Bin ich mein Gehirn? - Tim Parks - E-Book

Bin ich mein Gehirn? E-Book

Tim Parks

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Beschreibung

Es vergeht kaum ein Tag ohne irgendeine Diskussion, ob Computer ein Bewusstsein haben können, ob unser Universum eine Art Simulation, ob der Geist ein einzigartiges Charakteristikum des Menschen ist. Die meisten Philosophen gehen davon aus, dass unsere Erfahrung in unserem Gehirn eingeschlossen ist und die äußere Realität unzuverlässig repräsentiert. Farbe, Geruch und Klang, heißt es, ereignen sich nur in unseren Köpfen. Wenn aber Neurowissenschaftler unsere Gehirne untersuchen, finden sie nur Milliarden von Neuronen, die elektrische Impulse austauschen und chemische Substanzen freisetzen. Als Tim Parks in einem zufälligen Gespräch mit Riccardo Manzottis radikal neuer Theorie des Bewusstseins konfrontiert wurde, fing er an, die eigene Erfahrung zu prüfen und mit den philosophischen und neurowissenschaftlichen Theorien zu konfrontieren. Bin ich mein Gehirn?? erzählt die fesselnde, oft erstaunlich lustige Geschichte eines Paradigmenwechsels und stellt metaphysische Betrachtungen und komplizierte technische Labor­experimente so dar, dass wir verstehen, was in dieser Debatte auf dem Spiel steht, für uns als Individuen und für die Menschheit insgesamt.

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Seitenzahl: 435

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Über das Buch

Hat ein Computer Bewusstsein oder ist das ein einzigartiges Charakteristikum des Menschen? Tim Parks’ Reise in das menschliche Gehirn konfrontiert die philosophischen und neurowissenschaftlichen Theorien mit der eigenen Erfahrung – geistreich, witzig und klug.

 

Es vergeht kaum ein Tag ohne irgendeine Diskussion, ob Computer ein Bewusstsein haben können, ob unser Universum eine Art Simulation, ob der Geist ein einzigartiges Charakteristikum des Menschen ist. Die meisten Philosophen gehen davon aus, dass unsere Erfahrung in unserem Gehirn eingeschlossen ist und die äußere Realität unzuverlässig repräsentiert. Farbe, Geruch und Klang, heißt es, ereignen sich nur in unseren Köpfen. Wenn aber Neurowissenschaftler unsere Gehirne untersuchen, finden sie nur Milliarden von Neuronen, die elektrische Impulse austauschen und chemische Substanzen freisetzen. Als Tim Parks in einem zufälligen Gespräch mit Riccardo Manzottis radikal neuer Theorie des Bewusstseins konfrontiert wurde, fing er an, die eigene Erfahrung zu prüfen und mit den philosophischen und neurowissenschaftlichen Theorien zu konfrontieren. Bin ich mein Gehirn? erzählt die fesselnde, oft erstaunlich lustige Geschichte eines Paradigmenwechsels und stellt metaphysische Betrachtungen und komplizierte technische Laborexperimente so dar, dass wir verstehen, was in dieser Debatte auf dem Spiel steht, für uns als Individuen und für die Menschheit insgesamt.

Der Autor

Tim Parks, geb. in Manchester, wuchs in London auf und studierte in Cambridge und Harvard. Seit 1981 lebt er in Italien. Seine Romane, Sachbücher und Essays sind hochgelobt und mit vielen Preise ausgezeichnet. Er schreibt u.a. für den Guardian, The New Yorker, The New York Review of Books und übersetzte u.a. die Werke von Moravia, Calvino, Calasso, Tabucchi und Machiavelli. Zu seinen erfolgreichsten Büchern zählt u.a. Die Kunst stillzusitzen.

Tim Parks

BIN ICH MEIN GEHIRN?

DEM BEWUSSTSEIN AUF DER SPUR

Aus dem Englischenvon Ulrike Becker

Verlag Antje Kunstmann

Für Riccardo und Eleonora

Verstand an Sinne: Scheinbar ist Farbe, scheinbar Süße, scheinbar

Bitterkeit, in Wahrheit nur Atome und leerer Raum.

Sinne an Verstand: Armer Verstand, von uns nimmst du deine

Beweisstücke und willst uns damit besiegen? Dein Sieg ist dein Fall.

DEMOKRIT, 4. Jahrhundert v. Chr.

Denn die gewohnten Meinungen kehren immer wieder und nehmen meinen Glauben selbst gegen meinen Willen in Beschlag, gleich als wäre er durch lange Hebung und vertrauliche Bande an sie gefesselt.

RENÉ DESCARTES, 1641

Ich bin was um mich ist.

WALLACE STEVENS, 1917

INHALT

Aufwachen

Farben

Alles steht Kopf

Keine Bilder

Lebensmitte

Korrekturen

Loops

Kaiserschmarrn mit Apfelmus

Das Tor zum Geist

Ich habe noch nie eigenhändig eine Maus getötet

Schläft ein Lied in allen Dingen

Nachwort

Dank

AUFWACHEN

Ich öffne die Augen und da ist die Wand.

Nein, das stimmt nicht ganz.

Ich öffne die Augen, und da sind die Wand, der Schrank, der Nachttisch, die Lampe, die Taschentücher, das Bettzeug, der Geruch, die Person neben mir, das Geräusch des Weckers. Vielfalt. Ich kann nicht eine Sache ohne die anderen haben.

Aber das stimmt auch nicht ganz.

Ich öffne die Augen, und da sind ein Teil des Schranks – die mir zugewandte Seite, die eine glänzend graue Holzoberfläche hat – und drum herum ein paar Wandflächen mit einer silbergrauen Tapete, die in der Nähe des Nachttisches einige Flecken aufweist, Teespritzer vielleicht. Das Bettzeug ist im Augenwinkel sichtbar, vielmehr Teile des Bettzeugs, aber auch fühlbar; die Decke besitzt ein gewisses Gewicht, oder vielmehr eine Masse, die ich dank der Schwerkraft als Gewicht wahrnehme. Ich erkenne die Person neben mir an ihrer Wärme und dem Atmen, aber ich habe sie noch nicht gesehen. Außerdem ist da ein Fenster, obwohl sich das ganz sicher hinter mir befindet. Dennoch bin ich mir dieses Fensters bewusst, oder glaube es zumindest, ohne es zu sehen oder zu berühren. Ich meine, ich weiß, dass es da ist. Ich glaube es zu wissen. Es muss das Licht vom Fenster sein, das ich auf dem Schrank und an der Wand sehe. Was sonst?

Ich schließe die Augen. Jetzt tritt der Geruch in den Vordergrund. Wonach riecht es? Nach mir, meiner Partnerin, dem Zimmer, dem Bettzeug, dem Teppich. Der Geruch ist warm. Oder der Atem, der den Geruch erzeugt, ist warm. Oder mein Körper. Ich habe ein starkes Empfinden meines Körpers, das ich überhaupt nicht beschreiben kann. Mit geschlossenen Augen warte ich auf das erneute Klingeln des Weckers, und es ist nicht richtig dunkel, aber auch nicht richtig hell. Eher eine Art Erwartung von Dunkelheit oder Helligkeit, wenn ich die Augen öffne. Im Moment gibt es nichts, was ich sehe. Dennoch sehe ich nicht nichts. Vielleicht sehe ich die Innenseiten meiner Augenlider.

Sind die in meinem Kopf oder außerhalb?

Meine Partnerin sagt mit schläfriger Stimme: »Amore.« Und sie fragt: »Ist dir kalt?« Ich sage, nein, mir ist nicht kalt. Eher warm. Ihr sei kalt, sagt sie.

Ich spüre den Zug der Bettdecke auf meinem Körper. Das ergibt Sinn: Partnerin zieht an der Bettdecke. Sie hat ein Problem mit Bettdecken. Bewusstheit der Geschichte von mir und meiner Partnerin. Witze über die Bettdecke. Ich könnte etwas sagen, unterlasse es aber.

Plötzlich laufe ich auf einer Straße am Waldrand entlang. Ich wende mich zur Seite, um zwischen den Bäumen weiterzugehen, und sehe weiter unten in einem seichten Tal einen kleinen Fluss; scheint ein guter Platz zum Baden zu sein …

Der Wecker klingelt noch einmal. Er ist auf Zehn-Minuten-Intervalle eingestellt. Ich muss eingeschlafen sein. Das war also ein Traum, und dies ist die Wirklichkeit. Der Wald, der Fluss. Im Traum wusste ich nicht, dass es ein Traum ist, und ich hätte auch nicht sagen können, was vor dem Wald und dem Fluss kam; ich hatte keine Erinnerung an das Schlafzimmer und den Wecker; im Traum war ich tatsächlich in jenem Moment, aber jetzt, wieder hier im Schlafzimmer mit dem klingelnden Wecker, habe ich eine Erinnerung an den Wald und den Fluss, oder einfach eine Wahrnehmung davon, und es gibt eine Art Kontinuität, eine Art Ich-Instanz, die beides verbindet. In der einen Situation kann ich die beiden Erfahrungen vergleichen, in der anderen aber nicht. Weiß ich deshalb, dass dies die Wirklichkeit und das andere ein Traum ist?

Jedenfalls habe ich das Gefühl, es zu wissen.

Sprache ist knifflig.

Ich schließe die Augen, aber es gelingt mir nicht, das Bild eines kompletten platonischen Schranks, oder absoluten Schranks, ohne jeglichen Kontakt zu Wänden oder Fußböden heraufzubeschwören. Das alles kommt mir ziemlich anstrengend vor.

Der Wecker klingelt noch einmal. Diese zehn Minuten sind schneller vergangen als die ersten.

Hat das Sinn?

Beim Klingeln des Weckers gehen meine Augen automatisch auf. Ich scheine gar keine andere Wahl zu haben, als sie zu öffnen. Es muss der berühmte bedingte Reflex sein. Beim Aufwachen öffnet man die Augen und damit hat sich’s. Wieder sehe ich Teile von allen möglichen Dingen – vielmehr die Teile dieser Dinge, die mir zugewandt sind –, und jetzt wird mir klar, dass es zwischen diesen Teilen keine Lücken gibt. Ich meine, es kämen vermutlich jede Menge Dinge zusammen, die ich (teilweise) sehe, wenn ich mir die Mühe machte, sie aufzulisten – Lichtschalter Lampenschirm Bild Socke (eine) Taschentücher (viele) Teppich Fußboden Buch Armbanduhr Schranktürscharnier –, aber obwohl ich diese Dinge als voneinander getrennt wahrnehme, existieren zwischen ihnen keine Lücken, so wie sie zwischen den Wörtern, die diese Dinge bezeichnen, existieren, selbst wenn ich beim Auflisten die Kommas weglasse. Die Teile im Zimmer, die ich sehe, gehen direkt über in die anderen Teile, die ich sehe. Die Welt hat keine (für mich sichtbaren) leeren Stellen. Nicht mal Trennlinien, wie ein Puzzle. Auch nicht an den Rändern. Sie ist nahtlos.

In allen Richtungen, wenn ich den Kopf wende oder die Augen bewege, setzt sich die Welt also fort und wird sich fortsetzen, wo ich auch hingehe, ohne jede Lücke. Und die Grenze an der Peripherie meines Blickfelds ist nicht scharf, wie bei einer Kameraaufnahme, aber als Fade-out kann man sie auch nicht bezeichnen. Ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll. Es gibt dafür keine Analogie. Sie ist so, wie wir sie kennen. Im Zentrum ist die Schärfe ausgeprägt, dort sind die Dinge, die ich aktiv anschaue, und dann nehme ich noch eine Peripherie wahr, die scharf gestellt werden könnte, wenn ich es wollte. Aber im Augenblick ist sie nicht scharf gestellt. Es gibt keinen Rand, weder einen harten noch einen verschwommenen, aber doch eine Art Nichts um das Etwas herum, auf dem meine Aufmerksamkeit liegt, aus dem seinerseits ein Etwas werden könnte, während das jetzige Etwas zum Nichts würde, sobald ich mich woanders hinwende. Ich spüre ein andauerndes Potenzial, wie eine Einladung, mich zu bewegen und die Dinge, die ich sehe, zu verändern, eins gegen das andere auszutauschen. Wir richten unsere Aufmerksamkeit nur selten längere Zeit auf ein und dieselbe Stelle.

»Wann müssen wir aufstehen?«, fragt meine Partnerin.

»Wir können noch auf das nächste Klingeln warten.«

Unsere Hände berühren sich jetzt. Ich spüre ihre Finger. Sie hat gesagt, ihr sei kalt, und mir ist warm, aber in der Berührung fühlt sich ihre Hand wärmer an als meine. Es ist ein Vergnügen, sie zu berühren.

Vergnügen.

Ich schließe die Augen und versuche, mich an weitere Momente des Traums zu erinnern, im Wald, am Fluss. Da ist etwas, an das ich mich erinnern sollte, denke ich; etwas sagt mir, dass dieser Traum länger war und mehr enthielt als nur die Straße, den Wald, den Fluss.

Aber wie kann mir etwas etwas sagen, wenn das alles nur ich bin? Sagen wir mal, ich habe das Gefühl, an diesem Traum ist mehr dran als das, was mir unmittelbar eingefallen ist. Die Straße stieg beim Gehen leicht an – eine dunkle asphaltierte Straße –, und der Wald lag zu meiner Linken, als ich mich ihm zuwandte, hineinlief und zwischen den Baumstämmen den grauen Erdboden sah, der sanft nach unten zum Fluss hin abfiel. Da war noch mehr. Der Fluss war flach. Das Wasser war klar. Deshalb dachte ich, es wäre schön, darin zu baden. Ich versuche, mich darauf zu konzentrieren oder Nachdruck darauf zu legen, was immer man eben macht, um sich zu erinnern, aber das erzeugt ein unangenehmes Gefühl in meinem Kopf. Es erfordert eine Anstrengung, gegen die sich irgendetwas in mir wehrt. Ich spüre eine Spannung. Zwischen Teilen von mir.

Lass gut sein.

Das Zimmer ist jetzt, da meine Augen geschlossen sind, nicht da, aber der Wald und der Fluss auch nicht. Die Gerüche und die Wärme sind natürlich noch da, und auch die Gegenwart meines eigenen Körpers – all das kann ich nicht so leicht ausblenden –, es sind die gleichen Gerüche, die auch bei geöffneten Augen da waren, auch das Spüren des Bettzeugs und das Vergnügen der Berührung ihrer Hand sind gleich – ich habe die Hand nicht gesehen, aber ich könnte sie nicht fälschlicherweise für etwas anderes halten als eine Hand – und das Gewahrsein meiner Partnerin, die da sein muss, denn sonst wäre die Hand nicht da, und ihre Stimme. Außerdem entfernte Verkehrsgeräusche.

Ist die Straße draußen nass? Ich bin mir nicht sicher.

Mit geschlossenen Augen ist das Zimmer nicht da, aber ich weiß, dass ich es gerade gesehen habe, und vor Kurzem auch den Wald und den kleinen Fluss. Zu sagen, ich weiß, dass ich das Zimmer gerade gesehen habe, ist nicht das Gleiche wie zu sagen, ich erinnere mich an das Zimmer. Wo genau ist zum Beispiel diese Socke? Eine blaue oder eine braune Socke? Weiß nicht. Ich erinnere mich an die Socke, aber nicht an ihre Farbe. Genau genommen erinnere ich mich nicht mal an die Farbe des Teppichs, obwohl ich weiß, dass dieses Zimmer Teppichboden hat.

Hat also meine Erfahrung des Zimmers denselben Stellenwert wie meine Erfahrung des Waldes und des Flusses? Ich bin mir nicht sicher. Ich bin mir nicht sicher, was Stellenwert genau bedeutet. War sie genauso real? Meine ich das? Alles ist real, während es geschieht, oder? Sonst würde es nicht geschehen. Das heißt: Etwas muss geschehen, selbst wenn es nicht das ist, für das man es hält. Sonst gäbe es keine Erfahrung.

Als ich die Finger meiner Partnerin spüre, die über mein Handgelenk streichen, wird mir bewusst, wie sehr es mir widerstrebt, aufzustehen; es ist so schön, im Bett zu liegen, und es ist einer dieser Herbstnieseltage. Woher weiß ich, dass es draußen feucht ist, wenn ich noch gar nicht aus dem Fenster geschaut habe und mir nicht sicher war, ob die Verkehrsgeräusche auf eine nasse Straße hinwiesen oder nicht? Ich weiß es nicht, aber ich habe das Gefühl, es zu wissen.

Tatsächlich habe ich heute viel zu tun. Nicht dass ich meinen Terminkalender im Detail präsent hätte, aber mir ist klar, dass ich ihn schon sehr bald auf dem Computer anschauen und dann all die Sachen tun werde, die ich mir vorgenommen habe, dass ich vereinbarte Treffen einhalten und die Leute, die ich anrufen muss, anrufen werde, um weitere Treffen zu vereinbaren. Kurzum, ich werde mir große Mühe geben, die Person zu sein, als die ich mich beim Aufwachen wahrnehme.

Doch wer ist diese Person?

Die Person, die diese Treffen vereinbart hat, natürlich. Wer wäre ich, wenn ich meine Termine einfach absagen und im Bett bleiben würde? Wer würde dann das Hotelzimmer bezahlen?

Mein Körper fühlt sich unter der Bettdecke ausgesprochen wohlig an, in der gedämpften Helligkeit meiner geschlossenen Lider, und dann fällt mir ein, dass Tiere im Wasser waren. Ich ging nach links von der Straße weg in den Wald hinein und erblickte einen breiten Bach mit Tieren, die alle von links nach rechts flussaufwärts liefen. Ein Leopard. Ein Hund. Ein sehr großes weißes Kaninchen. Das größte Tier war eine Art Dinosaurier, quasi eine menschengroße Echse, die auf den Hinterbeinen ging. Aber ohne Kopf, oder jedenfalls war da nichts, das man ohne Weiteres als Kopf hätte bezeichnen können. Ich weiß noch, wie seltsam mir das vorkam. Wie ein Spielzeug, nur in Lebensgröße.

Sehe ich diese Tiere jetzt wieder?

Nicht wirklich. Mir ist klar, dass ich sie gesehen habe. Ich weiß, dass ich diese Erfahrung gemacht habe. Ich denke großes weißes Kaninchen. In Worten. Ich habe ein großes weißes Kaninchen gesehen. Es hoppelte in aufrechter Haltung, es rannte nicht auf allen vieren, so wie Kaninchen es in Wirklichkeit machen. Es war sehr weiß. Wie die weißen Kaninchen, die ich als Kind hatte. Aber ich würde nicht sagen, dass ich ein deutliches Bild von dem Kaninchen im Kopf habe, so wie ein Foto oder ein Video. Andererseits weiß ich, dass ich nicht nur das Wort benutze. Ich habe das Gefühl, da ist etwas Visuelles, eine Art Erwartung des erneuten Erscheinens eines Kaninchens, oder das Nachbild von einem plötzlich aufgetauchten Kaninchen, nachdem es wieder weg ist, aber nicht etwas, das ich tatsächlich sehen kann, so wie ich sofort das Hotelzimmer sehen würde, wenn ich die Augen aufschlüge, was ich nicht tun möchte, so gemütlich in die Kissen gekuschelt, während meine Partnerin meine Hand streichelt und ich mich ausgesprochen wohlfühle und gar nicht an den heutigen Tag und alles, was ich zu tun habe, denken will. Es wird ein voller Tag sein.

Gleich wird bestimmt wieder der Wecker klingeln. Es ist jetzt schon eine ganze Weile her.

Warum habe ich von Tieren geträumt? Ich hatte in dem Traum ein Gefühl der Überraschung, als die Tiere auftauchten, vielleicht weil sie von seltsamer Größe waren und flussaufwärts wanderten. Das Kaninchen war größer, als es hätte sein sollen. Der Leopard und der Hund waren kleiner, und unscheinbar. Der Hund ist jetzt nur noch ein Wort, visuell ist von ihm nichts mehr übrig, obwohl ursprünglich etwas da gewesen sein muss, denn warum hätte ich sonst »Hund« denken sollen? Aber ich habe auch »Leopard« gedacht, und ich bin mir gar nicht so sicher, dass ich einen Leoparden überhaupt erkennen würde, wenn ich einen sähe, ich meine, ob ich ihn von, sagen wir mal, einem Geparden oder einem Jaguar unterscheiden könnte. Jedenfalls war da etwas Katzenähnliches, das ich für einen Leoparden hielt. Oder vielleicht habe ich das Wort geträumt, Leopard, und es mit dem katzenähn lichen Wesen, das ich sah, in Verbindung gebracht. Wenn ich jetzt an die Überraschung zurückdenke, die ich beim Anblick der Tiere empfand, die gemeinsam den flachen kleinen Fluss hinaufmarschierten, dann ist das keineswegs unangenehm; es war ein Gefühl leichter Benommenheit, halluzinatorisch, so als würde mir etwas Bedeutendes offenbart; und die Bedeutung, worin sie auch immer bestand, passte zu diesem Gefühl, diesem Traumzustand, der natürlich abrupt endete, als der Wecker klingelte und ich die Augen aufschlug und das Zimmer sah.

Gibt es eine Lücke zwischen dem Wald mit dem Fluss und dem Zimmer?

Ja und nein. Der Wald ist jetzt nirgends, er ist nicht im Zimmer nebenan, aber ich bin derselbe, die Person, die zuerst den Wald und gleich darauf das Zimmer gesehen hat.

Oder?

Kann es sein, dass ich mich beim Aufwachen verändert habe? Ist so etwas möglich?

Ich habe das Gefühl, derselbe zu sein. Ich habe das Gefühl, den beiden Erlebnissen, Traum und Wirklichkeit, eine Kontinuität zu geben, wenn auch nur nachträglich, genau wie ich das Gefühl habe, noch dieselbe Person zu sein, die ich vor vierzig Jahren war, obwohl es vor vierzig Jahren ganz anders gewesen sein dürfte, mir zu begegnen, als es heute ist.

Ich bewege mich hier auf unsicherem Boden.

Was wir sagen können, ist, dass diese Kontinuität, wie immer sie auch beschaffen sein mag, ganz anders ist als die Kontinuität, die Wörter erzeugen. Die Kontinuität der Wörter kann ich steuern (glaube ich), ich kann bestimmen, wie sie sich zu Sätzen, Abschnitten, Essays und Geschichten zusammenfügen, aber die Kontinuität des Sehens und Fühlens nicht. Beim Sehen und Fühlen passt alles zusammen, es entstehen keine Lücken, wenn mein Erleben von der Hand, die meinen Arm streichelt, zu dem Fluss mit dem kopflosen Dinosaurier und dem weißen Kaninchen übergeht, und dann zu den Verkehrsgeräuschen draußen vor dem Fenster und wieder zurück zu dem Fleck an der Wand neben der Lampe mit dem grünen Schirm.

Erfahrung, Erleben ist kontinuierlicher und gewissermaßen gleichzeitiger als Wörter, mit denen man immer nur eine Sache auf einmal sagen kann. Wörter sind linear. Sie ordnen die Dinge, ziehen sie aus dem Gemisch hervor, beschwören jeden Gegenstand als Ganzes, während ich nichts je vollständig sehe, nie.

Keiner von uns hat jemals im Leben auch nur ein einziges Ding im Ganzen gesehen, von allen Seiten, von oben und unten, so wie ein Wort es benennt.

Andererseits sind Wörter an sich auch wieder nur Teil des Erfahrungsgemischs; zwischen Wörtern und Empfindungen ist keine Lücke; meine Partnerin zum Beispiel, die mir jetzt Zärtlichkeiten in den Nacken flüstert, während ich mich langsam auf das Klingeln des Weckers gefasst mache, das jetzt jeden Moment kommen müsste.

Es ist ein leiser Singsang. Das Klingeln. Drr, d d d drr drr! Tatsächlich ist es das Handy meiner Partnerin. Wörter auf dem Papier können keinen Singsang erzeugen. Nichts, was ich sagen oder schreiben kann, so technisch oder poetisch es auch sein mag, kann Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, den verhassten Klang dieses Weckers übermitteln, der jeden Morgen um 7.30 Uhr etwa zehn Sekunden lang ertönt, Drr, d d d drr drr, und dann immer wieder, in zehnminütigen Intervallen, bis wir schließlich aufstehen und ihn abstellen. Im besten Fall vor acht Uhr. Natürlich ist dieser Klang uns nur verhasst, weil er uns weckt. Abgesehen davon ist er gar nicht so unangenehm. Es ist der gleiche Ton, den das Telefon macht, wenn man es einschaltet. Vielleicht könnte ich, wenn ich inspiriert wäre, etwas Geistreiches, Plastisches über den Klang des Weckers schreiben. Vielleicht würde Ihnen das gefallen. Vielleicht würden Sie dann sagen: Dem Autor ist es wirklich gelungen, den blechernen Klang des Weckers für mich hörbar zu machen und mir zu vermitteln, wie verhasst er ihm ist. Aber da würden Sie sich etwas vormachen. Die geistreiche, plastische Beschreibung würde Ihnen bloß etwas Geistreiches und Plastisches geben. Etwas Geschriebenes. Wörter. Nicht den tatsächlichen Klang des Weckers, der jetzt jeden Augenblick losgehen wird. Eigentlich erstaunlich, dass er noch nicht losgegangen ist. Ob die Batterie leer ist?

Ich lasse die Augen geschlossen in dem Wissen, dass die Welt um mich herum da sein wird, wenn ich sie schließlich als Reaktion auf den Wecker aufschlage, und dass es dann wirklich höchste Zeit sein wird, in die Gänge zu kommen. Abgesehen von allem anderen wird mir bewusst, dass ich pinkeln muss. Eigentlich wird mir jetzt, da ich mir sage, dass ich pinkeln muss, bewusst, dass mir das schon seit einer Weile bewusst gewesen ist, ich es mir aber sozusagen verschwiegen habe. Wie viele Ichs habe ich? Vielleicht meine ich, dass ich mich nicht darauf konzentriert habe. Der Vorgang des Scharfstellens, der zu meinem kontinuierlichen Ich gehört, hat das Pinkelbedürfnis nicht ins Zentrum gerückt. Bis jetzt. Der Drang zum Pinkeln war da und hat darauf gewartet, in den Blickpunkt gerückt zu werden. Mit erstaunlich viel Geduld.

Was, wenn ich jetzt die Augen öffnete und die Welt nicht da wäre?

Ist so etwas möglich?

Es würde vermutlich bedeuten, dass ich erblindet war. Es könnte wohl kaum bedeuten, dass die Welt tatsächlich nicht da war, denn ich wäre ja noch in der Lage, Dinge zu berühren und zu spüren. Zumindest würde ich das Bett unter mir spüren, und natürlich die Gerüche wahrnehmen. Ich wäre nur blind.

Aber was, wenn ich aufwachte und auch keine Gerüche da wären? Und kein Gefühl des Bettes, das mich trägt. Dann würde ich nur noch dahinvegetieren, wie ein Gemüse. Ich wäre hirntot.

Aber wacht Gemüse je auf?

Was, wenn ich überzeugt wäre, noch über all meine Sinne zu verfügen, vollkommen wach und in der Lage zu sein, zu sehen, zu hören, zu riechen, zu berühren usw., nur dass es nichts zu sehen, hören, riechen und berühren gäbe?

Wie seltsam wäre das wohl? Eine Art freies Schweben. Die ultimative Loslösung. Ich bin mir nicht sicher, dass ich mir das überhaupt vorstellen kann.

Die Realität ist, dass die Welt, wenn der Wecker klingelt – es ist jetzt wirklich erstaunlich lange her – und ich die Augen aufschlage, da sein wird, so sicher, wie ich da bin und mein Körper da ist. In gewisser Weise könnte man sagen, dass die Welt ebenso verlässlich mit mir verbunden ist wie mein Körper. Oder ich mit ihr und ihm. Ich meine, ich kann meine Augen auf unterschiedliche Teile des Zimmers, der Welt, richten, aber ich kann mein Sehen nicht von der Welt trennen. Wir sind ein Ganzes.

Vielleicht ist es so, wie man als Kind einen Saugnapf an eine feuchte Fensterscheibe gedrückt und ihn dann nicht wieder abgekriegt hat. Man konnte den Gumminapf über die Scheibe wandern lassen, vielleicht war es ein Plastikpfeil, den man in Richtung Fenster abgeschossen hatte, aber man konnte ihn nicht abnehmen.

Was für ein verrückter Vergleich. Wo kam der her? War er irgendwo im Gehirn abgespeichert, oder hatte ich ihn spontan ersonnen?

Tatsache ist, ich kann fühlen, oder mich zumindest daran erinnern, erinnernd fühlen, wie meine Hand sanft an dem Spielzeugpfeil zog und der Saugnapf Widerstand leistete, über das Glas rutschte, aber nicht abgehen wollte; eine merkwürdige Kooperation zwischen Kindheitserfahrung, Gehirnchemie und Sprache. Schon sind wir wieder bei den Wörtern. Ich wäre auf diesen Vergleich nicht gekommen ohne die Sprache, die Vergleiche liebt. Tatsächlich besteht die einzige Möglichkeit, mich von der Welt zu lösen, oder zumindest diese Illusion zu hegen, ich meine, mich von der unmittelbaren Welt dieses Zimmers, an diesem Morgen hier in Heidelberg im September 2015, zu lösen, vielleicht darin, mich auf die Wörter zu konzentrieren und auf eine gewisse Dynamik, die sie entwickeln, wenn sie in Bewegung kommen und alle Dinge in der festen Welt um uns herum in den Hintergrund rücken. Weil meine Aufmerksamkeit nicht auf die Dinge scharf gestellt ist, sondern auf die Wörter.

Wenn das so ist, muss ich also, um mich von der Welt zu trennen, ununterbrochen mit mir selbst reden, wie ein Wasserfall. Diesmal haben mich die Selbstgespräche allerdings zu dem Schluss geführt, dass ich mich, mein waches Bewusstsein, nie wirklich von der Welt um mich herum lösen kann. Wenn ich die Augen aufschlage, werde ich schlicht nicht in der Lage sein, die silbergraue Tapete nicht zu sehen. Wir haben uns aneinander festgesaugt.

Kann man also sagen, dass die unmittelbare Welt um mich herum genauso zu mir gehört wie mein Körper? In dem Sinn, dass sie ebenso unumgänglich ist?

Und sind Wörter womöglich auch nur eine weitere Manifestation der Welt? Eine weitere Kategorie von Dingen, die ich nicht abschütteln könnte, selbst wenn ich wollte?

Wenn das so ist, dann klebe ich tatsächlich tagein, tagaus an meiner Erfahrung fest.

»Ele?«

»Ja?«

»Meinst du nicht, dass die zehn Minuten längst um sind?«

»Was?«

»Der Wecker. Meinst du, die Batterie ist leer? Er müsste doch längst geklingelt haben.«

»Entspann dich einfach.«

DRR, D D D DRR DRR. Der Wecker klingelt, während sie noch spricht.

Ich öffne die Augen, und da ist die Wand. Die Tapete. Unumgänglich.

»Du zuerst«, sagt meine Partnerin. Die Socke ist blau.

FARBEN

Lassen Sie uns ein paar Erlebnisse auf dem Weg zum Frühstück überspringen. Ich bin in Heidelberg, um verschiedene Professoren zu treffen und mich mit ihnen darüber zu unterhalten, was Bewusstsein ist. Ich bin in Heidelberg, um ein paar schöne Tage mit meiner Partnerin zu verbringen. Beim Betreten des Frühstücksraums unseres Hotels fällt es schwer, eventuelle taxierende Blicke nicht wahrzunehmen. Meine Partnerin ist halb so alt wie ich. Knapp halb so alt, um ehrlich zu sein; der Kipppunkt wird in etwa einem Jahr kommen, wenn sie einunddreißig wird. Rechnen Sie selbst. Mit derart asymmetrischen Beziehungen stimmt angeblich etwas nicht. Diverse Instanzen, sowohl religiöse als auch weltliche, behaupten, es sei weitaus gesünder, wenn Paare mehr oder weniger gleichaltrig sind. Diese Sichtweise entspricht nicht unserer Erfahrung, ich meine meiner und der meiner Partnerin; für uns ist unsere Beziehung absolut in Ordnung. Wir finden es geradezu erschreckend, wie massiv sich diese mutmaßlich kompetenten Instanzen in dieser Hinsicht irren können. Da fragt man sich, in wie vielen anderen Dingen sie sich noch irren? Mein Freund Riccardo Manzotti zum Beispiel hat vor Kurzem gezeigt, dass das aktuelle Modell, das verwendet wird, um zu erklären, was passiert, wenn wir Farbnachbilder sehen, gänzlich falsch ist. Aber das ist ein anderes Thema. Jetzt, während wir uns hier im Frühstücksraum an einen Tisch setzen, sind wir uns der Blicke von zwei, drei Personen bewusst, die abschätzen, ob wir wohl Vater und Tochter sind, oder eher ein älterer Mann und seine Geliebte, die einen kleinen Seitensprung genießen. Aber wie könnten wir Vater und Tochter sein, so unterschiedlich, wie wir aussehen? Die Leute spüren so etwas sofort; riesige Mengen von Lebenserfahrung kommen hier zum Tragen, ganz ohne Nachdenken, ich meine, ohne bewusste Reflexion. Der scharfe Beobachter weiß ganz einfach Bescheid. Das Zimmermädchen beispielsweise, ein stattliches junges Mädchen unter zwanzig mit einer gestärkten weißen Schürze und einer kleinen schwarzen Haube auf dem Kopf, setzt sofort einen verschwörerischen Gesichtsausdruck auf; sie wird unserem vermeintlichen Fehltritt wohlwollend gegenüberstehen.

Das ist natürlich ein Thema, über das sich leicht schreiben ließe: wie sich die Lebenswege zweier Menschen plötzlich auf ganz unerwartete, geradezu abwegige Weise ineinander verwickeln, und wie die Leute darauf reagieren. Das ist der Stoff, aus dem Bücher gemacht werden. Meistens. Ich meine Romane. Weil wir dazu neigen, auf diese Weise über unser Leben nachzudenken, die Dinge rückwärts und vorwärts projizieren, um daraus Geschichten zu machen. Und auch weil Wörter und Sätze, die zeitlich linear verlaufen und unterwegs Energie einsammeln, genau darin gut sind, gut im Erzählen von Geschichten, die sich ebenfalls durch die Zeit bewegen: Menschen begegnen sich, verlieben und entlieben sich, finden und verlieren Jobs, streben nach etwas und haben Erfolg, streben nach etwas und scheitern. Letztendlich scheinen weite Teile unseres Lebens aus Wörtern zu bestehen, die dem heiklen, kaum beschreibbaren Zustand unseres tatsächlichen, alltäglichen Daseins, den einzelnen Momenten unseres Aufder-Welt-Seins, eine Gestalt und Dynamik aufzwingen: dem Aufwachen und Erblicken des Schranks und der Tapete, dem wiederholten Eintauchen in die Welt der Träume, während die zehnminütige Schlummerphase des Weckers zuerst brutal kurz und dann beunruhigend lang erscheint. Geschichten sind uns vertrauter als das Leben selbst. Es fällt uns leichter, darin zu sein. Vermutlich mögen wir deshalb so gern Romane. Auch Biografien, historische Erzählungen und Memoiren. Ich jedenfalls mag sie sehr. In ihnen entfaltet sich mensch liches Erleben auf eine sinnvolle Art und Weise, indem die vielen redundanten Erfahrungen zwischen Aufwachen und Frühstück einfach ausgeblendet werden: der obligatorische Gang zur Toilette, das nervige Her umprobieren, um zu ermitteln, wie die Hoteldusche funktioniert, das Gefühl, von den glänzenden, spiegelnden Oberflächen überall geblendet zu werden, die Notwendigkeit, die Brille wieder aufzusetzen, um die klein gedruckten Aufschriften der kleinen bunten Fläschchen zu lesen: Shampoo oder Duschgel? Wie könnte man je eine Geschichte am Laufen halten, oder auch eine Betrachtung des menschlichen Bewusstseins, wenn man sich genau anschauen wollte, wie das Leben, oder das Bewusstsein, tatsächlich ist?

Nein, wenn wir anfingen, über den gegenwärtigen Moment und den mit ihm einhergehenden Taumel der Wahrnehmungen und Gedankengänge zu schreiben, dann wären wir überwältigt. Wir könnten niemals alles erfassen. Und wir würden die Leser zu Tode langweilen. Der Genius der Sprache liegt im Auslassen. Sie lässt das meiste aus, genau genommen fast alles; sie lädt die Leser ein, sich im Schnellzug durch die unnötig überladene Landschaft der Alltagserfahrungen tragen zu lassen.

Oder wenn wir uns doch vornehmen, alles zu erzählen, ich meine zu beschreiben, wie das Leben wirklich ist, in jedem einzelnen Moment, dann wird unsere Angst, die Leser zu langweilen, so groß, dass wir versuchen, etwas Besonderes daraus zu machen, die Lawine aus Einzelwahrnehmungen durch Rhythmus, Reime und poetische Mittel abzuschwächen. Wir werden versuchen, unseren Bericht attraktiv zu machen. Ulysses-ähnlich. Aber das Attraktive daran wird der Text sein, nicht der Augenblick selbst. Wir werden uns für die Art der Übermittlung interessieren statt für das Übermittelte, so wie jeder weit mehr an Ulysses dem Buch interessiert ist, seiner Form des Stream of Conscious ness und seinem kontroversen Autor James Joyce, als an den Themen, von denen dieses Buch tatsächlich handelt: Dublin, Masturbation, Zeitungswerbung, Beerdigungen, Prostituierte.

Das möchte ich vermeiden. Das Problem, mit dem ich auf dieser Reise nach Heidelberg konfrontiert bin, besteht in der Frage, wie ich mich auf das Thema des Bewusstseins konzentriere, wie ich Sie dazu bringen kann, sich darauf zu konzentrieren, ohne eine literarische Absicht zu verfolgen. Es geht hier nicht um Schönheit. Auch nicht ums Melodram. Nicht mal um Polemik. Sondern schlicht und einfach um die Frage: Können wir als gewöhnliche Menschen etwas Nützliches über das Bewusstsein aussagen, indem wir in den kommenden zwei Tagen in jedem Moment unsere persönlichen Erfahrungen betrachten? Und dann um die Frage: Sind die Modelle, Erklärungen oder was auch immer, die über das Bewusstsein existieren, die Versionen der Vorgänge, die zahlreiche Experten vertreten, stimmig? Passen sie zu dem, was wir Sekunde für Sekunde erleben? Und wenn nicht, warum nicht? Zum Glück haben wir uns mit ein paar klugen Leuten verabredet, mit denen wir über diese Fragen sprechen können.

Trotz allem kann ich nicht umhin, hier innezuhalten und die Pracht des Frühstücksbuffets in diesem Heidelberger Hotel zu beschreiben. Es befindet sich in einer Ecke des Raums, auf einer Theke aus schwarzem Stein, die entlang zweier Wände aufgebaut ist. Zumindest sieht die Oberfläche aus wie Stein. Darauf stehen silberne Platten mit Obst – hellgrüne Melonenschnitze, in gleichmäßige Dreiecke zerteilte Ananasfrüchte, große pralle Erdbeeren, einzeln nebeneinander direkt auf der Platte platziert, Feigen, die ihr fleischiges Inneres offenbaren (das nur wenig bräunlicher ist als die glänzend roten Erdbeeren), und in der Mitte der Platte, ich meine jeder Platte, der stachelige runde Blattschopf einer Ananas mit den dunkelgrünen, ineinandergeschachtelten Blättern, die sich zu einer glorreichen Krone öffnen.

Zwischen den Platten – pardon, noch sind wir nicht fertig – stehen dreifüßige Schalen, in denen Äpfel, Trauben, Orangen und Kiwis hoch über den anderen Speisen thronen, Kerzen in silbernen Haltern mit elektrischen Flammen und, denn wir sind hier in Deutschland, Teller mit Gewürzgurken und dekorativ aufgeschnittenen Radieschen, um den Kontrast zwischen weiß und rot zur Geltung zu bringen, dünnen Scheiben von Tomaten sowie roten, grünen und gelben Paprikaschoten, das alles neben Käsescheiben und Schinkenröllchen gleichmäßig auf Salatblättern arrangiert, daneben Schüsseln mit gekochten Eiern, Körbe voller knuspriger Brötchen mit Sesamkörnern und Bretter mit dunkelbraunen Brotlaiben, die fest in weiße Stoffservietten gewickelt sind, damit man sie aufschneiden kann, ohne seine Bakterien auf das Brot zu übertragen.

Hinter all diesem Überfluss verläuft entlang der beiden Wände, die diese Buffetecke bilden, ein Spiegel, gerade hoch genug, um die Farbexplosion, die durch helle, in die Decke eingelassene Punktstrahler noch intensiviert wird, zu verdoppeln. Mehr als zu verdoppeln eigentlich, denn von dem Winkel aus, in dem ich jetzt vor dem Buffet stehe und mir mit der Gabel Obst in meine Schale fülle, reflektiert der Spiegel vor mir nicht nur die Früchte, sondern auch den Spiegel an der anderen Wand und erzeugt so eine berauschende Vervielfältigung dieser wunderbaren, wunderbar angerichteten Speisen, die das aufmerksame Hotelpersonal unablässig nachfüllt.

Und dabei habe ich die glänzenden weißen Teller und das polierte Besteck noch gar nicht erwähnt, auch nicht den großen silbernen Samowar mit dem Regal voller Teekannen, und natürlich die unvermeidliche Teebox von Twinings mit den bunt verpackten Einzelbeuteln. Das Buch, das ich gerade gelesen habe, Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel von Christof Koch, beschreibt Farben und genau genommen unsere Wahrnehmung im Allgemeinen als »con job«, also als Schwindel: Es gibt auf der Welt weder Blau noch Grün noch Rot, schreibt Koch, alle Farbtöne werden in unserem Gehirn erzeugt, sie entstehen aus der Kooperation zwischen dem visuellen Kortex und drei Gruppen von cleveren, kegelförmigen Zellen in der Netzhaut, welche die Lichtstrahlen, die von unterschiedlichen Oberflächen reflektiert werden, in die Illusion einer Farbe umwandeln. In Wirklichkeit also, und an dem Punkt stimmt Koch weitgehend mit der gängigen Meinung überein – wobei »gängige Meinung« und »zahlreiche Experten« mehr oder weniger äquivalente Begriffe sind –, findet dieses ganze Frühstücksbuffet in meinem Kopf statt, und die Erdbeere, die ich soeben in meine Schüssel gelöffelt habe und schon bald in den Mund stecken werde, ist nirgendwo rot außer in meinem Kopf. Und das, obwohl mein Gehirn bekanntlich aus einer grauen, gallertartigen Masse besteht.

Ich schüttele den Kopf (ein Kaleidoskop aus Farben), während ich versuche, den Samowar zu durchschauen. Er ist sehr schön, ziemlich groß, hat unten einen Ablasshahn und obendrauf eine Art Wasserkessel. Neben dem Hahn ist ein roter Schalter, aber man sieht nicht, ob er an oder aus ist. Ist das Wasser heiß oder nicht? Kann ich das herausfinden, indem ich den Samowar anfasse, oder ist er so gut isoliert, dass er außen immer kühl bleibt? Soll ich ihn selbst einschalten? Angenommen, er ist zurzeit ausgeschaltet. Ist das erlaubt? Oder soll ich die Kellnerin fragen? Sie ist nicht zu sehen. Ich hasse es, wenn der Tee nicht heiß ist. Und nimmt man den Kessel von oben herunter, um sich einzuschenken, oder stellt man seine Tasse, oder eine der kleineren Teekannen, unter den Zapfhahn? Ich weiß es nicht. Das Hotelpersonal hat offenbar strikte Anweisung, alles auf Hochglanz zu halten, denn als ich mich hinunterbeuge, um das Gerät genauer in Augenschein zu nehmen, spiegelt sich mein Gesicht in der silbernen Oberfläche, allerdings verzerrt, durch die Rundung des Behälters stark in die Breite gezogen. Zum Schwindel der Wahrnehmung kommt hier die Verzerrung des gekrümmten Spiegels. Doch mein ratloser Gesichtsausdruck ist deutlich erkennbar, als ich mich jetzt für die Betätigung des Zapfhahns entscheide und sich das als Fehler erweist – mein Tee ist gerade mal lauwarm, verdammt!

Am Tisch diskutieren wir darüber, ob ich einen zweiten Versuch mit dem Samowar wagen sollte. Meine Partnerin meint, ich solle die Kellnerin fragen, aber keiner von uns beiden spricht Deutsch, jedenfalls nicht fließend, und ich möchte nicht dumm wirken. Warum nicht? Wen kümmert es schon, ob die Kellnerin mich dumm findet? Schließlich ist sie für mich keine Autorität. Oder auch nur eine Kollegin. Und sie scheint sowieso schon zu glauben, dass ich hier mit meinem Seitensprung eingecheckt habe. Aber offenbar kümmert es mich doch. Die Kellnerin ist ein Mensch, und ich möchte nicht, dass andere Menschen zu dem Schluss kommen, dass ich von Samowaren keine Ahnung habe.

Oder ist es eher so, dass ich das Vergnügen haben möchte, selbst herauszufinden, wie das Gerät funktioniert? Ich will mir den kleinen Triumph gönnen, mir mein heißes Wasser aus eigener Kraft zu verschaffen. Die Frau, mit der ich mich heute Vormittag treffen werde, Professor Sabina Pauen, führt Experimente durch, bei denen die Lernfähigkeit von Kindern leicht unterschiedlicher Altersstufen geprüft wird. Kann ein Kind mit zweiundzwanzig Monaten zwischen funktionalen und nichtfunktionalen Eigenschaften eines einfachen Werkzeugs unterscheiden? Mit vierundzwanzig Monaten? »Ein typisches Experiment« – erkläre ich meiner Partnerin, während sie die Nährwertangaben auf dem Joghurtbecher durchliest – »ist zum Beispiel eine lange durchsichtige Plastikröhre mit einer Belohnung darin. Um die Belohnung herauszukriegen, braucht man ein stabähnliches Instrument, das lang genug ist, um bis ans Ende der Röhre zu reichen. Es sind verschiedene solche Instrumente mit verschiedenfarbigen Griffen im Angebot. Nur eins von ihnen ist lang genug, um die Aufgabe zu erfüllen. Das Kind sieht, wie ein Erwachsener einen der Stäbe, sagen wir den mit dem blauen Griff, nimmt, damit die Belohnung aus der Röhre schiebt, ein erfreutes Gesicht macht und dann dem Kind die Belohnung gibt. Anschließend bekommt das Kind eine zweite Röhre, mit Belohnung darin, und die drei Instrumente. Weiß das Kind jetzt, was zu tun ist? Wählt es das richtige Instrument aus, das mit dem blauen Griff?«

»Was ist die Belohnung?«, fragt meine Partnerin.

»Keine Ahnung. Bestimmt nicht eine Tasse heißer Tee.«

»Das könnte wichtig sein.«

»Wie auch immer, wenn das Kind es kapiert hat, machen sie eine Pause, dann wiederholen sie das Experiment, ändern aber die Grifffarben der Instrumente, sodass der Stab, mit dem es klappt, jetzt zum Beispiel einen roten Griff hat. Der blaue funktioniert diesmal nicht.«

»Gemein.«

»Die Frage ist also: Kann ein Kleinkind zwischen der funktionell relevanten Länge und der funktionell irrelevanten Farbe unterscheiden?«

»Und wenn die Kinder die Belohnung gar nicht haben wollen?«

»Dann wollen sie vielleicht trotzdem ihre Eltern beeindrucken, oder sich selbst. Sie wollen sich gut fühlen, weil sie die Aufgabe kapiert haben. Unabhängig von der Belohnung.«

»Sind die Eltern dabei?«

»Ein Elternteil.«

»Bezahlt?«

»Anscheinend nicht.«

»Also haben wir es mit Eltern zu tun, die sich für die frühkindliche Entwicklung interessieren.«

»Für Leistung, ja. Sie wollen zweifellos, dass ihre Kinder weiterkommen.«

»Aber was ist, wenn das Kind gegen die Leistungsorientiertheit der Eltern rebelliert und sich weigert, bei dem Röhrenspiel mitzumachen?«

Ich schüttele den Kopf. »Es ist so, dass bei vielen dieser Experimente den Kindern Elektroden angelegt werden, die die Hirnaktivität im frontalen Kortex aufzeichnen.«

»Geh dir mal deinen Tee holen«, sagt meine Partnerin.

»Aber was soll ich mit der Tasse machen, die ich schon habe? Sie ist noch voll.«

»Lass sie stehen und nimm dir eine neue.«

Ich zögere und stelle mir vor, wie die Kellnerin angesichts dieser Verschwendung beim Tischabräumen über mich den Kopf schüttelt.

»Ich möchte aber nicht verschwenderisch wirken«, sage ich.

»Das ist albern«, erklärt mir meine Partnerin. »Geh schon.«

Ich mogele. Ich warte, bis jemand anders zum Samowar geht, um zu beobachten, was die Person macht. Es ist ein Deutscher im mittleren Alter. Er drückt auf den roten Knopf an der Seite des Geräts, der daraufhin aufleuchtet. Er hatte gar nicht so ausgesehen wie ein Knopf mit einem Lämpchen darin. Ich bin ein Stümper. Es war ganz einfach. Der Mann wartet. Ich trete näher und stelle mich hinter ihm an. Ungefähr ein Dutzend Leute befinden sich in dem Frühstücksraum mit den (in meinem Kopf) silbergrauen Stühlen, die hohe, gerade Rückenlehnen haben, und einem (in meinem Kopf) schwarzen Teppichboden mit einem Muster aus kleinen weißen Kronen, das diagonal durch das Rechteck des Raums verläuft. Was ich Christof Koch gerne fragen würde, ist, ob die Farben ein größerer Schwindel sind als die Formen und Größen der Dinge, vor allem, da Koch davon überzeugt ist, dass unsere gesamte Erfahrung der Welt in unserem Kopf angesiedelt ist, als Bild sozusagen, oder als Darbietung im Theater des Geistes. Galileo allerdings glaubte, das Einzige, was tatsächlich draußen auf der Welt existierte, seien Formen, Zahlen und Bewegungen; alles andere – Farben, Töne, Geschmack, Geruch usw. – würde allein durch unsere Augen, Ohren, Zunge und Nase ergänzt. Sei rein subjektiv, würde außerhalb der Menschheit überhaupt nicht existieren. Um also einen Gegenstand tatsächlich zu erfassen, musste man ihn in jeder erdenklichen Weise vermessen, mit wissenschaftlichen Instrumenten, musste seine Form, seine Masse und seine Bewegungen untersuchen, aber nichts von dem, was uns normalerweise daran interessieren würde, etwa welche Farbe er hat, wie er riecht oder wie er sich anfühlt. Vielleicht habe ich mich deshalb nie der Wissenschaft zugewandt.

Mein Tee kommt knallheiß heraus. Jetzt habe ich etwas über Samoware gelernt. Einer bestimmten Art. Nie wieder werde ich mich im Frühstücksraum eines deutschen Hotels durch lauwarmen Tee blamieren. Folglich hat sich in meinem Gehirn vermutlich etwas verschoben. Es ist jetzt anders als noch vor zehn Minuten. Zur Vorgabe von Professor Pauens Forschung gehört, dass das kindliche Gehirn in dieser Phase maximaler Formbarkeit durch die kleinen Lernspiele, die ihr Team mit den Jungen und Mädchen durchführt, tatsächlich verändert wird. In einem Experiment etwa werden kleinen Kindern in schneller Abfolge Fotos gezeigt, zum Beispiel von Gesichtern, bekannt und unbekannt, männlich und weiblich, vielleicht auch von Tieren oder Möbelstücken. Die Reaktion des Kindes wird mithilfe eines Elektroenzephalografen gemessen, der Gehirnströme aufzeichnet – elektrische Aktivitäten im Gehirn –, ihre Intensität misst und in Millisekunden zählt, wie schnell nach dem Sehen des Fotos sie auftreten. Ergebnis: Seit man Scharen von neun Monate alten Babys mit Elektroden am Kopf vor einen Bildschirm gesetzt hat, gilt es als erwiesen, dass sie zwischen verschiedenen Tierarten und zwischen Männern und Frauen beziehungsweise männlichen und weiblichen Gesichtern unterscheiden können. Was noch interessanter ist: Es ist auch klar geworden, dass die Kinder weniger stark reagieren, wenn ein Foto die Wiederholung des vorherigen ist, selbst wenn sie das vorherige Foto nur eine halbe Sekunde lang gesehen haben. Innerhalb dieser sehr kurzen Zeitspanne hat sich also das Gehirn bereits verändert, es hat etwas gelernt, so wie ich jetzt gelernt habe, den Samowar einzuschalten und kurz zu warten, ehe ich heißes Wasser aus dem Zapfhahn entnehme, auch wenn ich immer noch nicht weiß, wozu der hübsche silberne Teekessel oben auf der Maschine da ist. Ist er ein funktionales oder ein nicht-funktionales Element?

Als ich wieder an meinen Platz gehe, mit der zweiten Tasse Twinings English-Breakfast-Tee in der Hand, wird der Raum unvermittelt durch eine Erscheinung verändert. Eine Frau mit einem knallgelben Hut schwebt herein.

Ich sollte erwähnen, dass alle anderen Leute im Frühstücksraum auf den ersten Blick unscheinbar wirken. Sie wissen schon, wie ich das meine, es soll keineswegs geringschätzig klingen. Ich bin selbst genauso unscheinbar. Keine dieser Personen sendet auffällige Signale aus oder fordert auf irgendeine Art und Weise besondere Aufmerksamkeit ein. Da wären der Deutsche im mittleren Alter und seine Frau, die links von uns sitzen, ein junges japanisches Paar an einem der Tische am Fenster, und eine arabische Familie mit Mann, Frau und einem bemerkenswert braven Kleinkind. Alle ganz gewöhnlich angezogen. Das schwarze Kopftuch der arabischen Mutter wirkt vollkommen gewöhnlich. Dazu trägt sie ein Jackett und Jeans.

Alle widmen sich in einer unaufdringlichen Art und Weise ihrem Frühstück. Was vermutlich bedeutet, dass sich alle mehr oder weniger einig darüber sind, wie man sich beim Frühstück in einem Hotel benehmen sollte. Die gedämpften Gespräche kommen dank der leise eingespielten 70er-Jahre-Popmusik an den anderen Tischen nur als unverständliches Gemurmel an; im Augenblick läuft zum Beispiel gerade »Super Trouper«. Was wiederum zu der zwanglosen Kleidung, dem schallschluckenden Teppich und den (in unseren Köpfen) grauen Stuhlpolstern zu passen scheint. Tatsächlich ist mir das alles bisher gar nicht aufgefallen. Wir haben uns alle an die Hotelumgebung angepasst, uns quasi unsichtbar gemacht. Uns konform verhalten, würde man wohl sagen. Liegt es daran, dass wir durch die Millionen und Abermillionen ähnlicher Eindrücke, die unsere Gehirne im Laufe der Jahre empfangen haben, einander irgendwie ähneln, oder zumindest ähnlich disponiert (programmiert, gepolt?) sind, wenn es um das Frühstücken in Hotels geht? Alle Wissenschaftler, deren Studien über das Gehirn ich gelesen habe, verwenden Analogien aus dem Computerbereich. Pauens Babys »verarbeiten« Bilder und »codieren« und »speichern« sie. Das scheint die natürliche Art und Weise zu sein, über das Gehirn zu sprechen, auch wenn an einem Computer natürlich rein gar nichts natürlich ist. Auch nicht am Frühstücken in Hotels.

Jedenfalls lässt jemand nun über die spiegelglatte Oberfläche dieser frühmorgendlichen Konformität einen Kieselstein in Gestalt eines knallgelben Huts springen. Genau genommen ist unser Neuankömmling komplett gelb: gelbe Schuhe, gelbe Bluse, gelbe Strickjacke, gelbe Fingernägel. Aber den Ausschlag gibt der Hut. Wenn ich knallgelb sage, dann meine ich wirklich knallig. Ein ausladender, runder Hut, der zugleich steif wirkt. Oben flach, wie ein umgekehrter Topf, den man auf dauergewelltes Haar gedrückt hat, aber mit äußerst breitem Rand, vielleicht 60 Zentimeter im Durchmesser. Dieser Hut scheint alles Licht im Raum in sich hineinzuziehen, um es dann als einen grellen, zitronigen Nebel wieder zurückzuwerfen. Seine Trägerin bewegt sich mit einem äußerst weiblichen Hüftschwung und hat neben einer Wolke aus ziemlich schwerem Parfum einen weitaus weniger aufregenden Ehemann im Schlepptau. Das Parfum ist blumig-fruchtig. Der Ehemann ist in Weiß gekleidet.

Auch wenn Farben und Gerüche nur ein subjektiver Schwindel sind, ist diese Frau, deren Alter ich auf Anfang sechzig schätze, doch ganz offensichtlich in der Lage, unsere Reaktion auf farbliche Reize vorherzusagen und zu manipulieren. Alle drehen sich nach ihrem Hut um. Sie setzt sich an einen Tisch am Fenster, schickt ein betörend selbstzufriedenes Lächeln in den Raum, so als wolle sie uns alle in ihrem Dunstkreis aus sonniger Wohlgefälligkeit willkommen heißen – sogar ihr Lippenstift ist gelb –, und ruft dann mit fröhlicher Stimme die junge Kellnerin, deren Namen sie kennt. Ihr Mann nimmt ihren Exhibitionismus mit bewundernswerter Gelassenheit hin. Womöglich ist er sogar stolz auf sie. Auch er begrüßt die Kellnerin und schlägt dann die Frankfurter Allgemeine auf.

»Das Gelb existiert natürlich nur in unseren Köpfen«, erinnere ich meine Partnerin. »Auch der Duft.«

»Trotzdem können wir ihm nicht entkommen«, gibt sie zu bedenken. »Selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht aufhören, es uns einzubilden. Und wir nennen es beide Gelb.«

Eigentlich wollte ich unser Frühstücksgespräch nutzen, um über Professor Pauens Experimente zu reden und mich so auf das Interview vorzubereiten. Aber es ist unmöglich, nicht über dieses Gelb zu sprechen. Es nimmt uns in Beschlag. Die Frau ist aufwendig geschminkt, strahlt aber dennoch eine Art gespielte Natürlichkeit aus. Und ihr Auftritt ist berückend. Wieso ist sie so anders als der Rest von uns? Wie kommt es, dass sie und ihr Mann sich Essen an den Tisch bestellen können, während wir aufstehen und das Buffet plündern mussten und uns eine ordentliche Tasse Tee erst nach einigem Herumprobieren vergönnt war? Ist es so, dass unsere Gehirne auf Konformität gepolt sind oder sich damit abgefunden haben, während diese Frau, nachdem sie im Laufe der Jahre anderen Eindrücken ausgesetzt war als wir oder, wahrscheinlicher, die gleichen Eindrücke völlig anders verarbeitet (was immer das bedeutet) hat, ein freier Geist ist? Oder gehorcht sie nur anderen Normen? Ihr Benehmen ist, wie meine Partnerin mithilfe einer italienischen Redewendung feststellt, »tutt’un programma«. Sie hat ihren Look nicht selbst erfunden. Er scheint den Kodachrome-Fotografien in einer Modezeitschrift aus den 1960er-Jahren zu entstammen. Ich äußere die Vermutung, dass sie so etwas irgendwann einmal gesehen hat und es seitdem so tief in ihrer Psyche verankert ist, dass sie es immer wieder reproduziert.

Nein. Meine Partnerin sieht diese Frau nicht als eine Person, die sich einer Prägung unterworfen hat, sondern eher als eine Strategin, die sich ausrechnet, wie sie am effektivsten alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Frauen sind immer die schärfsten Kritikerinnen anderer Frauen. Jedenfalls wird mir, während ich meine Serviette zusammenlege, klar, dass der gelbe Hut bei mir einen so starken Eindruck hinterlassen hat, dass ich mich allein seinetwegen für immer und ewig an dieses Frühstück und an dieses Hotel erinnern werde. Ich werde mit dem Hut anfangen und dann den Rest der Szene daraus ableiten können: meine Position im Raum im Verhältnis zur Trägerin des Huts, und damit auch zu allen anderen Anwesenden, den Japanern, den Arabern, dem deutschen Paar im mittleren Alter, den Fenstern und dem herrlichen Frühstücksbuffet, das in all seiner glänzenden, fruchtig-bunten Pracht von den Wänden gespiegelt wird, ganz ähnlich wie man sich an einen Traum erinnert, indem man mit einem Fragment anfängt, das man beim Aufwachen noch im Sinn hat, etwa dem Blick durch die hohen Bäume des Waldes auf den schmalen Fluss.

Aber jetzt wird es Zeit, nach oben zu gehen und mich auf mein Interview vorzubereiten.

ALLES STEHT KOPF

Mir bleiben noch vierzig Minuten, um vor dem ersten Interview meine Notizen noch einmal durchzugehen. Aber fassen wir kurz zusammen. Vor etwa zwei Jahren erhielt ich eine E-Mail von einem Mann namens Jakob Köllhofer, der mich einlud, an einem Projekt teilzunehmen, bei dem »Schriftsteller zu Wissenschaftlern unterschiedlicher Institute der Universität Heidelberg geschickt werden« sollten, um herauszufinden, »ob die ›Naturwissenschaften‹ in der Lage wären, ein Konzept für eine ›neue Metaphysik‹ zu entwickeln«. Ich war fasziniert von Köllhofers Gebrauch der Anführungszeichen, zugleich aber verblüfft von der Idee. Wie kann die Beobachtung der Welt und selbst die daraus folgende Reflexion und Spekulation uns je zu dem Warum der Existenz der Welt führen? Man kann die Urknall-Theorie beweisen und trotzdem nichts darüber erfahren, warum der Urknall sich ereignet hat oder warum er sich in dem betreffenden Moment ereignet hat. Oder ob er sich ereignen musste. Und selbst wenn man all das herausfände, bliebe es immer noch ein Geheimnis, was davor war, und dann wiederum davor.

Im weiteren E-Mail-Austausch stellte sich jedoch heraus, dass sich Köllhofer in erster Linie für die Frage interessierte, ob die Wissenschaft in den Köpfen der Menschen allmählich die Religion ersetzte. Das schien eher ein anthropologisches Thema zu sein als harte Wissenschaft, etwas, zu dem ich unter Umständen tatsächlich etwas beisteuern könnte. Hinzu kam, dass in der ursprünglichen Einladung gestanden hatte, Köllhofers Arbeitgeber, das Deutsch-Amerikanische Institut, könne mir dafür »ein ansehnliches Honorar« anbieten. Wer wäre nicht neugierig, was in einem solchen Satz wohl mit »ansehnlich« gemeint war? Zudem hätte ich Gelegenheit, ein paar Spitzenwissenschaftler zu treffen und mit ihnen über das menschliche Bewusstsein zu sprechen.

Denn das Bewusstsein fasziniert mich schon seit einigen Jahren, ich brenne förmlich darauf, über das Thema zu reden und nachzudenken. Womit ich sagen will, dass ich seit ein paar Jahren im Gespräch mit Riccardo Manzotti bin und mit ihm eine der intensivsten und längsten Debatten meines Lebens führe. Und bei der Rückkehr in unser Hotelzimmer machte ich jetzt tatsächlich, als ich mich an den kleinen Schreibtisch dort setzte, den Fehler, vor der Durchsicht meiner Notizen über Sabina Pauen noch meine E-Mails zu checken. Und natürlich war eine Mail von Riccardo eingetroffen, mit einem Link zu einer Rezension des Philosophen Alva Noë über den Film Alles steht Kopf. Eine Filmkritik von einem Philosophen bekommt man nicht alle Tage zu lesen, daher machte ich gleich anschließend den nächsten Fehler, indem ich, statt Pauens Aufsatz über »Object Categorization and Socially Guided Object Learning in Infancy« noch einmal zu lesen, diese Kritik überflog.

An den Pixar-Zeichentrickfilm Alles steht Kopf