Binz und die dicke Berta - Bent Ohle - E-Book

Binz und die dicke Berta E-Book

Bent Ohle

4,4

Beschreibung

Krimischriftstellerin Alberta Rose ist fassungslos: Ihre Trauung im Binzer Rettungsturm hätte so schön werden können, wäre nicht die Standesbeamtin kurz vor der entscheidenden Frage unfreiwillig aus dem Leben geschieden. Alberta nimmt die Sache persönlich und sucht auf eigene Faust nach dem Mörder. Dabei verheddert sich die schwergewichtige Hobbydetektivin nicht nur in den Fallstricken ihrer skurrilen Patchworkfamilie, sondern kommt dem Täter gehörig in die Quere - mit lebensbedrohlichen Folgen. Pralle Krimikost mit Witz und Charme.

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: iStockphoto.com/AndreasKermann Umschlaggestaltung: Franziska Emons/Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-757-4 Urlaubskrimi Originalausgabe

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Für meine Frau Myriam

Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin.

Marius Müller Westernhagen, »Dicke«

TEIL 1

DER ANTRAG

1

Alberta konnte in der Ferne bereits die Silhouette des Hafens erkennen. Noch eine halbe Stunde, dann würde die Fähre im Hafen Hoek van Holland anlegen, und ihre Reise wäre beendet. Wehmütig, aber auch mit Vorfreude auf das Wiedersehen mit Philip stand sie an der Reling des riesigen Schiffes. Eine leichte Brise strich von Süden über das blau schimmernde Meer. Möwenschreie hallten durch die warme Luft.

Sie dachte zurück an England, wo sie Recherchen für ihr neues Buch angestellt hatte. Das erste Mal, dass sie eine Story außerhalb Deutschlands angesiedelt hatte. Ihr Verleger war nicht sehr angetan von dieser Idee, doch er hatte Alberta nicht aufhalten können. Sie schrieb historische Kriminalromane der jüngeren Geschichte. Zumeist spielten ihre Bücher in den fünfziger und sechziger Jahren, einer Zeit, die Alberta politisch und gesellschaftlich besonders spannend und inspirierend fand. Sie hatte auch schon ein paar Titel für den neuen Roman im Kopf.

Erst in England hatte sie bemerkt, wie gut ihr Name in englischer Sprache klang. Alberta Rose. Das war ein perfekter Name für eine Autorin. Ich sollte auf Englisch schreiben, dachte sie mit einem Lächeln, auch wenn sie genau wusste, dass ihr das nicht möglich war. Nicht in ihrer Muttersprache zu schreiben, lag jenseits ihrer Vorstellungskraft.

»Mama, kann das Schiff umkippen, wenn die dicke Frau da am Geländer steht?«, fragte ein kleines Mädchen in einem weiß-roten Kleid an der Hand ihrer Mutter, der die Schamesröte dunkelrot ins Gesicht schoss.

»Pschscht, das sagt man doch nicht, Rebecca!«, zischte sie die Kleine mit einem verschämten Seitenblick auf Alberta an. Sie legte entschuldigend den Kopf schief, und Alberta lächelte so, als würde sie ihr Absolution erteilen.

»Keine Sorge, die Rettungswesten hängen gleich da drüben«, sagte sie freundlich, und die Mutter zog ihre erschrockene Tochter fort. Alberta wandte sich zufrieden wieder dem Wasser zu.

Der gewaltige Bug des Schiffes schob sich unaufhaltsam dem Festland entgegen, und sie ließ ihre Gedanken treiben, betrachtete das Wasser, das ruhig und stetig am Rumpf des Schiffes entlangglitt. Wie durch Watte vernahm sie die Geräusche an Bord. Das Rufen von Passagieren, Kinderlachen, Möwengeschrei, das tiefe sonore Brummen der Maschinen und eine Stimme, die anscheinend immer näher zu kommen schien. Frau Rose? Frau Rose?

Alberta drehte sich um und blickte in das Gesicht eines Mannes, das zu gleichen Teilen Freude und Besorgnis ausdrückte.

»Frau Rose?«

»Ja?« Alberta sah forschend in seine Augen. Sie kannte ihn nicht und wusste nicht, was er von ihr wollen könnte.

»Sind Sie Alberta Rose, die Autorin?«

»Ja, die bin ich«, antwortete sie überrascht. Hatte sie tatsächlich jemand erkannt? Das Foto auf dem Rücken ihrer Bücher war schon ein paar Jahre alt, und sie fand sich nicht sehr gut getroffen.

»Das ist ja ein Zufall«, sagte der Mann. Er hatte volles braunes Haar, trug eine dunkle Brille und eine rote Jacke über ausgewaschenen Jeans. Er mochte so zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt sein. Er streckte ihr seine Hand entgegen, und sie schlug ein.

»Bela Rhinow ist mein Name. Ich bin Übersetzer«, stellte er sich vor. Alberta hatte den Namen noch nie gehört, sie war sich nicht mal sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

»Kennen wir uns?«, fragte sie.

»Nein, das nicht, aber…«

Jetzt fragt er sicher gleich nach einem Autogramm. Das wäre der perfekte Aufmunterer für mich.

»Ich arbeite für den Verlag und kenne Ihre Bücher.«

»Ach ja?« Alberta stutzte. »Wie schön.«

»Frau Rose«, begann Rhinow und kam einen Schritt näher. »Ich müsste mich mal mit Ihnen unterhalten. Nur wir beide.«

Das klang ihr ein wenig zu intim. Sie neigte ihren Oberkörper zurück und hielt sich an der Reling fest.

»Um was geht es denn?«, hakte sie vorsichtig nach.

»Das kann ich Ihnen hier nicht erklären. Ich würde Sie gern später noch mal treffen. In Berlin.«

»So?« Alberta blickte zum Hafen, der nun wie eine Spielzeugstadt im funkelnden Meer lag. In wenigen Minuten würden sie ihr Ziel erreicht haben. Sie musste hinunter in den Laderaum und ihr Auto suchen.

»Ich gebe Ihnen meine Karte.« Bela Rhinow reichte ihr eine blassblaue Visitenkarte. »Rufen Sie mich bitte an. Es ist wirklich wichtig.« Er blickte ihr in die Augen. »Tun Sie das?«, fragte er nachdrücklich.

Alberta nickte, verstand jedoch nicht, was ein fremder Mann ihr so Dringendes mitzuteilen haben könnte. Sie wollte diese Unterredung beenden, verabschiedete sich hastig und machte sich auf den Weg nach unten zu ihrem Wagen.

Als sie anlegten und Autos und Menschen von Bord aufs Festland strömten, versuchte sie, diesen Herrn Rhinow in der Menge wiederzuentdecken, aber vergebens. Sie beschloss, sich nicht weiter von diesem Treffen verwirren zu lassen und den Mann zu vergessen. Lieber freute sie sich auf die Rückfahrt in ihrem alten 86er Saab900Cabrio. Sie würde ein wenig mit offenem Verdeck über die holländischen Landstraßen fahren und später noch einen kleinen Snack nehmen, bevor sie dann die Autobahn Richtung Osten ansteuern würde. Gegen Abend wäre sie in Berlin, wo Philip auf sie wartete. Dort sollte die große Zusammenführung stattfinden.

2

Rudolf Maulbach-Henns, Albertas Verleger, hatte sein Büro in der obersten Etage eines restaurierten Fabrikgebäudes in einem Friedrichshainer Hinterhof. Er war ein Mann, der sich als den fleischgewordenen Verlag ansah. Es gab nichts, was nicht über seinen Tisch ging. Jedes Manuskript, jedes Coverbild, jeder Pressetext, alles wurde von ihm gegengelesen, kontrolliert und abgesegnet. Wie er das schaffte, wusste keiner so recht, doch jeder nahm seine Auflagen sehr ernst und unterschlug ihm nicht das Geringste.

Alberta war überraschend gut durchgekommen. DieA2 war auf den meisten Streckenabschnitten nur wenig befahren gewesen, und einzig auf der Gegenfahrbahn hatte es zwei kleinere Staus gegeben. Es war kurz vor achtzehn Uhr, als sie Berlin erreichte, und sie wollte noch schnell im Verlag vorbeifahren, weil sie so voll war von Ideen für das neue Buch, dass sie bereits ein ausführliches Exposé verfasst hatte, welches sie Rudolf auf den Schreibtisch legen wollte. Mit Philip und seinen Kindern war sie erst in einer Stunde verabredet, sodass sie noch genug Zeit für diesen kleinen Abstecher hatte.

Sie nahm die Treppe bis in die dritte Etage, betrat den Flur und steuerte direkt auf das Vorzimmer ihres Verlegers zu. Eine von Rudolfs Grafikerinnen, die auch Albertas Coverbilder entwarf, kam ihr mit einem großen Tablet-PC in den Händen entgegen. Sie wären fast kollidiert, was für die Grafikerin sicherlich böse hätte enden können, wie Alberta fand.

»Kopf hoch«, rief sie der jungen Frau zu, die abrupt stehen blieb.

»Wieso?«

»Wieso?«, wiederholte Alberta verständnislos. »Weil Sie eben fast mit einem Eisberg Bekanntschaft gemacht hätten.«

»Ich?«

»Ja. Sie sind die Titanic, ich bin der Eisberg.«

»Hä?«

»Schon gut. Schönen Tag noch.« Alberta ging weiter und fragte sich, wie jemand Begriffsstutziges wie diese Frau hier einen Job hatte finden können.

Sie klopfte an die Vorzimmertür, öffnete sie so gut wie gleichzeitig und stand im nächsten Moment der überraschten Frau Blindwein gegenüber, die wie erstarrt hinter ihrem Schreibtisch saß, den Telefonhörer ans linke Ohr gedrückt. Alberta ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und baute sich vor ihr auf. Es war kein Geheimnis zwischen ihnen, dass sie sich nicht leiden konnten.

»Ich ruf später zurück«, sagte Frau Blindwein tonlos und legte auf. »Frau Rose. Schön, Sie zu sehen.«

»Ach ja?«, fragte Alberta zynisch. Sie hatte dieses hochnäsige Züngeln von Rudolfs Sekretärin noch nie gemocht. Allerdings, und das musste man ihr lassen, konnte sie ihm jeden ungebetenen Besuch vom Halse halten. Nur heute würde das nicht funktionieren.

»Herr Henns ist nicht mehr im Haus und wird erst nächste Woche…«

»Sparen Sie sich das«, sagte Alberta und lächelte süß wie Honig. Noch während Frau Blindweins Gesichtszüge entgleisten, ging sie einfach weiter durch ins Büro ihres Verlegers.

Rudolf saß entspannt zurückgelehnt in seinem Chefsessel, die Beine übereinandergeschlagen, den Blick aus dem Fenster auf den Hof und über die gegenüberliegenden Dächer gerichtet, und telefonierte gut gelaunt. Das Geräusch der sich öffnenden Tür ließ ihn kurz nach hinten schauen. Als er Alberta auf sich zukommen sah, entglitt ihm der Hörer, und er schnellte in seinem Stuhl nach vorn, dass es ihn fast gegen die Scheibe katapultiert hätte.

»Alberta! Menschenskind, hast du mir einen Schrecken eingejagt!« Er blickte verstört an ihr vorbei ins Vorzimmer, wo die Blindwein entschuldigend mit den Achseln zuckte.

»Ich dachte mir, ich überrasche dich mal«, sagte Alberta und setzte sich.

»Ist dir gelungen.« Er bedeutete Frau Blindwein, dass sie die Tür schließen könne, und horchte dann kontrollierend in sein Telefon. »Hallo?« Er legte den Hörer zurück auf die Station. »Hat wohl schon aufgelegt.«

»Tut mir leid«, meinte Alberta.

»War nicht wichtig. Was führt dich zu mir? Du bist zurück, offensichtlich. Wie war’s denn? Wow, die Zeit verging ja wie im Flug.«

»England ist großartig, und Buxton solltest du mal sehen. Es war die pure Inspiration.«

»Ja, das glaube ich.« Er rieb sich nervös sein fleischiges Ohrläppchen.

»Ich hab sogar schon Zeit gefunden, ein Exposé zu schreiben.« Alberta griff in ihre Tasche, zog ein Bündel DIN-A4-Seiten heraus und legte es mit einem dumpfen Knall auf den Tisch.

Rudolf blickte argwöhnisch und wenig erfreut auf den Blätterstapel. »Tja, also das ist zwar ganz toll, dass du so kreativ warst, aber im Moment ist es mit solchen Stoffen wirklich ganz schwierig bei uns, weißt du?«

»Nein, weiß ich nicht. Woher auch?«

Er warf ihr einen kurzen, ängstlichen Blick zu. Schweißperlen standen ihm auf der Oberlippe.

»Na ja, wir konzentrieren uns normalerweise auf Geschichten, die hier im Inland spielen. Mit England und so weiter, das ist eigentlich nichts für uns.«

»Das ist mit Abstand das Beste, was ich je geschrieben habe beziehungsweise schreiben werde.« Sie deutete auf das Exposé.

»Natürlich, das glaube ich dir aufs Wort, nur können wir damit leider nichts anfangen.«

»Das weißt du, ohne es gelesen zu haben?«

Er lachte verlegen und begrapschte in einer Art Übersprungshandlung einzelne Utensilien auf seinem Schreibtisch. Dann hielt er inne. »Gut, lass mich dir einen Vorschlag machen. Ich lese es mir durch und entscheide dann. Ist das ein Kompromiss? Ist doch fair, oder?«

»Und wenn’s dir nicht deutsch genug ist, fliegt es raus? Ich dachte, du suchst Qualität. Ist mir neu, dass es eine Schauplatzbindung gibt«, sagte Alberta, und eine tiefe Falte kerbte sich in ihren rechten Mundwinkel.

»So darfst du das nicht sehen. Außerdem gibt es doch noch andere Verlage, ich kann dich weiterempfehlen.«

»Ich kann dich auch weiterempfehlen«, ätzte Alberta und rutschte bedrohlich auf ihrem Stuhl nach vorn, »an die Arschlochliga zum Beispiel oder den Wichserverein.«

Rudolf wurde blass. »Alberta, bitte. Bewahre die Fassung.«

»Ich bewahre lieber meinen Stolz«, entgegnete sie schroff und stand auf. Rudolf duckte sich instinktiv. Sie nahm ihr Manuskript vom Tisch.

»Sei doch nicht gleich eingeschnappt, nur weil ich mal ein Buch nicht blind entgegennehme.«

»Du hast fünf meiner Bücher herausgebracht. Alle liefen gut. Du weißt, dass ich was draufhab. Also behandle mich nicht wie ein kleines Kind.«

Sie verließ das Büro, ohne die Tür zu schließen.

»He, Blindschleiche«, rief sie im Vorbeigehen. »Bring ihm einen großen Cognac, den kann er jetzt gebrauchen.«

»-wein, Blindwein«, korrigierte die Sekretärin und setzte sich noch gerader hin, als sie ohnehin schon saß.

»Nee, Cognac, keinen Wein. Bis bald, Blindschleiche.«

***

Philip kam mit einem seligen Lächeln aus einem kleinen exklusiven Laden in Berlin-Mitte und ging schnellen Schrittes weiter in Richtung des italienischen Lebensmittelgeschäfts, in dem er Muscheln bestellt hatte. Er nahm zwei Flaschen guten Weißwein dazu, frische Tomaten und frische Petersilie und machte sich dann auf den Heimweg.

Als er die Haustür aufschloss, vernahm er nichts als Stille. Dabei waren Till und Lina zu Hause, ihre Schuhe und Jacken lagen im Flur herum.

»Hallo-ho!«, rief er, doch eine Antwort blieb aus.

In der Küche stellte er seine Einkaufstüten ab und klopfte dann an Tills Zimmertür, bevor er eintrat. Sein Sohn saß hinter einer auf einem Stativ positionierten Videokamera, die eine mit Playmobilfiguren dargestellte Szene auf seinem Schreibtisch filmte. Daneben lief der Fernseher, vor dem an die hundert DVD-Hüllen verstreut herumlagen.

»Hallo, Till«, grüßte er mit einem unzufriedenen Blick auf den Zustand des Zimmers.

»Hallo, Papa.« Till schaute kurz auf und lächelte höflich.

»Wieso sieht das hier noch so aus? Ich hatte euch gebeten, aufzuräumen.«

»Mach ich gleich, ich bin sofort fertig.«

»Was machst du da eigentlich?«

»Einen Stop-Motion-Film«, antwortete Till.

»Einen… was?«

»Stop Motion, Papa. Ich bewege die Figuren und filme sie dann für einen kurzen Moment. Ich stoppe die Aufnahme, bewege sie wieder und filme weiter. Das muss ich an die zehntausend Mal wiederholen, bevor es aussieht wie ein richtiger Film«, erklärte sein Sohn stolz.

»Ach wie nett. Trotzdem, aufräumen bitte.«

Er zog sich zurück und öffnete die nächste Tür. Lina lag auf ihrem Bett und hielt ihr Handy so nah vor die Augen, dass sie jeden einzelnen Pixel erkennen können musste.

»Hallo, Schatz, was machst du da?«

»Wonach sieht’s denn aus?«, fragte sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

»Keine Ahnung, deshalb frag ich ja.«

»Ich recherchiere etwas für die Schule.«

»Oh, schön. Lügst du mich an?«

»Natürlich«, antwortete sie leichthin und grinste.

»Dachte ich mir. Aufräumen, Alberta kommt bald.«

»Oh nee, ne?«

»Doch, doch, heute ist der große Tag, das wisst ihr schon lange«, sang Philip durchs Haus, während er wieder in die Küche ging, um sich an die Arbeit zu machen. Er hatte alles genau geplant. Vom Ablauf dieses Abends hing eine Menge ab, und er wollte, dass es perfekt war.

Er schälte und zerkleinerte zehn Tomaten und schnitt drei große Zwiebeln, die er zusammen mit vier Knoblauchzehen in eine tiefe Pfanne gab und zum Köcheln brachte. Nach kaum zehn Minuten entwickelte sich der aromatisch süßliche Geruch, der entstand, wenn die Tomaten ihren orangefarbenen Saft abgaben. Sofort lag ein Stück Italien in der Luft. Er wusch die Muscheln und gab sie zu der Tomatensoße. Anschließend hackte er die frische Petersilie klein und öffnete einen der Weißweine, den er in der Gefriertruhe kalt gestellt hatte.

»Was stinkt’n hier so eklig?«, fragte Till, als er in die Küche kam. Er filmte mit seiner Kamera direkt in den Muscheltopf, bis die Linse beschlug. »Scheiße«, schimpfte er und säuberte sie mit seinem T-Shirt.

»Das stinkt nicht, das riecht ganz wunderbar«, korrigierte Philip, der soeben eine weiße Tischdecke auf den Esstisch warf.

»Ansichtssache«, meinte Lina trocken, die gerade ebenfalls hereinkam und sich gelangweilt und scheinbar völlig erschöpft auf einen Esszimmerstuhl fallen ließ.

»Das sind frische sizilianische Muscheln«, erklärte Philip und legte dabei ganz zart Daumen und Zeigefinger aneinander.

»Muscheln? Iiiiih«, sagte Till angewidert.

»Darf man die nicht nur in Monaten mit ›r‹ essen, Papa?« Lina verzog widerwillig das Gesicht. »Sonst vergiften die uns, und wir liegen nachher alle tot im Wohnzimmer.«

»Jetzt hört mir mal zu«, begann Philip und beugte sich eindringlich vor. »Ich möchte, dass ihr mit dem Gemaule aufhört. Das soll heute ein wunderbarer Abend werden, und das Essen wird großartig schmecken. Zu deinem Einwand, liebe Lina: Ja, du hast recht, aber diese Muscheln stammen aus einer Zucht in Sizilien und sind dort nicht der Gefahr ausgesetzt, von Blaualgen befallen zu werden. Also können wir sie auch im Juli genießen. Sonst noch Fragen?«

»Ja, muss deine Freundin dabei sein?«, wollte Lina wissen.

»Schatz, ich habe es dir schon hundertmal erklärt. Alberta und ich werden zusammenziehen. Ich liebe sie, und sie liebt mich…«

»Iiiih«, unterbrach Till seinen Vater und putzte wieder an der Kameralinse herum.

»Ich habe es euch lange freigestellt, Alberta kennenzulernen. Ihr habt euch dagegen entschieden, das akzeptiere ich. Aber irgendwann ist es unvermeidlich für ein gemeinsames Zusammenleben. Mit euch.«

»Ich geh zum Jugendamt. Das kannst du nicht einfach so für uns entscheiden«, murrte Lina.

»Doch, kann ich. Ich bin euer Vater und respektiere eure Wünsche, aber ich bin auch ein Mensch. Ich liebe euch und werde mich um euch kümmern, ganz im Gegensatz zu eurer Mutter, aber ich werde nicht mein Leben lang allein bleiben euretwegen.«

»Aber du hast doch uns«, warf Till ein. »Du bist doch nicht allein.«

»Papa redet von jemandem, mit dem er Sex haben kann.«

»Lina!«, ermahnte Philip seine Tochter.

»Iiiiih«, kam es erneut von Till.

»Schluss jetzt. Habt ihr eure Zimmer aufgeräumt?«

Till richtete die Kamera auf seinen Vater.

»Lass das«, sagte der nervös.

»Ich film das für das Jungenamt.«

»Jugendamt«, berichtigte Lina ihn genervt.

»Ihr macht mich fertig. In einer halben Stunde kommt Alberta. Reißt euch zusammen und versucht wenigstens, nett zu sein.«

»Okay«, sagte Till hinter der Kamera.

Lina schnaufte nur verächtlich.

Als es an der Haustür klingelte, verstreute Philip gerade noch etwas Sand auf dem Tisch. Mit weißen Muscheln und kleinen, blau-weiß gestreiften Rettungsringen hatte er die Tafel maritim dekoriert. Die beiden Kerzen brannten. Der Wein stand kalt, Sekt war bereits eingegossen und prickelte im Glas vor sich hin. Das Essen duftete herrlich. Alles war perfekt. Bis jetzt.

***

Alberta hatte nicht gewusst, ob sie den Kindern etwas mitbringen sollte, und das Für und Wider abgewogen. Schließlich hatte sie sich dafür entschieden, aber nicht gewusst, was sie kaufen sollte. Sie hatte von Philip etwas über Tills Liebe zum Film erfahren und über Linas Hang zu sinnfreiem SMS-Austausch mit ihren Freundinnen. Also hatte sie eine Speicherkarte für Till und eine Prepaidkarte für Lina besorgt. Es erschien ihr irgendwie lieblos, aber was anderes war ihr einfach nicht eingefallen.

Sie musste zugeben, dass sie Herzklopfen hatte, als sie mit ihrer Tasche, gefüllt mit ihren Übernachtungsklamotten, vor der Tür stand.

Was tue ich hier eigentlich? Ich will in einem Haus übernachten, das ich noch nie betreten habe, neben Kindern, die ich noch nie gesehen habe. Bin ich noch ganz bei Trost?

Doch als die Tür sich öffnete und Philip so glücklich, wie man nur sein konnte, vor ihr stand, waren diese Gedanken wie weggewischt. Sie küssten sich, und Philip bat sie herein.

Alberta stellte ihre Tasche im Flur ab und sah sich aufmerksam um.

»Und, gefällt’s dir?«, fragte Philip.

»Schön, ja. Ich mag es. Wo sind die Kinder?«

»In ihren Zimmern, die kommen gleich.«

Alberta schnupperte mit erhobener Nase. »Sag mal, hast du etwa Muscheln gekocht?«

»Natürlich, wir haben etwas zu feiern.«

»Du bist süß.«

Sie wollten sich gerade erneut umarmen, als eine Tür aufsprang und Till herauskam. Mit einem zusammengekniffenen Auge und einem offenen, das in den Sucher seiner Videocam schaute.

»Das ist Till«, stellte Philip ihn vor.

»Du bist also der Filmfreak«, sagte Alberta und reichte ihm die Hand. Unsicher tastete Till in der Luft herum, bis er sie endlich zu fassen bekam.

»Ja, ich werde mal Regisseur, so wie Steven Spielberg.«

»Verstehe«, entgegnete Alberta freundlich und schaute nach hinten in den Flur, wo sich eine zweite Tür öffnete und Lina erschien. Sie tat zunächst so, als wüsste sie überhaupt nicht, dass Alberta schon da war, doch als sie ihr einen Seitenblick zuwarf, vergaß sie ihre vorgegebene Gleichgültigkeit und blieb wie angewurzelt stehen.

»Mann, ist die fett«, staunte sie laut.

»Lina!«, schrie Philip entsetzt, doch Alberta streckte nur beruhigend die Hand aus.

»Lass nur. Sie hat ja recht. Ich bin fett. Hallo, Lina.«

Das Mädchen musterte sie abschätzig von oben bis unten. »Hallo«, sagte sie reserviert und setzte sich an den Tisch.

Ihr Vater ging zu ihr hinüber und flüsterte ihr mit Nachdruck etwas ins Ohr.

»Ja, ja«, sagte sie nur und klebte ihren Kaugummi auf den Tellerrand.

»Wegschmeißen, sofort!«, befahl Philip.

Entnervt stand Lina auf und entsorgte ihren Kaugummi in der Küche. Till filmte kurz den Tisch und schwenkte dann gleich wieder auf Alberta, die sich neben ihn setzte.

»Na, für mich brauchst du ein neues Weitwinkelobjektiv, was?«

Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, und er ließ seine Kamera sinken. Fasziniert schaute er sie an.

»Ich dachte, wir starten erst mal mit einem Glas Sekt«, sagte Philip und reichte ihr eine Flöte. »Prost, Alberta, wir freuen uns, dass du da bist.«

»Ja, aber nur du«, murmelte Lina. Philip wollte etwas erwidern, doch Alberta kam ihm zuvor.

»Ich freue mich auch, hier zu sein und dich, lieber Till, und dich, liebe Lina, kennenzulernen. Ihr seid die hübschesten und nettesten Kinder, die ich je getroffen habe. Euer Vater muss ja so stolz auf euch sein.«

Die beiden sahen sie an, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber sie waren still.

»Prost, ihr zwei.« Alberta hob ihr Glas, setzte es an und trank es auf ex aus.

Till und Lina kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, und ihr Vater schloss sich ihnen nun anscheinend an.

»Ich hab euch übrigens was mitgebracht«, meinte Alberta und kramte aus ihrer Tasche die zwei Geschenkumschläge heraus. »Till, das ist für dich, und dieser hier ist für dich, liebe Lina.«

»Wollen Sie sich jetzt mit Geschenken bei uns einschleimen?«, fuhr Lina auf.

»Wenn’s hilft«, sagte Alberta und grinste.

Philip goss Alberta Sekt nach. Er hob erneut sein Glas, um mit ihr anzustoßen. Klirrend stießen sie die Sektflöten aneinander, während die Kinder ihre Mitbringsel auspackten.

»Wow, cool!«, rief Till. »Zweiunddreißig Gigabyte. Wie geil ist das denn?«

»Ist die richtig?«, fragte Alberta.

»Richtig? Die ist der Hammer. Danke.« Er staunte den kleinen Chip begeistert an.

Lina drehte ihre Prepaidkarte unschlüssig in der Hand.

»Und, kannst du die gebrauchen?«, erkundigte sich Alberta.

»Mmmh.«

»Ist sie falsch? Ich kenn mich da nicht so aus.«

»Glaub ja nicht, dass ich dich deshalb besser leiden kann, nur weil du mir ’ne beschissene Telefonkarte schenkst.«

»Du musst sie nicht annehmen. Ich kann sie wieder einpacken.« Alberta streckte die Hand aus, doch Lina zuckte zurück.

»Nee, nee. Geschenkt ist geschenkt.«

Philip, der unterdessen in die Küche geeilt war, kam mit drei Tellern zurück, die er auf dem Unterarm balancierte wie ein echter Kellner. »So, hier kommt auch schon das Essen«, verkündete er feierlich.

Till richtete seine Kamera auf die Muscheln und versuchte, die Kameralinse scharf zu stellen.

»Was is’n das für’n grünes Zeug dadrauf?«

»Das ist frische Petersilie.«

»Iiiiih, das will ich nicht.«

»Soll ich dir das runternehmen?«, fragte Alberta.

»Ja«, antwortete Till, und Alberta verfrachtete Tills Petersilie auf ihren eigenen Teller.

»Leg endlich die Kamera weg«, meinte Philip.

»Du solltest vielleicht nicht auch noch Tills Portion essen«, meinte Lina mit einem mahnenden Blick auf Albertas Bauch.

»Lina, gleich gibt’s mächtig Ärger zwischen uns. Dann kannst du mal sehen, wie du eine Woche ohne dein blödes Handy auskommst«, zischte Philip.

»Philip, ganz ruhig. Lina muss erst mal ein bisschen austeilen, das ist doch ganz normal«, wehrte Alberta ab und ergänzte an Lina gewandt: »Liebe Lina, wenn ich möchte, esse ich den ganzen Topf Muscheln allein auf und bestelle mir hinterher mit deinem Handy noch eine schöne, große Familienpizza beim Bringdienst.« Sie zwinkerte dem Mädchen zu und widmete sich ihrem Essen.

»Na dann, guten Appetit«, sagte Philip desillusioniert.

»Mmmh, lecker. Ich liebe Muscheln«, schwärmte Alberta.

Lina klopfte mit ihrer Gabel auf dem Gehäuse der Muscheln herum. »Wie soll man denn das essen?«

»Ich zeig’s dir«, sagte Philip und demonstrierte es auf seinem Teller. »Entweder klappst du die Schale mit Messer und Gabel auf, siehst du, so. Oder was ihr auch machen könnt, ist, eine leere Muschelschale wie eine Zange zu benutzen.«

»Wir sollen mit den Händen essen?«, fragte Lina.

»Macht ihr doch sonst auch immer.«

Mit angewidert verzogenen Lippen versuchten sich beide Kinder zunächst an der Gabel- und dann an der Zangentechnik. Lina zog als Erste erfolgreich ein Stück Muschelfleisch heraus.

»Gut gemacht«, lobte ihr Vater.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Das ist das Fleisch, das musst du essen.«

»Das sieht aus, als ob da ’ne Möwe reingekackt hätte.«

Till musste laut auflachen.

»Reißt euch zusammen«, warnte Philip.

Alberta aß genüsslich ein weiteres Stück Muschelfleisch und schloss dabei die Augen. »Das schmeckt einmalig.«

»Die isst ja auch alles.«

Lina drehte und wendete das Muschelinnere. Dann wackelte sie damit. Till musste wieder lachen.

»Das ess ich nicht«, stellte Lina abschließend fest und schob Alberta ihren Teller rüber. »Hier, kannst du auch noch in dich reinschaufeln.«

Philip saß stocksteif auf seinem Stuhl und fixierte seine Tochter mit vor Wut geröteten Augen.

Till probierte in der Zeit klammheimlich seine Muschel.

»Und?«, fragte Alberta neugierig. Sie hatte kein Anzeichen von Ekel auf seinem Gesicht erkennen können.

»Mag ich nicht.«

»Du lügst«, sagte Alberta.

»Nein, wirklich, ich mag’s nicht«, widersprach Till, aber er musste dabei grinsen.

»Dann lass stehen«, sagte Alberta gutmütig.

Sie und Philip aßen die Portionen der Kinder auf, während Lina und Till sich Sandwiches mit Toast und Salat machen durften. Philip öffnete eine Flasche Weißwein. Als er einschenkte, zitterten seine Hände. Alberta fiel das sofort ins Auge.

»Reg dich nicht so auf, Philip. Die beiden müssen so reagieren.«

Er nickte nur und setzte sich wieder auf seinen Platz. Sie prosteten sich zu. Alberta nippte und musste das Glas wegen seiner engen Öffnung recht hoch heben. Da klirrte es, und am Stiel schien sich etwas zu lösen. Sie ließ ihre Hand sinken und warf einen Blick darauf, so wie Lina, Till und Philip auch. Bei Philip meinte sie, sogar ein wenig Angst in seinen Augen erkennen zu können.

Am Stiel des Weinglases hing ein goldener Ring. Er war ihr bis dahin nicht aufgefallen, weil der Fuß und der Kelch des Glases goldgerändert waren. Doch es war tatsächlich ein Ring. Ein Ring. Ein Ring? Albertas Verstand arbeitete verzögert. Ihr Herz begann zu galoppieren. Sie blickte zu Philip und wusste Bescheid. Sie rang nach Atem.

Philip stand auf. Die Augen seiner Kinder folgten ihm zunächst verwundert und dann mit wachsendem Entsetzen.

»Oh nein«, hauchte Lina. »Das macht er jetzt nicht.«

Aber sie hatte sich getäuscht. Philip kniete neben Alberta nieder. Er wirkte geradezu winzig neben ihrem massigen Körper, jetzt, wo sie ihn noch dazu um zwei Köpfe überragte. Er nahm ihre Hand. Geistesgegenwärtig griff Till zur Kamera und hielt drauf.

»Liebe Alberta«, begann Philip. Seine Stimme zitterte. »Wir sind uns seit Jahren immer mal wieder im Verlag begegnet, wenn es darum ging, dass ich deine Cover entwerfen sollte. Jedes Mal, wenn ich dich sah, war das ein Erlebnis, das mir für den Rest des Tages nicht mehr aus dem Kopf ging.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Lina trocken.

Philip ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

»Und dann, an diesem einen besonderen Tag, sprachen wir über dein Buch, als wir vor dem Fahrstuhl warteten. Das war der Anfang unserer Liebe. Ich hab es in der zweiten Etage bereits gewusst. Nun siehst du mich hier auf Knien, und ich…« Seine Stimme brach, er räusperte sich. Es war mucksmäuschenstill im Raum. »Ich möchte dich fragen: Willst du meine Frau werden?«

Linas Augen und Tills Linse wanderten zu der designierten Braut. Alberta schluckte, legte ihre andere Hand auf die von Philip und antwortete: »Natürlich will ich das, und wie ich das will.«

Sie riss Philip an sich, und die beiden fielen sich in die Arme.

»Ach du Scheiße«, sagte Lina. »Das hat ja noch gefehlt.«

»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Philip halb erstickt.

»Bitte?«, rief Lina entsetzt, und Alberta ließ ihn los.

»Ich habe noch eine kleine Überraschung.« Philip deutete auf den Tisch. »Ja, also, diese Dekoration, das Essen, das ist alles kein Zufall, sondern soll uns ein wenig einstimmen auf etwas.«

»Ja?«, sagte Alberta. Sie ahnte nichts.

»Nun, ich bin insgeheim davon ausgegangen, dass du Ja sagen würdest. Und ich habe daher eine kleine Reise für uns gebucht.« Er zog ein Bild aus seiner Tasche. Dort war vor blauem Meer an einem weißen Strand ein kleines, futuristisch wirkendes Haus auf einem Standfuß zu erkennen. Es sah aus wie ein Raumschiff. »Das ist der Rettungsturm von Binz auf Rügen. Er liegt direkt am Strand, wie du siehst. Und da ich weiß, wie sehr du das Meer liebst, dachte ich, dass wir vielleicht dort heiraten könnten.«

»Wirklich?«, fragte Alberta.

»Würdest du dich darüber freuen?«

»Natürlich, das wäre wunderschön!«

»Gut, ich habe nämlich schon alles arrangiert. In zwei Tagen geht’s los. Und in drei Tagen ist unsere Hochzeit.«

Alberta sprang auf und umarmte Philip erneut.

»Hallo? Fragt uns vielleicht auch mal jemand?«, warf Lina ein.

»Ja«, sagte Alberta. »Freut ihr euch?«

»Nein, zum Teufel«, mokierte sich Lina. »Till, sag doch auch mal was.«

Till spähte hinter seiner Kamera hervor.

»Ich… äh, ich weiß nicht. Ist das nicht ein bisschen überstürzt?«

Philip und Alberta lachten.

»Nein, Till«, sagte sein Vater, »es ist perfekt. Wir fahren nach Binz.«

»Ja, aber ohne uns«, stellte Lina fest.

»Ihr werdet mitkommen, Schluss, aus.«

»Auf keinen, never ever«, sagte Lina.

»Till, du hast doch bestimmt Lust auf einen Urlaub an der Ostsee, oder?«, fragte Alberta.

Der Junge lächelte. Die Idee schien ihm zu gefallen.

»Da gibt’s sicher tolle Orte, die du filmen kannst«, ergänzte sie, und Till schien immer begeisterter.

»Till bleibt hier.« Lina verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Kriegserklärung. Sie würde um Till kämpfen.

»Das kann er doch wohl selbst entscheiden«, sagte Alberta milde. »Kommst du mit, Till?«

»Ich… ich finde, es sieht ganz schön aus«, sagte er kleinlaut mit einem Blick auf das Foto.

»Quatsch, du bleibst hier und drehst deinen komischen Legoporno zu Ende.«

»Das ist kein Porno!«, rief er beleidigt.

»Ja, ja.« Lina winkte ab. »Aber du könntest endlich fertig werden.«

»Kinder«, unterbrach Philip die beiden, »ihr habt leider keine Wahl. Ihr kommt mit. Und das Wort Porno will ich hier nicht noch mal hören, verstanden, Lina?«

Genervt rollte sie mit den Augen.

»Eins musst du mir noch erklären«, sagte Alberta und hob ihr Weinglas. »Wie hast du den Ring dadran bekommen?«

»Das ist ein Geheimnis«, antwortete Philip, und seine Gesichtszüge entspannten sich wieder. »Gefällt er dir?«

»Er ist einmalig schön. Aber wie kriege ich ihn runter?«

»Da gibt’s nur eins.« Philip deutete an, dass sie den Stiel zerbrechen musste.

Alberta trank aus und nahm Kelch und Fuß in beide Hände. Für ihre voluminöse Figur hatte sie recht zarte, schmale Finger. Mit einem Ruck brach sie den Stiel entzwei, und der Ring rutschte auf die weiße Tischdecke. Till filmte eifrig.

»Anstecken kann ich ihn dir erst in drei Tagen«, sagte Philip.

»Wenn du ihn überhaupt draufkriegst«, meinte Lina gehässig.

Doch ihr Kommentar verpuffte angesichts des tranceähnlichen Zustands, in dem sich das verliebte Paar befand. Philip und Alberta hatten nur noch Augen füreinander und für den Ring, der alles verändern sollte.

Ich welcher Weise, ahnten die beiden noch nicht. Aber die Ereignisse sollten nicht lange auf sich warten lassen.

3

Der Zug passierte die Brücke vom Festland nach Rügen. Sie saßen nun zu viert in einem Großraumabteil an einem Tisch und spielten Mensch ärgere dich nicht. Hin und wieder blickten sie hinaus auf die Landschaft und das Meer, wenn es zu erkennen war.

Alberta würfelte eine Sechs. Sie ging die entsprechenden Felder vor und würfelte erneut. Eine Fünf.

»Eins, zwo, drei, vier, fünf– und schon hab ich die erste Figur im Haus«, sagte sie erfreut. Till staunte. Lina saß gelangweilt da, den Kopf auf eine Faust gestützt, und schielte immer wieder auf ihr Handy, ob nicht eine SMS angekommen war.

»Toll, die is schon zu Haus, und ich bin noch nicht mal rausgekommen«, beschwerte sie sich und würfelte lustlos. Eine Eins. Dann eine Drei. Und beim dritten Mal wieder eine Eins. Sie klatschte ihre Hand auf den Tisch. »Das gibt’s doch nicht. Scheißspiel, ich hab keinen Bock mehr.«

»Wie heißt das Spiel noch gleich?«, fragte Philip, und Till musste grinsen.

»Na komm, du darfst ausnahmsweise mit zwei Würfeln würfeln«, entschied Alberta. Das schien wieder etwas Hoffnung in Lina auflodern zu lassen. Sie nahm sich einen zweiten Würfel. Ihre Augen glänzten schon ein wenig vor Vorfreude. Zwei Einsen.

»Das gibt’s doch nicht«, fluchte sie erneut und wischte ihre Figuren vom Tisch. »Ich mach nicht mehr mit.«

Es knackte laut, und alle schauten auf den schwarzen Schuh eines Mannes, der auf die Figuren getreten war. Er hob seinen Fuß und gab den Blick auf zwei zersplitterte und zwei heile Figuren frei. »Entschuldigung, das wollte ich nicht«, sagte er bedauernd. Es war der Schaffner.

»Ist ja nicht Ihre Schuld«, meinte Philip. »Meine Tochter meinte, die Figuren runterschmeißen zu müssen.«

»Meine Tochter, bäbä-bäbä-bäh!«, äffte Lina ihn nach.

»Ja, wenn du dich benehmen könntest, wäre das nicht passiert.«

»Und wenn du nicht die dicke Tonne heiraten würdest, auch nicht«, gab sie zurück.

Mit einer schnellen Handbewegung schnappte sich Philip ihr Handy und hielt es hoch. »So, das ist jetzt eingesackt. Für mindestens drei Tage, meine Liebe«, fuhr er sie an.

»Das ist meins«, protestierte sie.

»Wer hat’s bezahlt?«

Beleidigt wandte sie sich ab.

»Wenn ich eben noch Ihre Karten kontrollieren dürfte«, brachte sich der Schaffner wieder in Erinnerung.

»Natürlich«, sagte Philip und suchte die Papiere.

»Aha, die Reise geht ins schöne Binz«, sagte der Schaffner und entwertete die Karten.

»Wundern Sie sich bitte nicht, dass wir nur vier Personen sind, aber fünf Plätze gebucht haben. Papas Freundin passt nicht auf einen einzelnen Sitz«, sagte Lina zu dem Bahnmitarbeiter und fügte säuerlich an: »Das war ein Scherz.«

Der Kontrolleur blickte irritiert zu Alberta, die das aber mit Fassung trug und ihm aufmunternd zuzwinkerte. »Wir machen untereinander immer solche Scherze«, sagte sie gelassen.

»Könnten Sie vielleicht die Feuerwehr rufen, wenn wir ankommen, damit sie die Frau aus dem Tisch rausschneiden kann?«

Alberta lachte auf. »Sehen Sie?«

Philip wandte sich an den Schaffner. »Wir werden in Binz heiraten«, sagte er nicht ohne Stolz, aber vor allem, um von seiner ungezogenen Tochter abzulenken.

Der Schaffner blickte finster zu Lina.

»Na, dann viel Glück.«

Als sie am Binzer Bahnhof aus der kleinen Halle hinaus ins Sonnenlicht traten und die Teleskopgriffe ihrer Rollkoffer auszogen, hielt Lina sofort auf eins der wartenden Taxis zu.

»Nein, nein, wir gehen zu Fuß«, sagte Philip. »Es ist nicht weit. Wir müssen hier immer geradeaus.« Er deutete auf einen Weg, der mit einem leichten Anstieg in ein Wohnviertel führte.

»Na super.« Lina ging ums Taxi herum und zog ihren Koffer polternd hinter sich her.

Jeder Koffer gab ein anderes Rollgeräusch von sich und vereinte sich mit denen der anderen zu einem kleinen Konzert, das so klang, als führe ein kleiner Panzer durch die Hotel- und Apartmentblocks.

An der zweiten Querstraße hielt Till an. »Ich kann nicht mehr.«

»Ach, Till, gleich haben wir’s geschafft. Wir wohnen direkt an der Promenade. Ist nicht mehr weit.«

»Ich kann aber nicht mehr, mein Koffer ist so schwer«, jammerte Till. Auch den anderen stand schon der Schweiß auf der Stirn.

»Vielleicht hättest du nicht alle deine Kameras und Akkus mitschleppen sollen. Es sind ja kaum Klamotten im Koffer.«

»Komm, ich nehm ihn«, bot Alberta an. Sie griff nach Tills Koffer und ging auf die Straße, weil auf dem schmalen Fußweg zu wenig Platz war, um beide Koffer hinter sich herzuziehen.

»Jetzt kommen die Autos nicht mehr vorbei«, stichelte Lina.

»Soll ich deinen Koffer auch nehmen?«, fragte Alberta.

Lina wirkte überrascht, überlegte aber nicht lange. Wenn Alberta es ihr schon anbot, warum sollte sie sich dann noch damit abschleppen?

»Ja«, sagte sie und reichte ihr den Griff.

»Reingelegt!«, rief Alberta und ging lachend weiter. Beleidigt schob Lina ihre Augenbrauen zusammen und die Unterlippe nach vorn.

Ihr Vater grinste, als er an ihr vorbeiging. »Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus«, säuselte er.

»Mann!«, rief Lina laut und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich wollte nie mitkommen in dieses verschissene Kaff.« Ihr Blick fiel auf einen Balkon, auf dem eine ältere, braun gebrannte Frau ihre Blumen goss. Sie trug ein T-Shirt mit der Aufschrift »I Binz!«. Eiskalt blickte sie Lina an, die daraufhin ihren Rollkoffer nahm und schnell dem Rest der Familie folgte.

Je näher sie dem Meer kamen, desto größer wurden die Hotels, bis schlussendlich in der letzten Reihe vor der Promenade die zumeist weißen, in der alten Bäderarchitektur gebauten Häuser standen.

Philip blickte sich suchend um, während sich Till und Lina erschöpft auf ihre Koffer setzten und Alberta durch die Kiefern hindurch auf das Meer spähte.

»Seht mal, da ist schon der Strand.«

Die Kinder reagierten nicht.

»Hotel ›Marie Luise‹, hier ist es!«, rief Philip und winkte die anderen zu sich.

»Hoffentlich gibt’s da was Kaltes zu trinken«, murmelte Lina, und sie trotteten hinter ihrem Vater her bis in die Hotelhalle.

»Mein Name ist Philip Reimers, ich hatte zwei Zimmer reserviert«, beschied Philip den Mann an der Rezeption. Der sah im Computer nach.

»Reimers… da haben wir’s ja. Das wäre einmal der ›Strandstern‹ mit Doppelbett und dann die ›Perlentaucher-Suite‹ mit Kingsize-Bett«, sagte er und warf über den Rand seiner auf der Nasenspitze sitzenden Brille hinweg einen Blick auf Alberta.

»Da brauch man nicht lange raten, für wen das ist«, meinte Lina.

»Noch eine solche Bemerkung und ich schicke dich in das hässlichste Zimmer des Hotels irgendwo im Keller neben dem Heizungsraum«, sagte Philip mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme.

Der Rezeptionist hüstelte in seine Faust.

»Solche Zimmer gibt es bei uns nicht.«

»Ich hab ’ne bessere Idee. Wir können ja Männer- und Frauenzimmer machen«, schlug Alberta freudestrahlend vor. »Dann schlafen Lina und ich zusammen in einem Bett und du und Till.«

»Nä, niemals!« Lina schüttelte sich. »Das geb ich mir nicht. Ich sag auch nichts mehr, ich will nur ’ne kalte Cola.«

»Minibar ist auf dem Zimmer«, informierte sie der Mann.

»Du trinkst nichts aus der Minibar, junge Dame«, warnte Philip sie und unterschrieb die Anmeldung.

»Spießer.«

»Das hab ich gehört.«

»Solltest du auch.«

»Dann wünsche ich einen schönen Aufenthalt«, flötete der Rezeptionist, doch sein zerbrechliches Lächeln verriet, dass er das kaum für möglich hielt.

»Schade, Lina, wir hätten sicherlich viel Spaß gehabt«, raunte Alberta dem Mädchen auf dem Weg zum Fahrstuhl zu.

»Ja, ja, irre komisch«, gab Lina zurück.

Die Fahrstuhltür öffnete sich, und Lina ging als Erste hinein. Sie warf einen Blick auf die Knopfleiste und drückte die dritte Etage.

»Der Fahrstuhl ist nur bis dreihundertzwanzig Kilo belastbar, da muss wohl jemand zu Fuß gehen.« Sie grinste Alberta herausfordernd an. Die machte sofort einen Schritt in den Aufzug hinein und lehnte sich lässig an die Rückwand.

»Ja, mal gucken, wer der Hasenfuß ist.«

»Ich halt das bald nicht mehr aus«, sagte Philip kopfschüttelnd und trat ebenfalls in den Lift.

»Zweihundertneunzig Kilo…«, zählte Alberta mit.

Es wurde mit den Koffern tatsächlich schon ziemlich eng im Fahrstuhl, und sie rückte etwas näher an Lina heran. Jetzt folgte noch Tim.

»Dreihundertachtzehn Kilo…«

Tim zog seinen Koffer über die Schwelle.

»Dreihundertdreißig. Zehn Kilo Übergewicht.« Alberta blickte Lina mit hüpfenden Augenbrauen an. Die war sich augenscheinlich nicht ganz sicher, wie hoch sie Albertas Gewicht einschätzen sollte und inwieweit die Rechnung tatsächlich zutraf. »Na, wer traut sich, und wer ist der Hasenfuß?«

»Stürzen wir jetzt ab, Papa?«, fragte Till.

»Nein, Alberta macht nur Spaß.«

»Dicke verstehen keinen Spaß«, sagte Alberta ernst.

»Ich glaub, ich will wieder raus«, sagte Till mit dünner Stimme.

»Ach, sei mal nicht so ängstlich, Till«, sagte Alberta, und die Türen schlossen sich.

Alle vier kamen sicher in der dritten Etage an, verließen den Lift und steuerten auf ihre Zimmer zu. Im Gang stand eine Putzfrau an ihrem Wagen und steckte gerade ein Tuch auf den Wischer.

»Oh Gott, jetzt sind wir ja bei den Ossis, ich kann dieses Sächseln nicht ausstehen«, sagte Lina leise, doch die Putzfrau hatte es gehört.

»Bei uns schnackt man Meckelbor-Platt, meine Liebe. Dat is nich die Elbaue, die du da draußen siehst, sondern die Ostsee.«

»Ist mir schon klar«, erwiderte Lina etwas verdattert.

»Na, dat is ja man ’ne hübsche Krabbe«, sagte die Putzfrau zu Alberta und Philip. »Ganz schön scharfe Scheren, was?«

Die beiden mussten lachen, und Lina ging schnell weiter, um nicht mehr mit der Frau reden zu müssen.

Philip schloss den Kindern das Strandstern-Zimmer auf, und sie betraten alle vier den hellen, mit Ahornlaminat ausgelegten Raum.

»Cool, da hängt ja’n Fernseher!«, rief Till begeistert. »Wow, ein Flachbildschirm, nur für uns.« Er ließ seinen Koffer fallen und griff sich die Fernbedienung von dem kleinen Tischchen.

»Till, lass den Fernseher jetzt erst mal aus, ja?« Philip strubbelte ihm durch die Haare und ging zum Fenster. »Ah, seht mal. Meerblick. Ist das nicht toll?«

Weil ihm keines seiner Kinder antwortete, drehte er sich um. Lina war verschwunden, und Till zappte sich durch die Programme. Alberta lächelte ihren zukünftigen Mann an.

»In dieser Familie führt man öfter mal Selbstgespräche«, murmelte Philip. »Till, was hatte ich gerade gesagt?«

»Aber guck doch mal, wie viele Programme die hier haben. Voll krass, Papa.«

»Ja, sehr krass. Ausmachen.«

Enttäuscht schaltete Till ab. Sein Vater zeigte ihm, wo er seine Sachen unterbringen konnte, und klopfte dann an die Badezimmertür. »In einer halben Stunde holen wir euch wieder ab. Dann gehen wir uns den Ort anschauen«, informierte er Lina, die sich im Bad eingeschlossen hatte.

Alberta und Philip begaben sich nach nebenan in ihre Perlentaucher-Suite, ein hübsches Apartment mit Schlaf- und Wohnzimmer, Balkon und Seeblick. Beide mochten es. Sie packten ihre Koffer aus, verstauten ihre Kleider in den Schränken und machten sich frisch.

Während Philip unter der Dusche »Isn’t She Lovely« von Stevie Wonder pfiff, entdeckte Alberta in ihren Jeans die Visitenkarte des Mannes, der sie vorgestern auf dem Schiff angesprochen hatte. Als sie die Nummer wählte, um ihm der Höflichkeit halber zu sagen, dass aus ihrem Treffen nichts wurde, sprang nur der Anrufbeantworter an, und sie hinterließ eine kurze Nachricht, dass sie bis nächste Woche nicht zu erreichen sei.

Frisch geduscht und umgezogen klopften sie dann wieder bei den Kindern an. Lina kam eben erst aus dem Badezimmer, und Till saß noch genauso auf dem Bett wie vor einer halben Stunde und schaute »Stirb langsam«, Teil3.

»Was soll ich dazu noch sagen?«, meinte Philip und schüttelte den Kopf.

Alberta legte ihm begütigend die Hand auf den Arm. Sie wurde, auch wenn sie hier offensichtlich unerwünscht war, peu à peu immer mehr zu einem Teil der Familie. Zumindest empfand sie es so, womit sie, wenn man die anderen Anwesenden gefragt hätte, allein dastand, aber irgendwie war diese Konstellation ein funktionierendes System. Sie bezweifelte, dass sie es länger als ein paar Wochen aushalten würde, aber immerhin, es war ein System.

Sie mochte die beiden Kinder. Den verträumten Till, der so ganz in seiner eigenen Welt lebte. Und die aggressive, abweisende Lina, die so unglaublich stur war, aber auch verdammt intelligent für ihr Alter. Soeben warf Lina ihr einen vernichtenden Blick zu, der nichts anderes sagte als: Mein Gott, siehst du scheiße aus in deinen Übergrößenklamotten.

»Großer Gott, so lass ich mich nicht da draußen mit euch sehen. Die werden uns alle auslachen«, sagte Lina.

Wow, ich war ziemlich nah dran, dachte Alberta beeindruckt.

»Ist dir eigentlich schon mal in den Sinn gekommen, wie verletzend das für Alberta sein muss, wenn du so redest?« Philip baute sich vor ihr auf und stemmte die Fäuste in die Hüften.

»Na und, ist doch die Wahrheit. Verletzt mich ja auch.«

»Was verletzt dich?«, wollte Philip wissen.

»Na, guck sie dir doch mal an.«

»Und? Ich sehe eine tolle, attraktive Frau«, stellte Philip fest.

»Du bist ja auch nicht mehr zurechnungsfähig.«

»Ach, jetzt geht’s also auch noch gegen mich?«

»Sicher, du hast sie doch angeschleppt.«

»Lina, ich weiß nicht…«

»Äh, Leute?«, unterbrach Alberta die beiden. »Ist ja wirklich reizend, eure kleine Familiendiskussion, aber ich möchte jetzt los. Ich hab einen Mordshunger.«

»Na super, und wieder geht’s ums Essen.« Lina warf theatralisch ihre Hände in die Luft und ließ sie auf die Oberschenkel fallen.

»Hunger hab ich auch«, sagte Till, ohne seine Augen vom Bildschirm zu nehmen. »Können wir was bestellen, dann kann ich den Film zu Ende gucken.«

Philip nahm die Fernbedienung und schaltete das Gerät ab.

»Wir gehen essen. Und ich will nichts mehr von euch hören, kapiert? Ihr benehmt euch dermaßen schlecht, dass ich mich für euch schämen muss.«

Mit gesenktem Kopf verließ er das Zimmer.

Das Restaurant, das sie sich ausgesucht hatten, lag in einer kleinen Seitenstraße. Auf Wunsch der Kinder sollte es ein Italiener sein, aber morgen, nach der Hochzeit, würden Alberta und Philip entscheiden, wo sie aßen. Es roch durchdringend nach Knoblauch und Pizza, als sie das kleine Lokal betraten. Die Tische draußen waren alle belegt gewesen. Sie nahmen an einem runden Tisch in einer Ecke Platz und studierten die Speisekarte, bis der Kellner freudestrahlend und mit ausgebreiteten Armen zu ihnen kam.

»Buona sera, la famiglia! Wasse für wunder’übsche Bambini.« Er kniff Till, der nur irritiert blinzeln konnte, in die Wange. Lina rutschte auf ihrem Stuhl alarmiert ein Stück zurück. »E la figlia, come bella.«

Er wollte Lina über die Wange streicheln, doch sie wich ihm aus.

»Ah, isse ein ganze scheues Reh, è? Machte nix. E Mama, que bella donna!«

»Ke fette Donna«, murrte Lina, und dem Kellner gingen fast die Augen über.

»Wasse hast du gesagte? So wasse sagte man nischt. Deine Mama iste ein tolle Frau.«

»Sie ist nicht meine Mutter.«

»Oh.« Er stutzte und überdachte noch mal die Familiensituation, machte dann aber unbeeindruckt weiter. »Eine Frau musse rund sein, junge Dame, iste nicht schön, wenn nur in jeder Ecke eine Knochen iste. Dasse klappert immer so, è?« Er zwinkerte ihr zu und nahm gleichzeitig Alberta in den Arm. »Schöne Frau, wasse kann isch Ihnen bringen?«

»Sie haben mir schon so viel Nettes gesagt, ich bin ja wunschlos glücklich«, flirtete Alberta mit dem Italiener.

»Ah, so gehte auch nischt. Sonst iste Beleidigung füre unsere Koche. Wir aben Bistecca, dasse zergehte auf der Zunge. Pasta, selbst gemachte, hier iste alles frische, è? Und naturlisch auche Pizza per le Bambini. Wasse wolle Sie nehme?«

»Eine große Pizza mit extra viel Sardellen«, sagte Lina tonlos. »Und ’ne Cola.«

Der Kellner notierte das auf seinem Block.

»Ich eine Calzone«, sagte Till. »Und ’ne Schprite.«

»Gut«, sagte Alberta, »dann nehme ich eine große«, sie beugte sich demonstrativ zu Lina rüber, »Pizza Gino.«

»Gute Wahle, ische bin Gino«, sagte der Kellner grinsend und wandte sich an Philip. »E Papa?«

»Ich nehme das Saltimbocca und einen halben Liter vom Hauswein für uns beide.«

»Perfetto, grazie.« Eiligen Schrittes lief Gino in die Küche und schrie die ganze Bestellung dem Koch entgegen. Es schien so etwas wie ein Streit zu entstehen, an dessen Ende aber beide schallend lachten und sich gegenseitig auf die Schulter klopften.