibt, ebenso viele Verbindungen zu Nachbardisziplinen bestehen (Wirtschaftswissenschaften, Psychologie, Pädagogik, Politikwissenschaften usw.) – die Bildungsforschung kann nur interdisziplinär ausgerichtet brauchbare Ergebnisse liefern; sie ist ähnlich wie die Mobilitätsforschung, die Ungleichheitsforschung oder die Lebenslaufanalyse ein sehr weit umfassender Forschungsbereich in der Soziologie. Eine all diese Aspekte zusammenfassende Beschreibung könnte lauten: Bildungssoziologie analysiert die „ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen … sowie ihre individuellen und gesellschaftlichen Folgen“ (vgl. Becker 2011: 10).
Untersucht, analysiert und erklärt werden also
- gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen
- die Rahmenbedingungen von Institutionen im Bildungswesen
- die Integrationskraft des Bildungssystems
- wechselseitige Beziehungen von Bildungssystemen und sozialen Strukturen
- die Einflüsse des Bildungssystems auf andere soziale Einheiten (vgl. Mangold 1978).
Obwohl in den letzten Jahren immer wieder in öffentlichen Diskussionen zu Ergebnissen der Bildungsforschung der Fokus auf den Beitrag der Bildung für die wirtschaftliche Wettbewerbs-fähigkeit gelegt wurde, so ist doch in modernen Gesellschaften Bildung auch ein wesentlicher Faktor für die Prozesse der Demokratisierung und Emanzipation (vgl. Allmendinger/Aisenbrey 2002: 42). Dies ist mit ein Grund dafür, dass die soziologische Forschung sich neben allen ökonomischen Verwertungsaspekten von Bildung vor allem auch mit den Zugangsbeschränkungen zur politischen und demokratischen Teilhabe durch Bildungsprozesse beschäftigt.
Im Zusammenhang mit der Chancengleichheit werden die Konsequenzen der so genannten Bildungsexpansion diskutiert; der Anteil der HauptschülerInnen hat sich innerhalb von 40 Jahren halbiert, der Anteil der GymnasiastInnen hat sich im selben Zeitraum verdoppelt. Die empirischen Daten belegen aber zugleich, dass das Ausmaß an Bildungsungleichheit gestiegen ist, besonders bei Frauen (Leschinsky/ Mayer 1999: 31).
Wurde lange Zeit die Diskussion vorwiegend zu den Einflussgrößen individuelle Leistung und Schule geführt, spielt in den Ergebnissen der letzten 40 Jahre das Elternhaus bzw. der familiäre Hintergrund eine entscheidende Rolle für die Bildungschancen der Kinder.
„Der Erfolg im Schulsystem (ist) in einer so massiven Weise von Bedingungen der familiären Herkunft abhängig, dass dem Schulsystem als solchem nur eine geringe chancenegalisierende Funktion zukommt. Im Gegenteil, das Schulsystem wirkt vielmehr in der Weise, dass über Ausbildung Herkunftsprivilegien auf die nachfolgende Generation übertragen werden“(Müller/Mayer 1976: 54).
In diesem Zusammenhang wird auch vom ‚Bildungstrichter’ gesprochen: die Chancen für Kinder von BeamtInnen, ein Universitätsstudium zu beginnen, sind etwa sieben Mal höher als die Chance von Kindern von ArbeiterInnen. Diese empirischen Tatsachen sind soziologisch weiter zu klären und zu erklären. Die soziologische Bildungsforschung verweist auf der Grundlage bisheriger Forschungsergebnisse über Zusammenhänge von sozialer Herkunft, Intelligenz und Bildung darauf, dass derartige schichtspezifische Zugangsunterschiede zu Bildung nicht durch intelligenzmäßige Unterschiede zwischen den Schichten erklärt werden können.
Das Bildungsthema Ungleichheit hat noch weitere Schwerpunkte: die Ungleichheiten im Bildungszugang nach Geschlecht, die regionalen Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten und die Wirkungen von Nationalitäten bzw. Migrationshintergründen.
Bildungssoziologie entwickelt(e) sich in engem Zusammenhang mit der Bildungsforschung. Die Bildungsforschung selbst wiederum hängt stark mit bildungspolitischen Problemfeldern zusammen, wenn sie öffentlich diskutiert werden und auch medial entsprechend transportiert werden. Die Bildungsforschung wurde so zu einer „…direkt an politisch-organisatorischen Maßnahmen beteiligten Wissenschaft“ (Plake zit. in Sommerkorn 1993: 36). Diese enge Verbindung bzw. die Verwendung bildungswissenschaftlicher Erkenntnisse als Grundlage bildungspolitischer Entscheidungen wurde bereits 1967 sehr klar von Goldschmidt, einem bedeutenden Vertreter der Entwicklung einer eigenständigen deutschen Bildungssoziologie aufgezeigt:
„Die Bildungsforschung ist eine junge, von der gesellschaftlichen und erzieherischen Praxis angeregte und prinzipiell ihr zugewandte Wissenschaft. Bildungspolitik und Bildungsplanung sind auf der Suche nach verlässlichen Ausgangsdaten in wachsendem Maße auf sie angewiesen. … Der politische Bezug ist aus der Bildungsforschung überhaupt nicht wegzudenken.(Goldschmidt 1967: 456)
Der Blick in die Entwicklungsgeschichte und auf die aktuellen Forschungsergebnisse und die intensiv wie kontrovers geführten Diskussionen zu aktuellen Bildungsfragen und Reformvorschlägen belegen sehr deutlich den Praxisbezug und die gesellschaftliche Relevanz der Bildungssoziologie; bildungssoziologische Daten und Erkenntnisse bilden Fundamente für bildungspolitische Planungen und Entscheidungen, diese selbst sind aber keineswegs Auftrag der Bildungssoziologie.
Neben den empirischen Untersuchungen liegt ein bildungssoziologischer Schwerpunkt auf der Theorie- und Modellbildung. Die beschriebenen Phänomene (Ungleichheiten nach sozialer Herkunft, individuelles Bildungsverhalten usw.) verlangen nach einer theoretischen Erklärung. Die derzeit bekanntesten und einflussreichsten Denk- und Erklärungsansätze sollen hier skizziert werden; sie werden später etwas ausführlicher beschrieben.
Zwei wesentliche theoretische Perspektiven waren über einen längeren Zeitraum vorherrschend, um den Stellenwert von Bildung und Erziehung zu beschreiben bzw. zu erklären:
•die funktionalistische und
•die konflikttheoretische Perspektive.
Das funktionalistische Modell sieht am Arbeitsmarkt die Bereiche Bildung und Erwerbsarbeit in einem klaren korrespondierenden Verhältnis. Die unterschiedlichen Positionen in der Gesellschaft gründen in Begabungen und Fertigkeiten, wobei dem Bildungssystem die Aufgabe zukommt, die notwendigen und benötigten Fertigkeiten zu vermitteln. Jene, welche sich diesen Bildungsprozessen länger unterwerfen und damit auch Entbehrungen auf sich nehmen, werden dafür im späteren Leben mit höherem Einkommen, Status und Sozialprestige belohnt bzw. entschädigt (meritokratischer Ansatz). Die Familiensituation ist dabei wenig mitgedacht; Begabung wird mit Schule und Erwerbstätigkeit gekoppelt.
Die Konflikttheorie legt den Schwerpunkt auf die Frage der Reproduktion der Klassenstrukturen und durch welche Mechanismen dies bewerkstelligt wird. Dabei kommt den Schulen in der Weitergabe des gesellschaftlichen Status enorme Bedeutung zu, denn durch den Ausbau des Schulsystems und dem offeneren Bildungszugang kann dies allein nicht mehr ausreichend durch Vererbung geschehen; das Bildungssystem stellt entsprechende Selektionsmechanismen und schichtspezifische Bildungsanstrengungen zur Verfügung. Schulen werden aus dieser Perspektive von den Eliten vereinnahmt und das Bildungswesen legitimiert gleichsam eine von ihm selbst mitreproduzierte gesellschaftliche Ungleichheit. Die Arbeiten von Pierre Bourdieu argumentieren die These, dass in der Moderne das Bildungssystem jene klassengenerierende Leistung übernommen hat, welche in der Zeit der Vormoderne über die ständischen Ordnungen gesichert war (vgl. Bourdieu et al. 1981).
In der zeitgenössischen Bildungssoziologie sind ein Theorienpluralismus sowie ein starker Einfluss der französischen Soziologie, zurückgehend bis auf die grundlegenden Ansätze Durkheims, feststellbar. Dabei steht die Verbindung von individuellem Handeln, institutionellen Bezügen und gesellschaftlichen Strukturen im Mittelpunkt (vgl. Kahlert 2010: 74). Zwei Denkansätze zählen bei der Analyse des Beitrags des Bildungswesens zur Produktion bzw. Reproduktion sozialer Ungleichheit zu den Hauptrichtungen: der konflikttheoretische Ansatz von Pierre Bourdieu und der Ansatz von Raymond Boudon, der den Rational-Choice-Theorien zugeordnet wird. In einigen Aspekten sind diese Ansätze vergleichbar, in anderen argumentieren sie wiederum gegenläufig (siehe auch Kapitel 5).