Verlieb dich nie in einen Toten - Darja Donzowa - E-Book

Verlieb dich nie in einen Toten E-Book

Darja Donzowa

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Beschreibung

Die Miss Marple aus Moskau - mit Witz, Charme und originellen Tricks.

Tanja kann nicht es nicht glauben: Wolodja Kostin, Major bei der Miliz und bester Freund der Familie, soll seine Geliebte erstochen haben. Da erfährt sie von seinem Tod im Gefängnis. Zu allem Unglück taucht auch noch eine seiner Verflossenen auf, hochschwanger. Tanja zieht alle Register, um herauszufinden, wer wirklich hinter all dem steckt ...

„Ein sehr unterhaltsamer Krimi á la Miss Marple.“ Bunte.

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Informationen zum Buch

Mit Witz, Charme und originellen Tricks

Tanja kann nicht es nicht glauben: Wolodja Kostin, Major bei der Miliz und bester Freund der Familie, soll seine Geliebte erstochen haben. Da erfährt sie von seinem Tod im Gefängnis. Zu allem Unglück taucht auch noch eine seiner Verflossenen auf, hochschwanger.Tanja zieht alle Register, um herauszufinden, wer wirklich hinter all dem steckt.

»Ein sehr unterhaltsamer Krimi á la Miss Marple.« Bunte

Darja Donzowa

Verlieb dich nie in einen Toten

Kriminalroman

Aus dem Russischen von Helmut Ettinger

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Über Darja Donzowa

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Den Freund braucht man nicht lang bitten.

Mit ihm macht kein Unglück mir bang.

Der Freund ist wie eine dritte Schulter,

Steht zu mir ein Leben lang.

Populäres Lied der sechziger Jahre

1. Kapitel

Das Wetter kann – wie die Stimmung des Menschen – sehr wechselhaft sein. Wenn Sie sich morgens, den Tränen nah, zu Ihrer Arbeit schleppen, aber in der Mittagspause schon wieder einen Zentimeter über dem Pflaster schweben, weil Sie gerade in der nächsten Boutique einen hübschen Pulli erstanden haben, dann geht das auch ohne Sonnenschein. Aber der September schien in diesem Jahr alle Rekorde brechen zu wollen. Es war, als sei die Natur in die Wechseljahre gekommen. Schon morgens um acht gingen aus schwarzen, tief über Moskau hängenden Wolken wahrhaft tropische Regengüsse nieder. Man mochte gar nicht aus dem Fenster schauen. Meine Hundemeute musste ich förmlich mit Fußtritten zur Notdurft auf den Hof jagen. Die Staffordshire-Dame Rachel blickte mich mit ihren klaren Augen vorwurfsvoll an und trottete dann ergeben zum Kinderspielplatz. Das pilzförmige Dach des Klettergerüsts hatte es ihr angetan. Dort wollte die schlaue Rachel in Ruhe und im Trockenen ihr Geschäft erledigen. Sie hatte nur nicht bedacht, dass sie bis dorthin viele kalte Pfützen durchqueren musste. Ganz anders unsere Promenadenmischung Ramik. Ihm ist es egal, ob es regnet, hagelt oder schneit. Mit fröhlichem Gebell jagt er über den Rasen und durch alle Pfützen, dass es nur so spritzt. Das konnte ich von Mulja und Ada, den beiden runden Möpsinnen mit ihren kurzen Beinchen, nicht erwarten. Sie hockten sich drinnen hinter der Haustür nieder und ließen meine verzweifelten Rufe – »Gassi gehen!«, »Gassi gehen!« – völlig unbeachtet.

Als ich versuchte, sie mit Gewalt auf die Straße zu befördern, legten sie sich einfach platt auf den Bauch. Haben Sie schon einmal probiert, zwei solche dicke Hundedamen von je zehn Kilogramm Lebendgewicht wegzuschleppen, wenn die sich auch noch schwer machen wie nasse Säcke? Hatte ich die eine unter den Arm geklemmt und wollte die Zweite aufheben, entwand sich mir die Erste wieder – und so weiter, und so fort.

Als ich die freche Ada endlich in den strömenden Regen hinausgejagt hatte, musste ich sehen, dass Mulja bereits auf dem Fußabtreter im warmen, trockenen Vestibül ihr kleines Geschäft verrichtete. Ich drohte ihr mit der Faust. »Na warte!«

Aber Mulja verzog nur grinsend ihr breites Maul, denn sie wusste, dass ich nun keinen triftigen Grund mehr hatte, ihr dieses Sauwetter zuzumuten.

Nach dem ganzen Hin und Her streifte ich mir Jeans und eine warme Jacke über, schlüpfte in meine Turnschuhe und fuhr mit der Metro zur Arbeit. Als ich aber gegen neun wieder ans Tageslicht kam, strahlte die Sonne von einem blauen, wolkenlosen Himmel. Wie war das möglich – in weniger als einer Stunde?

Auf der kurzen Strecke, die ich noch zu gehen hatte, lief mir der Schweiß den Rücken hinunter.

Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Tanja Romanowa, von Beruf Harfenistin. Ich habe seinerzeit das Moskauer Konservatorium absolviert und sogar Konzerte gegeben, allerdings ohne großen Erfolg. Dann habe ich Michail Gromow, einen gutsituierten Mann, geheiratet und mehrere Jahre sinnlos zu Hause herumgesessen. Plötzlich ging es in meinem Leben jedoch drunter und drüber. Mein Mann wurde verhaftet. Es stellte sich heraus, dass er ein Betrüger, ja sogar ein Mörder war. Sein nächstes Opfer sollte ich selber sein … Ich habe natürlich sofort die Scheidung eingereicht.

Jetzt wohne ich bei meiner besten Freundin Katja Romanowa. Obwohl wir den gleichen Familiennamen tragen, sind wir nicht miteinander verwandt. Katja ist Chirurgin. Vor einem Jahr hat man ihr eine Stelle in den USA angeboten, wohin sie sich sofort mit ihrem ältesten Sohn Serjosha und dessen Frau Julia aufgemacht hat. Ihr Jüngster, Kira, ist mit seiner ganzen Menagerie bei mir geblieben. Das sind vier Hunde, drei Katzen und die Kröte Gertrud. Genauer gesagt, auch Kira war erst in Amerika, kam mit dem Leben dort aber nicht zurecht und ist mit seinen vierbeinigen Freunden zu mir zurückgekehrt.

»Eins kann ich dir sagen, Tanja«, gestand er mir, als er seinen Koffer auspackte. »Dort ist es eigentlich nicht schlecht: Es gibt alles, was man sich denken kann, und Mama verdient einen Haufen Geld. Aber die Leute find ich blöd. Von ›Spartak Moskau‹ haben die noch nie was gehört, Schlagball spielen sie nicht, und in der achten Klasse nehmen sie in Mathe Multiplikation und Division durch. Nix für mich! Da bleib ich lieber hier bei dir! Die Knete wird Mama schon rüberreichen!«

Ich war froh, dass wieder Leben in die Bude kam. Eigene Kinder habe ich nicht. So kümmere ich mich mit Hingabe um die zwei, die mir schon fertig in den Schoß gefallen sind – Kira und Lisa. Über Kira wissen Sie nun Bescheid. Wie die vierzehnjährige Lisa in unsere Familie kam, ist allerdings nicht ganz einfach zu erklären.

Angefangen hat die Geschichte auf dem Arbeitsamt. Nach meiner Scheidung galt ich als kaum vermittelbar. Denn die »Frau von dreißig Jahren«, der Balzac in seinem Roman ein Denkmal gesetzt hat, ist, wenn sie nicht mehr drauf hat, als ziemlich mittelmäßig auf der Harfe zu klimpern, nicht gerade ein Renner auf dem Arbeitsmarkt. Die langen Gesichter der Vermittler hätten Sie sehen sollen, wenn ich auf die Frage nach meiner Ausbildung stolz erklärte: »Absolventin des Moskauer Konservatoriums, Fach: Harfe.«

Sofort bot man mir eine Umschulung an. Eine Buchhalterin wird nie aus mir, das steht fest. Denn mit den Zahlen stehe ich auf Kriegsfuß. Auch das Friseurhandwerk wollte mir keiner beibringen, als mir schon beim ersten Versuch die Schere aus der Hand fiel und die Versuchsperson am Fuß verletzte. Den größten Reinfall erlebte ich auf einem Computerlehrgang. Wie man das Ding ein- und ausschaltet, habe ich noch begriffen, aber als wir bei »Word« landeten, klappten auf meinem Monitor dauernd Fenster auf und zu, und das Ding stürzte ab. Damit war die Sache für mich erledigt.

Katja, bei der ich untergekrochen bin, hielt von meinen stümperhaften Versuchen, eine Arbeit zu finden, überhaupt nichts.

»Tanjuscha«, flötete sie zuckersüß, »wozu willst du arbeiten gehen? Geld haben wir genug. Wenn du mir die Wirtschaft führst, wäre mir viel mehr geholfen.«

Ich habe mir ehrlich Mühe gegeben, ihren Wunsch zu erfüllen. Bald kochte ich die tollsten Suppen: eine sämige Ochsenschwanzsuppe, eine Zwiebelsuppe mit Croutons, ja sogar zu einer Bouillabaisse habe ich mich aufgeschwungen. Ich habe Fleisch auf vielerlei Weise zubereitet, Pelmeni gekocht und Torten gebacken. Ein Jahr brauchte ich, um zu begreifen, dass es kein schlimmeres Los gibt als das einer Haussklavin. Gerade erst gespültes Geschirr steht nach einer Stunde erneut schmutzig in der Spüle, ideal gebügelte Hemden sind nach einem Tag verschwitzt, zerknittert und nicht wiederzuerkennen, auf Hochglanz polierte Bücherregale setzen im Handumdrehen neuen Staub an, Piroggen mit würziger Fleischfüllung verschwinden mittags im Sekundentakt in hungrigen Mäulern, und abends geht das Geheule von vorn los: »He, Tanja!, wo bleibt das Essen? Gibt’s heute keine Bouletten?«

Wenn ich den lieben langen Tag mit Staubsauger, Schrubber und Küchengerät hantiere, sieht das kein Mensch. Meine Mitbewohner kriegen mich nur am Abend zu Gesicht, wenn sie von der Arbeit kommen und ich, von meiner Tagschicht völlig erschlagen, im Sessel hänge und zum ersten Mal die Nase in einen Krimi stecke.

»Hast du’s gut«, seufzte Julia neidisch. »Kein Chef kommandiert dich herum! Ach, Tanja, sei so nett und nähe mir den Knopf an meiner Jacke fest. Ist ein bisschen Abwechslung, wo du doch den ganzen Tag herumsitzt und nicht weißt, was du machen sollst.«

Ich brauchte unbedingt eine eigene Arbeit. Nicht nur deshalb, weil mich alle für eine faule Trine hielten. Auch wenn ich in die Keksschachtel mit dem Wirtschaftsgeld griff, das ich ausschließlich für den Unterhalt der Familie verwendete, wurde ich das Gefühl nicht los, das Geld anderer Leute auszugeben.

Ich ging also wieder auf Arbeitssuche. Was habe ich nicht alles probiert! Als Privatdetektivin habe ich meine Nase in die Angelegenheiten anderer Menschen gesteckt, mit Kollegen habe ich auf Hochzeiten und Begräbnissen Musik gemacht. Schließlich geriet ich als Haushälterin in die Familie des sehr wohlhabenden Schriftstellers Kondrat Rasumow. Dort habe ich dann Lisa aufgelesen. Sie ist Kondrats Tochter. Der Schriftsteller wurde ermordet, und da das Mädchen keine weiteren Verwandten hatte, sollte sie in ein Heim kommen. Das wollten Katja und ich nicht zulassen. Mit viel Mühe, vor allem aber der Hilfe unseres Freundes Wolodja Kostin, der als Major bei der Kriminalpolizei arbeitet, haben wir die Vormundschaft für Lisa zugesprochen bekommen.

Die Haushälterin hatte sich damit für mich erledigt. Im Moment habe ich eine Tätigkeit, die beinahe meiner Ausbildung entspricht. Ich gebe Musikunterricht in der privaten Musikschule »Glühwürmchen«. Meine Schüler sind Knirpse im Vorschulalter, die nicht in den Kindergarten gehen. Mein Fach trägt die stolze Bezeichnung »Musikalische Früherziehung«. Wir gehen ein bisschen im Kreis herum, lernen Kinderlieder von Birke und Häschen, und ich versuche, den Kleinen die Noten beizubringen. Entweder bin ich eine schlechte Lehrerin oder meine Schüler sind nicht gerade die Hellsten, aber bisher sind wir über die ersten drei Stufen der Tonleiter nicht hinausgekommen.

Wenn ich mich durch die Stunde gequält habe, muss ich zu allem Überdruss vor den erwartungsvollen Müttern und Großmüttern auch noch Loblieder auf ihre Sprösslinge singen. Mein Direktor, der pfiffige Roman Lomow, hörte zufällig in meiner ersten Woche, wie ich zu Olja Nossowas Mutter sagte: »Ihre Tochter ist hier unvorbereitet erschienen. Sie hat ihre Hausaufgabe nicht gemacht.« Sofort rief er mich in sein Büro und erklärte mir freundlich: »Liebe Tanja, bedenken Sie bitte: Wir sind keine Schule, sondern eine Privateinrichtung. Die Leute zahlen für das, was wir hier machen. Deshalb bitte keinerlei Kritik an ihren Kindern. Das sind alles kleine Genies, jeder ein künftiger Mozart.«

»Aber …«, versuchte ich einzuwenden, »sie hat doch wirklich nicht geübt.«

Roman schnaufte und meinte nachsichtig: »Sie können sie doch nicht zwingen, die Noten zu lernen.«

»Tatsächlich?«, gab ich verwirrt zurück. »Wozu mache ich das dann hier?«

»Damit Sie was zu beißen haben«, erklärte mir Lomow geduldig. »Wenn Sie an den Kindern herumnörgeln, wird das den Mamas nicht gefallen, und sie gehen woanders hin. Kapiert?«

»Ja, wenn das so ist …«, sagte ich nur. Seitdem tiriliere ich nach jeder Stunde wie eine Nachtigall.

Die faule Olja, die zu Hause nie ihr Notenheft aufschlägt, der völlig unmusikalische Mischa, der tapsige Senja, Lena mit der kratzigen Bassstimme – sie alle sind außerordentlich fleißig und talentiert, hübsch und klug, singen wunderbar und tanzen herrlich. Dass sie noch nicht einmal die Tonleiter beherrschen, macht nichts. Trockene Theorie brauchen derartige Genies nicht.

»Solche Schüler hatte ich noch nie!«, erkläre ich mit treuherzigem Augenaufschlag, dass den Mamas und Omas vor Begeisterung die Schweißperlen auf die Nase treten. »Richtige kleine Persönlichkeiten!«

Das Ergebnis von Romans kluger Politik liegt auf der Hand: »Glühwürmchen« kann sich vor Kunden nicht retten. Und das mit den kleinen Persönlichkeiten ist nicht einmal gelogen. Ich kann nur immer wieder staunen, wie man ein einfaches Kinderlied über Igel und Tannenbaum so falsch singen kann. Ich muss aufpassen, dass mir nicht die Hand ausrutscht, wenn der dicke Mischa beim zartesten Summen meines Kinderchores sein gewaltiges Maul aufreißt und losbrüllt wie ein hungriger Löwe.

Dann habe ich da noch Petja, der ständig mit Papierkugeln wirft, Lada, die mit ihrem Kaugummi Blasen macht, Nikita, der es fertigbringt, erst lautstark zu pupsen und auf meinen tadelnden Blick herausfordernd zu antworten: »Ich muss kacken!«

Vielleicht sind sie einfach noch sehr klein. Aber ich ging mit sieben schon in die erste Klasse und außerdem in die Musikschule. Ich musste täglich drei Stunden auf meinem Instrument üben und konnte mich nicht beklagen wie die faule Olja, die mir ihre tintenbeklecksten Hände hinhält und nörgelt: »Meine Fingerchen sind müde, ich kann nicht mehr schreiben!«

Wahrscheinlich tauge ich überhaupt nicht zur Lehrerin. Ich zerfließe nicht vor Rührung, wenn die Kleinen um mich herumwuseln. Mich hält dort nur das Geld. Roman, der sichtlich stolz ist, unter seinen Lehrkräften eine Dame zu haben, die am Konservatorium studiert hat, zahlt mir 6 000 Rubel im Monat. Das ist nur gerecht, denn mein Diplom ist die beste Reklame für die Einrichtung.

Als ich die geforderte Zeit abgearbeitet hatte, wollte ich nach Hause eilen. Draußen goss es wie aus Kannen. Bei der Metrostation angelangt, hatte ich keinen trockenen Faden mehr am Leib und zitterte vor Kälte. Aber damit fing der Ärger erst an.

Ich wollte eine Fahrkarte kaufen, konnte aber meine Geldbörse nicht finden. Lange wühlte ich in der Handtasche, doch ohne Erfolg. Irgendwie überredete ich den Kontrolleur, mich ohne Ticket durchzulassen. Der Zug war voll, alle Plätze besetzt und ich musste stehen. Bald tat mir das Kreuz weh. Im Übergang zur Station Twerskaja trat ich auf einen Schnürsenkel meiner Turnschuhe und schlug auf der Treppe lang hin. Ein Mann, der mit einem riesigen Rolli hinter mir ging, kam ins Stolpern und ließ sich mit seinen einhundert Kilo Körpermasse auf mich fallen. Ein Rädchen seines Koffers fuhr über meine Jeans und hinterließ einen langen Riss. Zu allem Überfluss ging auch noch meine Handtasche auf, und ihr Inhalt verteilte sich gleichmäßig über die Stufen. Nun musste ich zwischen den Beinen der gleichgültig weitergehenden Passanten Schlüssel, Kamm, Taschentuch, einen Krimi der Poljakowa, ein Päckchen Kaugummi und andere Habseligkeiten auflesen. Dabei fand sich auch mein Portemonnaie wieder ein. Ich starrte es fassungslos an. Wo hatte es sich nur versteckt?

»Willst du hier Wurzeln schlagen?«, herrschte mich ein dickes Weib mit einem riesigen Paket an. »Bist du besoffen? Oder ist das der neueste Bettlertrick? Gib den Weg frei, die Leute haben’s eilig!«

Als ich mich dann mühsam die Treppe hinaufschleppte, ging mir durch den Kopf, ob ich denn wirklich wie eine Bettlerin aussah. Ach wo, die Meckerziege hatte nur Dampf ablassen wollen. Schließlich war ich in eine ordentliche khakifarbene Jacke gekleidet und hatte Turnschuhe an den Füßen, beides das Werk fleißiger koreanischer Arbeitshände. Meine Jeans sollten amerikanisch sein, und wenn man den frischen Riss übersah, machte ich doch einen ganz ordentlichen Eindruck. Da fiel mein Blick auf eine Frau, die an der Wand des Durchgangs lehnte, ein schlafendes Kind auf dem Arm. Sie hatte sich ein Pappschild umgehängt, auf dem stand: »Gute Leude, ich bite um eine Schpende, das Kind brauch eine Oberazion.« Die Bettlerin war in Jacke, Jeans und Turnschuhe gekleidet und sah mir zum Verwechseln ähnlich. Nur ihre Hose war ganz. Völlig verunsichert stieg ich in den nächsten Zug und blieb bei der Tür stehen. Ich hatte das Gefühl, alle Fahrgäste starrten auf den Riss in meiner Jeans, durch den das nackte Knie schaute.

Dann hatte der Kiosk an meiner Metrostation kein Brot mehr, und die Milchfrau drehte mir Butter an, die sich später als ranzig herausstellte. Als ich das zu Hause bemerkte, wollte ich zurücklaufen und mich mit ihr anlegen, aber dafür hatte ich einfach keine Kraft mehr.

Das war wirklich nicht mein Tag. Ich wollte einen mit Äpfeln gefüllten Napfkuchen backen, der jeder Anfängerin gelingt. Ich schlug also drei Eier in eine Schüssel, blieb jedoch mit dem Ärmel daran hängen und warf sie zu Boden. Zwischen den Scherben flossen die Eier auf dem Küchenfußboden breit. Was war nur mit mir los? Dabei schrieben wir weder Freitag noch den 13. des Monats. Es waren meine letzten Eier gewesen, und die frischgeschnittenen Apfelstücke wurden langsam braun.

Aber ich ließ mich nicht unterkriegen. Ich borgte mir ein paar Eier bei der Nachbarin, bereitete den Teig und schob den Kuchen in die Röhre.

Der kleine Sieg über widrige Umstände beflügelte mich, die Stimmung stieg, und ich wollte mich ein wenig mit Fernsehen ablenken. Aber kaum hatte ich eingeschaltet, da klingelte das Telefon. Mir gab es einen Stich ins Herz. Warum, weiß ich nicht. Der Apparat wollte keine Ruhe geben. Mit zitternder Hand nahm ich den Hörer ab, und wieder hatte ich die Ahnung, dass es etwas Schlimmes sein müsse.

»Tanja«, sagte die tiefe, ruhige Stimme unseres Freundes, des Majors Kostin, »ich werde einige Zeit abwesend sein. Sei so lieb und nimm Kescha zu dir.« Mir fiel ein Stein vom Herzen, und ich lächelte vor mich hin. Was einem so manchmal in den Sinn kommt! Gott sei Dank war es nur Wolodja. Der Major ist unser guter Freund. Eigentlich gehört er fast zur Familie. Vor nicht allzu langer Zeit ist er in eine eigene Wohnung gezogen. Zuvor hatte er nur ein Zimmer in einem riesigen Gemeinschaftsquartier. Zum Glück stach dieses Grundstück einem Neureichen in die Augen, der dort bauen wollte. Im Handumdrehen hatte er die bisherigen Insassen mit neuen Unterkünften versorgt. Wolodja erhielt eine nette Zweizimmerwohnung mit Küche, allerdings weit draußen am Stadtrand, für einen geborenen Moskauer am Ende der Welt.

Meine Freundin Katja, nicht faul, überredete unsere Nachbarin Lena, die sich mit ihrem sechzehnjährigen Sohn eine Einzimmerwohnung teilen musste, mit Wolodja zu tauschen. So haben wir ihn nun direkt neben uns.

Der Major ist Junggeselle. Natürlich hat er immer wieder Damenbekanntschaften, aber bisher war keine darunter, die ihr Leben mit einem Kriminalpolizisten teilen wollte. Und nach unserem Geschmack waren seine Passionen alle nicht. Die Erste war klein und dünn wie eine streunende Katze und plapperte, ohne Luft zu holen: »Wolodja, mein Katerchen, bring mir Tee.«

Oder: »Wolodja, mein Häschen, gib mir die Decke.«

Und gleich darauf: »Wolodja, mein Mäuserich, schalte doch bitte den Fernseher aus.«

Als sie unseren Freund im nächsten Satz ihr »Auerhähnchen« nannte, hielt ich es nicht mehr aus und fragte: »Arbeiten Sie vielleicht im Zoo?« Sie schnappte ein und ließ sich nie wieder blicken.

Die Nächste war eine überaus energische Dame vom Typ Jodie Foster: großer Mund, blondes Haar und eine sehr gerade Nase. Sie war krankhaft eifersüchtig und brach bei jeder Gelegenheit Streit vom Zaun, dass die Fetzen flogen.

Nach ihr fiel Wolodja Kostin ins andere Extrem. Er verguckte sich in eine aufgedonnerte Dame, die in einem Museum tätig war. Aus unerfindlichem Grund taufte Kira sie die »Schatzkammer«. In ihrer Gegenwart demonstrierte er Manieren, die ich gar nicht an ihm kannte. So aß er zum Beispiel nur noch mit Messer und Gabel. Wolodja trieb er damit fast zur Weißglut. Als die »Schatzkammer« wieder aus unserem Leben verschwunden war, erklärte der Major mit finsterer Miene: »Jetzt reicht’s! Das war die letzte Bekannte, die ich euch vorgestellt habe.«

»Warum denn das?«, fragte ich verwundert.

»So, wie ihr euch aufführt«, gab unser Freund wütend zurück, »hält sich keine Freundin bei mir länger als drei Tage.«

»Was hast du denn?«, fragte Kira unschuldig. »Nun wollte ich deiner ›Schatzkammer‹ gerade demonstrieren, in welch gesitteten Kreisen du dich bewegst. Was hat ihr denn daran nicht gefallen? Ich hab mir solche Mühe gegeben mit diesem blöden Besteck …«

»Genau!«, knurrte Wolodja. »Besonders beeindruckt hat sie, dass du auch noch das Eclair auf diese Weise verspeist hast!«

»Dir kann man es auch gar nicht recht machen.« Kira seufzte tief auf. »Soll ich das nächste Mal meine Nase ins Tischtuch schnäuzen?«

»Ein nächstes Mal wird es nicht geben!«, erklärte Kostin böse. »Jetzt hört ihr erst wieder von mir, wenn die Hochzeit beschlossen ist. Ihr könnt einem ja alle Bräute vergraulen!«

Bisher hat er Wort gehalten.

»Natürlich nehme ich deinen Papagei zu uns«, antwortete ich. »Gehst du auf Dienstreise?«

Kostin schwieg eine Weile und sagte dann niedergeschlagen: »Nein, ins Gefängnis.«

»Was machst du da?«, fragte ich verständnislos. »Einen Verdächtigen vernehmen? Aber was soll dann Kescha bei mir? Oder willst du im Gefängnis übernachten? Wo soll denn dort ein Bett für dich stehen?«

»In einer Zelle«, antwortete Wolodja.

»Wo?«, rief ich erschrocken aus.

»Ich bin verhaftet«, erklärte der Major.

Vor Schreck fiel mir fast der Hörer aus der Hand.

»Hör auf mit dem Unsinn!«

»Es ist, wie ich sage«, antwortete Wolodja und seufzte. »Entschuldige, ich muss auflegen. Ich rufe schon aus der Untersuchungshaft in der Butyrka an.«

»Moment, nicht so schnell!«, rief ich. »Wie kann das sein? Wofür? Warum?«

»Frag Slawa«, sagte der Major in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, und legte auf.

Völlig außer mir, versuchte ich verzweifelt, Major Slawa Roshkow, einen Kollegen und guten Freund Wolodjas, ans Telefon zu bekommen. Aber der meldete sich weder in seinem Büro noch zu Hause. Ziellos irrte ich in der Wohnung umher, griff bald nach diesem, bald nach jenem. Gott im Himmel, was sollte ich tun?

»He, Tanja!«, ließ sich aus dem Korridor Lisa hören, die aus der Schule kam. »Was riecht bei dir so angebrannt? Und was soll der Rauch in der Küche?«

Ich stürzte zum Herd, riss die Röhre auf und blickte entgeistert auf meinen Napfkuchen, der einem Stück Holzkohle glich. Jetzt war es mit meiner Beherrschung vorbei. Tränen strömten mir über die Wangen. Der Tag, der so merkwürdig begonnen hatte, endete in einem Alptraum.

2. Kapitel

Slawa erreichte ich erst am nächsten Morgen.

»Roshkow«, brummte es mürrisch aus dem Hörer.

»Was ist passiert?«, rief ich aufgeregt. »Warum informiert mich keiner?«

»Sei mittags am Treffpunkt!«, gab der Major kurz angebunden zurück und legte sofort wieder auf.

Damit meinte er ein winziges Café im Supermarkt »Haus des Speisens«.

Punkt zwölf Uhr war ich am vereinbarten Ort, wo sich kleine runde Tischchen drängten. Am Fenster saß Slawa mit finsterem Gesicht vor einem Pappbecher dampfender Brühe, der irgendjemand den edlen Namen Kaffee verpasst hatte.

»Slawa!«, rief ich schon von weitem und stürzte auf ihn zu. »Was für ein Wahnsinn! Ist es wirklich wahr?«

Roshkow nickte. Für einen Augenblick verschlug es mir die Sprache. Dann stieß ich hervor: »Wolodja ist in Haft?«

Wieder nickte der Major.

»Was ist, bist du stumm?«

»Da fehlen einem tatsächlich die Worte.« Slawa seufzte tief auf.

»Wofür haben sie ihn denn eingesperrt?«

Roshkow drehte verlegen den Pappbecher in den Händen. »Für Mord.«

»Waaas?«

»Du hast richtig gehört. Er soll jemanden umgebracht haben.«

»Wen?«

»Eine gewisse Sofja Repnina, geboren 1980, Verkäuferin im Blumengeschäft ›Lilie‹.«

»Herr im Himmel«, stammelte ich, »weshalb sollte Wolodja so ein zwanzigjähriges Ding umbringen? Ich hab schon gehört, dass manch einem von euch während des Verhörs mal die Hand ausrutscht, aber Wolodja ist das noch nie passiert. Oder irre ich mich?«

»Sie war seine Geliebte«, erläuterte Slawa unwillig, »sein Betthäschen. Er hat mit ihr … du weißt schon.«

»Tatsächlich? Das kann nicht sein!«

»Wieso nicht?«

»Die Damen seines Herzens kennen wir alle!«, platzte ich heraus und biss mir sogleich auf die Zunge. Wolodja hatte uns schon lange keine Frau mehr vorgestellt. Die letzte war die aufgedonnerte »Schatzkammer« gewesen.

»Offenbar kanntet ihr doch nicht alle«, brummte Roshkow. »Sie hatte eine eigene Wohnung in der Argunowskaja Uliza. Wolodja ist oft bei ihr gewesen. Nachbarn haben ihn gesehen. Er hat aus der Verbindung auch kein Geheimnis gemacht, die Frau in seinem Auto herumgefahren, ihre Taschen geschleppt und sogar den Müll hinausgetragen.«

Ich schwieg. Den Müll hatte er hinausgetragen … Das klang nach ernsten Absichten.

»Sofja Repnina hatte vor Wolodja einen anderen Freund, einen gewissen Anton Seliwanow, einen Kerl um die dreißig«, fuhr Slawa fort. »Sie stand offenbar auf Männer, die etwas älter waren als sie. Die Sache ging auseinander, obwohl dieser Seliwanow ein wohlhabender, ja sogar reicher Mann ist, der im Unterschied zu Wolodja nicht jeden Rubel zweimal umdrehen muss.«

Aber wie dem auch sei, Sofja hatte Kostin offenbar den Vorzug gegeben.

Dieser Anton war am Morgen zuvor bei der Miliz erschienen und hatte dem Diensthabenden erklärt: »Ich war mit Sofja Repnina verabredet, aber sie hat auf mein Klingeln nicht aufgemacht. Ihr muss etwas zugestoßen sein!«

Der Diensthabende wollte ihn abwimmeln, aber Seliwanow, ein erfahrener Geschäftsmann, war im Handumdrehen bis zum Abteilungsleiter vorgedrungen und hatte erreicht, dass die Polizei die Wohnung seiner Ex-Geliebten öffnete.

Dort fand man dann Sofja – erstochen mit einem Küchenmesser. Während die Ermittler auf die Spurensicherung warteten, erzählte ihnen Anton, der sich immer wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht ans Herz griff, die folgende haarsträubende Geschichte:

Sofja und er hatten sich getrennt, waren aber gute Freunde geblieben. Ab und zu gingen sie gemeinsam in ein Restaurant oder auch in einen Nachtklub. Aus Liebe war Freundschaft geworden. Sofja, die mit dem Lohn einer Verkäuferin auskommen musste, lieh sich manchmal bei Anton Geld und vergaß in der Regel, es zurückzugeben. Seliwanow bestand nicht darauf. Er verdiente gut und lebte allein. Die Summen waren für ihn Peanuts.

Vor einiger Zeit hatte Sofja Anton von ihrem neuen Kavalier erzählt, einem Mann von der Miliz. Die Tatsache, dass sich seine Ex mit einem Bullen einließ, gefiel dem Geschäftsmann gar nicht, was er ihr auch ohne Umschweife sagte: »Da hast du ja den Richtigen gefunden. Das sind doch alles Idioten. Die müssen zu dritt sein, um eine Glühbirne einzuschrauben.«

»Wie – zu dritt?«, fragte Sofja verständnislos.

»Ganz einfach.« Anton musste lachen. »Einer nimmt die Birne und klettert auf den Tisch, die anderen zwei drehen den Tisch in Uhrzeigerrichtung.«

»Blödmann!«, rief Sofja beleidigt. »So einer ist mein Wolodja nicht! Er ist Major und arbeitet bei der Kriminalpolizei an der Petrowka!«

»Dann nimmt er Schmiergeld«, stellte Seliwanow fest.

Sofja war nun ernsthaft böse. Einen Monat lang rief sie Anton nicht an. Erst am Tag zuvor hatte sie sich wieder gemeldet.

»Hallo«, flüsterte Sofja in den Hörer.

»Grüß dich!«, antwortete Anton erfreut. »Wie geht’s?«

»Schlecht«, stammelte das Mädchen, »einfach furchtbar, schlimmer kann es nicht gehen.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Anton erschrocken.

Sofja schluchzte tief auf. Anton sprang sofort in sein Auto und fuhr zu ihr. Als ihm seine Ex-Geliebte die Tür öffnete, fiel er vor Schreck fast in Ohnmacht. An ihrem Auge prangte ein riesiger Bluterguss, und auch auf den Armen hatte sie blaue Flecken.

»Wer hat dich denn so zugerichtet?«, konnte Seliwanow nur fragen.

»Wolodja«, antwortete sie unter Tränen. »Dieses Vieh.«

Den Satz – Ich habe dich gewarnt! – verkniff sich Anton, holte aus dem nächsten Supermarkt eine Flasche Kognak, goss Sofja ein großes Glas ein und ließ sich berichten, was vorgefallen war.

Mit zitternden Händen führte das Mädchen das Glas zum Mund, nahm einen kräftigen Schluck und begann dann zu erzählen.

»Er ist furchtbar eifersüchtig. Wenn ich einen anderen nur anschaue oder ein paar Worte mit jemandem wechsele, rastet er gleich aus. Gestern waren wir bei meiner Freundin zum Geburtstag eingeladen. Ich habe einmal mit ihrem Mann getanzt. Solange wir dort waren, hat er freundlich gelächelt, aber kaum saßen wir im Auto, da hat er mich bei den Haaren gepackt und mich mit dem Gesicht aufs Armaturenbrett gestoßen. Ein Glück, dass ich mir dabei nicht die Nase gebrochen habe.«

Eine Woche zuvor hatte er sie verprügelt, weil er dazu kam, als sie mit einem ehemaligen Klassenkameraden telefonierte. Drei Tage später stieß er sie mit solcher Wucht vor die Brust, dass ihr beinahe das Herz stehengeblieben wäre.

»Der bringt mich noch mal um«, schloss Sofja unter Tränen.

»Du musst sofort mit diesem Subjekt Schluss machen und jeglichen Kontakt mit ihm einstellen!«, erklärte Seliwanow kategorisch.

»Ich hab Angst«, flüsterte Sofja, »dass er dann vollkommen durchdreht. Ich habe schon zu meiner Mutter ziehen wollen, aber Wolodja ist auch dort aufgetaucht und hat mir eine schreckliche Szene gemacht. Weißt du, was er gesagt hat?«

»Nein, woher denn?« Anton schüttelte verständnislos den Kopf.

»Vor mir kannst du dich nicht verstecken!«, stieß das Mädchen leise hervor und heulte erneut auf. »Ich habe solche Angst, solche Angst«, jammerte sie.

Seliwanow legte ihr den Arm um die Schulter und wiegte sie wie ein Kind. »Ist ja gut, ist ja gut, beruhige dich. Mir wird schon was einfallen.«

In diesem Augenblick sagte jemand hinter ihnen laut und deutlich: »Guten Tag!«

Sofja stieß Seliwanow von sich, wischte sich hastig die Augen mit dem Ärmel trocken und stammelte aufgeregt: »Oh, Wolodja, dich habe ich jetzt nicht erwartet.«

»Das sehe ich!«, sagte der Mann mit einem bösen Grinsen. Er streifte die angebrochene Flasche Kognak und den verwirrten Anton mit einem unguten Blick. »Deshalb können wir uns trotzdem bekannt machen: Kostin.«

Er streckte Seliwanow eine breite, kräftige Hand hin. Als der sie mechanisch ergriff, stellte er fest, dass der Kerl einen wahnsinnig harten Händedruck hatte. Sofja lief in der Küche hin und her, griff gleichzeitig nach Teekessel, Pfanne und Töpfen.

»Ich mach uns schnell was zu essen! Ein paar Rühreier vielleicht?«

»Nicht nötig«, warf ihr der ungebetene Gast hin. »Ich bin gerade hier vorbeigekommen und wollte mal schauen, was du so treibst. Ich geh gleich wieder. Bis heute Abend, meine Teure.«

Kaum war der Bulle draußen, sank Sofja verzweifelt auf einen Stuhl und schluchzte noch heftiger als zuvor.

»Mein Gott!«, stöhnte sie. »Jetzt bringt er mich um! Heute Abend ist es so weit! Was soll ich nur machen?«

»Hör auf zu heulen!«, herrschte Anton sie an. »Pack deine Sachen und komm mit zu mir. Da bleibst du erst mal eine Weile. Inzwischen überlegen wir, wie es weitergeht.«

»Nein, nein«, murmelte Sofja wie im Fieber. »Ich muss zur Arbeit! Sonst wirft mich mein Chef raus!«

Wieder rannte sie in der Wohnung hin und her, um sich anzuziehen.

»Wo willst du denn hin, so wie du aussiehst?«, fragte Anton. »Mit diesem Gesicht vergraulst du ja die Kunden!«

Sofja warf einen Blick in den Spiegel und heulte auf, dass es einen Stein erbarmte.

Jetzt nahm Anton die Sache in die Hand. Als Erstes rief er in dem Blumengeschäft an und erklärte dem Chef, er sei Arzt auf einem Rettungswagen, der gerade die Bürgerin Repnina mit einer Gallenkolik ins Krankenhaus bringe. Zu Sofja sagte er: »Wasch dein Gesicht kalt ab und pack ein paar Sachen. Ich fahre rasch in die Firma. In zwei Stunden hole ich dich ab. Bis dahin wirst du ja fertig sein.«

Aber nach einer Stunde rief Sofja ihn auf dem Handy an und erklärte, schon wieder obenauf: »Anton, ich danke dir. Gerade ist Mascha Solomatina zu Besuch gekommen. Sie bleibt über Nacht. Wir verschieben den Umzug auf morgen, okay?«

Anton wusste, dass Sofjas Schulfreundin Mascha eine ernsthafte Person war, die an der Sporthochschule studierte und asiatische Kampfsportarten trainierte. Bei einer Größe von 1,75 m brachte sie fast 100 Kilo reine Muskelmasse auf die Waage. Die nahm es glatt mit drei Majoren auf.

»Na wunderbar«, sagte Anton froh. »Aber dass du morgen Punkt neun fix und fertig bist, wenn ich dich holen komme.«

Am nächsten Morgen öffnete niemand, obwohl er lange klingelte. Anton, der das Schlimmste befürchtete, lief sofort zur Miliz.

Nun ging alles sehr schnell. Zuerst wurde mit Wolodja Kostin eine freundschaftliche Unterredung geführt. Der bestätigte ohne Umschweife, er sei mit Sofja Repnina bekannt, sie seien auch eine Zeitlang liiert gewesen, hätten sich aber getrennt. Von Eifersucht wusste er nichts. Er habe die Frau nicht geschlagen und Anton Seliwanow noch nie gesehen. Dann wurde er Anton gegenübergestellt. Der bestätigte, diesem Mann sei er in Sofjas Wohnung begegnet. Kostin aber behauptete steif und fest, sie in der letzten Zeit nicht besucht zu haben. Schon deshalb nicht, weil er inzwischen eine andere Freundin habe, mit der er die letzten drei Tage ununterbrochen zusammen gewesen sei. Dabei hatte er seine zahlreichen Überstunden abgebummelt. Der Major konnte auch ihren Namen nennen – Nadja Kolesnikowa.

Als die befragt wurde, zuckte sie nur die Schultern. Einen Major Kostin kenne sie nicht. Von einem Mann dieses Namens habe sie noch nie gehört. Dem Ermittler gefiel das überhaupt nicht. Er erwirkte einen Durchsuchungsbefehl. Im Kofferraum von Wolodjas Lada fand man dann ein Küchenmesser, lang und scharf. Das Metzgerwerkzeug war sauber abgewaschen, aber dort, wo der Griff an der Klinge befestigt ist, fanden sich Blutpartikel. Als man sie im Labor untersuchte, stellte sich heraus, dass dies die Tatwaffe war, mit der man die unglückliche Sofja Repnina umgebracht hatte.

Kostin konnte nicht erklären, wie dieser schreckliche Gegenstand in seinen Wagen gekommen war. Der Ermittler nahm ihn daraufhin in Haft. In der Untersuchungshaftanstalt der Butyrka, des größten Moskauer Gefängnisses, wo der Major oft zu tun hatte und jeden kannte, erhielt er eine Vorzugsbehandlung. Er durfte nach draußen telefonieren und wurde in einer Fünf-Mann-Zelle untergebracht – nicht mit Gewaltverbrechern, sondern mit wohlerzogenen Leuten, gegen die wegen Wirtschaftsvergehen ermittelt wird. Damit endete Slawas Bericht. Mehr wusste er auch nicht.

»Verschaffe mir eine Besuchserlaubnis!«, forderte ich von ihm.

Roshkow hob die Hände.

»Solange die Ermittlungen laufen, darf er keinen Besuch empfangen. Eine Ausnahme kann nur der Untersuchungsführer gestatten.«

»Und wo ist das Problem?«, fragte ich verwundert. »Dann schreibst du eben so ein Papier.«

»Das kann ich nicht!«

»Wieso nicht?«

»Weil ich nicht die Ermittlungen führe.«

»Nanu?«

»Wir sind doch Kollegen und sogar befreundet.«

»Und wer hat nun den Fall?«

Slawa seufzte tief, schob den Pappbecher mit dem abscheulichen Gebräu hin und her und bekannte schließlich: »Fedja Selesnjow, ein schrecklicher Pedant. Die schlechteste Variante, die man sich denken kann. Übrigens, hast du deinen Pass bei dir?«

»Ja, warum?«

»Dann können wir zur Butyrka fahren.«

»Aber du hast doch gerade gesagt, dass du mir keine Besuchserlaubnis verschaffen kannst!«

»Auf legalem Wege nicht.«

»Und wie dann?«

»Wir müssen uns was einfallen lassen«, antwortete Slawa ausweichend. »Fahren wir. Aber zuerst kaufen wir noch ein paar Sachen ein.«

Wir fuhren zum nächsten Supermarkt, wo Slawa ein geräuchertes Hühnerbein, drei Piroggen mit Fleischfüllung, ein Paket Fruchtsaft, Käse, fünf Schachteln Zigaretten, Nescafé und eine Packung Zucker erstand. All das stopfte er in meine nicht sehr große Tasche.

»He, he!«, rief ich ärgerlich. »Was soll das? Ich brauche das nicht!«

»Es ist auch nicht für dich«, erklärte mir Slawa. »Für Wolodja! Er darf doch noch kein Paket empfangen. Vielleicht hat er Hunger!«

»Wir werden ihm Pakete bringen müssen?«, fragte ich verständnislos. »Was denn für Pakete?«

»Na, was man dort so braucht«, erklärte mir Wolodjas Freund. »Einmal im Monat werden ihm dreißig Kilo gestattet – Kleidung, Lebensmittel, Medikamente … Er darf sogar einen Fernseher, ein Radio, einen Kühlschrank, Schüssel und Eimer haben.«

»Wozu Schüssel und Eimer?«

»Na, um seine Wäsche zu waschen. Und Tauchsieder, am besten gleich mehrere, denn die gehen im Gefängnis oft kaputt. Und natürlich Zigaretten. Am besten einfache, so acht Stangen monatlich.«

»Er raucht doch gar nicht so viel!«

»Zigaretten sind im Gefängnis bares Geld. Obwohl man auch dort nichts gegen ausländische Währung hat, besonders nichts gegen die grünen Dollar-Scheinchen. Hier, nimm das und steck es am besten in den BH.«

Er hielt mir ein kleines Röllchen hin, das in Folie gewickelt war.

»Was ist denn das?«

»Dollars, die wird er in der Butyrka brauchen.«

»Und warum so komisch verpackt?«

Über so viel Unwissenheit musste Slawa seufzen.

»Wir müssen doch durch die Kontrolle …«

Ich spürte, wie in meinen Schläfen kleine Hämmerchen zu pochen begannen. In das Leben einer Frau, die in der Familie eines Raketenkonstrukteurs und einer Opernsängerin aufgewachsen war, einer absolut gesetzestreuen Bürgerin, die nur bei Grün über die Straße geht, war plötzlich die schreckliche Realität des Gefängnislebens eingebrochen, wo völlig unverständliche, furchtgebietende Regeln herrschten.

»Die Kontrolle? Was passiert denn da?«

»Eine Leibesvisitation«, erklärte Roshkow kurz und bündig. »Auch die Gefangenen werden ständig kontrolliert. Die Dollars muss Wolodja gut verbergen. Er kann sie sich zum Beispiel in die Backe stecken. Deshalb die Plastikfolie. Wart mal einen Moment.«

Wieder verschwand er in einem Geschäft. Ich war völlig fertig. In meinem Kopf summte es wie in einem Bienenstock. Wieder zurück, drückte mir Slawa eine kleine Schere, zwei Rollen Zwirn, eine Schachtel Nähnadeln und ein Päckchen Rasierklingen in die Hand.

»Auch das tust du am besten in den BH.«

»Wozu?«

Slawa wurde langsam böse. »Weil ich’s dir sage!«

»Vielleicht erklärst du es mir?«

Wir stiegen wieder in seinen zerbeulten Lada und jagten durch die Straßen.

»Schneid- und Stichwerkzeuge dürfen nicht ins Untersuchungsgefängnis gebracht werden«, teilte mir Slawa, wieder ruhiger, mit.

»Und womit soll er sich die Nägel schneiden?«

»Er kann sie ja abkauen!«

»Auch an den Zehen?«

»Hör mal, Tanja«, blaffte mich der Major jetzt an, »die Regeln habe nicht ich mir ausgedacht. Natürlich sind das Dummheiten. Denn erstens schleppen die Anwälte sowieso rein, was sie wollen, und zweitens verdienen die Wachmannschaften daran, dass sie den Gefangenen alles gestatten – von Computerspielen bis zu Mobiltelefonen.«

»Computer spielen dürfen sie auch nicht?«

»Nein.«

»Warum nicht? Ist doch ein toller Zeitvertreib!«

Bei diesen Worten trat Slawa so scharf auf die Bremse, dass ich mit der Stirn gegen die Windschutzscheibe prallte.

»Jetzt hör mir mal gut zu, Tanja! Wenn einer, der dir nahesteht, ins Gefängnis kommt, dann bringt es überhaupt nichts, wenn du dich über die Regeln aufregst, die dort herrschen. Nimm sie einfach, wie sie sind. Würfelzucker darf nicht rein, aber Streuzucker, so viel du willst. Seife darf rein, aber Shampoo auf keinen Fall. Suppenwürfel und Suppen in der Büchse, bitte schön, aber Suppe im Tetrapack fliegt sofort in den Müll. Streichhölzer, bitte sehr, aber Feuerzeuge zertritt der Kontrolleur mit dem Absatz. Und völlig unverständlich ist, warum Gurken erlaubt sind und Tomaten nicht. Vor allem solltest du dir eins merken: Antworten bekommst du auf solche Fragen von den Beamten keine. Halt den Mund und mach, was sie sagen, oder …«

Er verstummte.

»Oder?«

»Zahl das Übliche – hundert Dollar für eine Sendung.«

»Na fein!«, rief ich empört. »Wer hat sich denn die Preise ausgedacht? So viel verdient manch einer nicht mal im Monat. Sind die in eurem Innenministerium denn völlig bescheuert?«

Slawa starrte mich wütend an. »Machst du dich lustig über mich? Stellst du dich absichtlich so dumm?«

Mir blieb die Luft weg. »Willst du mir sagen, dass die Gefängnisbeamten für ein Bakschisch das Gesetz verletzen?«

»Na klar!«, zischte Slawa. »Die Schweinebande müsste selber eingelocht werden! Weißt du, wie oft die Verwaltung der Butyrka schon ausgewechselt worden ist? Und was hat’s gebracht? Nach kurzer Zeit waren die Neuen wie die Alten! Alles hat seinen Preis. Ein Handy, eine Flasche Wodka, etwas Persönliches … Wenn die Angehörigen mit diesem System in Berührung kommen, dann reagieren sie genau wie du: ›Was ist da bei euch im Innenministerium los?‹ Dabei hat die Butyrka mit uns überhaupt nichts zu tun!«

»Das ist mir aber neu!«, rief ich, ehrlich verwundert.

»Nein!«, erwiderte Slawa und schüttelte den Kopf. »Sie untersteht der Hauptverwaltung Strafvollzug, und die gehört zum Justizministerium.«

»Aha«, entfuhr es mir, »wo sie neulich den Minister mit nackten Mädchen in der Sauna erwischt haben!«

»Genau.«

»Schöne Gesetzeshüter haben wir«, murmelte ich. »Der Minister geht mit Nutten in die Sauna, und der Generalstaatsanwalt trifft sich mit leichten Mädchen in fremden Wohnungen. Was soll man da von denen erwarten, die in der Butyrka Dienst tun? Wie der Herr, so’s Gescherr!«

»Lass uns reingehen«, brummte Slawa.

Wir stiegen eine schmale Treppe hinauf und kamen in einen engen Hof, in dem sich viele Menschen mit prall gefüllten Taschen drängten. Die meisten waren Frauen mit düsteren, verlorenen Gesichtern.

»Bleib hier stehen und rühr dich nicht vom Fleck«, knurrte Slawa im Befehlston. Damit verschwand er.

Ich lehnte mich an eine Mauer und suchte etwas Ordnung in meinen Kopf zu bringen. Aber es wollte mir nicht gelingen. Die Gedanken liefen durcheinander wie Schaben, wenn in der Küche plötzlich das Licht eingeschaltet wird.

»Sie wollen jemanden besuchen?«, fragte neben mir eine leise, einschmeichelnde Stimme.

Ich nickte mechanisch und wandte den Kopf. Vor mir stand ein Mann in grauem T-Shirt und schmutzigen Stiefeln.

»Ich kann Sie in die Gruppe um zwölf einschmuggeln«, fuhr er fort und lächelte, wobei schwarze, faulige Zähne sichtbar wurden.

Das klang interessant.

»Wie viel?«

»Wir werden uns schon einig.«

»Trotzdem, wie viel?«

»Einen Hunderter.«

»Rubel?«

Der Bursche musste lachen. »Nein, mongolische Tugriks.«

»Das ist aber teuer.«

»Dann stell dich doch ’ne Woche lang dreimal am Tag an!«

»Danke, ich überleg’s mir.«

»Überleg aber nicht zu lange, ich hab nur noch einen Platz frei. Da finden sich auch andere. Das Geld kriege übrigens nicht ich. Ich hab nichts davon. Wollte nur aus christlicher Nächstenliebe helfen.«

»Tanja!«, rief Slawa, »komm schnell!«

Ich lief ihm entgegen. Plötzlich war mir, als stieße mich etwas hart in den Rücken. Ich schaute mich um. Der »Gutmensch« mit den schlechten Zähnen schickte mir einen finsteren, unguten Blick nach.

3. Kapitel

»Hör mir gut zu«, sagte Slawa, als wir eine breite Treppe hinaufgingen. »Ich weiß nicht, ob es mir ein zweites Mal gelingt, gegen die Regeln ein Treffen zu organisieren.«

»Gegen welche Regeln?«

»Frag nicht so viel und hör lieber zu. Du musst Wolodja davon überzeugen, dass es unklug ist, sich weiter zu sperren. Hast du verstanden?«

»Du denkst also, er ist der Mörder?«

»Nein, der reine Engel! Alle Indizien sprechen gegen ihn. Er soll aufhören, den Unwissenden zu spielen. Je schneller er in den Kahn geht, desto eher ist er wieder draußen. Wenn dieser vernagelte Othello so weitermacht« – Slawa kratzte sich – »dann dauern die Ermittlungen ein Jahr, und so lange wird er in der Butyrka schmoren. Wenn er gleich alles zugibt, ist die Sache in einem Monat gegessen, und wir sehen zu, dass es schnell zum Prozess kommt. Zu Neujahr kann er schon im Lager sein. Da kriegt er wenigstens frische Luft. Und dann sind verschiedene Varianten denkbar …«

»Welche denn?«

»Bei guter Führung kommt er eher raus oder wird irgendwo angesiedelt … Hauptsache, er hat die Butyrka bald hinter sich. Weißt du, wie lange hier manche Leute auf ihren Prozess warten?«

»Wie lange?«

»Zwei oder gar drei Jahre! Er soll keinen Mist machen. Morgen sucht ihn ein Anwalt auf.«

»Wer hat denn den bestellt?«

»Mischa Koslow und ich. Das muss aber niemand wissen. So, jetzt geht’s los. Siehst du dort den Burschen am Fenster? Er heißt mit Vor- und Vatersnamen Alexej Fjodorowitsch. Geh zu ihm, ich warte hier so lange.«

Er blieb auf der Treppe stehen. Ich trat an den breitschultrigen Blonden heran, räusperte mich und sagte schüchtern: »Guten Tag.«

Mit steinerner Miene presste der Angesprochene durch die Zähne: »Tatjana Romanowa? Ihren Pass.«

Gehorsam reichte ich das dunkelrote Büchlein einem pausbäckigen Weib hin, das in einer Blechbude vor dem Metalldetektor saß, und erhielt dafür eine kleine Nummer aus Metall, wie man sie in der Theatergarderobe bekommt. In meine Tasche schaute niemand, und durchsuchen wollte man mich auch nicht.

Alexej Fjodorowitsch ging mit großen Schritten voran, und ich trippelte hinterdrein, so gut ich konnte. Wir liefen durch endlose Gänge und über ungezählte Treppen. Hin und wieder passierten wir eine vergitterte Tür, die mit ohrenbetäubendem Krach ins Schloss fiel. Schließlich gelangten wir auf einen breiten Korridor, über dem eine gläserne Tafel mit der Aufschrift »Untersuchungsgefängnis« hing.

Alexej Fjodorowitsch schloss einen Raum auf und befahl: »Warten Sie hier.«

Ich ließ mich erschöpft auf einen Stuhl fallen und schaute mich in dem winzigen Gelass um. Da stand ein zerkratzter Schreibtisch aus den sechziger Jahren, eine schon selten gewordene Tischlampe mit grünem Schirm und ein vorsintflutlicher Panzerschrank. An den Wänden hingen eine Karte mit den Erdhalbkugeln und aus unerfindlichem Grund ein quergestreiftes Seemannshemd. Das Fenster war mit einem dichten Gitter versehen und gab den Blick auf eine Betonmauer frei.

Die Tür ging auf und herein trat Wolodja. Alexej Fjodorowitsch, der hinter ihm stand, sagte finster: »Sie haben eine Stunde. Ich muss Sie leider einschließen.«

»Klar«, erwiderte der Major gleichmütig, »die Dienstvorschrift ist einzuhalten.«

Der Schlüssel klapperte im Schloss, und wir waren allein. Hektisch fing ich an, die Lebensmittel, Zigaretten und Kosmetikartikel aus meiner Tasche zu holen. Wolodja fiel über das Essen her, steckte Nescafé, Zucker und Zigaretten in die Taschen und sagte: »Dafür gibst du bitte kein Geld mehr aus.«

»Morgen bringe ich dir noch ein paar Lebensmittel.«

»Nicht nötig.«

»Warum …?«

»Ich komm schon durch. Zu essen gibt es hier. Danke für die Nagelschere. Wer hat dich darauf gebracht?«

»Slawa.«

»Also, Roshkow«, stellte Wolodja fest und steckte sich eine Zigarette an. »Soso … Und was sollst du mir von ihm bestellen?«

Ich sah ihn flehend an. »Wolodja, ich bitte dich, gib es zu. Ein aufrichtiges Geständnis verringert die Schuld …«

»… und verlängert die Strafe«, brummte mein Gegenüber. »Was soll ich eigentlich zugeben?«

»Den Mord an Sofja Repnina, geboren 1980. Kennst du die Dame?«

»Nur von der guten Seite«, gab Wolodja nachdenklich zurück. »Wir haben eine kurze Zeit miteinander verbracht, was uns beiden gutgetan hat.«

»Und warum habt ihr euch getrennt?«

Wolodja seufzte tief auf. »Weißt du, solange es nur ums Bett ging, gab es überhaupt keine Probleme. Sofja war eine schöne Frau mit toller Figur, Taille und Busen wie Gina Lollobrigida in ihren besten Jahren, endlose Beine, und eine blonde Mähne wie … Als ich mich dann aber ein wenig an sie gewöhnt hatte und auch mal nur mit ihr reden wollte, ging gar nichts mehr.«

»Warum?«

Wolodja sog mit Genuss den Rauch ein und meinte: »Sofja war dumm wie ein Brot. Zuerst dachte ich, sie verstellt sich nur. Aber wie bringt man es fertig, zwanzig Jahre auf dieser Welt zu leben und so gut wie nichts gelesen zu haben? Für sie ist Puschkin eine Ketchup-Marke und die Metrostation Majakowskaja nach dem Architekten benannt, der sie erbaut hat … Mit ihr konnte man über gar nichts reden. Interessiert hat sie nur Tratsch über Filmschauspieler und Popsänger. Außerdem waren natürlich die Mode und tolle Kosmetik immer ein Thema, über das sie mit ihren Freundinnen stundenlang schwatzen konnte. Selbst ein Frauenmagazin mit Artikeln von der Sorte ›Wie behältst du deinen Mann?‹ oder ›Soll man sich in seinen Chef verlieben?‹ waren ihr zu hoch. Comics und Videos – das war ihre Welt. Besonders solche vom Typ ›Die dümmsten …‹ Wenn der Held bei Tisch einen fahren ließ, bekugelte sich Sofja vor Lachen, schlug sich auf die Schenkel und quietschte: ›Ich kann nicht mehr, gleich mach ich mich ein!‹«

Anfangs fand Wolodja das lustig, aber das Lachen verging ihm mit der Zeit. Als sie ihm nur noch den Nerv tötete, trennten sie sich. Das geschah in aller Freundschaft. Wolodja schickte ihr Glückwünsche zum Geburtstag und zum 8. März, sie revanchierte sich dafür am 23. Februar, dem Tag der Vaterlandsverteidiger. Und dabei blieb es.

»Ich hatte schon seit August eine Neue«, enthüllte mir der Major. »Nadja.«

»Und warum habe ich weder von Sofja noch von Nadja etwas gewusst?«

»Das hätte gerade noch gefehlt«, fuhr mich der Major an. »Wie ihr euch aufgeführt habt! Ich sage nur ›Schatzkammer‹! Außerdem muss ich ja nicht jede vorstellen, mit der ich schlafe! Danke für das Essen, aber künftig brauche ich nichts dergleichen.«

»Wieso?«

»Weil ich hier bald wieder raus bin.«

Ich schaute unseren Freund mitleidig an. »Wie kommst du denn darauf?«

»Das ist alles ein Missverständnis, das sich bald aufklären wird«, sagte Wolodja seelenruhig. »Fedja Selesnjow mag ich überhaupt nicht, aber er kennt sein Metier und bringt die Wahrheit ans Licht. Wenn wir auch in der letzten Zeit allerhand zufälliges Personal bekommen haben, gibt es immer noch so etwas wie Solidarität unter Kollegen. Die werden alles daran setzen, um meine Unschuld zu beweisen. Das würde ich genauso halten.«

»Was würdest du denn tun?«

»Eine ganze Menge. Erstens würde ich mir diesen Anton Seliwanow vornehmen. Was für ein Interesse kann der haben, einen unschuldigen Menschen zu belasten? Und er hat sich wirklich eine tolle Geschichte ausgedacht – mit allen Details … Dann müssten die Pathologen klären, wann Sofja die Blutergüsse im Gesicht beigebracht wurden – als sie noch lebte, oder als sie schon tot war … Ich würde auch mit Sofjas Freundinnen und den Verkäuferinnen in dem Blumengeschäft reden. Die wissen über Sofjas Liebesleben sicher bestens Bescheid. Und schließlich wäre auch ein Gespräch mit Nadja Kolesnikowa nötig. Ich habe den ganzen Tag mit ihr verbracht, als ich, wie Seliwanow behauptet, bei Sofja gewesen sein soll. So ungefähr!«

»Nadja ist schon befragt worden. Sie hat ausgesagt, dass sie nicht einmal deinen Namen kennt.«

Wolodja winkte ab. »Das habe ich ihnen doch schon erklärt! Sie haben einfach eine Dummheit gemacht. Sie wollten besonders schlau sein, und das ist dabei rausgekommen: Sie sind gegen zehn Uhr abends bei Nadja aufgekreuzt und haben sie nach mir ausquetschen wollen. Was sollte die arme Frau denn machen? Sie konnte nur die Achseln zucken und die Unwissende spielen. Sie sollen sie ins Büro vorladen, dann bestätigt sie mein Alibi.«

»Merkwürdig«, murmelte ich, »wieso konnte sie denn nicht abends die Wahrheit sagen?«

»Weil sie verheiratet ist! Wahrscheinlich hat der Gatte neben ihr gesessen! Wer gibt denn da eine Liebesaffäre zu?«

»Du hast dich mit einer verheirateten Frau eingelassen?«

»Na und? Sie war es, die mich angemacht hat.«

»Das ist aber interessant.«

»Genau.«

»Und wo?«

»Im Kaufhaus ›Mir‹. Ich brauchte eine Satellitenschüssel.«

»Moment mal, wie lange bist du denn mit ihr bekannt?«

»Am 29. August habe ich sie zum ersten Mal gesehen.«

»Und heute ist der 5. September! Das heißt, ihr kanntet euch kaum, und hopp, ins Bett? Ekelhaft ist das!«, sagte ich empört. »Hast du sie wenigstens gefragt, wie sie heißt?«

»Um miteinander ins Bett zu gehen, muss man das nicht unbedingt wissen«, gab Wolodja zurück und lächelte nun sogar. Als er aber sah, dass ich die Brauen runzelte, fügte er schnell hinzu: »Also, Tanja, sei jetzt nicht prüde! Wir sind doch erwachsene Menschen. Wir mochten uns, da haben wir eben ein Fläschchen gekauft und … Ihr Mann war gerade nicht da, er ist Fernfahrer und rollt mit seinem Brummi durch ganz Russland. Wir hatten miteinander ein paar gute Tage. Mehr wollten wir beide nicht. Sie hat nicht die Absicht, sich scheiden zu lassen. Und ich will sie auch nicht heiraten … Es ist eben passiert. Gestern sollte ihr Mann zurückkommen. Also, mach dir keine Sorgen. Fedja redet morgen in seinem Büro mit ihr, und dann klärt sich alles auf.«

Ich sah die Sache durchaus nicht so optimistisch, und Slawa Roshkow offenbar auch nicht.

»Aber wenn diese Nadja gar nicht daran denkt, dir zu helfen?«

»Ihr mit eurem ewigen Wenn und Aber«, erwiderte der Major gereizt. »Dann muss man eben anders vorgehen. Wer mich auch nur ein bisschen kennt, der weiß, dass ich keiner Frau was zu Leide tun kann, auch nicht, wenn ich vor Wut koche. Und sie auch noch grün und blau schlagen! So ein Unsinn! Außerdem bin ich nicht eifersüchtig. Wenn eine Dame mich nicht mehr will, dann bitte schön! Such ich mir eben eine neue. Natürlich weiß ich nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich im Schrank den Liebhaber meiner Ehefrau fände … Wahrscheinlich würde ich ihm ein paar hinter die Löffel geben und mich scheiden lassen … Aber eine Frau schlagen! Das ist wirklich nicht mein Stil.«

»Und wie ist das Messer in deinen Kofferraum gekommen?«

»Das ist mir wirklich ein Rätsel. Ich habe es nicht dorthin gelegt. Aber du siehst doch selbst, wie blöd das ist. Statt das Messer in eine Schachtel mit einem Stein zu legen und in den nächsten Teich zu werfen, fahre ich die Tatwaffe in aller Ruhe durch die Gegend. Aus welchem Grund hätte ich das tun sollen? Hältst du mich denn für einen kompletten Idioten? Immerhin bin ich ein Profi, vielleicht nicht der beste, aber mein Handwerk beherrsche ich schon.«

»Slawa Roshkow ist auch Profi«, sagte ich langsam, »und er will, dass du ein Geständnis ablegst. Er meint, das wichtigste wäre jetzt ein schneller Prozess, und dann ab ins Lager. Von dort bis zur Freiheit sei es nur ein Schritt.«

»Weißt du, das ist noch merkwürdiger als das Messer im Kofferraum«, sagte Wolodja jetzt ganz ruhig. Aber ich sah, wie heftig eine kleine Ader an seiner Schläfe pochte, was bewies, dass es ihn sehr beschäftigte.

»Was ist daran merkwürdig?«

»Wie sich Slawa verhält«, erklärte Wolodja. »Er kennt mich seit der Polizeischule. Wie viele Jahre sind wir jetzt befreundet! Wir haben in einer Kreisverwaltung zusammen gedient, von der Leine geklaute Wäsche gesucht und dann zusammen ein juristisches Fernstudium gemacht. Slawa kennt mich in- und auswendig. Selbst alle meine Weiber kann er herzählen, zumindest die, mit denen ich etwas länger zusammen war. Er weiß einfach alles von mir. Und der hält mich für einen Mörder?«

Darauf konnte ich nichts sagen.

»Und du?«, beharrte Wolodja. »Glaubst wenigstens du mir?«

»Ja«, antwortete ich. »Aber mir scheint, ich bin die einzige, die denkt, dass du mit all dem nichts zu tun hast.«

Über Wolodjas Miene senkte sich ein Schatten. Vorsichtig fragte er: »Und wenn sich nun herausstellt, dass ich es wirklich getan habe? Was macht ihr dann, du und Katja?«

Ich schaute ihm in das verzweifelte Gesicht und antwortete ganz ruhig: »Dann gehen wir beide davon aus, dass du in geistiger Umnachtung gehandelt haben musst. Wir schleppen dir ins Lager, was du brauchst. Du bist und bleibst unser bester Freund. Und Freunde, auch wenn sie etwas Schlimmes getan haben, lässt man nicht im Stich. Schon gar nicht, wenn sie in der Patsche sitzen.«

»Danke«, sagte Wolodja mit belegter Stimme. »Ich mag euch sehr, auch wenn ihr manchmal nicht zum Aushalten seid. Und Slawa sagst du: Auf ein Geständnis von mir kann er lange warten. Wer Kostin auf der Anklagebank sehen will, der muss ihm eine Schuld nachweisen!«

»Sei Slawa nicht böse«, bat ich. »Er leidet mit dir. Er und Mischa Koslow haben dir einen Anwalt besorgt.«

»Na, schönen Dank auch!«, knurrte der Major. »Mir kommen gleich die Tränen.«

Da drehte sich der Schlüssel im Schloss, und der unfreundliche Alexej Fjodorowitsch stand in der Tür. Vielsagend klopfte er mit dem Finger auf seine Uhr. Wolodja stand auf. Mir ging es durch und durch, als ich sah, dass er beim Hinausgehen die Arme auf dem Rücken kreuzte.

Slawa Roshkow stand auf dem Hof an einer Glastür, die in einen anderen Teil des Gefängnisses führte. Als er mich erblickte, warf er die angerauchte Zigarette weg und fragte aufgeregt: »Na, hast du ihn überredet?«

Ich schüttelte den Kopf. »Er hält sich für unschuldig und glaubt fest, dass ihr alles tut, um das zu beweisen.«

»Der Idiot!«, entfuhr es Slawa. Dann, schon ruhiger, fügte er hinzu: »Der Heuchler!«

»Du gehst davon aus, dass er der Mörder ist?«

»Ich weiß es«, behauptete Slawa. »Es gibt dafür Indizien noch und noch.«

»Welche denn?«

»Alle möglichen!«

»Geht es nicht etwas genauer?«

»Das Messer!«

»Das kann man ihm untergeschoben haben!«

»Aber seine Fingerabdrücke sind drauf!«

Ich schwieg verwirrt. Zwar bin ich kein Profi, doch ich liebe Krimis und habe in meinem Leben schon Berge davon gelesen. Wenn Fingerabdrücke vorhanden sind, dann wird es ernst. Aber soll Wolodja wirklich so dumm gewesen sein, eine Mordwaffe ohne Handschuhe anzufassen? Doch im Zorn … Vor Wut hatte er den ersten passenden Gegenstand gegriffen und ihn der unglücklichen Sofja in den Leib gerammt!

Wir stiegen wieder in den Wagen. Ich starrte mit leerem Blick zum Fenster hinaus. Die Sache war dumm gelaufen. Neun Männer von zehn, die im Zorn ihre Partnerin erschlagen, geraten in Panik, laufen davon und machen jede Menge Fehler. Einer wirft die Tatwaffe weg, ein anderer