Die ersten zwei Insel-Krimis um Nils Petersen: »Inselblut« und »Inselgrab« (2in1-Bundle) - Bent Ohle - E-Book

Die ersten zwei Insel-Krimis um Nils Petersen: »Inselblut« und »Inselgrab« (2in1-Bundle) E-Book

Bent Ohle

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Beschreibung

Band 1 und 2 der Insel-Krimi-Reihe im Bundle Inselblut: Auftakt der Amrum-Krimireihe mit Inselpolizist Nils Petersen. Eine Frau verschwindet spurlos am nächtlichen Strand von Amrum. Die Kriminalpolizei glaubt an einen Badeunfall, doch Inselpolizist Nils Petersen lässt der Fall keine Ruhe. Auf der Suche nach der Vermissten gerät er immer tiefer in den Strudel seiner eigenen Vergangenheit und stößt schließlich auf ein düsteres Geheimnis, das nicht nur ihn zutiefst erschüttert. Inselblut ist ein fesselnder Kriminalroman von Bent Ohle, der gekonnt Spannung und emotionale Tiefe verbindet und bis zur letzten Seite in Atem hält. Er wurde unter dem Titel Tod auf der Insel für das ZDF verfilmt.Inselgrab - Ein blutrünstiger Serienmörder verbreitet Angst und Schrecken auf den nordfriesischen Inseln Föhr, Amrum und Sylt. Die mysteriöse Mordserie bringt den Amrumer Polizisten Nils Petersen und Kommissarin Sandra Keller vom Festland wieder zusammen. Gemeinsam verfolgen sie eine grausame Spur über die Inseln – bis in Nils ein furchtbarer Verdacht zu keimen beginnt. Denn die Wahrheit ist noch viel verstörender, als er es für möglich gehalten hätte. Während Sandra und ihr Team fieberhaft nach dem Täter suchen, der scheinbar wahllos zuschlägt, enthüllt sich nach und nach eine tragische Familiengeschichte. Hat Sandra mehr mit den Morden zu tun, als sie ahnt? Und was verbindet sie mit dem unheimlichen Mädchen, das der Mörder verschont hat? In einem nervenaufreibenden Showdown am Wattenmeer müssen Nils und Sandra nicht nur den Täter überwältigen, sondern sich auch ihren eigenen Dämonen stellen. Inselgrab ist ein fesselnder Psychothriller vor der atmosphärischen Kulisse der Nordseeinseln, der bis zur letzten Seite in Atem hält.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© 2025 Emons Verlag GmbHAlle Rechte vorbehaltenUmschlagmotiv: photocase.de/lichtsichtUmschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: Bookwire GmbHISBN 978-3-86358-232-6Küsten KrimiOriginalausgabe                Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Bent Ohle, geboren 1973, studierte Dramaturgie und Drehbuch an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg. Für seine veröffentlichten Kurzgeschichten und Romane ist er mit Preisen ausgezeichnet worden. Er arbeitet heute als freier Autor und lebt mit seiner Familie in Braunschweig.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Für Myri, Mathis und Benin

Was über allen Schein, trag ich in mir;

All dies ist nur des Kummers Kleid und Zier.

William Shakespeare, »Hamlet«

Teil 1

Ankunft

Well Papa go to bed now it’s getting late

Nothing we can say is gonna change anything now

I’ll be leaving in the morning from St. Mary’s Gate

We wouldn’t change this thing even if we could somehow.

Bruce Springsteen, »Independence Day«

Prolog

Die Ereignisse, die alles veränderten, begannen im Sommer 2011. Alles, was die Welt hier auf der Insel ausmachte, wurde in diesem Sommer und den darauffolgenden Monaten aus den Angeln gehoben. Die Welt war eine Scheibe gewesen bis dahin, und Nils wurde zum Entdecker, der diese Annahme widerlegen würde. Nils, der keine Absicht gehabt hatte, dies zu tun, entdeckte die Welt neu.

Amrum ist eine Insel in der Nordsee, eine Perle, wie ihre Einwohner stolz behaupten. Wer sich in der High Society bewegen, Kaviarhäppchen und Champagner verkosten möchte, der geht nach Sylt. Wer sich erholen und weite, unberührte Natur genießen möchte, der geht nach Amrum. Hier gibt es einen weitläufigen Strand, der den gesamten Westteil der Insel bedeckt und aus sehr feinem weißen Sand besteht. Sylt hingegen ist schmaler, der Sand grobkörniger, und der Strand verliert mehr und mehr Boden an das Meer. Föhr, die zweite Nachbarinsel, ist dreimal größer als Amrum, besitzt jedoch keinen Wald, keine Dünenlandschaft und keinen eigenen Strand; er muss künstlich aufgeworfen werden.

Die zwanzig Quadratkilometer große Insel wird von einer in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Inselstraße durchlaufen, die die drei Hauptorte Wittdün, Nebel und Norddorf miteinander verbindet. Es gibt drei Häfen. Den Fährhafen und den Fischereihafen in Wittdün und den kleinen Segelhafen in Steenodde, einer Gemeinde nördlich von Wittdün. Die Dünenlandschaft auf der westlichen Seite der Insel macht fast die Hälfte ihrer Fläche aus.

Zweitausendfünfhundert Einheimische leben auf Amrum. Im Sommer, wenn die Touristen kommen, wohnen hier über siebzehntausend Menschen. Sie baden im Meer, sonnen sich am Strand, machen Spaziergänge am Wasser, durch den Wald und am Watt entlang. Fahren mit dem Rad durch die Weizenfelder, an den Pferdeweiden entlang, sitzen in Cafés und Restaurants und in blumendurchwachsenen Gärten und Parks. Es riecht nach Salz und Muscheln, die Möwen schreien, der Wind weht, und in der Ferne kann man die Halligen sehen, die wie kleine Maulwurfshügel auf dem Horizont liegen. Es ist ein Paradies, eine Idylle, abhängig vom Wind und den Gezeiten.

Im Sommer 2011 brachen weitreichende Ereignisse in diese Idylle ein. Sie kamen mit der Fähre, wie in einem trojanischen Pferd. Und keine der Personen, die in diese Ereignisse involviert war, ahnte etwas davon.

EINS

Die Sonne ging auf. Ein glühender Halbkreis zwischen dem schwarzen Meer und dem kobaltblauen Himmel. Der Horizont flimmerte. Man konnte winzig klein die vielen Windräder an der Küste des Festlands erkennen. Die Halligen standen klar umrissen wie Scherenschnitte auf der Linie, an der sich Himmel und Meer berührten. Es war still und kühl, ein leichter Westwind fuhr über die Insel, Tau lag auf den Gräsern. Alles schien noch zu schlafen.

In einem Zimmer im oberen Stockwerk eines Hauses im Sanghughwai in Nebel brannte Licht. Nils stand in Boxershorts auf der Türschwelle. Seine Hand ruhte noch immer auf dem Lichtschalter. Er stand da und bewegte sich nicht. Nur sein Blick wanderte im Zimmer umher. Sein Mund war leicht geöffnet, fast staunend. Er atmete tonlos, während er die restlichen Bilder an der Wand betrachtete. Anna hatte sie selbst gemalt. Die Vorhänge standen offen. Auf dem Fußboden erkannte er die Abdrücke ihres Kinderbetts in dem weißen Schlaufenteppich. Ein kalter Draht schnürte sich immer fester um Nils’ Herz. Diese boshaften kleinen Abdrücke waren das Schrecklichste, was er je gesehen hatte. Bei einem Verkehrsunfall hatte er einmal einen Motorradfahrer mit einem fast abgetrennten Bein und als Schüler einen Jungen gesehen, der vom Dreier auf den Beckenrand gefallen war. Doch diese Abdrücke im Schlaufenteppich waren blutiger, grausamer, ekelhafter und schmerzhafter. Er holte tief Luft, so, als sei er lange unter Wasser gedrückt worden.

Er war gestern bis spätabends im Büro geblieben, um nicht sehen zu müssen, wie sie das Haus leer räumten. Jetzt, wo er die Zimmer zum ersten Mal wieder betrat, fühlte es sich an, als seien sie nicht einfach nur ausgeräumt, sondern seelenlos. Sie waren tot, vom Leben entkernt. Genau so sieht mein Herz aus, dachte er. Dieses Haus ist ein riesiger Modellnachbau meines Herzens.

Er schaltete das Licht aus. Durch das Fenster drang der orangene Dunst des Sonnenaufgangs. Nils ging darauf zu, um die Vorhänge zu schließen. Es sollte dunkel sein hier drinnen und dunkel bleiben. Dieses Zimmer wollte er nicht mehr sehen. Er hatte den Vorhangstoff schon in den Fingern, als er das Pferd unten im Garten sah. Das Grundstück grenzte an eine Weide. In der linken hinteren Ecke des Gartens stand eine große Kiefer, unter der Nils vor Jahren eine Sandkiste gebaut hatte. Sie war seit Langem unbenutzt und das Holz bereits morsch und rissig. Neben der Sandkiste stand inmitten von versprengten Kiefernzapfen das hüfthohe Holzpferd. Anna hatte es auf einem Trödelmarkt auf dem Festland entdeckt und sich sofort verliebt. Sie hatte ihn und Elke angefleht, es ihr zu kaufen. Nils hatte es übertrieben gefunden, seiner Tochter einfach so zwischendurch ein derart großes Geschenk zu kaufen. So etwas wünschte man sich zu Weihnachten oder zum Geburtstag. »Aber dann ist es doch weg!«, hatte Anna gerufen, schließlich sei das hier ein Trödelmarkt. Wenn sie es ihr jetzt nicht kauften, würde sie es nie bekommen. Auch Elke hatte versucht, ihre Tochter zu beschwichtigen, doch am Ende war das Pferd, weil es nicht in den Kofferraum gepasst hatte, mit einigen Schnüren verzurrt, auf dem Dach gelandet, um seine Reise auf die Insel anzutreten. Seit damals stand es im Sommer immer im Garten. Manchmal, wenn Anna Reiten gespielt und das Holzpferd an den Zaun gestellt hatte, kamen die Pferde von der Weide herüber und schnupperten neugierig daran.

Nils drehte sich um, stürzte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und riss die Terrassentür auf. Im Garten griff er sich eine an der Hauswand lehnende Schaufel, holte seitlich bis über den Kopf aus und ließ sie auf das Pferd niedersausen. Es gab ein helles, klingendes Geräusch, als das Metall auf den Kopf des Pferdes traf und ein Ohr abbrach. Nils holte wieder aus und wieder und wieder. Holz splitterte und krachte. Am Ende war er völlig außer Atem, und das Pferd lag mit gebrochenen Beinen vor ihm im kühlen Gras. Im Haus nebenan ging ein Licht an. Nils konnte den Umriss seines Nachbarn im Fenster erkennen. Jetzt wurde ihm bewusst, wie verrückt er aussehen musste, halb nackt mit einer Schaufel auf ein Holzpferd eindreschend. Er warf die Schaufel weg, spuckte einmal aus und ging zurück ins Haus.

Zwei Stunden später fuhr er in seinem Dienstwagen über die Landstraße in Richtung Norden. Er hatte geduscht und war nach einer Tasse Kaffee, die er mit einem großzügigen Schuss Whiskey versehen hatte, ins Büro gegangen. Das ließ den Morgen heller erscheinen, als er eigentlich war. Dort angekommen, hatte er eine weitere Tasse Kaffee getrunken (ohne Schuss) und ein wenig Papierkram erledigt. Er hatte einen Anruf vom Kino in Norddorf bekommen und sich gleich auf den Weg gemacht. Nichts Großes, aber es musste erledigt werden.

Der Kiefernwald warf einen dunklen Schatten auf die Straße. Er passierte das Ortsschild. Automatisch drosselte er die Geschwindigkeit auf dreißig Stundenkilometer. Hier geschahen die meisten Unfälle. Der abrupte Wechsel von Licht zu Schatten kombiniert mit zu schnellem Fahren war gefährlich. Die Insulaner hielten sich nie an das Tempolimit, und die Touristen unterschätzten ihre Geschwindigkeit. Dabei war bereits die erste Straße nach der Kirche eine Kreuzung, bei der rechts vor links galt. Das wurde so gut wie immer übersehen. Nils hatte sich dafür starkgemacht, dort entweder ein Vorfahrtschild zu installieren oder eine Geschwindigkeitsbegrenzung einzuführen. Seit Anfang des Jahres galt hier nun Tempo dreißig, doch Nils war der Einzige, der sich daran hielt.

Er fuhr ins Dorf und hielt vor dem Kino, wo Holger, der Besitzer, ihn bereits erwartete.

»Moin, Holger«, grüßte Nils.

»Die haben die Scheibe eingeschlagen und einfach das Plakat mitgenommen! So was hab ich noch nie erlebt.«

Das »Lichtblick« hatte einen knapp sieben Meter langen Schaukasten rechts vom Eingang, in dem die Plakate der aktuellen Filme hingen. Heute sollte »Transformers 3« laufen, doch eben dieses Plakat fehlte. Die Scheibe war zu einem Drittel zersprungen und lag auf dem Boden. Es war nicht schwer zu erraten, wer das getan haben musste. Die Einheimischen machten so etwas nicht. Natürlich war die Amrumer Jugend ebenso gelangweilt und frustriert, aufsässig und auch mal angetrunken wie die Jugend im Rest von Deutschland auch, aber sie war nicht so dumm, hier ein Filmplakat zu klauen. Es würde keine zwei Stunden dauern, dann wüsste jeder Amrumer, wer es getan hatte. Solche Geheimnisse blieben nie im Dunkeln. Sie kamen alle ans Licht, die kleinen und die großen. Das war vielleicht ein Nachteil, vielleicht aber auch ein Vorteil des Lebens auf einer Insel. Das konnte Nils für sich nie genau entscheiden.

»Tja, im Schullandheim ist gerade eine neunte Klasse aus Kiel. Schätze, ich werde denen mal einen Besuch abstatten müssen«, sagte Nils. Holger fegte die Scherben mit einem Besen zusammen.

»Die Lehrer müssen doch aufpassen, was die Jungs da nachts so treiben! Die können die doch nicht einfach abhauen lassen«, wetterte er.

»Du weißt, wie Jungs sind. Fenster auf und weg. Das Plakat hast du mit Sicherheit nachher wieder, und die Scheibe zahlt die Versicherung«, meinte Nils.

»Der kleine Penner kriegt ’nen Arschtritt von mir«, drohte Holger.

»Vielleicht guckt er sich ja heute Abend den Film an, dann kannste dich entscheiden, Arschtritt oder Karte verkaufen.«

»Geht auch beides«, sagte Holger und grinste schon wieder. Sie verabschiedeten sich, und Nils ging, anstatt zu seinem Wagen, nach rechts auf das Hotel Petersen zu. Eigentlich sträubten sich alle Moleküle seines Körpers gegen diese Entscheidung, aber wenn er schon mal hier war … Was soll’s, dachte er, es muss ja gemacht werden. Er ging die Stufen hinauf und verschwand unter den goldenen Lettern, die schwer über dem Hoteleingang prangten.

»Moin, Karla«, grüßte er und legte einen Arm auf den Empfangstresen. Karla lächelte, als sie ihn sah. Sie war neunundzwanzig und arbeitete seit fünf Jahren als Empfangsdame im Hotel. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie Nils mochte, aber sie wusste auch, wie weit sie gehen konnte mit ihren Äußerungen und ihren Blicken. Sie mochte Nils mehr, als sie zugeben durfte, um ihre Stellung nicht zu verlieren. Aber sie glaubte, sich und ihre Gefühle gut im Griff zu haben. Sicher hatte Nils es niemals bemerkt und auch sonst niemand. Außerdem war alles gut so, wie es war. Nils war verheiratet, und sie hatte einen festen Freund.

»Moin, Nils. Die beiden sind oben, falls du …«

»Ja, danke.« Nils schaute die dunkle Treppe hinauf. Erst dann löste er sich vom Tresen und warf Karla noch einen freundlichen Blick zu, für den Fall, dass er es zuvor vergessen hatte.

Seine Uniformschuhe drückten sich fast lautlos in den Teppich. Weiße Schlaufen, wie zu Hause, nur ohne Abdrücke. Nils stieg die Treppe in den obersten Stock hinauf und bog dann links in den Gang ein, Richtung Westen. In Zimmer 323 war die Putzfrau zugange. Der Staubsauger lief, und draußen vor der Tür standen der Putzwagen und der Wagen mit dem Wäschebeutel. Nils sah sich wieder als kleines Kind durch die Gänge des Hotels toben. Er hatte früher immer Basketball mit den Wäschebeuteln gespielt. Die Putzfrauen hatten sich gefreut, ihn zu sehen, und mit ihm geplaudert oder ihn mithelfen lassen. Das gesamte Hotelpersonal war wie eine riesige Familie für ihn gewesen. Als einziges Kind des Chefs war er der Sohn von jedermann. Da war Gustav, der Koch, bei dem er immer hatte naschen dürfen und der ihm das Kochen beigebracht hatte. Und Karl, der Hausmeister, mit dem Nils Betten repariert und im Garten die Bäume beschnitten hatte. Da waren Lara, Emma, Tanja, Astrid und Petra, die Zimmermädchen, die zuerst wie große Schwestern für ihn gewesen waren und später dann auch so etwas wie Freundinnen, mit denen er seine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht hatte, zumindest mit zweien von ihnen. Sofort stieg ihm Emmas unvergleichlicher Geruch von Kernseife, Fenchel und Kirschkaugummi in die Nase. Und was sie alles angestellt hatte mit diesem Kaugummi. Emma hatte es ihm schrecklich übel genommen, als sie bemerkt hatte, dass er auch mit Astrid schlief. Aber Nils hatte Astrid einfach nicht widerstehen können. Sie trug immer streng zurückgekämmtes Haar, das mit einem kleinen Haargummi am Hinterkopf zu einem auf und ab wippenden Pferdeschwanz gebunden war. Genau diese Bewegung hatte Nils rasend gemacht. Nicht ihr Körper, der schön und weiß war. Nicht ihre dunklen Augen, nicht ihr Lächeln, das so süß war, dass man meinte, in ihrem Atem Honig riechen zu können. Nicht ihre Art, ihn behutsam zu küssen. Nein, es war allein die Bewegung des Zopfes. Wenn sie auf der Treppe abwärtsging, war das ein Schauspiel, bei dem Nils regelmäßig schwindlig vor Lust geworden war. Einmal hatten sie es sogar direkt auf der Treppe gemacht, allerdings nur, weil Astrid einen Schwips vom Gin Tonic auf der Sommerparty gehabt hatte.

Astrid hatte geheiratet und war nach Dänemark gezogen. Emma war noch im Hotel, aber ihre intimen Geheimnisse waren so verblasst, dass sie sich kaum daran erinnerten, wenn sie sich jetzt trafen. Fast so, als seien sie damals andere Menschen gewesen, die sich nun, in einem anderen Leben reinkarniert, durch Zufall wiedertrafen.

Dann waren da noch Burger, Torben, Lars, Jochen und Claas, die Kellner, die mit ihm Fußball auf der Wiese vorm Haus gespielt hatten. Burger, der ihm seinen ersten Joint zu rauchen gegeben hatte, in der Mittagspause in der Personalküche. Nils war daraufhin öfter mal in der Mittagspause in der Personalküche aufgetaucht. Und Lars, das würde er nie vergessen, hatte ihm das Fahrradfahren beigebracht. Lars war ein guter Kerl, so was wie der große Bruder, den er nie gehabt hatte.

Und Herr Seibert, der Chefkellner, der mehr so etwas wie ein zweiter Vater gewesen war, was seine Strenge anbetraf. Er hatte immer Meldung gemacht, wenn Nils irgendwo im Haus Unsinn angestellt hatte. Seibert, die alte Petze, dachte Nils und lächelte still in sich hinein. Er war so in Gedanken, dass er nicht mehr wusste, wie er vor die Tür seiner Eltern gelangt war. Er horchte, bevor er klopfte. Dann hörte er die schnellen, kurzen Schritte seiner Mutter, die barfuß über den Teppich zur Tür kam.

»Schätzchen, so eine schöne Überraschung!«, sagte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Dein Vater ist noch im Bad. Willst du einen Kaffee?«

»Nein, danke.«

Nils’ Mutter flitzte voraus zum Frühstückstisch, der wie immer vor der geöffneten Balkontür stand. Ein leichter Wind strömte herein, und das Sonnenlicht erhellte das Zimmer derart, dass es größer wirkte, als es in Nils’ Erinnerung war. Früher hatte er auch hier gewohnt. Ein Klappbett hatte links in der Ecke gestanden, wo nun ein Sekretär und eine Stehlampe untergebracht waren. Ein Kinderzimmer hatte er nie gehabt. Sein Kinderzimmer war das Hotel gewesen. Das größte Kinderzimmer, das man sich vorstellen konnte. Hier drin hingegen hatten sie wie zusammengepfercht gelebt.

»Setz dich, Schatz«, sagte seine Mutter und deutete auf den Stuhl seines Vaters. Auch das Gedeck seines Vaters sah aus wie immer. Eine große Kanne Kaffee, zwei Brötchen, von denen er den letzten Bissen, Gott weiß, warum, immer liegen ließ, und eine Zigarre, die nach dem Essen grundsätzlich in der Kaffeetasse gelöscht wurde. Bei dem Geruch von kaltem Tabak vermischt mit Kaffee und Marmelade wurde Nils ein wenig übel.

Er wusste, dass seine Freunde ihn früher um dieses Leben beneidet hatten. Hier im Hotel zu leben, wo man nur klingeln musste und sich alles bestellen konnte, was man wollte. Das beste Essen und kalte Getränke, so viel man wollte. Nils hatte nach Meinung seiner Freunde im Schlaraffenland gelebt. Doch er teilte diese Meinung nicht. Bevor sie ins Hotel gezogen waren, hatten sie in einem kleinen Reetdachhaus in Nebel gewohnt. Und auch wenn er dort genauso unter der Strenge seines Vaters gelitten hatte wie im Hotel, hatte es doch einen großen Unterschied gegeben. Sie hatten ein Familienleben gehabt, ein Privatleben. Dort waren sie eine Familie gewesen. Nils erinnerte sich furchtbar gern an die Winterabende, an denen draußen ein eiskalter Wind geblasen und der Schnee vor den Fenstern gelegen hatte. Dann hatte sein Vater Feuer im Kamin gemacht und seine Mutter in der Küche Tee und Milchreis gekocht. Mit dem Moment, da sie ins Hotel gezogen waren, war das alles vorbei und vergessen. Niemals wieder hatte seine Mutter etwas für ihn gekocht. Niemals mehr hatte es nach Tee und Milchreis gerochen. Und sein Vater hatte nie wieder Feuer gemacht. Ab diesem Zeitpunkt wurde geklingelt, und die Kellner kamen und brachten ihnen etwas aus der Küche drei Stockwerke tiefer. Sie hatten ein öffentliches Leben gelebt, zur Schau gestellt in einem gläsernen Hotelzimmer, und seine Eltern taten es noch immer. Dafür war alles andere geopfert worden.

»Nils ist da! Wie lange brauchst du noch?«, rief seine Mutter ins Bad, und man sah einen Schatten an der leicht geöffneten Tür vorbeihuschen. »Du siehst schlecht aus. Ist alles in Ordnung?«, fragte sie ihn.

»Ich muss mit euch reden«, sagte Nils, ohne darauf einzugehen, und seine Mutter zog den Morgenrock enger um ihren Körper, so, als friere sie plötzlich. Nils wusste, was das bedeutete. Wenn sie um diese Zeit noch ihren Morgenrock trug, dann hatte sie Migräne, und wenn sein Vater um diese Zeit noch nicht fertig angezogen war, dann hatten sie gestritten. Alles beim Alten.

»Sicher will er sich wieder Geld leihen«, kam es dröhnend aus dem Bad. Sofort wollte Nils’ Mutter tröstend nach seiner Hand greifen, doch Nils zog sie zurück. Sein Vater kam aus dem Bad, damit beschäftigt, sich seine goldenen Manschettenknöpfe anzustecken. Er roch nach Zahnpasta und Tabac-Aftershave, von dem er wie immer zu viel aufgetragen hatte. Nils stand vor ihm, und sein Vater musterte ihn fast belustigt. »Was verschafft uns die Ehre?«, fragte er und knöpfte den obersten Knopf seines Kragens zu.

»Elke und ich haben uns getrennt.« Nils hatte beschlossen, keine großen Umschweife zu machen und auf das übliche Geplänkel mit »Wie geht’s euch?« und »Schönes Wetter heute« zu verzichten. Je schneller er zum Punkt kam, desto schneller war er wieder draußen.

Seine Mutter bedeckte erschrocken ihren Mund. Eine Geste, die Nils schon bei vielen Menschen beobachtet, aber nie ganz verstanden hatte. Sein Vater hielt kurz inne und sagte dann: »Ist vielleicht besser so. Sicher findet sie noch etwas Besseres als einen Verkehrspolizisten.«

Nils kannte seinen Vater. Er wusste, wie er war, er wusste, wie er reagieren würde, und er kannte seine Sprüche zur Genüge. Und trotzdem verletzte es ihn, dass er wieder einmal seinen Beruf in den Dreck zog. Er wusste nicht, über wen er sich mehr ärgerte, über seinen Vater oder über sich selbst.

»Oh Gott, das tut mir furchtbar leid, aber vielleicht renkt es sich ja wieder ein«, sagte seine Mutter, die immer glaubte, alles würde sich zum Guten wenden, auch wenn es offensichtlich aussichtslos war. Aber als Optimistin hatte er sie dennoch nie gesehen. Eigentlich war sie nur zu schwach, um der Wahrheit ins Auge zu blicken.

»Nein, da renkt sich nichts mehr ein, Mama.«

»Und was ist mit Anna?«

»Sie ziehen beide aus. Sind schon ausgezogen.«

»Wohin?«, wollte seine Mutter wissen, wohl weil sie fürchtete, es könnte weit weg sein.

»Zu Stefan«, sagte Nils nach kurzem Zögern. Lieber hätte er diese Tatsache verschwiegen, aber so war es nun mal auf der Insel. Nichts ließ sich verheimlichen.

»Stefan, dein bester Freund?«, fragte sein Vater und lachte verächtlich. »Wenn du in die Scheiße greifst, dann aber gleich richtig, was?«

»Hauke, bitte!«, ermahnte ihn Nils’ Mutter.

»Ich sag doch nur die Wahrheit. Ich möchte einmal erleben, dass der Junge durch unsere Tür kommt und uns eine Erfolgsnachricht überbringt.«

»Was du so unter Erfolg verstehst«, brummte Nils.

»Ich will dir mal was sagen, Junge. Manche Leute werden als Verlierer geboren. Du gehörst nicht dazu. Du bist in eine Familie hineingeboren worden, die es zu etwas gebracht hat. Das war ein reines Glück für dich. Du hast dich selbst zum Verlierer gemacht, als du diese lächerliche Uniform angezogen hast!«

»Du bist so armselig, Papa«, sagte Nils. Er wandte sich um und stürmte aus dem Zimmer. Seine Mutter wollte ihn noch festhalten, doch er war schneller. Laut krachend warf er die Tür ins Schloss.

»Musste das wieder sein?«, fragte Nils’ Mutter und fixierte ihren Mann mit eng zusammengekniffenen Augen. Der warf sich sein Jackett über.

»Er gibt mir einfach zu viele Vorlagen!«

»Und was machen wir jetzt?«

»Nichts natürlich. Das ist nicht unsere Angelegenheit«, sagte er und ließ seine Frau allein.

Karla erkannte sofort, dass sich Nils und sein Vater wieder gestritten hatten. Sie sagte leise »Tschüss«, als Nils aus dem Haus ging, erwartete jedoch keine Antwort von ihm. In Gedanken umarmte sie ihn und hielt ihn fest, so fest, dass er seinen Vater vergaß und nur noch sie beide zählten.

Karl, der Hausmeister, stand vor der Tür auf einer Leiter und reparierte eine defekte Laterne. Nils wäre fast gegen die Leiter gerannt.

»Hoppla, Moin, Nils«, sagte Karl.

Nils antwortete nicht. Er war tief in Gedanken versunken, als er zu seinem Auto ging, und würde sich, dort angekommen, wieder nicht an den Weg erinnern können. Karl blickte ihm noch eine Weile hinterher. Er sah besorgt aus.

ZWEI

Der Lehrer entschuldigte sich tausendmal, als er das Plakat im Schrank eines der Jungenzimmer fand. Keiner der sechs Jungen, die es bewohnten, wollte sagen, wer es geklaut hatte. Das war gar nicht nötig, Nils erkannte den Schuldigen gleich. Sie glaubten immer, man könnte es ihnen nicht ansehen, aber das war ein furchtbar naiver Trugschluss. Die Augen verrieten alles. Junge, es ist so deutlich wie ’n Hundeschiss im Schnee, sag’s doch einfach, dachte Nils. Er schämte sich ungern fremd, und gerade bei jungen Menschen konnte er nicht lang zuschauen, wenn sie sich unter seinem Blick wanden und sich selbst in die Tasche logen.

»Pass auf, wir machen es einfach so«, sagte Nils und schaute dabei nur diesen Jungen an. »Wir sagen, du seiest gefallen und dabei gegen die Scheibe gekommen. Deine Eltern melden das ihrer Versicherung, und ich nehme das Plakat wieder mit. Wie klingt das?«

Der Junge blickte unsicher auf seine Freunde. Er wusste offenbar nicht im Geringsten, wie er hatte auffliegen können, und vermied fleißig den Augenkontakt mit Nils. Alle warteten auf seine Antwort. Schließlich nickte er einfach, und Nils stand auf. Es war überstanden.

»Bestens. Also, alles nur ein Unfall. Viel Spaß weiterhin.« Er schüttelte dem Lehrer die Hand. Im Rausgehen drehte er sich noch mal um. »Ach, Jungs, wenn ihr euch den Film heute angucken wollt, nehmt euch vor dem Besitzer in Acht.«

* * *

In drei Bundesländern begannen heute die Sommerferien. Als die Fähre bei Ebbe den Hafen von Dagebüll ansteuerte, wo sie um zwölf Uhr ablegen sollte, stand die Familie Bohn mit ihrem Wagen inmitten von gut hundert weiteren Autos in den Parkreihen der Anlegestelle. Trotz des kühlen Westwindes war es heiß in der Sonne. Kinder lachten, Hunde bellten, Fahrradklingeln läuteten, Kofferräder polterten über den Asphalt. Mütter trugen ihre Kinder auf dem Arm spazieren, einige ältere Herrschaften hatten es sich auf einer Bank bequem gemacht und aßen die sorgfältig eingepackten Brote. Familienväter blickten, an ihre vollgepackten Autos gelehnt, der Fähre entgegen, und hier und da drangen Stimmen und Radiomusik aus den geöffneten Fensterscheiben der Wagen.

Anita Bohn hatte die beiden oberen Knöpfe ihrer weißen Bluse geöffnet, sodass man ihren türkisfarbenen Bikini erkennen konnte. Als sie sich einige Schweißtropfen von der Brust wischte, sah Georg das aus dem Augenwinkel. Es erregte ihn, und zugleich spürte er die altbekannte Wut in sich aufsteigen. Denn er wusste, sie tat diese kleinen Dinge nicht unbewusst. Sie tat sie, um ihn zu provozieren, um ihm einen Angelhaken ins Herz zu stechen und ihn mit diesem Köder zu fangen. Diese Gesten sagten: Sieh her, hier ist das, was du nicht kriegen kannst und was ich anderen anbiete, weil ich ihre Blicke so sehr genieße. Georg sah in den Rückspiegel. Nina saß stumm auf der Rückbank, ihre Giraffe auf dem Schoß, und blickte hinaus aufs Meer, wo sich die Fähre wie ein Eisberg immer näher an den Hafen heranschob.

»So, jetzt sind wir im Urlaub«, sagte Georg erleichtert, nachdem er das Auto nahe an der Stoßstange seines Vordermanns auf der Fähre geparkt hatte. Nina und Anita antworteten ihm nicht, und so hing dieser Satz furchtbar zerbrechlich in der Luft, während sie ihre Sachen packten, um auszusteigen.

Anita warf dem Platzanweiser einen koketten Blick zu, den dieser gerne annahm. Er konnte sich kaum an Anitas Hintern sattsehen, als sie sich durch die Autoreihen zur Treppe schlängelte. Georg und Nina folgten ihr hinauf bis aufs Sonnendeck. Sie fanden eine Bank direkt an der Reling, und Nina steckte ihre Beine durch die Streben und ließ sie baumeln. Anita setzte sich mit dem Gesicht zur Sonne, öffnete nun auch die letzten zwei Knöpfe ihrer Bluse und löste den Knoten über dem Bauchnabel. Sie schloss die Augen. Georg starrte auf Anitas entspanntes Gesicht, während er die Blicke der anderen Männer spürte, die im Dekolleté seiner Frau wühlten.

»Nur noch zwei Stunden, Schatz, dann sind wir da«, flüsterte Georg. Nina nickte, und Georg legte ihr einen Arm um die Schultern.

Die Fähre hatte den Hafen von Föhr gerade wieder verlassen und steuerte in einer Rechtskurve auf Amrum zu, als Anita sich von ihrem Sitz erhob und ihre Bluse zuknotete. »Ich brauche was Kaltes zu trinken. Soll ich euch was mitbringen?«, fragte sie, richtete den Blick dabei aber nur auf Nina.

»Darf ich eine Cola haben?« Nina schaute ihren Vater bittend an.

»Klar darfst du«, sagte Anita, bevor er etwas erwidern konnte, und begab sich zur Treppe, die sie ein Stockwerk tiefer zum Restaurant brachte. Ein Großteil der Tische war besetzt. Die Hitze stand in dem großen Raum, die Sonne schien unerbittlich durch die salzverschmierten Fenster. Es roch nach billigem Kaffee und heißen Würstchen. Anita blieb eine Weile im Eingang stehen, um sich zu orientieren. Sie bemerkte, wie sich einige Gäste zu ihr umdrehten und sie anstarrten. Manche tuschelten, und Anita lächelte. Dann schritt sie mit schwingendem Gang zum Tresen. Der Kellner grinste, als er sie erblickte.

»Zwei Cola, bitte.«

»Zwei Cola, kommt sofort«, sagte er und öffnete einen Schrank.

»Schön kühl, wenn’s geht.«

»Kälter geht’s nicht«, sagte der Kellner und grinste wieder, so als hätte er etwas sehr Schlaues gesagt.

»Laden Sie mich ein?«, fragte Anita, und sogleich verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht.

»Ich … äh …« Er blinzelte nervös.

»Was? Spendieren Sie mir ein kaltes Getränk oder nicht?«

»Das ist … also, das kann ich nicht.«

»Oh, verstehe, Sie sind knapp bei Kasse, unterbezahlt und so weiter. Oder bin ich nicht Ihr Typ? Bin ich Ihnen nicht hübsch genug?«

»Nein, nein, das ist … verboten.«

»Ja, die verbotenen Dinge …«

»Tut mir leid.«

»Hab ich mir gedacht«, meinte Anita und legte das Geld auf den Tresen. »Stimmt so«, sagte sie und nahm die Getränke. Der Mann hinter dem Tresen wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er ihr nachsah.

Anita ging zur hinteren Reling der Fähre und blickte in die weiße, wirbelnde Gischt, die von der Schiffsschraube aufgeworfen wurde. Abwesend nahm sie immer wieder einen Schluck aus ihrer Coladose. Ihr Blick, der eben noch Selbstsicherheit und fast schon Überheblichkeit ausgedrückt hatte, war einer verstörten Verletzlichkeit gewichen. Innerhalb eines Wimpernschlags hatte sie sich in einen anderen Menschen verwandelt, versunken im klebrigen Morast ihrer Gedanken. Ein Möwenschrei katapultierte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück. Sie blinzelte in den blauen Himmel und beschattete ihre Augen mit einer Hand. Die Möwe stand förmlich in der Luft, sie flog in der gleichen Geschwindigkeit wie die Fähre.

»Ich hab nichts«, sagte Anita entschuldigend. Die Möwe sah sie mit einem kalten Auge an. Die schwarze Pupille saß starr und tot wie ein Stecknadelkopf in dem kreisrunden Weiß. Flieg so hoch du kannst, dachte Anita, ich jedenfalls würde es tun.

Als sie zurück auf das Sonnendeck kam, saß Nina auf ihrem Platz. Sie hatte die Augen geschlossen und döste mit dem Kopf auf den Armen vor sich hin. Anita drückte ihr die kalte Coladose aufs Bein. Schreiend schoss Nina hoch, und Anita umarmte sie lachend. Es war wie eine Umarmung aus Papier. Spröde und ungelenk.

»Hab ich dich erwischt!«, rief Anita und freute sich. »Jetzt noch bei Papa.« Sie drückte Georg die Dose auf den Oberschenkel, und der schreckte ebenfalls hoch.

Jetzt lachte auch Nina. Einen kurzen Augenblick später entdeckte sie Amrum, und ihr Lachen verstummte wie das Summen einer Fliege, die aus dem Fenster verschwindet.

»Seht mal, der Leuchtturm!«, rief sie, und für einen Moment blickten alle drei ganz still und glücklich ihrem Urlaub entgegen.

Sie wussten nicht, was kommen würde, sonst hätten sie niemals auch nur einen Fuß auf die Insel gesetzt.

Eine Viertelstunde später fuhren sie auf die Insel. Es machte tack, tack, als sie die Fähre verließen und über die Landungsbrücke fuhren. Langsam folgten sie dem Strom der Menschen und Autos durch Wittdün hindurch.

Der kleine Ort war belebt. Die Menschen gingen einkaufen, flanierten an den Geschäften vorbei, aßen Eis oder ein Fischbrötchen. Beim Supermarkt stand ein kleines Mädchen an der Straße und wartete darauf, dass ihr Vater aus einer engen Parklücke fuhr. Sie hielt ein Schwimmkrokodil in der Hand. Eine Windbö entriss ihr das Tier, und das Krokodil sprang selbstmörderisch auf die Straße. Georg bremste scharf, sodass sie in ihren Sitzen nach vorn geworfen wurden. Gerade noch rechtzeitig, denn das kleine Mädchen lief direkt vor Georgs Motorhaube und rettete das Krokodil. Es hatte die Gefahr nicht einmal bemerkt. Die für das Krokodil sehr wohl, aber nicht die für sich. Ein selbstloses, angeborenes Helfersyndrom oder einfach nur die Angst vor dem Verlust des eigenen Besitzes? Was es auch war, die Mutter der Kleinen tat es ihr gleich. Sie stürzte entsetzt auf die Straße und hob ihr Kind an einem Arm zurück auf den Bürgersteig. Das Mädchen schrie, der Papa stieg aus, und die Mama bedankte sich mit einem Blick bei Georg. Der nickte und fuhr langsam weiter.

»Gefährliche Insel«, sagte er. Es sollte ironisch klingen, was es aber nicht tat.

Sie folgten der Inselstraße, passierten den Leuchtturm zu ihrer Linken, durchfuhren Süddorf, einen Ort, der nur aus fünf Häusern zu bestehen schien und an den sich nach kurzer Fahrt am Fußballplatz und der Mühle vorbei Nebel anschloss. Hier wurden neue Häuser gebaut, Häuser, die noch mehr Gäste aufnehmen sollten, aber es wirkte nicht überfüllt oder unangebracht. Die Häuser, meist im inseltypischen Reetdachstil, sahen hübsch und einladend aus, fand Georg. Ihm tat es ein wenig weh, dass sie nicht auch eine Wohnung oder ein Haus für sich hatten. Anita hatte im Hotel gebucht. Georg widerstrebte es, sich in einem Haus zu bewegen, in dem so viele andere Gäste waren.

Anita hatte wie immer die Planung für den Urlaub übernommen. In den letzten Jahren waren sie meist ins Ausland gefahren, Italien, Frankreich. Anita mochte den Süden, mochte die Sonne und hatte sich eigentlich nie für die Nordseeküste interessiert, doch dieses Jahr war es anders. Sie hatte allein zu Haus gesessen, nachdem Nina zur Schule und Georg zur Arbeit gefahren war, und eigentlich im Garten die ersten Blumenzwiebeln einpflanzen wollen, als sie plötzlich Lust bekam, sich um den Urlaub zu kümmern. Trotz des schönen Wetters war sie im Haus geblieben und hatte sich an den PC gesetzt, mit einem ganz bestimmten Bild im Kopf. Sie sah einen weiten weißen Strand und einen blauen Himmel vor sich, dessen Blau sich von dem des Wassers nicht zu unterscheiden schien. Ein paar vereinzelte schneeweiße Wolken am Horizont und im Vordergrund Dünen mit grünem Gras, das sich im Wind bog. Als sie dort an ihrem Tisch saß und dieses Bild in sich heraufbeschwor, konnte sie den Duft von Salz riechen. Mit den deutschen Inseln kannte sie sich nicht sehr gut aus. Sie konnte vielleicht fünf oder sechs aus dem Kopf aufzählen, doch Amrum fiel ihr zuerst ein. Irgendwie klang der Name der Insel für sie nach Ruhe und nach Geborgenheit. Sie sah sich selbst am Strand in der warmen Sonne liegen, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ja, sie wollte nach Amrum. Sie hatte sich, was sie sonst nur selten tat und auch nur, um eine schlechte Stimmung aufzuhellen, ein Glas Weißwein eingeschenkt. Sie wollte die Urlaubssuche genießen, wollte sich treiben lassen von den Bildern und ihre Vorfreude auskosten. Im Internetportal der Insel fand sie nur noch wenige freie Unterkünfte. Keine der Wohnungen gefiel ihr auf Anhieb. Entweder war das Haus von außen sehr schön, doch dann umso unansehnlicher im Innenbereich. Oder es gab nur eine Ausziehcouch und kein separates Zimmer für Nina. Eine Wohnung entsprach all ihren Anforderungen – bis sie kurz vor dem Buchen bemerkte, dass die Wohnung im ersten Stock lag. Im Sommer wollte Anita nicht in die erste Etage. Es war zu warm, und man hatte keine Möglichkeit, einfach in den Garten hinauszugehen. Das Hotel Petersen war mit Abstand die teuerste Wahl, doch als sie die Bilder vom Haus sah, mit der hellen, sonnenüberfluteten Häuserfront, den hübschen Bäumen davor und den großen Zimmern mit den weißen Möbeln, den geschmackvollen Accessoires und der warmen Beleuchtung, ließ sie ihre ursprünglichen Wünsche einfach fallen wie ein Kind, das ein besseres Spielzeug entdeckt hatte. Dieses Weiß-Gold des Hotels hatte große Überzeugungskraft gegen all die roten Klinker. Sie hatte gebucht und Georg damit überrascht, als er am Abend nach Hause kam. Er hatte sich etwas überrumpelt gefühlt, doch auch erkannt, wie glücklich und voller Freude sie war. Also gab er sein Einverständnis, und in dieser Nacht schliefen sie miteinander, ganz ungezwungen und ohne Missverständnisse, falsche Gedanken und unerfüllte Wünsche. In dieser Nacht war Anita mit sich und der Welt zufrieden gewesen, und sie hatten sich so gut verstanden wie schon lange nicht mehr.

Nun waren sie hier, und Anita spürte, dass es die richtige Wahl gewesen war. Als sie Nebel verließen, führte die Landstraße sie zwischen Feldern hindurch. Links erstreckte sich eine Heidelandschaft bis zum Waldrand hin, vor dem vereinzelt ein paar weiße Häuser zu erkennen waren. Rechts wölbten sich hellgrüne Weiden über einen lang gestreckten Hügel, und dahinter schimmerte in einer noch schmalen Zunge das Meer. Es war ein traumhafter Anblick. Anita öffnete ihr Fenster. Warme Luft drückte ins Wageninnere und ließ ihre Haare tanzen. Plötzlich drosselte Georg die Geschwindigkeit, und Anita lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Straße. Auf der Gegenfahrbahn parkte ein Polizeiauto. Der Warnblinker war eingeschaltet, und der Polizist stand am geöffneten Kofferraum. Georg fuhr langsam an dem Streifenwagen vorbei. Der Mann zog sich gerade Gummihandschuhe an und blickte zu ihnen in den Wagen. Anita hatte das Gefühl, diesen Augenblick in Zeitlupe zu erleben. Sie sah diesen Polizisten und wusste, dass etwas Ungutes in der Luft lag. Vielleicht war dort ein Unfall geschehen. Wie schnell so etwas passieren konnte, auch hier im Urlaub, hatten sie eben in Wittdün erlebt, doch auf der Straße war nichts zu erkennen. Für einen Augenblick schien es ihr, als begegnete sie jemandem, der wichtig war. Wichtig für sie persönlich. Dieser Unbekannte hätte nur ein Gesicht unter vielen sein können, aber er war mehr als das.

Auch Georg fühlte eine Gänsehaut auf seinen Armen, als er den Wagen wieder beschleunigte. Er sah zu seiner Frau. Anita saß wie versteinert auf ihrem Sitz. Das Einzige, was sich an ihr bewegte, waren ihre Haare, die im Fahrtwind wie kleine Arme durch ihr Gesicht wischten, als wollten sie sie aus ihren Gedanken reißen. Anita spürte seinen Blick und hätte gern etwas zu seiner Beruhigung gesagt, aber sie konnte einfach nicht sprechen. Sie konnte sich nicht bewegen. Ihr Körper war völlig gefühllos. Bis auf eine schummrige, gedämpfte Ahnung, dass gerade die Zunge einer Schlange ihr Herz berührt hatte, fühlte sie nichts.

* * *

Nils hatte den Habicht auf dem Rückweg vom Kino entdeckt. Er konnte noch nicht lange dort liegen, das Blut war noch frisch.

»Verdammt!«, fluchte er leise, stieg aus dem Wagen und betrachtete den Haufen zerquetschter Federn und Fleisch auf der Fahrbahn. Zurzeit gab es nur vier Habichte auf der Insel. Im Wald nahe Norddorf nisteten zwei, und zwei weitere hatten ihr Nest in dem kleinen Waldstück bei Steenodde. Wildunfälle passierten öfter, zumeist mit Hasen oder Kaninchen, von denen es genug gab. Aber ein Habicht war ein echter Verlust. Nils öffnete seinen Kofferraum, in dem Schaufel und Handschuhe verstaut waren. Für solche Fälle musste er immer gewappnet sein. Er nahm einen schwarzen Müllbeutel und rollte ihn so auf, dass er den Kadaver bequem hineinlegen konnte. Dann zog er sich die Handschuhe über. In diesem Augenblick hörte er einen Wagen näher kommen. Nils spähte um die Kofferraumklappe herum.

Die Windschutzscheibe reflektierte die Sonne, sodass er nicht viel von den Insassen sehen konnte, doch als sie auf seiner Höhe waren, fiel sein Blick durch die Seitenscheibe. Eine junge Familie saß in dem Wagen, und etwas in ihm fing an zu schmerzen. Der Draht um sein Herz schnürte sich enger. Es musste wohl die Tatsache sein, dass er etwas sah, was er jetzt nicht mehr hatte. So wie diese drei Menschen würden er, Elke und Anna nie wieder in einem Wagen sitzen. Nie wieder würden sie als Familie einem gemeinsamen Ziel entgegenfahren. Nils blickte in die braunen Augen der Frau und fand sie auf beunruhigende Weise interessant. Vielleicht war es die Farbe, vielleicht der Ausdruck, der darin lag, aber als er dort auf dem Asphalt in der Sonne stand, lief ihm auf einmal ein kalter Schauer über den Rücken. Dann waren sie vorbeigefahren. Nils schüttelte den Kopf und machte sich an die Arbeit.

Mit der Schaufel fuhr er unter das tote Tier und hob es hoch. Er musste es mit der anderen Hand fixieren, damit es nicht herunterfiel. Unter dem dünnen Gummi der Handschuhe spürte er die geborstenen Knochen des Habichts. Er wünschte sich, das alles wäre nicht passiert. Dieser Tag hatte nicht gut begonnen, und er wollte jetzt wirklich keine Serie daraus werden lassen.

* * *

Das Hotel Petersen wurde von der Sonne angestrahlt. Die Häuserfassade leuchtete so hell, dass man geblendet wurde. Georg trug die beiden Koffer und Anita die Reisetasche von Nina.

Nina hielt nur ihre Giraffe in der Hand, als sie die Treppe zum Hotel hochging. Georg und Anita waren schon in dem dunklen Schatten des Eingangs verschwunden; drinnen hörte sie dumpf die Stimmen ihrer Eltern, die sich an der Rezeption vorstellten. Rechts führte eine schmale Terrasse, auf der einige Tische im Schatten der Bäume standen, um das Haus herum. Ein Mann und eine Frau saßen dort und tranken Cocktails und Bier. Nina mochte die beiden nicht, das konnte sie jetzt schon sagen. Auf der großen Rasenfläche vor dem Hotel spielten vier Kinder Fußball. Sie schrien und lachten. Vor dem Kino gegenüber hatte sich eine kleine Schlange für die Nachmittagsvorstellung gebildet. Nina beschloss, dass ihr der Ort gefiel, doch das Hotel stand zu schwer und mächtig über ihr. Auf der anderen Seite des Platzes entdeckte sie ein kleines weißes Häuschen mit spitzem Giebel und kleinen Puppenhausfenstern. Dort hätte sie gern gewohnt.

»Hallo, junge Dame«, sagte eine tiefe Stimme, und Nina sah sich Karl gegenüber, der unterhalb der Terrasse damit beschäftigt war, die Hecken zu beschneiden. »Bist du gerade angekommen?«

Nina nickte und drückte die Giraffe fester an ihre Brust.

»Was hast du denn da?«

Nina senkte ihren Blick auf das Kuscheltier in ihren Armen. Dann sah sie wieder zu Karl, als wollte sie abschätzen, ob er ihrer Giraffe irgendeinen Schaden zufügen könnte. Er sah aber eher ängstlich aus, fand sie. Jedenfalls nicht gefährlich.

»Eine Giraffe.«

»Ja, natürlich. Die ist wirklich sehr schön.«

»Sie ist schon sehr alt«, erklärte Nina.

»Ja, das sehe ich.« Er wandte sich kurz ab, als wollte er ein Husten unterdrücken. »Na, dann wünsch ich dir einen schönen Urlaub. Hier, für dich.«

Karl hielt Nina eine kleine weiße Heckenrose hin, die er abgeschnitten hatte. Schüchtern nahm Nina die Blume entgegen. Karl lächelte.

»Nina! Was machst du da?« Anita kam ihnen mit schnellen Schritten entgegen, Karl sah sie mit großen Augen an. »Komm, wir wollen ins Zimmer gehen. Wo bleibst du denn?« Sie nahm Nina an der Hand und bemerkte die Rose. »Was ist das, wo hast du das her?«

»Es war meine Schuld. Ich habe der jungen Dame nur ein Begrüßungsgeschenk machen wollen«, sagte Karl und bekundete seine guten Absichten mit erhobenen Händen.

Anita sah ihn prüfend an. Sie war sich nicht sicher, ob er hier arbeitete oder ein komischer alter Kauz war, der eine Vorliebe für junge Mädchen hatte. Er hatte wettergegerbte Haut, und unter seinen drahtigen, dunklen Augenbrauen glänzten freundliche Augen. Dennoch irritierte sie etwas an dem Blick des alten Mannes. Karl bemerkte das.

»Ich heiße Karl. Ich bin der Hausmeister hier.«

Das beruhigte Anita ein wenig.

»Hast du auch Danke gesagt, Nina?«

Nina schüttelte den Kopf.

»Schon gut. Kommen Sie erst mal an. Eine schöne Zeit auf Amrum, wünsche ich«, sagte Karl und machte sich wieder an die Arbeit.

Nina und Anita gingen hinein. Georg stand an der Rezeption, und daneben kam gerade Hauke Petersen die Treppe herunter.

Hauke begrüßte neue Gäste üblicherweise nicht mit Handschlag, es sei denn, sie waren Stammgäste. Hier war einfach zu viel Publikumsverkehr. Gäste, Tagesurlauber, Restaurantbesucher. Er konnte sich die Gesichter nicht merken. Und er hatte es nicht mehr nötig, sie sich zu merken. Gesichter kamen und gingen. Darum achtete er nur noch auf sein Gesicht. Mit Hilfe von fünf, sechs verschiedenen Gesichtspflegecremes balsamierte er sich regelrecht ein, um sein Aussehen zu konservieren. Für eine nahtlose Bräune legte er sich dreimal in der Woche auf die Sonnenbank, und er schwamm jeden Tag einen Kilometer. Dienstags ging er zum Tennis, samstags in den Fitnessraum. Man sollte wissen, wer er war, wenn man ihn sah, und auf ihn zukommen. Das reichte. Als er jedoch Anita erblickte, hätten ihn keine zehn Pferde mehr davon abhalten können, dieser Frau die Hand zu geben. Mit einer dandyhaften Geste breitete er seine Arme aus.

»Herzlich willkommen im Hotel Petersen! Ich bin Hauke Petersen.« Er reichte Georg kurz seine kräftige Hand und wandte sich dann Anita zu. »Frau Gregersen, welches Zimmer haben die Herrschaften?«, fragte er Karla, ohne dabei seine entzückten Augen von Anita abzuwenden.

»Zimmer 134, Herr Petersen.«

»Ah, das wird Ihnen gefallen. Ich lasse Ihnen noch eine Flasche Sekt aufs Zimmer liefern. Ein Geschenk des Hauses.« Er lächelte gönnerhaft, und sein Blick floss wie frisches Baumharz an Anita herunter.

»Vielen Dank. Es gefällt mir jetzt schon«, sagte Anita, und die Art, wie sie seinen Blick erwiderte, trieb Hauke den Schweiß auf die Stirn.

Georg drehte sich um und stapfte die Treppe nach oben, auch wenn das bedeutete, dass er sich dem Hausherrn gegenüber unhöflich verhielt. Höflichkeit war ein Verhaltensmuster, das Anita ihm gegenüber völlig abgelegt hatte. Die Höflichkeit war von ihr noch vor dem Respekt bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen worden, und Georg hatte sich in seinem hilflosen Staunen darüber geschworen, nicht länger in diesen Situationen zu verharren, sondern sich ihnen zu entziehen. Er konnte es nicht mehr ertragen. Dieser Urlaub sollte alles besser machen. Er sollte sie näher zusammenbringen. Aber er würde nicht länger zusehen, wie sie sich prostituierte. Seine Wut stieg an wie das Quecksilber in einem Thermometer. Sie musste, verdammt noch mal, auch ihren Beitrag leisten, wenn sie wollte, dass sie wieder eine Familie wurden!

* * *

»Ah, da kommt der Sheriff! Na, schon jemanden verhaftet?«, rief Andreas, als Nils das Feuerwehrhaus betrat, und seine Kollegen von der freiwilligen Brandbekämpfung, Andreas, Gregor und Stefan, lachten laut wie ein bellendes Rudel wilder Hunde. Draußen waren bereits Zelte, Tische, Bänke und eine kleine Bühne für das morgige Feuerwehrfest aufgebaut. Das alte Löschfahrzeug stand gewaschen bereit, um morgen ein paar Kinder mit Sirene um den Block zu fahren.

»Häuptling Rauchender Colt, was?«, fragte Gregor und stupste mit dem Zeigefinger an Nils’ Holster. Der schlug sofort den Finger weg.

»Lass das.«

»Hey, hey, ganz ruhig, Blauer«, sagte Gregor beschwichtigend.

»Komm, mach dich nicht so wichtig, setz dich lieber und nimm dir ’n Bier!«, forderte ihn Andreas auf.

»Bin im Dienst.«

»Jou, wir auch«, meinte Andreas, und wieder bellten sie los. Stefan lachte zwar mit, dosierte sein Lachen aber auf ein Minimum und hielt es wohl auch für besser, nichts zu sagen.

Nils setzte sich zu ihnen an den Tisch und atmete angestrengt aus.

»Was los, Alter, krumm drauf heute?« Andreas stellte ihm eine Flasche Bier hin.

»Ach, nur mein Vater …«, sagte Nils und winkte ab. Natürlich war sein Vater nicht das Einzige, es gab noch viel mehr. Hauke war eigentlich sogar sein geringstes Problem. Sein ältestes vielleicht, aber im Moment sein geringstes. Doch was hätte er schon sagen sollen, hier im Feuerwehrhaus vor seinen angetrunkenen Freunden und dem, der es nicht mehr war.

»Dein Alter ist, wie er ist. Nimm’s leicht, nimm ’n Bier!« Andreas legte ihm aufmunternd eine Hand auf die Schulter.

Das verdammte Bier vor ihm reizte Nils bis zum Äußersten. Aber niemand sollte ihn schon so früh trinken sehen. Niemand sollte auch nur den Anflug einer Ahnung bekommen, dass er ein … Er konnte und wollte das Wort noch nicht mal in Gedanken aussprechen. Nein, er war kein Alkoholiker. Er brauchte nur ab und zu einen Schluck Feuerwasser, um sein System anzuwerfen, mehr nicht.

Nils fragte sich, warum Andreas nicht sein bester Freund geworden war. Früher in der Schule waren sie irgendwie nicht ganz auf einer Wellenlänge gewesen, aber hinter seiner rauen Kumpelfassade war Andreas wirklich ein netter Kerl. Ganz anders als Stefan. Wie hatte er sich nur so in ihm täuschen können? Ihm wurde übel vor Wut, wenn er daran dachte, dass sein Freund aus Kindertagen, der nur einen Meter von ihm entfernt am Tisch saß, jetzt mit seiner Frau zusammen war. Vielleicht hatten sie letzte Nacht miteinander geschlafen. Ganz bestimmt hatten sie letzte Nacht miteinander geschlafen. Elke hatte ihre Beine ganz breit gemacht, und dann hatte er seinen Schwanz in sie reingesteckt. Nils musste schlucken; er spürte, wie das Blut aus seinem Kopf wich und ihm der kalte Schweiß ausbrach. Das gleiche Gefühl wie wenn man merkt, dass man zu viel getrunken hat und sich gleich übergeben wird. Nils erhob sich.

»Habt ihr mich beim Fest für irgendwas eingetragen?«, fragte er.

»Ja, wir dachten, da du ja unser Scharfschütze bist, gehst du zum Dosenwerfen.« Seine drei Feuerwehrkollegen sahen ihn erwartungsvoll an, Stefan allerdings nicht so engagiert wie die anderen beiden.

»Sonst noch was?«

»Vielleicht könnte deine Frau einen Kuchen backen«, schlug Andreas vor, so naiv, dass Nils wusste, dass er noch völlig ahnungslos war. Eine derart zynische Bemerkung hätte er ihm nicht zugetraut. Nils’ Blick fixierte Stefan, der ihm allerdings auswich. Er hatte nichts gesagt. Noch nicht. Es würde höchstens noch einen Tag dauern, bis es alle wussten, aber im Moment war Nils froh, dass es kein Thema war.

»Ich werd sie fragen«, sagte er und wollte die Wache verlassen. Die Übelkeit sog ihm die Kraft aus den Beinen.

»Hey, Nils! Ist das Ding überhaupt geladen?«, rief ihm Gregor hinterher. Nils blieb stehen. Vor seinem inneren Auge sah er seine Frau im Bett mit Stefan. Sie bäumte sich unter ihm auf und stöhnte. Nils’ Hand legte sich auf die Waffe. Wenn er jetzt ein paar Gläser Whiskey intus gehabt hätte, hätte er sich umgedreht und das ganze Magazin auf Stefan abgefeuert.

DREI

Vom Fenster aus hatte man einen herrlichen Blick auf das Watt und auf die Nordspitze der Insel, die Odde. Die Flut kam langsam, doch das große Becken zwischen Amrum und Föhr füllte sich immer mehr. Nina stand am Fenster ihres kleinen Zimmers und blickte auf ein Schiff, das ungefähr fünfzig Meter vor der Küste im noch wasserlosen Watt lag. Es schien gestrandet zu sein.

»Gefällt’s dir?«, fragte Georg und berührte ihre Schulter. Nina nickte. Sie mochte es, dass ihr Bett direkt am Fenster stand, so konnte sie immer gleich morgens hinaussehen und abends vom Bett aus die Sterne beobachten.

»Papa, wo geht die Sonne auf?«

Georg deutete nach rechts. »Irgendwo dahinten, und wenn du deinen Kopf ganz weit rausstreckst, kannst du vielleicht den Sonnenuntergang hinter den Dünen sehen.«

Nina sah nach links und beugte sich vor. Georg ging zurück zum Bett, wo die beiden Koffer geöffnet auf der weißen Tagesdecke mit dem goldenen »P« lagen.

»Wo sollen deine Hosen hin?«, fragte er Anita, die schon eine ganze Weile im Bad war.

»Ich mach das schon!«, rief Anita.

»Sag mir doch einfach, wo sie hinsollen.«

Genervt kam Anita aus dem Bad, nahm den Stapel Hosen aus dem Koffer und stopfte ihn in ein freies Schrankabteil.

»Zufrieden?« Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern verschwand wieder im Bad, wo sie ihr Make-up fertig auftrug. Heute Nachmittag hatte sie sich im Stil der sechziger Jahre geschminkt. Sie trug eine weiße, dreiviertellange Hose, eine grüne Bluse und dazu passende Korksandaletten. Georg mochte diesen Retro-Schick. Er stellte sich in den Türrahmen zum Bad und sah zu, wie sie den Lidstrich zog.

»Du siehst toll aus«, sagte er. Anita ließ ihre Hand sinken und sah ihn im Spiegel wie ein trauriges kleines Mädchen an.

»Danke.«

Es entstand eine fast intime Stille zwischen ihnen, und Georg dachte, dass sie zu weit voneinander entfernt standen. Er wollte ihr die Hand reichen. Sie an sich ziehen, diese leere Stelle zwischen ihnen überbrücken und sie halten, fest, ganz fest. Er wollte diesem Kind, das ihn im Spiegel ansah, Schutz geben und Sicherheit.

»Wann gehen wir denn endlich? Ich will zum Strand«, rief Nina.

»Bin gleich fertig«, antwortete Anita, und sofort war ihr Gesichtsausdruck verschwunden. Das kleine Kind war unwiderruflich in sie eingesunken wie in Treibsand. Ihm jetzt noch die Hand zu reichen, war zwecklos.

Auf dem Weg zum Strand blieb Anita gleich am ersten Schaufenster stehen, das sie passierten. Es war das Modehaus Jannen.

»Wir können jetzt aber nicht mehr lange gucken, sonst kriegen wir keinen Strandkorb mehr«, ermahnte Georg sie. Außerdem wusste er, wie gerne Nina ans Wasser wollte.

»Nur zwei Minuten«, sagte Anita.

»Wir warten hier draußen«, meinte Georg, weil er dachte, es würde noch länger dauern, wenn sie mit reinkämen. So setzte er sich mit Nina auf eine Bank, und sie beobachteten die Leute, die an ihnen vorübergingen. Georg wollte irgendetwas Nettes zu seiner Tochter sagen, etwas, das sie wissen ließ, dass ihre Wünsche nicht unwichtig waren, aber er hatte sich in letzter Zeit immer öfter dabei ertappt, wie er sich Nina gegenüber für Anita entschuldigte. Das wollte er nicht mehr. Anita tat nichts, um ihre Tochter zu verletzen, zumindest nicht absichtlich. Und dies war ihr Urlaub. Sie hatten Zeit, alle Zeit der Welt, jetzt und hier auf der Insel, abgeschnitten vom Rest der Welt, abgeschnitten von ihrem alten Leben und ihren alten Problemen. Georg wollte nur noch Spaß haben.

»Wollen wir uns ein Eis kaufen?«, fragte er, und Ninas Augen begannen zu leuchten.

»Ja«, flüsterte sie, als täten sie etwas Verbotenes.

»Na, dann los.«

Anita stand in einer Umkleidekabine in der hinteren Ecke der Damenabteilung. Sie hatte sich den gelben Bikini geben lassen, der ihr im Fenster ins Auge gefallen war. Sie öffnete ihre Bluse und zog den BH aus. Der kühle Bikinistoff ließ ihre Brustwarzen hart werden. Sie sah sich im Spiegel an und war sehr zufrieden. Der Bikini sah großartig an ihr aus. Ihr eigener Anblick und das Gefühl des kühlen Stoffes auf ihren Brüsten erregten sie. Sie leckte sich die Lippen und ließ ihre Hand in die Hose gleiten. Dann machte sie es sich ganz schnell, bis ihr Gesicht gerötet und erhitzt war.

Sie hörte die Bedienung an der Kabine vorbeischleichen.

»Und, sitzt er?«

»Ja, bestens! Ich nehme ihn.«

»Schön«, sagte die Bedienung und ging zurück zur Kasse. Ihre Stimme klang so, als hätte sie etwas bemerkt, aber das störte Anita nicht. Sie hängte das Bikinioberteil wieder auf den kleinen Bügel, zog sich nur ihre Bluse über, stopfte ihren BH in die Handtasche und riss den Vorhang zur Seite.

»Kommt noch was dazu?«, fragte die Dame am Tresen und warf ihr aus dem Augenwinkel einen prüfenden Blick zu.

»Haben Sie auch Sonnencreme?«

»Ja, vorn in der Herrenabteilung. Sie können auch dort bezahlen.«

»Prima, danke.«

Der Mitarbeiter in der Herrenabteilung war kein gut aussehender Mann, aber er war sportlich und trug eine oberflächlich arrogante Aura mit sich herum, wie Anita sie schon häufiger beim Personal in höherpreisigen Bekleidungsgeschäften beobachtet hatte. Das machte ihn zumindest ein wenig interessant. Sie ging forsch auf ihn zu; ihre Brüste wippten unter ihrer Bluse.

»Ich suche Sonnencreme«, sagte sie, und seine Augen landeten sofort auf ihren Brustwarzen, die sich unter dem dünnen Stoff deutlich abzeichneten und sogar ein wenig dunkel durchschimmerten. Er versuchte, ihr in die Augen zu schauen, als er antwortete.

»Gleich hier drüben.«

Er führte sie zu einem kleinen Regal und stemmte eine Hand in die Hüfte. Eine Geste, die Sicherheit ausdrücken sollte, aber genau das Gegenteil bewirkte.

»Welchen Lichtschutzfaktor möchten Sie denn?«

»Welchen brauche ich denn?« Anita hob ihren Kopf leicht an, sodass er noch mehr von ihrem Dekolleté sehen konnte. Sein nervöser Blick wanderte in ihren Ausschnitt, spielte Pingpong mit ihren Brustwarzen und wanderte schnell wieder zurück in ihr Gesicht. Seine Arroganz war nur noch eine Erinnerung. Er war vollkommen in ihrer Hand.

»Ich … ich würde sagen, Sie brauchen nicht mehr als zwanzig.«

»Zwanzig? Das reicht, Ihrer Meinung nach?«

»Äh … doch, ich denke schon, ja.«

»Sie denken? Aber Sie wissen es nicht.«

»Nein, aber … also das reicht auf jeden Fall für Sie.«

»Und wenn ich mich nun verbrenne?«

Er räusperte sich und kratzte sich ungeschickt am Hals.

»Nun, dann vielleicht doch eher fünfundzwanzig«, meinte er.

»War das eine Frage?«, wollte Anita wissen.

»Nein.« Jetzt war er nur noch ein klägliches Häufchen Unsicherheit in einem pinkfarbenen Daniel-Hechter-Hemd. Anita hatte keine Lust mehr.

»Geben Sie mir die Zwanziger, und den hier zahle ich auch.« Sie hielt den Bikini hoch.

»Gern«, sagte er fast erleichtert und ging mit ihr zur Kasse.

Georg und Nina saßen auf der Bank vor dem Geschäft und aßen ein Eis, als sie wieder auf die Straße trat. Anita hatte etwas anderes erwartet. Sie hätten dort mit mürrischen Gesichtern sitzen sollen, und Georg hätte noch diesen beleidigt-verzweifelten Ausdruck aufgesetzt haben müssen, den er immer hatte, wenn ihm etwas nicht passte, er aber seinen Mund hielt, aus was für Gründen auch immer. Sie war überrascht und vergaß völlig, den Bikini zu erwähnen, den sie eigentlich hatte präsentieren wollen, als sie zu ihnen hinüberging.

»He, und wo ist mein Eis?«, fragte sie stattdessen. Nina lachte sie mit weißen Zähnen und brauner Zunge an und leckte dabei einige Tropfen Schokoeis von der Waffel. »Ihr könnt doch nicht einfach ohne mich ein Eis kaufen.«

»Wie du siehst, konnten wir doch!«, sagte Georg und lächelte sie ungewohnt angriffslustig an.

»Ihr beiden seid ganz schön frech, ich finde, das muss bestraft werden.« Anita setzte sich neben ihre Tochter und begann, sie unter den Armen zu kitzeln.

Beinahe wäre Nina ihr Eis runtergefallen, als sie zusammenzuckte und aufschrie vor Lachen.

»Gibst du mir wohl einen Bissen ab?«, neckte Anita sie, und Nina sprang auf und rannte vor ihrer Mutter davon. Die setzte gleich zur Verfolgung an. Einige Passanten lächelten, als sie die beiden so durch die Fußgängerzone laufen sahen. Georg ging langsam hinter ihnen her und genoss die ausgelassene Stimmung der beiden.

Auf Höhe des Crêpe-Ladens blieb Nina stehen und bettelte darum, noch einen Crêpe haben zu dürfen, doch das erlaubten sie nicht. Hand in Hand gingen die drei weiter in Richtung Strand. Auf dem schattigen Weg an den Kinderkliniken vorbei sagten sie kein Wort. Das Schweigen war angenehm. Denn alles war in Ordnung.

Bei dem kleinen Birkenwäldchen roch es ein wenig morastig. Der Wind wurde immer stärker, je näher sie dem Strand kamen. Nach einer Kurve hörte der Wald auf, und man konnte die Dünen in der Sonne leuchten sehen. Aus einem Gully kam ein schrecklicher Geruch nach Fäkalien, und Nina hielt sich die Nase zu. Ihre Kleidung flatterte an ihren Körpern, und Sand knirschte unter ihren Schuhen. Sie liefen gegen den Strom. Der Tag am Wasser war beendet, und die meisten Leute kamen ihnen nun entgegen. Die Menschen gingen nach Hause, wollten duschen und einkaufen oder irgendwo essen gehen. Schließlich hatten die meisten Restaurants nur bis neun Uhr warme Küche.

Es war fast vier, als sie den Kamm erreichten, hinter dem man endlich das Meer sehen konnte. Sie blieben stehen. Es ist ein grandioser kleiner Moment, wenn man zum ersten Mal das Meer sieht. Jeder staunte für sich in diesen Moment hinein, bis Anita Georgs Hand losließ.

»Kümmerst du dich um den Strandkorb? Wir gehen schon mal vor.« Es war wie eine Frage formuliert, aber nicht so gemeint.

Georg sah ihnen noch einen Augenblick hinterher, dann wandte er sich um und wendete sich an den Strandkorbvermieter. Es gab drei Vermietungen hier, und Georg stand zufällig an der mittleren. Der Besitzer war blond, dieses Strandblond mit an der Oberfläche fast weiß gebleichten und darunter durchschimmernden dunkleren Haaren. Er trug eine große dunkle Sonnenbrille und saß sehr entspannt in seinem Strandkorb, mit einem kleinen Block auf dem Schoß. Nur seine Beine ragten aus dem Schatten heraus. Sie hatten die Farbe von Georgs alter Ledertasche.

»Ich hätte gern einen Strandkorb für zwei Wochen«, sagte Georg. Er konnte die Augen des Mannes hinter der Sonnenbrille nicht entdecken. Konnte man die Augen eines Menschen nicht sehen, war das ein wenig wie Drahtseillaufen, fand Georg. Man hatte ständig das Gefühl, den Halt zu verlieren.

»Da haben Sie Glück. Ich wollte gerade Feierabend machen«, sagte der Mann und blätterte in seinem Block. »Und Sie haben schon wieder Glück. Sind noch drei Körbe frei. Möchten Sie eine bestimmte Farbe?«

Auf der Seite im Block, die jetzt aufgeschlagen war, standen nur drei dreistellige Nummern. Sonst nichts. Georg konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann wusste, welche Farbe diese drei Nummern hatten.

»Haben Sie einen roten?«

»Dreimal Glück! Das ist wohl eine Strähne«, sagte der Mann und lächelte unter seiner Brille, wobei er seine langen friesischen Zähne zeigte. »129 ist rot und fast neu. Wird Ihnen gefallen. Wo soll er denn stehen? Links, rechts, oben, unten?«

»Links, denke ich. Aber da muss meine Frau noch mitentscheiden«, meinte Georg.

»Ich schick Ihnen meinen Sohn mit, der wird sich drum kümmern. Claas, hilfst du dem Herrn bitte? 129.«

Der Sohn sah exakt so aus wie sein Vater, nur einen Kopf größer und dreißig Jahre jünger. Er trug nur Badeshorts. Sein Körper war durchtrainiert und sonnengebräunt, die Haare ebenso blond wie die seines alten Herrn. Georg sah ihn an und wusste, dass seine gute Laune bald ein Ende finden würde. Der Junge war freundlich und aufgeschlossen. Er grüßte ungefähr hundertzwanzig Leute auf dem Weg zum Strand hinunter, wo Anita und Nina einige Meter weiter vorn standen, etwas abseits vom Strom der Menschen.

»Anita!«, rief Georg und winkte sie zu sich. Er wusste, mit diesem Lockvogel an seiner Seite würde es nicht lang dauern, bis sie seiner Aufforderung folgte.

Anita genoss den kurzen Weg sichtlich, sie kostete die paar Meter voll aus. Ein sandiger Catwalk für ein Zwei-Personen-Publikum.

Claas, der hier mit Sicherheit jedes Jahr die schönsten und jüngsten Touristinnen abschleppte, hatte jetzt nur noch Augen für sie. Er wartete lächelnd auf ihre Ankunft und versuchte dabei krampfhaft, nicht mehr als reine Strandkorbvermieter-Höflichkeit in seinem Blick zu zeigen.

»Wo möchtest du den Korb denn stehen haben?«, fragte Georg, als Anita sie noch nicht ganz erreicht hatte, um ihrem balzenden Gang zumindest verbal ein Bein zu stellen.

»Hallo«, sagte Anita, Georg ignorierend, und reichte Claas die Hand. Er nahm sie und nickte einmal. Nach einer kurzen Kosten-Nutzen-Abwägung verbiss er sich ein Begrüßungswort. Die Dame war verheiratet, und was hier ablief, war offensichtlich. Er hätte ihr gern mehr von seinem Charme gezeigt, denn was nützte einem die Waffe, wenn man nicht damit schoss, doch er wollte kein Öl ins Feuer gießen.