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© 2010 Verlag Barbara Budrich, Opladen & Farmington Hils MI
Verlags-ISBN 978-3-86649-804-2
ISBN 978-3-846-33089-0 (E-Book)
www.budrich-verlag.de
ISBN 978-3-8252-3089-0
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Lektorat und Satz: Susanne Albrecht-Rosenkanz, Opladen, www.lektorat-albecht.de Umschlaggestaltung Atelier Reichert, Stuttgart
Zur Einführung
Den äußeren Anstoß zu diesem neu in 2. Auflage erscheinenden Studienbuch ergab die pragmatische Notwendigkeit, im Rahmen der modularisierten Lehramtsstudiengänge eine Reihe bildungswissenschaftlicher Seminare mit gleicher Thematik durch mehrere Lehrende mit verschiedener Vorbildung (verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Arbeitsprofilen, Forschungsschwerpunkten, Studienrichtungen…) durchzuführen und mit einer gemeinsamen Modulprüfung abzuschließen. Dieser Kontext machte es erforderlich, gemeinsame Arbeitsmaterialien bereitzustellen.
Das Problem ist jedoch keine Besonderheit eines einzelnen Hochschulstandorts. Im erwähnten Fall war das Thema „Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft“ als Teilmodul für den Bachelor-Studiengang „Bildungswissenschaften“ in Übereinstimmung mit dem Kerncurriculum der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft entwickelt worden. Die inhaltliche und hochschuldidaktische Reflexion konnte deshalb über den regionalen Rahmen hinaus potentiell für den gesamten deutschsprachigen Raum nutzbar gemacht werden. Das Studienbuch ist somit von seiner inhaltlichen Fokussierung her faktisch für alle deutschsprachigen Studiengänge mit erziehungswissenschaftlicher Ausrichtung verwendbar.
Die Orientierung an der Leitidee der „Grundbegriffe“ ist auf den ersten Blick eher klassisch. Die Originalität des Zugangs und damit die Besonderheit des Studienbuches liegen allerdings in seinem konzeptionellen Zuschnitt, der Art der Fragestellung und ihrer inhaltlichen Ausfüllung.
Thema des Studienbuchs sind die zentralen Begriffe erziehungswissenschaftlichen Denkens, die bei wenig reflektiertem Gebrauch oft ineinander übergehen. Sie erweisen sich so, zumal für den Anfänger, als konturenarm, zugleich aber auch als etwas sperrig, weil schwer definierbar. Ein zentrales Ziel des Studienbuches ist es deshalb, diese Begriffe so aufzuschlüsseln, dass sie für das (weitere) Studium mit Gewinn genutzt werden können.
Der Teil des Bandes, der den Begriff Bildung thematisiert, wählt zur Erhellung der umfangreichen semantischen Verästelungen des Bildungsbegriffs einen begriffsgeschichtlichen und pädagogikgeschichtlichen Zugang. Er versteht sich damit auch als ein wesentlicher Beitrag zur Auflösung der Begriffsverwirrung,
die durch die unterschiedlichen semantischen Felder des Bildungsbegriffs entstanden ist, die heute im deutschsprachigen Raum vorfindbar sind und die durch die unreflektierte Absorption englischsprachiger Forschung noch verstärkt wurde. Das Nebeneinander von Bildung als innere Formung der Persönlichkeit einerseits und als gesellschaftlich verwertbare Qualifikation andererseits kann nicht nur bei Anfängern zu Irritationen und Missverständnissen führen.
Im Bereich des Erziehungsbegriffs geht das Spektrum der Fragestellungen vom Bereich der pädagogischen Anthropologie über praxeologische Aspekte der Erziehung bis zur Schulpädagogik und Sozialpädagogik. Historische Aspekte der diskursiven Gestaltung von Erziehungskonzepten werden mit gleicher Gewichtung wie auch die systematische Analyse von Erziehungstheorien behandelt.
Im Umfeld des Sozialisationsbegriffs wird der Leser mit unterschiedlichen theoretischen Perspektiven zur Wechselwirkung zwischen Mensch und Gesellschaft bekannt gemacht. Es werden Erkenntnisse aus der familialen und schulischen Sozialisationsforschung vorgestellt und zentrale Aspekte von Jugendforschung und Identitätsbildung diskutiert. In den beiden Teilen zu Erziehung und zu Sozialisation werden zudem – über die in diese Themen integrierte Behandlung des Entwicklungsbegriffs – zentrale Elemente der Entwicklungspsychologie thematisiert. Durch die Verschränkung von begrifflicher und problemzentrierter Zugangsweise spiegelt das Studienbuch die interdisziplinäre Breite und Vielfalt erziehungswissenschaftlicher Ansätze und Betrachtungsweisen wider.
Unter den drei Begriffen hat der – auf den ersten Blick spezifisch deutsche – Begriff Bildung, der ja dem bildungswissenschaftlichen Studiengang seinen Namen gegeben hat, insofern eine Sonderstellung, als seine Analyse von den semantischen Differenzierungsmöglichkeiten der deutschen Sprache ausgehen kann. Dies gibt aber zugleich die Möglichkeit, den Begriff auch im Licht anderer Sprach- und Denkräume zu betrachten. In dieser Reflexionslinie besteht eine weitere Besonderheit darin, dass bewusst über den englischen Sprachraum hinaus gefragt wird, inwieweit sich das „Alleinstellungsmerkmal“ des deutschen Bildungsbegriffs in einer sprachlich weiter gefächerten internationalen Betrachtungsweise aufrechterhalten lässt. Internationale Erweiterung des Bezugshorizonts bedeutet hier explizit nicht nur die Beschränkung auf angelsächsisch geprägtes Denken.
Der Zugang zu den ausgewählten Begriffen Bildung, Erziehung und Sozialisation ist so ausdifferenziert, dass über die begrifflichen Klärungen hinaus mittels der thematisierten Teilaspekte ein weites Spektrum erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen und Probleme vorgestellt wird. Die durchgängige systematische Perspektive wird ergänzt durch historische und vergleichende Aspekte unter Einbeziehung internationaler bildungssoziologischer und bildungsökonomischer Ansätze bis hin zur Einbeziehung von
Problemen allgemeiner Didaktik. Auf diese Weise wird zugleich eine Einführung in zentrale Probleme und Fragestellungen der Erziehungswissenschaft anvisiert. Die Begriffe dienen als Leitfaden, um wichtige Inhaltsbereiche der Erziehungswissenschaft zu erschließen, wobei auch – wenngleich eher schlaglichtartig – die historische Dimension wichtiger Themen (insbesondere aus den Bereichen Bildung und Erziehung) beleuchtet wird. Über den strukturierten begrifflichen Zugang werden weitere Themenbereiche der Erziehungswissenschaft insbesondere für Anfänger geöffnet.
Der methodische Aufbau des Bandes differenziert die drei Leitbegriffe Bildung, Erziehung und Sozialisation jeweils in vier in etwa gleichgewichtige Problemkreise aus. Diese insgesamt zwölf Problemkreise können als abgeschlossene Lehreinheiten verstanden werden, die aus analytisch-deskriptiven Texten bestehen.
Diese analytisch-deskriptiven Texte sind den Standards von Studienbüchern entsprechend mit Marginalien versehen, die es erlauben sollen, den Gang der Argumentationslinie besser zu verfolgen und die Fragestellungen schneller auffindbar zu machen. Den einzelnen Kapiteln folgen jeweils Fragenkataloge, die sich in einfache Kontroll- bzw. Wiederholungsfragen über die behandelten Inhalte einerseits und anspruchsvollere weitergehende Reflexions- bzw. Diskussionsfragen andererseits gliedern. Ausgewählte kurz kommentierte Empfehlungen zentraler Monographien und Aufsätze zur vertiefenden eigenen Lektüre folgen auf die einzelnen Kapitel.
Ausführliche Literaturangaben zu den drei Leitbegriffen und den behandelten Themenfeldern sollen die Problemfelder weiter aufschlüsseln und zur weiterführenden selbständigen Bearbeitung einladen. Auf diese Weise versucht der Band dem in den neuen Studienstrukturen gewachsenen Postulat der selbständigen Arbeit der Studierenden stärker Genüge zu tun.
Leipzig, im Mai 2010
Wolfgang Hörner
Barbara Drinck
Solvejg Jobst
Kapitel 2: Das Verhältnis von Allgemeinbildung und Berufsbildung – noch ein deutscher Sonderweg?
1 Die institutionelle Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung
Die deutsche Besonderheit
Während in anderen europäischen Ländern – z.B. in Frankreich – im Laufe des 19. Jahrhunderts neben der allgemein bildenden Pflichtschule und der allgemein bildenden hochschulvorbereitenden höheren Schule auch beruflich-technisch orientierte Schulen ins Leben gerufen wurden, die Fachkräfte auf mittlerem und höherem Niveau im Rahmen der Schule ausbilden sollte, wurde ein solcher Versuch in Deutschland aufgrund der von Humboldt postulierten strikten Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung nie ernsthaft unternommen. So kommt es, dass heute beispielsweise in Österreich die Mehrheit der Maturanden (Abiturienten) aus den sog. Berufsbildenden Höheren Schulen kommt. Analog dazu hat in Frankreich die Hälfte der Abiturienten ein technisches oder ein berufliches baccalauréat erworben. In beiden Fällen ist damit eine berufliche Qualifikation oberhalb des Facharbeiters verbunden. In Deutschland dagegen spielen berufliche Gymnasien (Fachgymnasien) als Ausbildungsstätten für Abiturienten statistisch bis heute nur eine geringe Rolle und vermitteln vor allem keine berufliche Qualifikation, sondern allenfalls eine Vororientierung hinsichtlich eines späteren Berufsprofils.
Die Realschule als Zwischentyp ?
Die im 18./19. Jahrhundert im Ausland oft als vorbildlich gerühmten Realschulen hatten zwar eine auf das reale Leben bezogene Komponente (und standen dadurch im Gegensatz zu den sprachlich dominierten Gymnasien), aber auch sie boten im wesentlichen nur Varianten von Allgemeinbildung an, sie hatten keine wirklichen berufsqualifizierenden Komponenten. Deshalb ist es interessant zu beobachten, dass sie sich in ihrem Bestreben zur Anschlussfähigkeit an die höhere Bildung über Zwischenstufen wie die Oberrealschule und das Realgymnasium zum neusprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasialtyp entwickelten, also zu Varianten des allgemein bildenden Gymnasiums neben dem klassisch-humanistischen Zweig, dem sie zudem von dem Augenblick an relativ nahe kamen, wo sie als Zeichen ihrer erworbenen Ebenbürtigkeit einen Lateinzug anbieten konnten. Hierin unterscheidet sich die Entwicklung in Deutschland erneut von der Entwicklung in Frankreich oder Österreich, wo die berufsbildenden Anstalten, die ja nicht weniger nach gesellschaftlicher Aufwertung durch Anschluss an die Vergabe der Hochschulreife strebten, mit der Matura bzw. dem baccalauréat zugleich |26◄ ►27|eine arbeitsmarktfähige berufliche Qualifikation vergaben (doppeltqualifizierende Ausbildung).
Hat sich Humboldt durchgesetzt ?
Es mag erstaunen, dass sich die Humboldtsche Konzeption der Trennung der beruflichen von der allgemeinen Bildung so konsequent in der Realität des deutschen (nicht nur des preußischen!) Schulwesens durchgesetzt hat, während andere Elemente seiner Bildungsvision, wie sich gezeigt hat, eher deformiert wurden. Allerdings geht die Implementation des bildungstheoretischen Trennungsmodells zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung zusammen mit der Entwicklung eines „deutschen Sonderwegs“ in der Organisation der Berufsausbildung – ein Autor (Greinert 1998) nennt das betriebsgestützte „duale System“ der beruflichen Bildung geradezu das „deutsche System der Berufsbildung“!