Bis dass dein Tod uns scheidet - Darja Donzowa - E-Book + Hörbuch

Bis dass dein Tod uns scheidet Hörbuch

Darja Donzowa

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Beschreibung

Die neue Miss Marple aus Moskau.

Das Sommeridyll auf Tanjas Datscha wird jäh gestört. Professor Slawin wurde ermordet. Unter seinen Ex-Frauen und Geliebten herrscht Einracht und Frieden. Doch wer war er wirklich? Mit Charme und vielen Tricks beginnt Tanja zu ermitteln, und wie immer helfen ihr Zufall und Glück dabei.

Darja Donzowa verbindet atemberaubende Spannung mit Witz und Humor.

„Abgründig komisches Pointengewitter. Feinste Comedy.“ Literaturen.

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Zeit:11 Std. 26 min

Sprecher:Katinka Springborn

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Informationen zum Buch

Die neue Miss Marple aus Moskau.

Das Sommeridyll auf Tanjas Datscha wird jäh gestört. Professor Slawin wurde ermordet. Unter seinen Ex-Frauen und Geliebten herrscht Einracht und Frieden. Doch wer war er wirklich? Mit Charme und vielen Tricks beginnt Tanja zu ermitteln, und wie immer helfen ihr Zufall und Glück dabei.

Darja Donzowa verbindet atemberaubende Spannung mit Witz und Humor.

»Abgründig komisches Pointengewitter. Feinste Comedy.« Literaturen

Darja Donzowa

Bis dass dein Tod uns scheidet

Kriminalroman

Aus dem Russischen von Helmut Ettinger

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

Anmerkung

Über Darja Donzowa

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

1. Kapitel

Sommersonne schien freundlich zu meinem Fenster herein. Ich musste niesen und streckte mich genussvoll. Wie gut, dass es an diesem Morgen nicht regnete und wir endlich auf der Datsche angekommen waren. Mit dem Aufstehen hatte es keine Eile. Für Kira und Lisa waren jetzt nur noch Ferien. Unsere Hunde jagten mit fröhlichem Gekläff über den Hof. Ihnen und den Kindern geht es hier draußen am besten – freie Natur, so weit das Auge reicht. Aber meine beiden hockten noch im Haus herum. Von unten drang Lisas schrille Stimme herauf: »Kira – Verlierer!«

»Selber Verlierer!«, gab der zurück.

»Kira – Radierer!«

Es polterte laut. Offenbar hatte sich der Junge auf das freche Ding gestürzt, aber Lisa war durchs Fenster nach draußen gesprungen und rief nun vom Hof: »Kiralein – Stachelschwein, Kiralein – Stinkerlein!«

Kira steckte den Kopf durchs Fenster und wollte es ihr ordentlich zurückgeben: »Lisa … Lisa … Lisamaus …«

»Na, na, und …?«, neckte ihn das freche Gör. »Wie weiter? Na, los!«

»Mist!«, brüllte Kira wütend. »Auf deinen blöden Namen reimt sich ja nichts!«

»Aber auf deinen!« Lisa hörte nicht auf. »Kira klein – macht sich ein! Kira groß – voll die Hos!«

Das war nun wirklich zu viel. »Na warte, wenn ich dich kriege!«

»Versuch’s doch!«, kreischte Lisa fröhlich, sprang auf ihr Fahrrad und jagte zum Tor hinaus.

»Kira lang – Angst und Bang! Kira kurz – lässt ’nen Furz!«, klang es schon aus der Ferne.

Kira lief auf den Hof hinaus und schimpfte lästerlich. Das Mädchen war längst über alle Berge. Ihr Drahtesel hatte die Nacht vor der Tür verbracht, seiner dagegen stand, wie es sich gehörte, angeschlossen in der Garage.

Nun musste ich wohl eingreifen. Als ich aus dem Fenster meines Zimmers schaute, sah ich den Knaben hilflos mitten auf dem Hof stehen.

»Keine Bange, Kira, dir fällt schon noch was ein!«

Der hob den Kopf und stieß wütend hervor: »Daran bist nur du schuld, Tanja! Lisa darf alles! Und mir sagst du immer, man soll zu Mädchen höflich sein … Was kommt denn raus bei der guten Erziehung, he? Eins aufs Maul muss sie kriegen, dann ist sie stille!«

»Aber ein Mann schlägt doch keine Frau!«

»Blödsinn!«, gab Kira zurück. »Wir haben jetzt Gleichberechtigung! Und sie darf mich ärgern, wie sie will? Hör auf mit deinen Prinzipien! Die sind ja aus der Steinzeit! Nicht mal Computer habt ihr damals gehabt! Die Kinder sind heute eben anders. Wart’s nur ab, Lisa, dir reiß ich die Ohren ab!«

»Erst mal musst du sie kriegen«, erwiderte ich und machte mich auf den Weg zur Küche. Zeit für ein gemütliches Frühstück.

Kira ist in dem Alter, das die gelehrten Psychologen mit dem Wort Pubertät beschreiben. Einfach gesagt, ist das die Zeit, da dem Vögelchen die ersten Federn wachsen. Plötzlich fordert es für sich die Rechte der Großen, klammert sich aber zugleich an die Privilegien der Kleinen. Über Kira kann ich eigentlich nicht klagen. Er raucht nicht, hat noch nicht nach der Flasche gegriffen oder aus der Plastiktüte geschnüffelt. Aber manchmal kann man sich jetzt mit ihm überhaupt nicht mehr einigen. Frech fordert er, dass ich alle meine Verbote begründe. Man darf nicht bis in den frühen Morgen Videos gucken? Wieso nicht? Es sind Ferien, bis zum Mittag habe ich ausgeschlafen. Man kann den Tag nicht mit Schokolade anfangen? Haferflocken sind gesünder? Was für ein Unsinn! Von zu viel Süßem kriege ich Bauchschmerzen? Es ist doch mein Bauch! Und das Bauchkniepen vergeht auch wieder. Ich soll nicht ohne Jacke im Regen herumlaufen? Das macht doch Spaß! Ja, wenn man alt und über dreißig ist …

Lisa hat sich andere Schrullen zugelegt. Mehrmals täglich wechseln bei ihr Lachen und Weinen. Stundenlang kann sie vor dem Spiegel sitzen und alle ihre Sachen durchprobieren. Wenn sie damit fertig ist, reißt sie sich das letzte Fähnchen vom Leib und stöhnt verzweifelt: »Da ist ja furchtbar! Ich bin eine scheußliche, fette Kuh mit Haaren wie Stroh und Äuglein wie ein Ferkel. Aufhängen müsste ich mich!«

Dabei ist Lisa ein nettes Mädchen, das sich in fünf Jahren ganz bestimmt zu einem strahlenden Schwan mausern wird. Aber dem jungen Entlein fehlt es einfach an Geduld und ein wenig Gelassenheit.

Lisa und Kira wachsen miteinander auf, könnten aber verschiedener nicht sein. Kein Wunder – sie sind nicht miteinander verwandt. Wir leben alle drei einträchtig zusammen, doch ich bin nicht ihre Mutter, besser gesagt, ich habe sie nicht zur Welt gebracht.

Kira ist der Sohn meiner besten Freundin Katja, einer Chirurgin. Sie hat noch einen Sohn – Serjosha. Der ist schon fünfundzwanzig und mit Julia verheiratet. Alle drei sind im Moment in Amerika, wo Katja in einer Klinik arbeitet. Kira ist bei mir in Moskau geblieben.

Ich will mich hier nicht lange darüber verbreiten, wie ich in Katjas Familie geraten bin. Ich bin geschieden, habe selber keine Kinder und kümmere mich gern um Kira und Lisa.

Das Mädchen hat uns der Zufall gebracht. Ihr Vater, der bekannte Schriftsteller Kondrat Rasumow, kam auf tragische Weise ums Leben. Ihre Mutter hatte ihm schon bei der Geburt des Mädchens alle ihre Rechte abgetreten. Ich war zu der Zeit Rasumows Haushaltshilfe und habe Lisa zu mir genommen. Obwohl es nicht leicht war, habe ich schließlich die Vormundschaft über sie erhalten. Unser großzügiger Staat zahlt mir dafür 180 Rubel im Monat. Davon soll ich sie doch tatsächlich ernähren, kleiden und ihr eine Ausbildung ermöglichen. Aber wir lassen den Kopf nicht hängen. Katja und Serjosha verdienen in Miami so viel, dass es auch für uns reicht. Außerdem will ich niemandem auf der Tasche liegen, nicht einmal der besten Freundin. Ich habe mir also eine Arbeit gesucht. Das war nicht einfach, denn ich habe einen seltenen Beruf, den in unserer Zeit keiner braucht. Ich bin Harfenistin. Zum großen Star hat mein Talent allerdings nicht gereicht. Ansonsten kann ich nicht viel. Eines doch: Ich vergöttere Kriminalromane und verschlinge Unmengen davon. Dabei habe ich festgestellt, dass mein Hirn irgendwie dafür geschaffen sein muss: Meist weiß ich schon nach den ersten vierzig Seiten, wer der Mörder ist.

In diesem Frühjahr hatte ich Glück. In der Metro bin ich Dima Kowaljow, einem Studienkollegen aus dem Konservatorium, über den Weg gelaufen. Auch er ist kein großer Musiker geworden. Er spielt Geige, aber leider nicht wie Wladimir Spiwakow. Wir freuten uns beide und ließen uns auf einer Bank nieder. Dima berichtete traurig: »Du wirst nicht glauben, was ich jetzt mache. Zusammen mit Wanja Lykow und Darja Medwedewa spiele ich bei Hochzeiten, Kindtaufen und ähnlichen Gelegenheiten – wo man uns gerade braucht. Kannst du dich noch an Wanja und Darja erinnern?«

Das konnte ich. Wir tauschten die Telefonnummern aus und gingen unserer Wege. Eine Woche später rief Dima unerwartet an.

»Tanja, du musst uns aus der Patsche helfen! Darja hat geheiratet und sich nach Deutschland abgesetzt.«

»Was soll ich denn machen?«

»Für sie einspringen! Nur eine Woche, bis wir jemand neues gefunden haben!«

»Was bringt euch denn meine Harfe?«

»Nein, die passt wirklich nicht«, seufzte Dima, »aber Keyboard kannst du doch auch spielen, oder?«

»Na ja, wenn wir ein bisschen proben …«

»Du bist ein Schatz!« Dima war erleichtert. »Fünfhundert Dollar sind verdient wie nichts, die Leute reißen sich um uns!«

Ich habe mich also breitschlagen lassen und ziehe nun mit den Jungs durch die Gegend. Unsere »Band« besteht aus Gitarre, Saxophon und meinem Yamaha-Keyboard. Was wir fabrizieren, klingt einfach grauenhaft. Die Bremer Stadtmusikanten haben sich bestimmt harmonischer angehört als wir. Aber unsere Kunden verstehen nicht viel von Musik. Bei einer Hochzeit kommt es darauf an, am Anfang Mendelssohns Marsch möglichst laut zu spielen. In unserer Besetzung klingt er sehr originell. Dann haben es alle eilig, an Teller und Flaschen zu kommen. Bald ist Stimmung im Saal. Nun sind nur noch drei Hits der Volksmusik gefragt: »Katjuscha«, »Kalinka« und »Rjabinuschka«, das Lied von der Eberesche. Am besten, wir spielen sie mal langsam und mal schnell. Mehr wollen die Leute nicht. Solche bescheidenen Wünsche erfüllen wir bereitwillig und erfreuen uns daher wachsender Beliebtheit. Mundpropaganda ist die beste Werbung. Inzwischen macht mir die Sache sogar Spaß. Man schaut in fröhliche Gesichter und wird großzügig bewirtet. Ein Problem ist nur, dass Wanja und Dima selber gern einen heben. Ich muss höllisch auf sie aufpassen. Zu später Stunde bin ich manchmal schon solistisch aufgetreten, weil meine beiden Begleiter zusammen mit einem Teil der Gäste unter dem Tisch schnarchten. So ist die »Dienstverweigerung« kaum jemandem aufgefallen.

Die Datsche, wo wir jetzt wohnen, habe ich von meinen Eltern geerbt. Sie liegt in Aljabjewo, einem zauberhaften kleinen Ort kaum zwanzig Minuten von Moskau entfernt, wenn man den Vorortzug nimmt.

Das Haus hat mehrere Zimmer, fließend warmes und kaltes Wasser, Gas, ein Bad und sogar ein Telefon. Mein Vater war ein bekannter Wissenschaftler, der Raketen konstruierte. Als Akademiemitglied stand ihm eine staatliche Villa auf dem Lande zu. Meine Mutter, eine Opernsängerin, war davon begeistert. Aber Papa, der sonst jede Alltagsfrage ihr überließ, übertönte sie im entscheidenden Gespräch, was bei ihrer Stimmgewalt nicht einfach war.

»Red keinen Unsinn!«, rief er aufgebracht. »Wir haben eine Tochter! Wenn ich mal nicht mehr bin, fliegt ihr am nächsten Tag aus dem Haus! Wir werden selber eins bauen, dann hat die Kleine immer einen Ort, wo sie bleiben kann!«

Mama gab wütend zurück: »Wir werden beide hundert Jahre alt und sterben an einem Tag!«

Mein Vater behielt leider recht. Wie so mancher seiner Kollegen schied er schon früh aus dem Leben. Deren Witwen besuchten uns ab und zu in Aljabjewo. Wenn wir auf unserer schönen Veranda beim Tee saßen, bekamen wir so manchen Stoßseufzer zu hören: »Euer Vater war ein weiser Mann. Er hat an die Zukunft gedacht. So ein Refugium müsste man haben …«

Aljabjewo hat viele Vorteile. Die Luft ist rein, und ein klares Flüsschen plätschert vorbei. Dabei hat das Haus allen Komfort, als stünde es mitten in der Stadt … Mein Vater war Wissenschaftler im Generalsrang. Nikita Chruschtschow schätzte seine Militärs und sorgte dafür, dass es ihnen gut ging. Daher haben wir ein riesiges Grundstück, wo es für mich bis heute noch unentdeckte Winkel gibt. Auf den Nachbargrundstücken wohnen die Generale Rjabow und Sokolow, aber ihre Häuser sind so weit weg, dass wir nachts nicht einmal die Lichter sehen.

Aljabjewo ist wunderbar bis auf einen kleinen Mangel. Die Vorortbahn fährt nur bis Peredelkino. Von der Bahnstation kann man mit dem Bus oder dem Linientaxi in das berühmte Schriftstellerdorf gelangen. Von dort bis zu uns ist es noch ein gutes Stück Fußweg durch Feld und Wald. Es gibt auch eine Straße, aber Militärs bekommen selten Besuch, und die Chance ist gering, von einem freundlichen Autofahrer mitgenommen zu werden. Katja und Serjosha sind natürlich motorisiert, ich dagegen habe keinen Führerschein.

Als meine ziellosen Gedanken in der Sommersonne diesen Punkt erreicht hatten, fiel mir ein, dass heute ein besonderer Tag war. Um fünf Uhr nachmittags erwartete mich mein Fahrlehrer zur ersten Unterrichtsstunde. Das musste doch zu packen sein.

Gähnend kam ich in die Küche. Kira saß mit düsterer Miene vor dem Fernseher.

»Mach, dass du nach draußen kommst.«

»Keine Lust«, erwiderte er.

Da war auch Lisa schon wieder zur Stelle, in ihrem Schlepptau Kostja Rjabow, der Enkel des Generals von nebenan. Nun fingen beide an, Kira zu hänseln. Was für Namen sie ihm an den Kopf warfen! Ich musste eingreifen.

»Hört endlich auf mit diesen blödsinnigen Spitznamen!«

»Oh!«, jubelte Lisa. »Mir fällt was viel Besseres ein! Komm Kira, wir binden dir eine Schleife ins Haar!«

»Dann fehlt dir nur noch ein Röckchen«, johlte Kostja.

Kira lief dunkelrot an, sprang auf und hieb mit aller Kraft die Faust auf den Tisch. Kaffee und Tee schwappten auf die Wachstuchdecke.

»Jetzt ist Schluss! Ich hab aber auch einen blöden Namen! Daran ist nur Mama schuld! Serjosha hat einen Namen wie alle anderen! Was musste sie mir so einen idiotischen geben!«

»Kira – von Kyrill – klingt doch gut«, wandte ich ein. »Immerhin haben Kyrill und Method das kyrillische Alphabet erfunden …«

»Method«, wieherte Kostja los, »das ist ja noch besser!«

»Also, Tanja«, murmelte Kira vor sich hin, »manchmal ist kauen besser als reden.«

»Ich weiß, wovon ich spreche«, beharrte ich.

Heute lasse ich mich Tanja nennen. Das war nicht immer so. Meine Eltern haben mir den Namen Jefrossinja gegeben. Der war viel zu lang, deshalb nannten sie mich alle nur Frossja. Darunter habe ich als Kind mindestens so gelitten wie Kira. In meiner Klasse hießen fünf Mädchen Lena und mindestens ebenso viele Natascha. In der ganzen Schule war ich die einzige Frossja. Das blieb auch so, als ich ans Konservatorium kam, wo es von angehenden Künstlern mit verrückten Namen nur so wimmelte. Wie ich diese Frossja hasste!

Schon im zweiten Semester wurden wir zum Arbeitseinsatz in einen Kolchos geschickt und auf die Bauernhöfe aufgeteilt. Am Morgen gegen sechs stand die Bauersfrau auf dem Hof und schrie, was das Zeug hielt: »Frossja, Frossja, Frossja!«

Beim ersten Mal stürzte ich im Nachthemd auf die Vortreppe und fragte erschrocken: »Was ist denn los?«

»Na, nichts«, antwortete die Bauersfrau.

»Aber Sie haben doch gerufen: Frossja, Frossja …«

»Na und? So heißt meine Ziege! Die muss aus dem Stall, der Hirt nimmt sie auf die Weide mit …«

Als ich mich dann entschloss, meinen widerwärtigen Ehemann zu verlassen und ein neues Leben anzufangen, erklärte ich Katja, Serjosha, Julia und Kira einfach, ich hieße – Tanja. Wie ich auf diesen Namen gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Auf alle Fälle kann ich Kira sehr gut verstehen.

»Kira-Kater macht Theater!«, fing Lisa wieder an.

Das war dem Jungen nun endgültig zu viel. Er sprang auf und donnerte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Mir reicht’s! Ich ändere meinen Namen!«

»Wie willst du denn das machen?«, fragte ich verblüfft.

»Ganz einfach«, antwortete das Bürschchen. »Wenn ich meinen Ausweis bekomme, dann nenne ich mich …«

»Na, wie denn?«, riefen die Quälgeister. »Na, sag schon! Wie denn?«

»Richard!«, platzte Kira heraus. »Von jetzt an antworte ich nur noch, wenn man mich Richard nennt!«

»Richard Löwenherz«, murmelte ich vor mich hin.

»Genau!« Kira strahlte. »Richard Löwenherz!«

Da klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab.

»Hallo!«

»Tanja!«, ratterte meine Freundin Alina am anderen Ende der Leitung los, »wie gut, dass ich dich noch erwische! Du musst mir helfen!«

»Worum geht’s denn?«

»Mascha, mein Sorgenkind, wird in ihrer Musikschule nur dann ins dritte Jahr übernommen, wenn sie über den Sommer eine lange Liste von Testfragen richtig beantwortet. Allein schafft sie das nie! Was die da alles wissen wollen! Wie definiert man die Harmonie? Was wissen denn unsere Kinder heute noch von der Harmonika?«

»Die Harmonie ist keine Harmonika«, gab ich trocken zurück.

»Da siehst du’s! Sei lieb und hilf ihr. Wir treffen uns heute Nachmittag um fünf an der Metrostation Dynamo, beim Ausgang zum Markt.«

»Ich kann nicht, ich habe Fahrstunde, aber morgen ginge es.«

»Wir fliegen doch schon heute in die Türkei!«, kreischte Alina auf. »Ich wollte dir den Fragebogen auf dem Weg zum Flugplatz in die Hand drücken. Bis zu Dynamo hast du es doch nicht weit!«

»Weißt du nicht, dass ich auf der Datsche bin?«

»Sag deine Fahrstunde ab!«

»Nein, das mache ich nicht«, erwiderte ich wütend. »Ich denke nicht daran.«

»So eine bist du also!«, schimpfte Alina jetzt. »Wegen dir fliegt Mascha von der Musikschule!«

Mir lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Mascha, der kleine Faulpelz, hätte regelmäßig den Unterricht besuchen und den Lehrern zuhören sollen. Musik verlangt wie Mathematik oder russische Sprache, dass man sich ernsthaft damit beschäftigt. Aber ich hörte mich plötzlich etwas ganz anderes sagen: »Also gut, was können wir da machen? Ich könnte dir Kira zur Metro schicken. Kannst du dich an ihn erinnern?«

»Den habe ich ewig nicht gesehen. Was hat er denn an?«

»Blaue Jeans, ein T-Shirt von Adidas, Turnschuhe und ein Basecap. Er ist nicht groß, etwa so wie ich, blondes Haar und blaue Augen.«

»Okay!«, rief Alina erfreut. »Ich komme in so einem braunen indischen Rock, die sie jetzt überall verkaufen, und einem beigefarbenen Pulli.«

»Gut, ich sage ihm: Eine schlanke Brünette im …«

»Seit einer Woche bin ich blond!«, unterbrach mich Alina. »Sag ihm, ich habe einen großen weißen Umschlag mit dem Fragebogen in der Hand. Hauptsache, er kommt nicht zu spät!«

Ich warf den Hörer auf die Gabel und rief zum Fenster hinaus: »Kira!«

Der bastelte an seinem Fahrrad und hob nicht einmal den Kopf.

»Kira, hörst du nicht?«

Keine Antwort.

»He, Kyrill, bist du taub?«

Null Reaktion.

Ach, das hatte ich doch ganz vergessen.

»Richard!«

Nun hob der Bengel den Kopf und fragte: »Ich höre?«

»Komm bitte mal rein.«

Kira wischte sich in aller Ruhe die Hände ab und trat mit ernster Miene in die Küche.

2. Kapitel

Der Fahrlehrer war kaum fünfundzwanzig, ein langer dünner Kerl. Als ich zu ihm in den Lada stieg und mich hinters Lenkrad klemmte, fragte er mit einem Seufzer: »Den theoretischen Kurs haben Sie besucht?«

»Ja.«

»Und, wissen Sie noch was davon? Was haben wir denn unter der Kühlerhaube?«

»Den Motor.«

»Geht es vielleicht etwas genauer?«

»Den Motor, die Batterie, den Kühler, den Ventilator …«

Der Fahrlehrer maß mich mit einem erstaunten Blick und brummte dann: »Na gut. Da unten vor Ihren Füßen sehen Sie drei Pedale – Gas, Bremse und Kupplung. Zuerst treten wir vorsichtig …«

Ich hörte ihm aufmerksam zu.

»Na los«, kam es jetzt im Befehlston, »fang an.«

Ich bemühte mich, genau das zu tun, was er gesagt hatte. Ich trat die Kupplung bis zum Anschlag durch, legte den Gang ein und trat aufs Gas … Der Wagen tat einen Sprung, dann ging der Motor aus.

»Vorsichtiger«, mahnte der Fahrlehrer, »die Kupplung nicht so schnipsen lassen. Noch mal von vorn.«

Fünfzehn Mal versuchte ich anzufahren, immer vergeblich. Dann rollte mein Lada mit einem Mal wie von selbst los. Aber er fuhr nicht gerade, sondern in einer Schlangenlinie.

»Der Wagen gehorcht mir nicht«, flüsterte ich, »er macht, was er will!«

»Keine Angst!«, rief der Fahrlehrer. »Halt das Lenkrad still und sitz nicht da wie ein Ölgötze! Du musst dich zurücklehnen, dich entspannen und genießen.«

So ein Idiot! Was gab es da zu genießen, wenn die Karre bockte wie ein Esel?

Als ich nach der Fahrstunde wieder auf der Datsche ankam, war ich in Schweiß gebadet, hatte weiche Knie und eine Stinkwut. Das lerne ich nie!, schoss es mir durch den Kopf. Wie brachten es Katja, Serjosha und Julia nur fertig, so locker über die Chaussee zu rollen?

Kira saß in der Veranda und trank Tee.

»Kira, hast du das Kuvert? Zeig mal her!«

Der ließ ungerührt Konfitüre in seinen Tee tropfen.

»Richard, wo ist der Umschlag?«

Kira stand auf, nahm ein weißes Kuvert vom Fensterbrett und reichte es mir. »Bitteschön, meine Dame.«

Der Umschlag war ziemlich dick. Das musste ja ein Test mit tausend Fragen sein! Hoffentlich wusste ich alle Antworten. Sonst blieb mir nichts übrig, als in unsere Stadtwohnung zu fahren und im Musiklexikon nachzuschlagen.

Auf dem Hof wurde es plötzlich lebendig. Ich schaute aus dem Fenster. Von der Terrasse her stieg mir starker Jasminduft in die Nase. Lisa sauste auf ihrem klappernden Fahrrad von der Garage zum Hoftor. An einer langen Schnur, die am Gepäckträger befestigt war, zog sie eine dicke Möhre hinter sich her. Unsere ganze Hundemeute jagte ihr kläffend nach.

Es sind vier – die beiden Möpsinnen Mulja und Ada, die Staffordshire-Terrier-Dame Rachel und der Mastino-neapolitano-Mischling Ramik. Den haben Lisa und ich seinerzeit klein und winzig, in einer Plastiktüte verpackt, in einer Schneewehe gefunden. Das war direkt vor dem Supermarkt Ramstore, daher der Name. Unsere Hunde sind eine fröhliche Rasselbande und stehen auch mit unseren drei Katzen namens Klaus, Semiramis und Pingu auf gutem Fuß. Letzterer haben wir schon ganz klein wegen ihres schwarzweißen Fells diesen Namen gegeben. Damals glaubten wir, es sei ein Kater. Vom Gegenteil überzeugten wir uns erst relativ spät. Nun ist sie unser Pingu geblieben. Die Kröte Gertrud vervollständigt unseren Zoo, sie sitzt meist ruhig in ihrem Terrarium und verfolgt das Treiben in unserem Hause mit melancholischem Blick.

In der Stadtwohnung benehmen sich unsere Vierbeiner recht ordentlich. Aber auf der Datsche, in der berauschenden frischen Luft und wenn noch eine dicke Möhre vor der Nase herumtanzt …

Ich setzte mich in einen Sessel und riss den Umschlag auf. Mir fielen ein paar Fotos und … Geldscheine entgegen. Befremdet zählte ich die Banknoten durch. Es waren genau zweitausend Dollar. Von den Fotos blickte mir ein feiner Herr mittleren Alters entgegen. Er hatte ein volles, sorgfältig rasiertes Gesicht mit einer dicken Unterlippe. Da die Mundwinkel ein wenig nach unten gezogen waren, wirkte seine Miene leicht unzufrieden. Die großen graublauen Augen schauten streng, die Nase war kräftig und gerade. Mit den Haaren sah es nicht so gut aus. Ehrlich gesagt, fehlten sie fast völlig. Allerdings konnte man nicht genau erkennen, ob er eine Glatze hatte oder sich nur den Schädel rasierte.

Der Umschlag enthielt drei Fotos. Auf einem stand der Mann an einem Auto, einer riesigen, ausländischen schwarzen Limousine. Auf dem zweiten hatte man ihn offenbar in einem Restaurant fotografiert. Zumindest war außer seinem lächelnden, zufriedenen Gesicht auch noch ein Stück von dem reich gedeckten Tisch und ein Kellner mit schneeweißer Serviette über dem Arm zu sehen. Das dritte war sicher vor einem Landhaus aufgenommen. Zwischen grünen Bäumen stand der Mann in Shorts und T-Shirt. In der rechten Hand hielt er einen Tennisschläger. Wahrscheinlich war der nur Staffage, denn mit so einem Bauch bekam er wohl kaum einen Ball.

Entgeistert schaute ich mir das Ganze an. Und wo war nun der Test?

»He, Kira, Verzeihung, Richard, was hat Alina denn gesagt?«, rief ich zum Fenster hinaus.

Wie der Blitz war Kira auf der Veranda, nahm sich eine Birne, biss ein großes Stück ab und antwortete dann mit vollem Mund: »Wir haben gar nicht miteinander geredet.«

»Wieso nicht?«, fragte ich erstaunt. »Erzähl mal bitte etwas genauer.«

Kira atmete tief durch und berichtete Folgendes.

Er war zehn Minuten vor fünf an der Metrostation Dynamo angekommen. Die Frau im braunen Rock, in gelbem T-Shirt und mit einem Umschlag in der Hand lief schon aufgeregt zwischen den Säulen hin und her. Als sie ihn erblickte, kam sie rasch auf ihn zu und fragte nervös: »Richard?«

»Ja«, antwortete Kira.

»Hier, nimm!«, sagte sie nur und drückte ihm den Umschlag in die Hand. Das war alles.

»Wie – alles?«

»Na, eben alles.« Der Junge zuckte die Achseln. »Dann ist sie in den nächsten Zug gestiegen.«

»In den Zug?!«

»Wieso nicht? Ich bin dann auch gefahren. Nur, sie hat den Zug in Richtung Zentrum genommen.«

»Hast du Alina erkannt?«

Kira schüttelte den Kopf.

»Nee. Es ist ewig her, seit ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Ich kann mich nur erinnern, dass sie irgendwie sehr mager war und dunkle Haare hatte. Aber du hast doch gesagt, jetzt ist sie blond!«

»Ja, sie hat sich das Haar gefärbt.«

»Stimmt«, sagte Kira nachdenklich, »so sah sie aus – blond, hatte einen braunen Rock an, so einen wie du hast, einen gelben Pulli und das Kuvert in der Hand. Außerdem hat sie mich als erste ›Richard‹ genannt.«

Ich ahnte Schlimmes. Gleich musste das Telefon klingeln. Und als hätte der Apparat meine Gedanken gelesen, fing er auch schon an zu schrillen. Am anderen Ende kreischte Alina und war gar nicht zu beruhigen.

»Dass ihr euch nicht schämt! Er war nicht da! Ich habe eine halbe Stunde gewartet, hätte beinahe meine Maschine verpasst! Wie konntest du nur?!«

»Wo hast du denn gestanden?«

»Was heißt hier, wo?«, rief Alina empört. »Am Ausgang zum Markt! Da liefen jede Menge Jungs in Jeans herum. Jeden habe ich gefragt, wie er heißt, aber nicht ein einziger Kira war darunter! Was soll ich denn jetzt machen? Wegen dir fliegt Mascha aus der Musikschule!«

»Auf dem Flugplatz gibt es doch bestimmt eine Post.«

»Na und?«

»Schick mir das Kuvert her, los, schreib die Adresse auf.«

»Zum Verrücktwerden ist das mit dir!«, fauchte Alina. »Also, mach schnell!«

Als meine wütende Freundin aufgelegt hatte, wandte ich mich noch einmal Kira zu.

»He, Löwenherz, an welchem Ausgang hast du Alina denn getroffen?«

»Wo du gesagt hast!«, rief Kira zurück. »Ich bin hinten ausgestiegen!«

»Aber zum Markt geht es doch vorn raus!«

»Zu welchem Markt?«, fragte Kira verwundert zurück. »Du hast gesagt, Alina wartet bei den Säulen, lauf ja nicht zum Markt.«

Ich schloss das Fenster und ließ mich verzweifelt auf die Couch sinken. Nun war alles klar. Wie immer hatte Kira nicht richtig hingehört und alles durcheinandergebracht. Aber auch die Unbekannte hatte sich geirrt. Wie viele Jungen wohl heute in blauen Jeans, mit einem T-Shirt von Adidas und einem Basecap auf der Metrostation herumgelaufen waren? Wie viele Frauen in Moskau wohl den braunen Rock aus indischer Baumwolle trugen? Katja und ich hatten uns so einen zugelegt. Dann fiel uns auf, dass auf der Straße jede Fünfte in diesem billigen Fähnchen herumlief. Zu dem Farbton von Milchschokolade passt eine ganze Skala von fahlem Beige bis zu sattem Orange. Kira kennt sich in diesen Schattierungen natürlich nicht aus. Ob nun blasse Eierschale oder reife Zitrone – für ihn ist das alles Gelb.

Ich konnte mir also vorstellen, wie das Ganze passiert war. Nur warum hatte die Dame Kira Richard genannt?

Das war schon sehr merkwürdig! Schließlich waren wir ja nicht in London, sondern in Moskau. Kennen Sie in unserer ganzen Hauptstadt einen einzigen Richard? Ich nicht. Aber einzelne Exemplare der Gattung Mann trugen offenbar diesen königlichen Namen.

Noch einmal steckte ich den Kopf zum Fenster hinaus und rief: »He, junger Mann!«

Kira hob den Kopf und fragte: »Meinst du mich, Tanja?«

»Ja, dich. Kam es dir nicht komisch vor, dass sie dich Richard genannt hat?«

»Überhaupt nicht«, gab der Junge seelenruhig zurück. »Ich habe gedacht, du wirst Alina erzählt haben, wie ich jetzt heiße!«

Wieder klingelte das Telefon. Sollte das noch einmal Alina sein? Entweder war das Postamt geschlossen, oder sie hatte die Adresse schon wieder verbummelt. Doch es war nicht sie, sondern Dima Kowaljow.

»Hallo, Tanja, morgen hast du frei.«

»Wieso?«

»Die Hochzeit fällt aus. Braut und Bräutigam haben sich zerstritten. Nichts mit Liebe!«

Ein bisschen leid tat es mir schon um das Honorar, aber etwas Ruhe konnte ich durchaus gebrauchen. Und das Wetter sollte auch halten. Da wollte ich es mir am nächsten Tag unter unseren alten Bäumen so richtig gemütlich machen.

Eine Woche lang war nun überhaupt nichts los. Der Sommer ist Saure-Gurken-Zeit. Präsentationen, Feiern oder Partys finden kaum statt. Die Leute fahren auf ihre Datsche oder, wenn sie können, in den Süden ans Meer. Geheiratet wurde zwar immer noch, aber in dieser Woche hatten offenbar andere Gruppen Glück. Uns wollte keiner.

Ich war’s zufrieden. Der schönste Urlaub – das ist für mich ein Liegestuhl, ein Stapel frischer Krimis, eine Schachtel Konfekt und eine Tasse Tee, am liebsten ceylonesischer mit großen Blättern. Ich brachte es sogar fertig, in die heiße Stadt zu fahren, um mir die neuesten Taschenbücher zu kaufen. Den Rest der Woche lag ich dann im Schatten der großen Tanne in unserem Garten. Am Schluss hatte ich über ein Kilo Krokant verschlungen, dazu die neuesten Thriller der Marinina, der Poljakowa, der Serowa und der Kornilowa genossen. Ich war so dem Müßiggang verfallen, dass ich sogar aufhörte, den Kindern etwas zu essen zu machen oder die Waschmaschine anzuwerfen. Auch an den Staubsauger dachte ich nicht ein einziges Mal. Wegen der gnadenlosen Hitze hatten Lisa und Kira mittags keinen Appetit auf Warmes, und abends genügte uns ein Salat. Sie vertrugen sich wieder, und Kira reagierte auch dann, wenn man ihn nicht Richard rief.

Am Samstagabend gegen sechs, als der glühende Feuerball hinter dem Dach unseres Hauses verschwunden war, holte Lisa den Schlauch hervor und begann unseren Garten zu sprengen. Nun dürfen Sie nicht denken, dass dort duftende Erdbeeren und andere Köstlichkeiten in Mengen wachsen. Aus mir wird nie eine Gärtnerin. Nur neben der Garage habe ich zwei kleine Beete angelegt, wo Petersilie, Dill und Schnittlauch ein kümmerliches Dasein fristen.

Zuerst widmete sich Lisa hingebungsvoll den kargen Gewächsen, dann plötzlich richtete sie den Wasserstrahl auf Kira. Der, nicht faul, holte den zweiten Schlauch aus der Garage, und schon war die schönste Wasserschlacht im Gange.

Das war ein Spaß für die Hunde! Klatschnass sausten sie über Rasen und Beete. Als ich meinen Blick endlich vom jüngsten Werk der Marinina lösen konnte, sah ich gerade noch, wie mein Dill zertrampelt wurde. Ich steckte die Nase wieder ins Buch. Schließlich saßen vor jedem Lebensmittelgeschäft Leute aus der Gegend mit allerlei Grünzeug. Bei der Hitze war ich nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren, geschweige denn eine Schimpfkanonade loszulassen.

Als die Kräuter zertrampelt und die Hunde mit Schlamm bedeckt waren, hielten die Kinder das Gießen für beendet, ließen die Schläuche fallen und zogen sich ins Haus zurück. In der Küche zankten sie sich um den großen Krug Milch, den uns Nadja von ihrer Kuh gebracht hatte. Jeder wollte die Schicht Sahne schlecken, die darauf schwamm.

»Tanja, Telefon!«, rief Kira unerwartet.

Ich hatte es nicht einmal klingeln gehört.

»Hallo, Tanja, schnapp dir dein Keyboard«, hörte ich Wanja Lykow krächzen, »morgen um elf am Friedhof in Mitino.«

»Wo?«

»In Mitino, am Friedhof.«

»Wozu?«

»Dumme Frage! Wir sollen zu einem Begräbnis kommen!«

»Und was machen wir da?«

»Na, Ski laufen bestimmt nicht! Hat dir die Hitze so zugesetzt? Spielen natürlich.«

»Spielen? Was denn? ›Kalinka‹ vielleicht?«

»Red keinen Quatsch. Kannst du das Mozart-Requiem? Irgendwas daraus.«

»Irgendwie kriege ich das schon hin, aber wie klingt denn das?«

»Wieso? Mal was Neues. Also, um elf am Grab und danach noch beim Leichenschmaus. Das bringt 1000 Dollar.«

Am nächsten Tag zerlief ich an der Friedhofsmauer fast vor Hitze, bis endlich Dimas dunkelgrüner Mercedes um die Ecke bog. Der stammt aus den achtziger Jahren und klappert mit allen seinen Innereien. Ich steige nur mit größten Bedenken bei Dima ein. Er jagt seinen Methusalem wie ein Wilder durch die Straßen, und ständig fällt etwas ab. Schlimmer ist nur noch Wanjas Karre, ein dunkelroter schnaufender Lada. Die Türen schließen nicht richtig, die Scheibenwischer funktionieren nicht, und der rechte Kotflügel ist fast völlig durchgerostet. Aber Wanja fährt wenigstens wie ein normaler Mensch und hält sich an die Verkehrsregeln.

»Hallo, Tanja!«, rief mir Wanja schon von weitem entgegen. »Halt mal die Marfuta!«

Die Marfuta ist Wanjas Saxofon. Ich nahm ihm das schwarze Futteral ab und fragte: »Gibt’s denn auf dem Friedhof eine Steckdose?«

»Na klar!« Dima wieherte los. »Du verblüffst mich immer wieder, Tanja, mit deinem scharfen Verstand. Aus jedem Grab guckt so ein kleines Plastikding mit Löchern raus. Stecker rein, und los geht’s.«

»Tatsächlich?«, fragte ich verwundert zurück. »Wozu die die wohl brauchen?«

»Damit die Toten einen Player anschließen können«, erklärte Wanja todernst.

»Jetzt reicht’s!«, blaffte Dima. »Und du, Tanja, lass den Quatsch! Der Friedhof hat keinen Strom.«

»Und wie soll ich dann spielen?«

»Das Grab liegt gleich hinter der Friedhofsverwaltung. Von dort ziehen wir ein Kabel.«

Eine halbe Stunde später waren die Instrumente angeschlossen und gestimmt. Jetzt fehlten nur noch die Auftraggeber. Nach einer Weile näherte sich ein langer Leichenzug.

»Da sind sie ja endlich«, brummte Dima. »Los, Kinder, Trauermiene aufsetzen!«

Wir begannen Mozart zu quälen. Ein Glück, dass er nie etwas von den drei Idioten erfahren wird, die Teile seines Requiems mit E-Gitarre, Saxofon und Keyboard aufgeführt haben.

Der Sarg, der seltsamerweise verschlossen war, wurde neben der Grube in Stellung gebracht. Die Verwandten schluchzten, darunter viele Frauen, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt, und Kinder, die wohl kaum begriffen, was hier vorging.

Die Sonne brannte gnadenlos auf das düstere Geschehen nieder. Man sagte das Übliche: »Tragisch ums Leben gekommen«, »in der Blüte seiner Jahre«, »ein außergewöhnlicher Mensch«. Wenn die Redner Pause machten, waren wir an der Reihe. Unter den Trauergästen trillerte fortwährend irgendwo ein Handy. Schließlich wurde der prächtige Sarg aus Mahagoni mit einer Spezialvorrichtung langsam ins Grab hinabgelassen. Dabei heulten unsere Instrumente so schmerzvoll auf, dass eine Schar Krähen erschreckt aufflog. Vielleicht mochten sie Mozart nicht oder auch nur unsere originelle Besetzung.

Im Nu hatten zwei Totengräber, die für diese Tageszeit noch erstaunlich nüchtern waren, die Grube mit Erde zugeschaufelt und einen Hügel aufgehäuft, worauf ein Bild des Toten und ein Schild mit seinem Namen Platz fanden, umgeben von zahllosen Kränzen und Blumengebinden.

Zuerst las ich den Namen: Slawin, Wjatscheslaw Sergejewitsch, 1940–2000. Als ich dann einen Blick auf das Foto des Verstorbenen warf, wäre ich beinahe auf mein Keyboard gefallen. Ein rundes Gesicht mit grauen Augen und einer dicken Unterlippe blickte mich an. Die Mundwinkel waren leicht nach unten gezogen. Das gleiche Foto, nur viel kleiner, lag in dem Umschlag, den Kira mir gebracht hatte.

3. Kapitel

»Was ist mit dir, Tanja?«, flüsterte mir Wanja zu und versetzte mir einen Stoß. »Schlaf nicht ein, hau in die Tasten!«

Erschrocken ließ ich einen schrillen Akkord ertönen. Wie auf Kommando warf sich eine der Frauen über den Grabhügel und schrie mit so gellender Stimme, dass sie selbst das Saxofon übertönte: »Slawa, Slawa, warum?! Herr im Himmel, warum?!«

Zwei Männer wollten sie aufheben, aber sie wehrte sie ab. »Slawa, Slawa, ich geh hier nicht weg …«

Aus der Menge löste sich eine schlanke, hochgewachsene junge Frau, die glatt ein Model hätte sein können. Rasch trat sie an das hysterische Frauenzimmer heran und sagte scharf: »Nora, lass das Theater!«

Die Frau heulte noch einmal auf und beruhigte sich dann. Sie zupfte die Schleife am größten Kranz zurecht und fragte spitz: »Warum liegen meine Blumen hier unten und Tamaras zerrupfter Strauß am Kopfende?«

»Hör auf damit!«, zischte das Mädchen. »Andrej, Nikolai, was steht ihr da herum? Wollt ihr einen Skandal? Den könnt ihr gleich haben.«

Zwei junge Männer traten heran. Der eine groß, blond und um die dreißig in elegantem schwarzem Anzug und blendend weißem Hemd, sagte mit leiser Stimme: »Mama, komm bitte.«

Der zweite, ebenfalls blond, aber untersetzt und etwas kleiner, mit einer kräftigen Nase und angewidert nach unten gezogenen Mundwinkeln, ging schweigend auf die Frau zu. Als er mein Yamaha-Keyboard passierte, stieg mir ein Gemisch von teurem Herrenparfüm, gutem Kognak und Zigaretten in die Nase. Genau so hat mein Ex-Mann Michail gerochen. Seitdem befällt mich bei Männern, die so duften, stets eine unüberwindliche Abneigung.

Der Kerl packte die Frau bei der Hand und knurrte: »Komm, Nora, es reicht.«

»Nein! Antworte mir, Nicolas «, erwiderte Nora, die offenbar nicht nachgeben wollte, in klagendem Ton. »Warum liegt mein Kranz hier ganz abseits und Tamaras zerrupfter Besen dort am Kopfende?«

Aus der Menge der schweigenden Trauergäste trat jetzt eine Frau hervor. Sie war klein und trug ein rundes Hütchen mit Schleier.

»Mama«, sagte der große Blonde tadelnd, »woher willst du denn wissen, dass dort das Kopfende ist?«

»Natürlich, André«, rief Nora aufgebracht, »er liegt mit den Füßen nach hier, und mit dem Kopf nach dort!«

Die Dame mit dem Hütchen war inzwischen an den Grabhügel herangetreten. Sie nahm einen bescheidenen Nelkenstrauß mit schwarzrotem Band unter dem Bild weg und schob unter Aufbietung aller ihrer Kräfte einen riesigen Kranz mit dunkelroten Rosen an seine Stelle. Dazu sagte sie leise: »Um Gottes willen, Nora, niemand hat sich dabei etwas gedacht. Ist es so besser?«

»So ist es richtig!« Nora nickte stolz. »Vor allem ist es gerecht. Jeder weiß, dass er mich am meisten geliebt hat! Und du, Tamara …«

»Jetzt ist es aber genug!« Die hochgewachsene Schöne fiel Nora barsch ins Wort. »Hast du denn gar keine Scham? Andrej, bring sie endlich in den Wagen!«

Dann wandte sie sich uns zu. »Was steht ihr hier herum? Packt euren Kram zusammen und ab zu uns nach Haus! Wir wollen um Wjatscheslaw trauern und uns nicht an seinem frischen Grab angiften! Was für eine Schnapsidee aber auch von Nora, für das Begräbnis eine Band anzuheuern!«

Die Leute gingen langsam zum Ausgang. Ich baute mein Keyboard ab. So eine energische Person! »Kram« hatte sie gesagt! Das klang, als hätte sie ihre elegante Robe und vor allem die riesigen Klunkern selber bezahlt, die sie sich, wer weiß warum, zum Begräbnis an die Ohren gehängt hatte. Aber trotz der schicken Fassade redete sie ziemlich dumm und unlogisch daher. Sich angiften sollte man an einem Grab überhaupt nicht, ob nun frisch oder alt. Zu einem Friedhof gehört eine gewisse …

»Tanja!«, zischte es plötzlich hinter mir.

Ich drehte mich um und sagte vor Überraschung ziemlich laut:

»Du?!«

»Pst!«, flüsterte Wolodja Kostin. »Schrei nicht ’rum, du bist hier nicht auf dem Basar.«

»Was machst du denn hier? Hast du den Toten gekannt?«

»Ich bin im Dienst«, erwiderte er kurz.

Wolodja Kostin arbeitet bei der Kriminalpolizei und hat es inzwischen bis zum Major gebracht. Wir kennen uns seit langem, er ist ein guter, treuer Freund. Wir wohnen in einem Haus und sogar nebeneinander auf einer Etage. Wolodja hat nur eine Einzimmerwohnung. Ein zweites Zimmer hat er gewonnen, indem er einfach die Küche abschaffte. Was soll er als Junggeselle auch damit? Er braucht höchstens einen elektrischen Wasserkocher, denn zu essen bekommt er bei uns. Seine Küche wirkt jetzt eher wie ein Wohnzimmer, in das sich ein Kühlschrank und eine Spüle verirrt haben. Den Gasherd ersetzt ihm ein zweiflammiger Kocher – sehr bequem für jemanden, der nicht gerade Piroggen backen will. Und einen Major, der bäckt, kann ich mir sowieso nicht vorstellen.

»Das nennst du Dienst – auf Begräbnissen herumlungern?!«

Wolodja warf mir einen ärgerlichen Blick zu.

»Das erkläre ich dir später.«

»Bist du auch beim Leichenschmaus dabei?«

»Ja.«

»Also, Tanja!«, rief Wanja mir aufgebracht zu. »Du bist ja heute wie ein Klotz am Bein! Los, los, wir müssen vor den anderen dort sein!«

»Wir reden heute Abend weiter«, sagte ich zu Wolodja und begab mich im Laufschritt zu Wanjas Lada.

Dima schoss mit seinem Mercedes davon wie eine Rakete. Wir rollten in normalem Tempo vor uns hin. Ich entspannte mich etwas und sah gedankenlos aus dem Fenster. Häuser und Geschäfte flogen vorbei, bald fuhren wir auf einer freien Chaussee über Land.

»Wo geht’s denn hin?«, fragte ich verwundert.

»Das Essen findet in der Villa des Verstorbenen statt«, gab Wanja ungerührt zurück. »In Aljabjewo.«

»Das ist ja ’n Ding! Und wo dort?«

»Nachtigallenallee.«

Das war am anderen Ende des Ortes, wo ich kaum jemanden kannte.

Wir bogen nach links ab und nahmen einen schmalen Weg. Vor uns kamen die ersten Datschen der Schriftstellersiedlung Peredelkino in Sicht.

»Hör mal, Tanja«, brummte Wanja, »heute spielen wir noch mal, und dann ist Schluss.«

»Wie – Schluss?«, fragte ich verständnislos.

»Wir legen eine Pause ein. Für den Sommer haben wir genug verdient. Wir gönnen uns einen Urlaub. Was sollen wir in Moskau schwitzen? Die Mucken sind jetzt sowieso dünn gesät. Wenn du willst, kannst du ja mit dem Keyboard weitermachen – als Einmannkapelle.«

»Dazu habe ich nun gar keine Lust«, meinte ich. »Ihr habt recht, warten wir den Herbst ab. Jetzt ist es viel zu heiß. Ich bleibe auf der Datsche, lese Krimis und seh mal richtig fern. Was kann es Schöneres geben?«

»Ich muss auch mit Lida auf die Datsche«, meinte Wanja seufzend. »Dabei habe ich überhaupt keine Lust, im Garten zu wühlen. Was wächst denn so bei dir?«

»Brennnesseln«, antwortete ich grinsend. »Eine gute Suppe kann man daraus machen. Ich hatte ein paar Kräuter, aber die haben mir die Hunde zerwühlt. Ich bin ihnen deshalb nicht böse. Was ich brauche, kaufe ich. Wenn ich Samen und Beete nur sehe, kriege ich gleich meine Migräne.«

»Ach, du hast’s gut!«, rief Wanja. »Meine Lida ist, was das betrifft, nicht ganz normal. Kürbisse, Tomaten, Gurken, Zucchini, Erdbeeren – zum wahnsinnig werden! Um einmal alles zu gießen, brauchen wir drei Fass Wasser. Aber Wasserleitung ist nicht, alles muss mit Eimern vom Fluss herangeschleppt werden. Wenn es nach mir ginge, würde ich gar nichts anbauen!«

Nachdem wir alle Schlaglöcher genossen hatten, kamen wir auf eine Betonpiste und bogen gleich darauf in ein weit geöffnetes schmiedeeisernes Tor ein. Das Haus war so hoch wie unseres, hatte aber eine viel größere Grundfläche – ein Mittelteil und zwei Flügel, ein richtiges Anwesen. Über wie viele Räume die wohl verfügten?

Ein ausgesucht höfliches Zimmermädchen führte uns auf den Rasen hinter dem Haus. Dort war in einem riesigen Zelt eine lange Tafel gedeckt. Davor erblickten wir ein kleines Podium. Kaum hatten wir uns eingerichtet, da tauchten auch schon die ersten Gäste auf.

Gegen fünf Uhr nachmittags war der Anlass der Feier gründlich vergessen. Einige der Gäste, die den Getränken ordentlich zugesprochen hatten, zogen sich ins Haus zurück, um ein wenig zu ruhen. Eine Gruppe sang bereits aus vollem Halse, dabei so falsch, dass uns die Ohren dröhnten. Ein verschwitzter Mann im sündhaft teuren, aber völlig zerknitterten Seidenhemd stieg unsicher aufs Podium, zückte einen Hundert-Dollar-Schein, stopfte ihn mir in den Blusenausschnitt und tönte: »Könnt ihr auch die Kalinka?«

»Na klar«, gab ich forsch zurück und steckte den Schein ein. »Das ist unser Lieblingsstück!«

Wir verständigten uns kurz und spulten dann das gewohnte Programm ab: auf Kalinka folgte Katjuscha und Rjabinuschka. Bald wurde nur noch schnell und langsam gewünscht.

Gegen elf Uhr abends drückte die Dame, die ich bei mir nur das Model nannte, Dima ein Kuvert in die Hand und sagte: »Danke, das war’s. Jetzt stärken Sie sich erst mal.«

Die Tische waren noch voller leckerer Sachen. Das Auge konnte sich kaum satt sehen.

»Nimm von den Piroggen«, flüsterte mir ein Kellner ins Ohr, ein Mann um die vierzig in roter Uniform mit goldenen Knöpfen. »Den Fisch lass stehen, der taugt nichts.«

Ich musste lächeln.

»Danke für den Tipp. Die Piroggen sehen wirklich gut aus. Die wären was für meine Kinder!«

»Wart einen Augenblick«, meinte der Garçon. »Das haben wir gleich!«

Er verschwand, und ich machte mich über die Piroggen her. Die zergingen förmlich im Mund. Wanja und Dima griffen gleich nach den Flaschen. Aber ich ließ sie gewähren. Das Programm war zu Ende, ich hatte meinen Anteil am Honorar in der Tasche, und fahren musste ich auch nicht mehr mit ihnen. Von hier konnte ich zu Fuß nach Hause gehen. Sollten sie sich vor dem Urlaub noch etwas gönnen. Beide hatten strenge Frauen, die ihnen im Urlaub bestimmt keinen Wodka erlaubten. Das Wetter war warm, und wenn sie zu tief in die Flasche guckten, konnten sie im Auto schlafen.

Als ich satt war, schaute ich mich etwas genauer um. Wolodja Kostin war nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich hatte er längst erfahren, was er wollte, und war gegangen. Nun wurde es auch für mich Zeit.

»He, Yamaha, warte mal!«, hörte ich es hinter mir rufen, als ich schon am Tor war. Der Kellner lief mit mehreren Plastiktüten und einer Schachtel herbei. Ich sah viele Päckchen und sogar die Umrisse einer Flasche.

»Was ist das?«

»Nimm nur, genier dich nicht, ich habe alles frisch von den Platten genommen«, erklärte mir der Mann eifrig.

»Vielen Dank, aber …«

»Komm, zier dich nicht!« Der Mann winkte ab. »Das ist für deine Kinder – ein paar Piroggen, etwas Salat und ein Fläschchen für den Mann.«

»Ich hab keinen.«

»Tatsächlich? Dann trinkst du es eben mit deinen Freundinnen. Das geht schon in Ordnung. Sieh doch, wie viel hier noch übrig ist. Die müssen nicht aufs Geld schauen.«

Ich wollte die Sachen eigentlich nicht nehmen und sagen, dass ich nichts brauche, aber der Ober strahlte so viel Freundlichkeit und Güte aus, dass ich nur murmelte: »Vielen Dank, mein Lieber, da brauche ich ja eine Woche lang nicht einkaufen zu gehen.«

»Na bitte, das ist doch wunderbar«, rief er und lief mit schnellen Schritten zum Haus zurück.

Ich schlug den schmalen Pfad durch den Wald ein. Ich hatte kaum fünf Minuten zu gehen. In unserer Datsche brannte noch Licht. Kira, Lisa und Wolodja saßen auf der Veranda einträchtig um den Tisch.

»Was bringst du denn da?«, fragten die Kinder neugierig.

»Die Reste vom herrschaftlichen Tisch«, antwortete ich und fragte meinerseits: »Willst du über Nacht bleiben, Wolodja?«

»Natürlich«, antwortete der Major und steckte Mulja ein Stück Käse ins Maul. Die klappte mit den Kiefern, und weg war der Happen. Sofort war Ada zur Stelle und wedelte mit ihrem ganzen dicken Hintern. Als sie sahen, dass es etwas zu holen gab, sprangen auch Rachel und Ramik herbei. Wolodja hatte für jeden etwas.

»Von wegen, Reste!«, rief jetzt Lisa begeistert. »Piroggen, Kuchen, Räucherwurst, Salat …« Man probierte von allem.

»Schade, kein Räucherlachs«, kam es von Kira, der mit vollem Munde kaute.

Nachdem alle nun doch ihr Abendbrot bekommen hatten, wechselten wir ins Wohnzimmer. Die Kinder schalteten das Videogerät ein. Wolodja und Kira machten es sich in den Sesseln bequem, Lisa streckte sich auf der Couch aus, und ich ließ mich zu ihren Füßen nieder. Sofort waren Mulja und Ada da und stritten um den besten Platz.

»Was für einen Film gibt’s denn heute?«, fragte ich und gähnte.

»Einen Thriller, den habe ich von Kostja Rjabow«, antwortete Kira.

Schon krachten die ersten Schüsse. Ich schloss die Augen. Da fragte Lisa: »Warum bekommt die Frau das Kuvert mit Fotos und Geld?«

Ich starrte auf den Bildschirm. Eine schlanke Blondine, gespielt von einem bekannten Hollywoodstar, riss gerade ein Kuvert auf und drehte ein paar Fotos in den Händen. Auf dem Tisch lag ein Bündel Geldscheine.

»Das ist die Komplizin eines Berufskillers«, erläuterte Wolodja. »Ihn selbst bekommt der Auftraggeber nicht zu Gesicht. Sie wird vorgeschickt. Das Geld ist ein Vorschuss.«

»Und die Fotos?«, fragte Kira naiv.

»Na, Kinder, könnt ihr euch das nicht denken?« Der Major lächelte nachsichtig. »Wie soll denn der Mörder sein Opfer erkennen? Manchmal zeigt man es ihm direkt, aber meistens macht man es dort wie auch bei uns so: Geld und Fotos werden über einen Mittelsmann zugestellt.«

Ich spürte, wie in meinem Kopf kleine Hämmerchen zu pochen begannen. Wolodja fuhr indessen fort, als rede er von der normalsten Sache der Welt: »Erst heute hat bei uns ein Witz über so einen Killer die Runde gemacht. Also: Zwei Mörder stehen in einem Hauseingang. Sagt der eine zum anderen: ›Hör mal, unser Zielobjekt kommt doch jeden Tag um sieben von der Arbeit. Heute haben wir schon neun, und der Kerl ist immer noch nicht da. Langsam mache ich mir Sorgen. Es wird ihm doch nicht etwas zugestoßen sein?‹«

»Da weiß ich auch einen!«, rief Kira eifrig. »Ein Mann heuert einen Auftragsmörder an und sagt: ›Adresse: Nowoslobodskaja uliza 129, Wohnung 3.‹ ›Und wie viel kriege ich?‹ ›200 000 Dollar.‹ ›Na für den Preis mache ich es glatt auch ohne Wohnungsnummer.‹«

Wolodja seufzte. »Zu wahr, um lustig zu sein.«

Ich fragte vorsichtig: »Woran ist eigentlich dieser Slawin gestorben? Der war doch kaum sechzig …«

Normalerweise lässt sich Wolodja nicht über Fälle aus, an denen er gerade arbeitet. Aber die Hitze setzte wohl auch ihm hart zu. Außerdem war er rechtschaffen müde, hatte ordentlich gegessen und mindestens drei doppelte Kognak getrunken.

»Lass uns eine rauchen gehen«, warf er mir zu.

Wir traten vor das Haus und ließen uns auf der Bank unter dem Jasminstrauch nieder, der einen intensiven Duft verströmte.

»Slawin ist ermordet worden«, sagte Wolodja. »Weißt du denn nicht, wer er war?«

Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, aber nach Haus und Sarg zu urteilen, bestimmt kein armer Kerl.«

Wolodja streckte sich genussvoll, stieß eine Rauchwolke aus und blickte ihr nach, wie sie durch Blätter und Blüten nach oben stieg.

»Wjatscheslaw Sergejewitsch Slawin war ein außergewöhnlicher Mann. Jedenfalls bin ich so einem zum ersten Mal begegnet. Er war der Rektor und zugleich einziger Inhaber einer von ihm gegründeten Akademie. Als in unserem Lande private Hochschulen zugelassen wurden, hat Professor Slawin sofort eine eröffnet. Sie hat sechs Fakultäten – für Wirtschaft, Jura, Fremdsprachen, Psychologie, Soziologie und Werbung. Die Hochschule hat Hunderte Studenten, die besten Lehrer, denen sie hervorragende Bedingungen bieten kann. Da Slawin Oberbürgermeister Lushkow gut kannte, hat er sich hier ganz in der Nähe in Matwejewskoje ein Grundstück besorgt und darauf einen riesigen Komplex von Lehr- und Internatsgebäuden nach dem Vorbild eines Campus im Westen bauen lassen. Zwar verlangte er fette Studiengebühren, aber um einen Studienplatz dort stehen die Bewerber Schlange.«

»Was ist daran so außergewöhnlich?«, fragte ich verwundert. »Ein erfolgreicher Geschäftsmann, davon gibt’s viele.«

»Er war selbst Doktor habil., Professor und Mitglied der Akademie der Wissenschaften.«

»Na und? Der berühmte Augenchirurg Swjatoslaw Fjodorow war auch ein genialer Wissenschaftler und als Geschäftsmann sehr tüchtig.«

»Weißt du«, sagte Wolodja beeindruckt, »wir haben einen Haufen Leute verhört – Lehrer, Bekannte und Freunde Slawins. Sie sind sich absolut einig: Bei allen seinen sonstigen Qualitäten war er auch noch ein ungewöhnlich gutmütiger und verständnisvoller Mensch. In all den Verhören ist kein einziges böses Wort über ihn gefallen.«

Dem einem hatte der Professor bei der Dissertation geholfen, einem anderen Arbeit beschafft, einen Dritten materiell unterstützt, einem Vierten eine Wohnung besorgt, einem Fünften … Er musste eine Unmenge guter Taten vollbracht haben. Er war nicht streitsüchtig und hatte offenbar keine Feinde. Viele vergossen bittere Tränen, als sie von seinem Tode hörten.

»Du hast doch selber gesehen«, fuhr Wolodja fort, »was auf dem Friedhof los war. Das müssen glatt vierhundert Menschen gewesen sein, und kein böses Wort, nur tiefe Trauer.«

»Das soll es geben«, murmelte ich, »wenn auch nur selten.«

Unser Major war heute gar nicht zu bremsen. »Außerdem musst du bedenken«, fuhr er fort, »dass Slawin vier Frauen und zwei Geliebte hatte.«

»Na und? Andere haben noch mehr!«

Wolodja musste lachen. »Nein, so meine ich das nicht! Sie haben alle zusammengelebt.«

»Alle vier?«

»Na, beinahe. Auf jeden Fall waren Slawins Frauen miteinander befreundet. Das ist eine riesige Familie. Bei den vielen Verwandten verliert man leicht den Überblick. Und alle sind schockiert, heulen wie die Schlosshunde.«

»Wie ist er denn ums Leben gekommen?«

Wolodja drückte seine Kippe ordentlich aus, tat sie in eine leere Konservendose und sagte dann: »Das ist eine sehr merkwürdige Geschichte.«

»Und was ist daran so merkwürdig?«

»Einfach alles«, murmelte Wolodja. »Er ist in seinem Büro gestorben. Er wurde von einem Pistolenschuss direkt ins Herz getroffen. Dabei behauptet die Sekretärin steif und fest, niemand sei zu ihm hineingegangen. Sie hat die ganze Zeit im Vorzimmer gesessen. Slawin hat angerufen und gesagt: ›Lass niemanden zu mir herein, Lena, ich brauche etwas Ruhe.‹«

Er war allein in seinem Zimmer. Die Sekretärin hat mehrere Leute abgewiesen, die den Rektor unbedingt sprechen wollten. Sie hat keinerlei verdächtige Geräusche gehört. Es ist gegen vier Uhr nachmittags passiert. Als es sechs war, wurde Lena unruhig. Noch nie hatte sich ihr Chef so lange zurückgezogen. Die Zahl der Besucher wurde immer größer. Da entschloss sie sich schließlich doch, ihn zu stören.

Zuerst versuchte sie es über die Wechselsprechanlage. Doch Slawin reagierte nicht. Lena war etwas verwundert, aber nicht wirklich besorgt. Wjatscheslaw Slawin galt als kerngesund und ein Arbeitstier.

Vorsichtig schaute die Sekretärin ins Chefzimmer. Er lag auf der großen Sitzbank und hatte sich eine Decke über die Ohren gezogen. Nun war alles klar.

So etwas tat der Professor manchmal. Meist genügte ihm jedoch ein Nickerchen von einer halben Stunde. Danach konnte er bis Mitternacht am Schreibtisch sitzen. Heute war es halt etwas länger geworden, wer weiß, warum.

Lena erklärte denen, die im Sekretariat warteten: »Frühestens in einer Stunde wird er wieder da sein. Er ist in die Präsidialadministration gerufen worden.«

Aber Slawins Mercedes 600 stand auf dem Parkplatz, was einige der Wartenden nicht übersahen. Lena war es gleich, was die über sie dachten. Eine gute Sekretärin muss ihrem Chef den Rücken frei halten. Doch als es halb acht war, wagte sich Lena schließlich doch an die Couch heran und sagte: »Es wird Zeit, Wjatscheslaw Sergejewitsch.«

Keine Antwort. Das erstaunte sie nun wirklich. Vorsichtig fasste sie den Professor bei der Schulter …

Sie schrie so laut auf, dass beinahe das ganze Haus zusammenlief.

»Er ist tot, ermordet …«, konnte sie nur stammeln.

Allgemeine Betroffenheit. Die Miliz war rasch zur Stelle.

»Und weißt du, was das Seltsamste ist?«, schloss Wolodja.

»Was denn?«

»Man hat ihn genau ins Herz geschossen und ihm auch noch ein langes Messer in den Nacken gerammt.«

»Das ist ja der helle Wahnsinn!«

»Es kommt schon vor, dass ein Mörder seinem Opfer in der Rage mehrere tödliche Verletzungen beibringt. Merkwürdig ist etwas anderes.«

»Was denn?«

»Als Erstes wurde geschossen. Offenbar von einem Profi. Die Waffe hatte einen Schalldämpfer, und die Kugel traf genau ins Herz. Das muss aus kurzer Entfernung geschehen sein, als Slawin schlief. Dabei wusste der Killer genau, dass man zwei Finger breit unter das linke Schulterblatt zielen muss. Der Stich in den Nacken folgte aber nicht gleich, sondern etwa eine Stunde später. Wer macht denn so was?«

Das war nun wirklich bizarr. Schießen, eine Stunde herumsitzen und erst dann mit dem Messer zustoßen. Weshalb?

»Wann ist der Tod eingetreten?«

»Gleich nach dem Schuss, und der Killer wusste das. Fassen wir zusammen: Eine Pistole mit Schalldämpfer, ein Meisterschuss, der sofort zum Tode führte – das kann nur ein Profi gewesen sein. Aber er hat die Waffe zurückgelassen! Ein fabrikneuer Revolver, kein einziger Fingerabdruck. Wir tappen absolut im Dunkeln. Nur das Messer ist weg. Die Sekretärin behauptet, einen geeigneten Gegenstand hätte es in Slawins Büro nicht gegeben. Nur eine Schere und einen stumpfen Schmuckdolch aus Silber. So einen Fall hatte ich noch nicht.«

»Kann ich mir vorstellen. Was wolltest du denn auf der Beerdigung?«

»Einen Blick auf die Leute werfen«, meinte Wolodja seufzend, »die untröstlichen Verwandten und Freunde. Einer von denen muss doch Bescheid wissen, aber wer? Alle wollen Slawin heiß geliebt haben.«

Da war mein Freund wohl nicht zu beneiden. Immerhin interessant: Alle vergötterten Slawin, jemand musste ihn jedoch vorzeitig ins Jenseits befördert haben. Das heißt, einer in der Menge hegte einen heimlichen Hass auf ihn. Niemand kann sechzig Jahre alt werden, erfolgreich ein so gigantisches Projekt realisieren und keinen einzigen Feind haben. Er war doch kein Heiliger wie Thomas von Aquin! Wer weiß, was dem passiert wäre, hätte er eine Privatuniversität gegründet.

4. Kapitel

Am nächsten Morgen schaute ich den Berg bunter Taschenbücher durch und stellte missvergnügt fest, dass ich alle Krimis ausgelesen hatte. Ich musste in die Stadt und neue kaufen, so viele wie möglich.

Die Sonne brannte so heiß, als befänden wir uns nicht in der Umgebung von Moskau, sondern mindestens in Tunesien. Es war noch nicht zehn, und ich schnappte schon nach Luft wie ein Fisch auf dem Trocknen. Dabei wohnten wir mitten im Wald. Wie sich dieser Sommer wohl in der Stadt anfühlte? Vielleicht sollte ich lieber hier draußen bleiben. Und den ganzen Tag vor der Glotze hocken? Das wollte ich nun auch wieder nicht.

Ich machte mich also startklar. Sowieso war ich allein zu Haus. Kira und Lisa waren baden gegangen und hatten die Hunde mitgenommen. Ihre Fahrräder haben Körbchen vor den Lenkstangen. Unsere dicken Möpsinnen Ada und Mulja mit ihren kurzen Beinen mögen keine langen Spaziergänge zu Fuß. So werden sie eben in den Körben verstaut. Rachel und Ramik, die viel Auslauf brauchen, jagen den Rädern, vor Begeisterung kläffend, mit hängender Zunge hinterher. Und Wasser lieben alle. Der Höhepunkt des Vergnügens ist erreicht, wenn Kira den Hunden was von seinem Sahneeis ablässt.

Während der Rest der Familie im See plätscherte, hatte ich genügend Zeit für die Fahrt nach Moskau und zurück. Schade, dass ich am Tag zuvor nicht Wolodja gebeten hatte, mich auf seiner Rückfahrt in die Stadt mitzunehmen. Doch das hätte bedeutet, vor Tau und Tag aufzustehen …

Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, suchte ich meine Handtasche. Aber weder auf der Veranda noch im Schlafzimmer, im Wohnzimmer oder bei den Kindern konnte ich sie finden.

Ich war wütend auf mich selbst. Hatte ich sie etwa am Abend verloren, als ich, mit all den Leckerein beladen, durch den Wald lief? Das war nun wirklich zum Heulen. Mein Honorar war darin gewesen, außerdem ein bisschen Kosmetik, die ich verschmerzen konnte, und mein Telefonbüchlein. Letzteres zu verlieren wäre einfach tragisch. Auch um das Geld tat es mir leid, aber ich konnte neues verdienen. Das Büchlein mit all den Adressen und Telefonnummern war jedoch unersetzlich. Wie hatte ich nur so zerstreut sein können!

Während ich mit mir haderte, suchte ich das Haus bis auf den letzten Winkel ab. Das Täschchen war wie vom Erdboden verschluckt. Ob ich am Dorfladen einen Zettel aushängen sollte? Vielleicht bekam ich dann wenigstens das kleine Büchlein zurück.

Da klingelte das Telefon. Als ich abnahm, hörte ich eine unbekannte Stimme sagen: »Hallo, ich möchte gern Frau Romanowa sprechen.«

»Am Apparat.«

»Sie sind Tatjana Romanowa?«

»Ja, worum geht es denn?«, fragte ich verwundert.

»Haben Sie gestern bei der Beerdigung von Wjatscheslaw Slawin gespielt?«

Ich holte tief Luft. Offenbar hatte Dima vor seinem Verschwinden in den Urlaub meine Nummer an einen neuen Kunden weitergegeben.

»Das ist korrekt, aber Sie müssen entschuldigen, wir haben Urlaub und nehmen im Moment nichts an.«

»Hier ist Rebekka Slawina.«

»Wer?«

Die Stimme fuhr fort: »Sie haben gestern Abend Ihre Handtasche mit dem Honorar bei uns liegenlassen.«

»Tatsächlich? Und das Telefonbüchlein ist auch drin?«

»Alles da.«

»Ich komme sofort.«

»Wohin?«, fragte Rebekka erstaunt.

»Na, zu Ihnen.«

»Wir wohnen in Aljabjewo, ein ganzes Stück von Moskau entfernt.«

»Ich weiß. Ich habe hier eine Datsche. Gar nicht weit von Ihnen, in der Fruchtstraße.«

»Na, so was!«, gab Rebekka verwundert zurück. »Dann erwarte ich Sie.«

Ich schlüpfte rasch in meinen Trägerrock und lief durch den Wald. Es war schwül, offenbar braute sich ein Gewitter zusammen, wenn auch bislang kein Wölkchen am Himmel zu sehen war.

Am Tor der Villa Slawin gab es eine Wechselsprechanlage.

»Wer ist da?«, erklang es daraus.

Beinahe hätte ich geantwortet: Die Christel von der Post! Dann aber sagte ich: »Hier ist Tanja Romanowa. Ich möchte zu Rebekka.«

Es klickte leise. Ich trat in einen geräumigen Hof und blickte erstaunt um mich. Ringsum war alles pieksauber. Nichts erinnerte mehr daran, dass es hier am Abend zuvor eine große Party gegeben hatte. Ein tadellos gepflegter Rasen, kein einziger Korken, kein Stückchen Papier. Hier hatten fleißige Hände vom frühen Morgen an hart gearbeitet.

Rebekka schaute aus einem der Fenster und rief: »Kommen Sie doch bitte auf die Veranda!«

Ich ging gehorsam ein paar Stufen hinauf und trat in einen großen, rundum verglasten Raum. In der Mitte ein riesiger Tisch mit Spitzendecke, darum etwa zwölf Stühle mit hohen Lehnen. Der Tisch war fürs Frühstück gedeckt. In der Mitte thronte ein chromglänzender Wasserkocher. Rebekka erkannte ich sofort. Es war die junge Frau, die ich bei mir das Model genannt hatte. Auf dem Friedhof war sie mir finster und unnahbar erschienen. Jetzt lächelte sie freundlich und sagte: »Wie konnten Sie nur das Wichtigste vergessen – Ihr Täschchen mit dem Geld.«

»Ich war gestern Abend sehr müde«, erwiderte ich lächelnd. »Aber woher haben Sie meine Telefonnummer?«

»Das war überhaupt kein Problem, Mr. Watson.« Rebekka musste lachen. Sie zog aus der Tasche mein kleines Büchlein und wedelte damit in der Luft herum.

»Hier auf dem Einband steht es Schwarz auf Weiß: ›Der ehrliche Finder wird gebeten, dieses Buch Tatjana Romanowa zurückzugeben, Adresse und Telefon …‹ Bei der ersten Nummer hat niemand geantwortet, bei der zweiten waren Sie am Apparat. Die 593 am Anfang hatte ich schon bemerkt. Ich dachte, Sie wohnen in einem der Nachbardörfer, in Solnzewo oder Nowoperedelkino. Dass wir praktisch Nachbarn sind, habe ich nicht vermutet.«

Ich lächelte in mich hinein. Natürlich konnte ein Frauenzimmer, das für Geld auf einem Keyboard klimperte, höchstens in einer Bretterbude hundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt leben, nicht aber auf einer Datsche in diesem feinen Ort. Der kleinen Snobistin musste ich wohl eine Lehre erteilen.

»Mein Vater, Akademiemitglied Romanow, hat vor ewigen Zeiten hier ein Haus gebaut. Wir wohnen in der alten Siedlung.«