Den Letzten beißt der Hund - Darja Donzowa - E-Book

Den Letzten beißt der Hund E-Book

Darja Donzowa

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Beschreibung

Die Miss Marple aus Moskau - manche mögen's reich...

Als an einem Regentag Tanjas Datsche einstürzt, lädt sie ihr reicher Nachbar ein, den Sommer in seiner Villa zu verbringen. Dort leben die junge Ehefrau und Kinder aus verschiedenen Ehen friedlich unter einem Dach. Bis Tanja den Nachbarn tot am Schreibtisch findet. Motiv: Millionenerbschaft? Sofort wird seine Frau verhaftet. Doch Tanja glaubt an deren Unschuld ...

"Der turbulente Reigen ist ein Vergnügen." Nürnberger Nachrichten.

"Abgründig komisches Pointengewitter. Feinste Comedy." Literaturen.

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Informationen zum Buch

Manche mögen's reich

Als an einem Regentag Tanjas Datsche einstürzt, lädt sie ihr reicher Nachbar ein, den Sommer in seiner Villa zu verbringen. Dort leben die junge Ehefrau und Kinder aus verschiedenen Ehen friedlich unter einem Dach. Bis Tanja den Nachbarn tot am Schreibtisch findet. Motiv: Millionenerbschaft? Sofort wird seine Frau verhaftet. Doch Tanja glaubt an deren Unschuld.

»Der turbulente Reigen ist ein Vergnügen.« Nürnberger Nachrichten

»Abgründig komisches Pointengewitter. Feinste Comedy.« Literaturen

Darja Donzowa

Den Letzten beißt der Hund

Kriminalroman

Aus dem Russischen von Helmut Ettinger

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Anmerkungen

Über Darja Donzowa

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

1. Kapitel

Der Juni war in diesem Jahr einfach grässlich. Ein bisschen Wasser kann der Erde nicht schaden, musste da oben jemand gedacht haben. Dann hatte er den Hahn aufgedreht. Am Ersten, Zweiten, Dritten und Vierten des Monats goss es, als lebten wir im tropischen Regenwald. Kein Sonnenstrahl drang durch die bleigrauen Wolken. Der den Hahn aufgedreht hatte, war offenbar wieder schlafen gegangen oder hatte uns da unten glatt vergessen.

Am 5. Juni stöhnte Kira abends aus tiefstem Herzensgrund: »Wenn das morgen weiter so schifft, verliere ich noch den Verstand!«

»Die Gefahr besteht nicht«, brummte Lisa.

»Warum?«, fragte der Junge träge und unbedacht.

»Na, darum!«, gab Lisa hämisch zurück. »Man kann nicht verlieren, was man nicht hat!«

Erbost warf Kira einen Brotkanten nach ihr, traf aber nicht. Dafür versetzte ihm Lisa eins mit dem Küchenhandtuch. Schon war ein wilder Kampf im Gange. Auf der Terrasse flogen Zeitungen, Klamotten und Essenreste nach allen Seiten. Unsere Hunde, überglücklich, dass nach Tagen des Eingesperrtseins endlich etwas passierte, umkreisten die Streithähne mit lautem Gebell. Ich flüchtete ich in den ersten Stock, sprang ins Bett und zog mir die Decke über die Ohren. Kira und Lisa konnten die ewige Stubenhockerei einfach nicht mehr ertragen. Sie hatten sich so auf den Sommer im Grünen gefreut! Mit den Rädern wollten sie die Gegend unsicher machen, auf Bäume klettern, im Teich baden oder im Wald Laubhütten bauen. Nun aber lagen sie den ganzen Tag faul auf der Couch herum und starrten auf den Fernseher, der wie zum Hohn nur Schrott anbot.

Bei Dauerregen kann einem auf der Datsche, auch wenn sie gut eingerichtet ist, schon das Lachen vergehen. Wahrscheinlich stritten und zankten Lisa und Kira deshalb ohne Ende und gingen zu offenen Kampfhandlungen über, wenn ihnen die Worte fehlten. Sie zur Ordnung zu rufen oder den Schuldigen herauszufinden war ein sinnloses Unterfangen. Wenn ich nur einwarf: »Lisa, lass endlich Kira in Ruhe!«, parierte das Mädchen, das sich gerade zu einem properen Teenager mauserte: »Er hat aber angefangen! Immer verteidigst du ihn!«

Dann zog sie einen Flunsch und schlug die Tür so heftig zu, dass die armen Hunde hochfuhren und wütend zu kläffen anfingen. Der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass Kira, wenn er angesprochen wird, genauso reagiert. Ich weiß nicht, wie andere Frauen bei Familienmitgliedern dieses Alters das psychische Gleichgewicht bewahren. Ich möchte die beiden manchmal einfach beim Schlafittchen packen und mit den Köpfen zusammenstoßen. Daran hindert mich nur meine gute Erziehung. Meine Mutter selig, eine Opernsängerin, pflegte zu sagen: »Ein intelligenter Mensch muss in jeder Lage Contenance bewahren.«

Allerdings hatte sie nur ein Kind, ein Mädchen, das heißt, mich. Ich war ein stilles, ewig kränkelndes Wesen, das seine Kindheit und Jugend größtenteils mit Üben an der Harfe verbrachte. Auf dieser Datsche, wo jetzt Kira und Lisa ihre Kämpfe austrugen, saß ich als kleines Mädchen schweigend am Tisch und vertrieb mir die Zeit, indem ich Anziehpüppchen aus Papier ausschnitt. Freundinnen hatte ich keine, ein Fahrrad bekam ich nicht, weil ich damit hätte stürzen und mich verletzen können. Und auf eine Bemerkung meiner Mutter die Tür zuzuwerfen, dass es krachte, ist mir nie in den Sinn gekommen.

Einmal habe ich versucht, meine eigenen Erfahrungen pädagogisch einzusetzen. Mit Nachdruck erklärte ich: »Als ich klein war, haben sich die Kinder nicht so benommen.«

Sofort vergaßen meine beiden ihren aktuellen Streit, wandten mir ihre erhitzten Gesichter zu und antworteten mit einer wahren Kanonade von Gegenargumenten:

»Zu deiner Zeit, Tanja«, brüllte Kira los, »sind die Kinder noch in Zweierreihen marschiert, mussten Schulkleidung tragen und hatten nicht einmal einen Computer!«

»Und kein Video!«, fiel Lisa ein. »Furchtbar muss das gewesen sein! Die reine Steinzeit! Und die Alten haben natürlich rumkommandiert, wie sie wollten!«

»Du hast doch selber erzählt, dass du nur zwanzig Minuten am Tag fernsehen durftest«, warf Kira ein und kicherte schadenfroh.

»Und bis zur zehnten Klasse bist du mit einem Zopf rumgelaufen!«

»Die reine Sklaverei!«

»Und in den Ferien musstet ihr Gorki lesen!«

»So schlecht ist der gar nicht«, wagte ich einzuwenden.

»Ach, hör doch auf!«, riefen Kira und Lisa im Chor und stritten lustig weiter.

Nachdenklich ging ich auf mein Zimmer. Natürlich konnte man Gorki, den begabten Autodidakten, nicht mit Dickens vergleichen, aber immerhin hatte er keine Pokemon-Comics verfasst, auf die Lisa so abfuhr, sondern echte Literatur, die … Was Gorki den Schülern unserer Zeit geben konnte, darüber musste ich bei Gelegenheit nachdenken. Vorerst nahm ich mir vor, mich in ihr Geplänkel nicht mehr einzumischen. Sollten sie sich doch prügeln, so viel sie wollten. Wenn sie über Tisch und Bänke gingen, wollte ich mich zurücklehnen und auf jeden empörten Hilfeschrei mit dem stoischen Satz antworten: »Ach, klärt das doch selber!«

Mit dieser Einstellung gelang es mir auch diesmal, bei dem Kampfgeschrei, das von der Terrasse zu mir drang, friedlich einzuschlummern. Die Lider wurden mir schwer, unsere Möpse Mulja und Ada waren unter meine Decke gekrochen und drängten sich mit ihren warmen, seidigen Flanken an meinen Rücken. Ich wollte sie von dort vertreiben, aber mir schwanden die Kräfte. Morpheus nahm mich fest in seine Arme.

Plötzlich drang ein ohrenbetäubendes Krachen an mein Ohr. Ich schrak im Bett hoch. Das war aber nun wirklich zu viel! Nahmen sie jetzt schon das Haus auseinander? Ich sprang auf, fuhr in Morgenrock und Pantoffeln, da dröhnte es wieder.

»Was ist denn das?«, hörte ich Kira schreien. »Lisa, hol Tanja! Ich kümmere mich um die Hunde! Ein Erdbeben!«

Ich packte Mulja und Ada und stürzte die Treppe hinunter. Die schwankte gefährlich unter meinen Füßen. Ein Erdbeben bei Moskau? In einer Datschensiedlung vor den Toren der Hauptstadt? Das hatte es noch nie gegeben! Aber darüber nachzugrübeln war jetzt keine Zeit. Die Dielen bebten wie unter Stromstößen, die Wände wankten. In vollem Lauf bekam ich noch den Kater Pingu zu fassen und stürzte in den Garten hinaus, wo bereits Kira und Lisa im strömenden Regen standen.

»Was ist denn los?!«, rief ich erschrocken und wischte mir das Wasser aus dem Gesicht.

»Woher sollen wir das wissen?«, gaben die Kinder zurück. Da knackte und knirschte es plötzlich, dass es einem durch Mark und Bein ging. Unsere Datsche legte sich langsam auf die Seite und fiel vor unseren Augen in sich zusammen. Wir standen vor einem großen Haufen von Brettern und gesprungenen Fensterscheiben und hatten nur noch das, was wir auf dem Leibe trugen.

»Wahnsinn!« Lisa fasste sich als Erste. »Was war denn das?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich erschüttert.

»Tschetschenische Terroristen haben eine Bombe gelegt!«, vermutete Kira.

»Red keinen Quatsch«, blaffte Lisa ihn an.

Ich fürchtete, sie könnten auf den Resten dessen, was soeben noch unsere nicht gerade taufrische, aber gemütliche Heimstatt gewesen war, eine neue Prügelei anfangen. Daher sagte ich rasch: »Sind denn überhaupt alle da?«

Zu meiner Erleichterung zeigte sich schnell, dass alle Tiere bei uns waren. Ich hatte Mulja, Ada und den Kater Pingu gerettet. Kira hatte die Staffordshire-Terrier-Dame Rachel und den Kater Klaus, Lisa die Katze Semiramis und die Promenadenmischung Ramik an die frische Luft befördert.

»Also«, stellte ich erleichtert fest, »Verluste sind wohl keine zu beklagen.«

»Die Kröte Gertrud!«, schrie Kira auf. »Die Arme! Die hat sicher Todesqualen gelitten!« Unserem Jungen liefen Tränen über die Stupsnase.

»Mal nicht gleich den Teufel an die Wand«, meinte Lisa, zog aber selbst die Nase hoch. »Kröten sind Überlebenskünstler. Die kommt bestimmt noch irgendwo hervorgekrochen.«

»In Freiheit kann sie doch nicht überleben!«, heulte der Junge weiter. »Sogar die Fliegen fang ich ihr! Sie selber packt das nicht!«

Darauf wusste Lisa nichts mehr zu sagen und heulte mit. Da spürte ich in der Tasche meines Morgenmantels eine leichte Bewegung. Ich griff hinein und zog – heil, ganz und quicklebendig – die Kröte Gertrud hervor.

»Tanja!«, schrie Kira auf und sprang durch die Pfützen auf mich zu, »du bist die Größte! Lass dich küssen! Du hast Gertrud gerettet!«

Ich lächelte bescheiden. Vielleicht war ich ja wirklich die Größte, aber im Moment wusste ich nicht, wie die Kröte in meine Tasche gekommen war. Ich hatte damit wirklich nichts zu tun. Vielleicht war sie von selbst hineingehüpft?

Da standen wir nun im eiskalten, so gar nicht sommerlichen Regen. Ich seufzte tief auf. Die Tiere waren am Leben, aber an Geld, Papiere oder zumindest Jacken und Schuhe hatte keiner gedacht. Wir boten ein malerisches Bild: Kira in T-Shirt mit Schokoladenflecken und zerfetzten Shorts, Lisa in hellblauem, ärmellosem Minikleid und ich im Morgenrock. Die Kinder trugen Badelatschen, und meine Füße steckten in hübschen rosa Plüschpantoffeln, die wie Häschen gemacht waren. Jetzt ähnelten sie eher zwei Scheuerlappen von unbestimmter Farbe. Ich ärgerte mich über meine Gedankenlosigkeit. Deshalb sagte ich heftiger als gewollt: »Los, ab zu den Redkins!«

Makar Sergejewitsch Redkin, ein General a. D., ist der Chef der Verwaltung unserer Datschensiedlung. Der alte Haudegen kannte meine Eltern gut. Er hat ein riesiges Haus mit einer chaotischen Familie – Kinder, Schwiegertöchter und Enkel ohne Ende. Drei Hunde und zwei Katzen bevölkern sein Grundstück. Unsere Menagerie würde dort freundlich aufgenommen werden. Kira und Lisa finden Redkins dreizehnjährigen Neffen Jegor und die fünfzehnjährige Tochter Njuscha sympathisch. Der General, ein unverbesserlicher Schürzenjäger, behauptet stolz von sich, er habe keine seiner Frauen betrogen. Das ist nicht einmal gelogen. Von jeder seiner Ehefrauen, die ihm nicht mehr zusagte, hat er sich getrennt, bevor er sich eine neue Lebensgefährtin zulegte. Aus diesem Grunde ist es schwer, bei seinen Kindern und Enkeln den Überblick zu behalten. Auch deshalb, weil seine letzte Tochter Njuscha jünger ist als seine ersten Enkel.

Aber Makar Redkins Moral interessierte mich jetzt weniger. In dieser großen Familie fand sich bestimmt etwas Passendes, das Lisa und Kira überziehen konnten. Und auch was mich selbst betraf, war mir nicht bange.

»Auf geht’s!«, kommandierte ich.

Mühsam quälten wir uns auf dem vom Regen spiegelglatten Lehmboden vorwärts. Ramik und Rachel mit ihren kräftigen Beinen bewegten sich wie Geländewagen mit Allradantrieb. Sie sind gut für jedes Wetter. Die Möpsinnen, die die Kinder tragen mussten, knurrten unzufrieden vor sich hin. Herunterlassen konnte man sie nicht, denn sie hätten sich sofort auf den Bauch gelegt und wären keinen Schritt weitergegangen. Auch die Katzen ließen immer wieder ein verhaltenes Fauchen hören, besonders Pingu fand das Ganze gar nicht lustig.

»Was ist denn mit euch los?«, rief der General entgeistert, als er unser zitterndes Häuflein auf der Schwelle seines Hauses erblickte. »Seid ihr aus der Gefangenschaft ausgebrochen?«

Ich schüttelte meine völlig durchnässten Häschenpantoffeln von den Füßen und murmelte niedergeschlagen: »So ungefähr.«

»Was ist denn passiert?«

»Das glauben Sie sowieso nicht!«

»Tschetschenische Terroristen haben unsere Datsche in die Luft gesprengt!«, erklärte Kira stolz.

»…!«, rief der General. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen?!«

»Unser Haus ist zusammengebrochen«, sagte ich mit einem Seufzer und fühlte mich plötzlich zum Umfallen müde. »Es ist nur noch ein Haufen Trümmer.«

»Anja!«, brüllte Redkin.

Seine aktuelle Ehefrau, etwa so alt wie ich, kam auf die Terrasse gelaufen.

»Hallo, Tanja, grüß dich! Das ist aber schön, dass ihr mal bei uns vorbeischaut! Ich habe gerade eine Pastete aus der Röhre geholt, möchtet ihr was davon?«

»O ja!!!«, riefen die Kinder.

»Bleib uns mit deinen Backkünsten vom Hals!«, erregte sich Redkin. »Ich verhänge den Ausnahmezustand! Evakuierung vorbereiten! Eiserne Ration und einmal Wechselwäsche für jeden! Anja, hol die Kinder zusammen. Lena, Sonja, Rita, her zu mir, ihr Weiber!«

Die Schwiegertöchter kamen herbeigelaufen.

»Los, bewegt euch«, kommandierte der General. »Die Fenster schließen, Trinkwasser fassen, Petroleum, Kerzen und Streichhölzer mitnehmen!«

Den Frauen blieb der Mund offen stehen. Schließlich fragte Lena ängstlich: »Bist du die Treppe heruntergefallen, Papa?«

»Ruhe hier!«, donnerte der General. »In dieser Siedlung, die mir anvertraut ist, hat es einen Terroranschlag gegeben!«

Da griff Anja ein. »Makar, zieh Regenmantel und Stiefel an und schau selber nach, was da passiert ist. Jura und Senja, ihr begleitet euren Vater. Und ich gebe den Leuten erst mal trockene Sachen und was zu essen.«

Der General, den jede seiner Frauen nach kurzer Zeit unter dem Pantoffel hatte, verstummte augenblicklich und sagte friedlich: »Recht hast du, meine Süße! Hier ist erst einmal Aufklärung vor Ort nötig.«

In den folgenden drei Tagen war unsere Datsche das Thema Nummer Eins der ganzen Siedlung. General Redkin entfaltete hektische Aktivität. Auf unserem Grundstück, wo gerade noch ein hübsches Häuschen gestanden hatte, liefen unbekannte Leute umher, wedelten mit Papieren und machten sich Notizen. General Redkin kommandierte sie wie weiland Napoleon von seinem Feldherrenhügel. Am darauffolgenden Mittwoch rief er: »Tanja, zu mir!«

Ich quälte mich aus der Hängematte und erschien in Begleitung meiner Möpse im Stübchen des Generals im Parterre.

»Setz dich und hör zu«, befahl mir der alte Mann. »Dies ist das Ergebnis der Untersuchungskommission.«

Je länger er mir aus dem Papier vorlas, desto größer wurden meine Augen.

Aljabjewo, wo alle unsere Datschen stehen, wurde in den sechziger Jahren erbaut. Nikita Chruschtschow, damals der erste Mann des Sowjetlandes, liebte das Militär. Mein Vater war zwar Professor und Akademiemitglied, trug aber die Schulterstücke eines Generals, denn er war für die Rüstungsindustrie tätig. Chruschtschow galt als großzügiger Mann, der nie kleckerte, sondern klotzte. Als das Militär ihn um Datschengrundstücke bat, wies er an, ihm so viel Grund und Boden zuzuweisen, wie es verlangte. Unsere Grundstücke sind so weitläufig, dass es Plätze auf unserem Besitztum gibt, wo ich noch nie gewesen bin. Zudem liegt unser Haus ganz am Ende der Siedlung. Nicht weit davon beginnt dichter Wald, wo, so behauptet Kira, sogar Wölfe leben.

Jahrzehntelang war Aljabjewo fest in der Hand des Militärs. Dort eine Datsche zu kaufen oder zu verkaufen war völlig unmöglich. Inzwischen aber haben sich die Zeiten geändert. Ringsherum schießen prächtige Villen wie Pilze aus dem Boden. Die alten Häuser wirken neben ihnen geradezu ärmlich. Auch auf unserem Nachbargrundstück am Waldrand hat man einen solchen Palast hochgezogen. Er steht ganz nahe bei unserer Datsche, denn man hat ihn fast bis an den Zaun gebaut. Wir haben uns schon gefragt, warum die neuen Nachbarn nicht etwas mehr Abstand gehalten haben. Kennengelernt haben wir sie noch nicht. Letzten Herbst bei unserer Rückkehr in die Stadtwohnung wuchs an der Stelle nur hüfthohes Gras. Als wir aber Ende Mai die neue Datschensaison eröffnen wollten, ragte vor unserer Nase eine mächtige Betonmauer auf, hinter der wir nur ein mit roten Ziegeln frisch gedecktes Dach ausmachen konnten. Über die Mauer, die eher an eine Panzersperre erinnert, dringt kein Laut zu uns herüber. Nur Videokameras drehen sich manchmal mit leisem Schnurren, wenn wir den Betonblöcken zu nahe kommen. Nachts flammen dazu noch starke Scheinwerfer auf. Der Buschfunk will wissen, dass dort ein Zwerg ohne Familie lebt, der im Rollstuhl durch das Haus fährt. Als ich das zum ersten Mal hörte, fragte ich verwundert: »Wieso ein Zwerg?«

»Na, ein Liliputaner eben«, behauptete die Witwe von General Ljalin, Maria Gawrilowna, die größte Klatschbase der Siedlung, achselzuckend.

»Und warum im Rollstuhl?«, fragte ich hartnäckig weiter.

»Na, weil er ein Mafioso ist!«, erklärte mir Maria Gawrilowna bereitwillig. »Die kriegen sich doch manchmal in die Haare, da haben sie ihm halt die Beine kaputt geschossen.«

Ich hielt dieses Getratsche für himmelschreienden Unsinn, aber Lisa und Kira waren von der Vorstellung fasziniert.

Nun eröffnete mir General Redkin, dass wir unser geliebtes Häuschen wegen der Bauerei dieses Kerls im Rollstuhl verloren haben sollten.

»Hier steht es schwarz auf weiß!«, erklärte Redkin kategorisch und tippte mit dem Zeigefinger auf das Papier. »Sieh her, der Untergrund in unserer Siedlung …«

Ich brauchte zwanzig Minuten, bis ich begriff, wie die Dinge zusammenhingen. Die Einzelheiten erspare ich Ihnen. Kurzum, die Sache verhält sich so: Die Gegend bis zum Waldrand, wo in vergangenen Jahren noch das hohe Gras stand, ist versumpftes Gelände. Die neuen Besitzer legten es trocken, suchten aber für das Haus nach einem festen Standort, weshalb sie unserem Zaun so nahe kamen. Da bauten sie nun eine riesige zweistöckige Villa, einen Swimmingpool, die Betonmauer, eine Garage für vier große Wagen, das Gärtnerhäuschen … Für all das wurden mächtige, schwere Fundamente gelegt. Leider erwies sich der Untergrund an der Grenze unserer Grundstücke doch nicht als so fest, wie erwartet. Unter der Last gab das Erdreich nach. Vielleicht wäre das Ganze mit einer geringfügigen Schieflage unseres Häuschens abgegangen. Aber der Dauerregen in diesem Juni zog unserer Hütte buchstäblich den Boden unter den Füßen weg.

»Die Larionows sind schuld!«, donnerte General Redkin. Wir haben sie gewarnt, sie sollten etwas weiter weg bauen, aber sie haben nicht auf uns gehört! Und nun haben wir den Salat! Gleich wird er hier auftauchen …«

»Wer?«, fragte ich einfältig.

»Hörst du mir denn nicht zu?«, erregte sich der General. »Der Besitzer wird gleich hier aufkreuzen, Gleb Lukitsch Larionow! Du musst ihm sofort mit dem Kadi drohen, hast du verstanden?!«

Da knirschte auch schon der Kies vor dem Haus. Ganz automatisch blickte ich zum Fenster und sah, wie ein schlanker junger Bursche in Jeans und schickem hellem Hemd aus einer großen schwarzen ausländischen Limousine stieg. Das hatte gerade noch gefehlt. Ein Neureicher! General Redkins Datsche liegt höchstens dreihundert Meter von Larionows Palast entfernt, aber der Kerl musste mit seinem Schlitten vorfahren. Mit dem war bestimmt schwer streiten.

»He!« Der General stieß mich in die Seite. »Lass den Kopf nicht hängen! Den Tapferen trifft keine Kugel und kein Bajonett! Auf in den Kampf!«

Die Tür sprang auf und ein Hauch von teurem Eau de Cologne, guten Zigaretten und seltenem Kognak wehte herein. »Ich grüße Sie, Makar Sergejewitsch!«

»Guten Tag, Gleb Lukitsch, nehmen Sie Platz.«

Der junge Mann trat näher. Als ich in sein Gesicht sah, musste ich mich sehr zusammennehmen, um meine Überraschung nicht zu zeigen. Auf der schlanken, sportlichen Figur saß der Kopf eines Mannes, der schon viel erlebt und gesehen haben musste. Gleb Lukitsch Larionow war um die 60 Jahre alt, bestimmt nicht weniger.

2. Kapitel

Eine halbe Stunde lang setzte General Redkin nun Herrn Larionow auseinander, was passiert war, stets bemüht, Kraftausdrücke zu vermeiden. Larionow hörte schweigend zu. Nur manchmal zog er verwundert die Augenbrauen hoch. Dann musterte er mich von Kopf bis Fuß und fragte höflich: »Erlauben Sie?« Er nahm die Mappe und vertiefte sich in die Unterlagen.

Der General und ich warteten geduldig.

»Tja«, ließ unser Nachbar schließlich hören, »eine klare Sache, mehr noch …«

»Dass Sie es gleich wissen«, brummte der General, der krebsrot angelaufen war, »dieses Mädchen steht unter meinem Schutz! Ihr Vater und ich …, ach, was! Sie wird Sie verklagen! Das hier ist keine Siedlung wie alle anderen, hier …«

Larionow musste lächeln und wandte sich mir zu.

»Wollen Sie unbedingt vor Gericht ziehen?«

Das Lächeln verwandelte das Gesicht des Mannes auf wundersame Weise. Man sah sofort, dass er Charme hatte und wahrscheinlich wie General Redkin mit Frauen umzugehen wusste.

»Nein«, murmelte ich, »wir können das natürlich auch gütlich regeln, aber wie?«

»Ganz einfach«, antwortete Larionow achselzuckend. »Da Ihr altes Haus durch meine Schuld zusammengefallen ist, muss ich Ihnen wohl ein neues bauen. Den alten Zustand wiederherstellen. Wie viele Zimmer hatten Sie denn?«

»Fünf: Unten drei, oben zwei und dazu die Veranda.«

»Kein Problem«, erklärte Larionow. Er zückte ein winziges Handy und sprach hinein: »Oleg, schnapp dir Konstantin und kommt beide sofort nach Aljabjewo.«

Nun legte er den Apparat auf den Tisch, schaute auf die Uhr und verkündete: »Zu Mittag ist der Architekt hier, und dann fangen wir an.«

Dieses Tempo verschlug mir die Sprache. Dem General, der sich auf großen Streit eingestellt hatte, war das gar nicht recht. Ein bisschen kabbeln wollte er sich schon noch.

»Schön, dass Sie so reagieren. Aber wo soll Tanja jetzt wohnen? Schließlich hat sie Kinder!«

Gleb Larionow fragte ungerührt: »Wissen Sie wirklich nicht, wohin?«

Ich nickte verlegen. In unserer Stadtwohnung lief gerade eine Grundsanierung. Wir hatten sie auf den Sommer gelegt. Wir sind eine große Familie: meine beste Freundin Katja, ihre Söhne Kira und Serjosha, dessen Frau Julia, dann Lisa und schließlich ich, Tanja Romanowa. Auf welche Weise uns das Schicksal zusammengeweht hat, werde ich hier nicht in allen Einzelheiten schildern.1 Aber glauben Sie mir, unsere Freundschaft hält uns fester zusammen als manche Familienbande. Unsere Wohnung, die durch das Zusammenlegen zweier kleinerer entstanden ist, wurde mit der Zeit immer schäbiger. Lange übersahen wir geflissentlich, dass die Flecken auf den Tapeten wuchsen und in Bad und Küche die Kacheln abfielen. Aber als schließlich ein großes Stück Putz von der Decke auf Kiras Bett herabklatschte und schon am nächsten Tag der Rahmen des Küchenfensters entzweiging, konnten wir die Aktion nicht weiter aufschieben.

Katja und ich haben alles genau geplant. Im Juni besuchen Serjosha und Julia immer ihre Freunde auf der Krim. Im Juli und wahrscheinlich auch im August sind sie dienstlich unterwegs. Katja, unser Dr. med., eine gefragte Chirurgin, hat für die drei Sommermonate zugesagt, am Krankenhaus der Stadt Hume im US-Staat Pennsylvania zu arbeiten. Solche »Gastspiele« gibt sie öfter, denn die bringen ihr einen schönen Zuverdienst ein. Kira, Lisa, ich und die Tiere sind den Sommer über jedes Jahr auf der Datsche. Im Familienrat wurde beschlossen, dass wir als handwerklich völlig unbeleckte Leute einen Vorarbeiter anheuern, der die Sanierung beaufsichtigt und sich für uns mit den Handwerkern herumstreitet. Das lief bislang alles nach Plan. Jetzt saß ich mit Kindern und Haustieren auf der Straße, denn in unserer Wohnung wurden Wände herausgerissen und Türdurchbrüche gemacht, und die Datsche war nur noch ein Trümmerhaufen.

»Sie haben wirklich keinen anderen Unterschlupf?«, fragte Gleb Larionow noch einmal.

Ich erklärte ihm, was in unserer Stadtwohnung gerade vorging. Er blickte mich eine Weile wortlos an, schlug schließlich mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte im Befehlston: »Also, dann pack mal deine Sachen.«

»Wohin sollen wir denn?«

»Zu mir.«

»Nein, das geht nicht«, wandte ich kopfschüttelnd ein.

»Warum?«

»Wir kennen uns doch gar nicht!«

»Unsinn.«

»Und die Tiere …«

»Kein Problem, wir haben auch einen Hund.«

»Aber wir sind doch so viele!«

»Mein Haus hat über zwanzig Zimmer. Davon steht mehr als die Hälfte leer.«

»Na, ich weiß nicht …«

»Übrigens«, sagte Gleb Larionow jetzt leise, »wie heißt du überhaupt?«

»Tanja.«

»Damit du es gleich weißt: Wenn ich etwas sage, dann hören die anderen zu und fügen sich, klar? Los, sammle deine Kinder, Hunde und Katzen ein! Was habt ihr noch – Fische?«

»Keine Fische, nur die Kröte Gertrud«, korrigierte ich ihn kleinlaut.

»Für die Kröte findet sich auch noch ein Fleckchen. Beeilt euch, der Wagen steht schon da.«

»Danke, wir gehen zu Fuß.«

Larionow schnaufte ungeduldig.

»Los jetzt, packt eure Sachen in den Mercedes, und dann ab die Post!«

»Unsere Sachen liegen unter den Trümmern, es gibt nichts zu packen.«

»Überhaupt nichts?«

»Nein. Was wir anhaben, gehört den Redkins.«

»Also, dann werdet ihr morgen neu eingekleidet. Auf meine Rechnung natürlich.«

»Danke, wir sind schließlich keine Bettler …« Das Wort blieb mir im Halse stecken. Mir war gerade eingefallen, dass auch unser Geld unter den Trümmern lag.

»Tanja!«, sagte da General Redkin streng. »Ab in den Wagen! Und ihr Kinder, marsch, hinterher!«

Gehorsam trabte ich zu dem Mercedes. Alle unsere Gewohnheiten und Komplexe stammen aus der Kindheit. Ich bin von einer sehr autoritären Mutter erzogen worden, die für ihre Tochter nur das Beste wollte. Daher hing ich auch als Kind, als Jugendliche und selbst als junge Erwachsene noch lange an ihrem Rockzipfel. Wenn ich einmal versuchte, schüchtern eine eigene Meinung zu äußern, erklärte sie mir in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Mach, was ich dir sage. Eltern geben nie schlechte Ratschläge.«

Seitdem gehorche ich, wenn jemand die Stimme hebt. Ich hasse mich dafür, unterwerfe mich aber stets dem Stärkeren.

Als wir alle auf den feinen Ledersitzen Platz gefunden hatten und der Wagen schnurrend gestartet war, fragte Lisa: »Wo geht’s denn eigentlich hin?«

»Herr Larionow hat uns in sein Haus eingeladen«, sagte ich vorsichtig.

»Wohin?«

»In das Haus, das gleich neben unserem am Waldrand steht.«

»Dort wohnt doch der Zwerg im Rollstuhl!«, schrie Kira auf.

Larionow musste laut lachen und drückte kräftig auf die Hupe, denn wir waren schon da. Das eiserne Tor öffnete sich. Der Mercedes schwebte auf das Grundstück.

»Die Geschichte mit dem Zwerg«, sagte Gleb Larionow aufgeräumt, »kenne ich schon in mehreren Varianten. Zuerst sollte ich ein Buckliger sein, dann an Kinderlähmung leiden, und jetzt bin ich ein Rollstuhlfahrer ohne Beine. Mal sehen, was sich die Leute noch so ausdenken. Aber viel Fantasie haben sie beim Militär wirklich nicht. Viel interessanter wäre doch ein Neger mit einem Harem weißer Sklavinnen, findet ihr nicht?«

»Entschuldigen Sie bitte«, stotterte ich verlegen, »Kira hat sich einen dummen Witz erlaubt. Lisa, jag Rachel vom Sitz, sie zerkratzt doch das schöne Leder!«

»Machen Sie sich wegen eines Stücks Kalbshaut mal keine Sorgen«, warf Larionow ein. Dann rief er: »Aussteigen, wir sind da!«

Unsere ganze Mannschaft sprang und hüpfte aus dem Wagen. Ich umfing mit einem Blick das gepflegte Gelände, die akkuraten Beete, die hübschen Lampen und … stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Direkt vor uns auf dem saftig grünen und sorgfältig geschnittenen Rasen erblickte ich die arg zugerichtete Leiche eines jungen Mädchens. Es lag auf dem Rücken, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Die schneeweiße Bluse war voller Blut. Aber nicht das hatte mich so erschreckt. An seinem Hals klaffte eine riesige offene Wunde. Große Augen starrten in den Junihimmel.

»Mama!«, ließ Kira hören und flüchtete in den Wagen zurück.

Von dort her plätscherte es. Lisa, mit einer Hand auf den Kofferraum gestützt, brachte gerade das Frühstück wieder heraus. Mir wurde es schwarz vor Augen, und meiner Kehle entstieg ein Schrei, der wohl jeder Sirene Ehre gemacht hätte. Nur Larionow blieb bei dieser schrecklichen Szene ruhig und gelassen. Laut sagte er: »He, Tina, du fängst an, dich zu wiederholen! Als Wasserleiche warst du gestern wesentlich besser!«

Die Tote setzte sich plötzlich auf und fing an zu kichern.

»Also, Papa, du hättest ja auch ein bisschen mitspielen können. Rada ist fast tot umgefallen, als sie mich so gefunden hat. Sie hat sogar die Miliz gerufen. Auf die warte ich gerade. Verschwindet bitte sofort im Haus, ihr verderbt mir ja den ganzen Spaß!«

»Darf ich vorstellen?«, sagte Larionow grinsend. »Meine jüngste Tochter Tina.«

»Hallo, ihr!«, rief uns das Mädchen gut gelaunt zu.

Kira kam aus dem Wagen hervor und war hingerissen.

»Das is ja ’n Ding! Was hast du denn da auf der Bluse?«

»Ketchup!«, verkündete Tina lachend. »Ganz gewöhnlichen aus der Flasche ….«

Lisa, immer noch leichenblass, stammelte: »Und die Kehle …?«

»Gut, was?« Tina musste lachen. »Dafür habe ich eine ganze Stunde gebraucht. Rada hat so geschrien, dass in der Hütte unserer Nachbarn bestimmt die Fensterscheiben rausgeflogen sind.«

Larionow räusperte sich verlegen, aber da ging das Tor auf, und herein kroch mit stotterndem Motor ein weißblauer Lada der Miliz.

»Was geht hier vor?«, fragte der Mann, der am Steuer gesessen hatte, streng.

Da fiel sein Blick auf Tina, und mit einem Pfiff stieß er hervor: »Wer tut denn so was? Kolja, schau dir das an!«

Der zweite Gesetzeshüter stieg aus und schüttelte entgeistert den Kopf. »So was habe ich noch nie gesehen!«

Larionow zückte ein goldenes Zigarettenetui und nahm sich, den Unbeteiligten heuchelnd, eine Zigarette. Kira und Lisa zogen sich hinter den Mercedes zurück. Die Milizionäre traten an Tina heran. Aber Mulja und Ada, die spürten, dass ich sie nicht mehr mit voller Kraft an meine Brust presste, rissen sich los und eilten im Schweinsgalopp zu der reglos daliegenden Leiche. Meine kurzbeinigen, gut genährten Möpsinnen können, wenn sie wollen, blitzschnell sein. Sie preschten an den beiden Uniformierten vorbei und begannen wie wild den Ketchup vom Körper der Leiche abzulecken. Die erwachte aus ihrer Starre, fuchtelte mit Armen und Beinen und quiekte: »Hört auf, das kitzelt so! Weg mit euch!«

Der Fahrer ließ die Schlüssel fallen, der zweite Milizionär wich zurück und stieß erschrocken hervor: »Wie kann sie noch leben – bei dem Blutverlust!?«

»Das ist doch nicht möglich, Kolja!«, entfuhr es jetzt dem Fahrer. »Die Kehle durchgeschnitten, aber die redet und lacht sogar!«

Da sprang Tina auf die Beine und rief begeistert: »Reingefallen! Reingefallen!« Damit drehte sie sich um und lief ins Haus.

Unsere Hundemeute, die bei dem Theater ihre gute Kinderstube vergessen hatte, stürzte hinterher. Kira und Lisa dagegen waren mäuschenstill und wirkten wie vor den Kopf geschlagen. Auch sie hatten mir schon Streiche gespielt, aber das Höchste war eine Fliege aus Plastik gewesen, die in meiner Suppe schwamm. Jetzt schwankten sie zwischen Neid und Bewunderung.

»Was war denn das?« Kolja blickte drein wie ein verstörtes Kind und begriff überhaupt nichts.

Larionow griff nach seinem Handy und ordnete an: »Marina, bring aus der Bar das Übliche für die Miliz.«

Dann zog er aus seiner Brieftasche zwei grüne Scheine und hielt sie den beiden Männern mit den Worten hin: »Nehmt uns das nicht übel, Jungs. Meine Tochter läuft manchmal etwas aus dem Ruder. Sie wächst ohne Mutter auf. Das Jahr über muss sie im College parieren, aber jetzt sind Ferien, da erschreckt sie gern die Leute.«

»Ach sooo«, entfuhr es Kolja, »sie ist also gar nicht tot!«

»Sie ist putzmunter, manchmal etwas zu sehr«, bestätigte Larionow.

Die Milizionäre steckten das Geld weg.

»Na, umso besser, wenn nichts passiert ist«, sagte Kolja erleichtert. »Aber bitte nicht noch mal solche Scherze!«

Larionow nickte. Auf der Treppe erschien eine hochgewachsene hagere Frau von etwa fünfzig Jahren in schwarzem Kleid, weißer Spitzenschürze und passendem Häubchen auf dem tadellos frisierten Haar. In den Händen hielt sie mehrere Flaschen teuren Kognaks.

»Das ist für euch, Jungs«, erklärte Larionow mit großer Geste. »Es lässt sich trinken.«

Die beiden zierten sich nicht lange, nahmen die freundliche Gabe entgegen und rollten vom Grundstück. Als ob nichts geschehen wäre, sagte der Hausherr: »Gehen wir hinein. Tina habt ihr bereits erlebt. Jetzt sollt ihr auch noch die Übrigen kennenlernen.«

Eine Woche später fühlten wir uns in der riesigen Villa bereits wie zu Hause und kannten die Namen ihrer zahlreichen Bewohner. Gleb Larionow bekamen wir kaum zu sehen. Ich hatte noch nicht herausbekommen, womit er eigentlich beschäftigt war. Schon früh am Morgen, so gegen acht Uhr, holte der Chauffeur den Mercedes aus der Garage, und der Hausherr verschwand in Richtung Moskau. In der Villa erschien er meist erst wieder nach Mitternacht. Manchmal blieb er auch gleich in der Stadtwohnung. Im Haus hatte seine Frau Rada das Sagen. Sie wirkte kaum älter als Lisa. Ich gab ihr nicht mehr als zwanzig Jahre. Natürlich vermied ich es, sie nach ihrem tatsächlichen Alter zu fragen. Die hübsche Blondine mit zarter, rosiger Haut war so dumm, wie das Vorurteil es Blondinen nachsagt. Das freute Tina sehr, die keine Gelegenheit ausließ, ihrer Stiefmutter einen Streich zu spielen. Rada störte das wenig. Wenn sie endlich begriffen hatte, dass man sich über sie lustig machte, lachte sie als Erste und rief gutmütig: »Da bin ich doch wieder auf dich hereingefallen! War ja auch ein toller Trick!«

Wie es aussah, kamen Tina und Rada blendend miteinander aus. Dass das Mädchen aus einer anderen Ehe Larionows stammte, schien Rada nicht zu stören. Offenbar war sie von einfachem, verträglichem Charakter. Die Kinder und mich nahm sie freundlich auf und führte persönlich jeden auf sein Zimmer.

Larionows Haus war eingerichtet wie ein Palast. Ich bin vor Jahren mit einem recht wohlhabenden Mann verheiratet gewesen. Ich denke nicht gern an dieses frühere Leben zurück, aber hier kam es mir wieder in den Sinn. Das luxuriöse Appartement, das Michail und ich seinerzeit bewohnten, hielt keinem Vergleich mit der Villa des Gleb Larionow stand.

Von einem Stockwerk zum anderen führte eine schneeweiße Marmortreppe. Sie zierte ein Läufer, der mit Messingstäben befestigt war. Am Fuß der Treppe prangten Statuen aus der griechischen Götterwelt. Am zweiten Tag unseres Aufenthaltes ließ Rada nebenbei fallen, ihr Mann habe sie aus Athen mitgebracht. Das sollte wohl heißen, dass sie sogar echt waren. Das Haus hatte so viele Zimmer, dass ich, die alles genau wissen will, mich immer wieder verzählte. Der Hausherr wohnte im ersten Stock. Dort befanden sich sein Arbeitszimmer, ein kleiner Salon, Schlafzimmer und Bibliothek. Die andere Hälfte dieser Etage bewohnte Rada. Ihr standen ein Schlafzimmer, ein Boudoir und ebenfalls ein Salon zur Verfügung. Außerdem gab es auf dieser Etage noch einen Fitnessraum, einen Wintergarten, eine Orangerie, einen kleinen Kinosaal und zwei Räume, deren Bestimmung ich nicht erkennen konnte. Das Parterre war für alle da. Dort gab es ein riesiges Speisezimmer, den großen Salon, die Bibliothek, einen Kinosaal, ein Billardzimmer … Vom Korridor aus führte eine überdachte Galerie zu einem Anbau in einiger Entfernung, in dem ein Swimmingpool, eine Sauna, ein russisches Badehaus, ein Solarium, ein Massageraum und ein größeres Fitnessstudio Platz fanden.

Im zweiten Stock war der rechte Flügel den Gästen vorbehalten. Wir erhielten jeder ein großes, elegant eingerichtetes Zimmer. Meinem war ein Bad mit Toilette, Wanne und Duschkabine angeschlossen. Zwischen den Zimmern von Kira und Lisa lag ein in Weiß, Rosa und Gold gehaltenes Gemach mit Whirlpool, zwei Waschbecken sowie unzähligen Schränken und Schränkchen. Schon am ersten Abend leerten die Kinder eine halbe Flasche Badezusatz in den Whirlpool und sahen begeistert zu, wie der duftende Schaum immer höher stieg und über den Rand schwappte. Neben unseren befanden sich weitere Gästezimmer, die zur Zeit leer standen. Auf dem linken Flügel dieser Etage hatte Tina ihr Reich. In den Räumen, die sie bewohnte, gab es Spielzeug, Bücher, CDs und DVDs mit Computerspielen, Kosmetik, Zeitschriften und Süßigkeiten ohne Ende.

Tina gefiel mir sofort. Die Dreizehnjährige war ständig in Bewegung. Sie konnte nicht leise sprechen und nicht langsam gehen. Sie fegte durch das Haus wie ein Wirbelsturm, dem immer wieder Bodenvasen, Figuren oder Zeitungstischchen zum Opfer fielen. Mit blitzenden Augen und wehendem Haar schien sie auf allen Etagen, in Garten und Pool gleichzeitig zu sein.

Weit weniger sagte mir ein etwas älteres Mädchen zu, das ebenfalls im zweiten Stock wohnte. Es war Angelika, eine Enkelin Larionows aus einer früheren Verbindung. Sie war gerade achtzehn geworden, wirkte aber etwas zurückgeblieben, denn zuweilen gab sie Dinge von sich, die eher zu einem launischen Teenager als zu einer Studentin passten. Dabei besuchte sie das Eliteinstitut für Internationale Beziehungen bereits im zweiten Studienjahr.

»Bei uns kostet ein Semester 10 000 Dollar«, erklärte sie stolz, als ich, um mit ihr ins Gespräch zu kommen, danach fragte, ob sie mit den Vorlesungen in den verschiedenen Fächern zufrieden sei.

Ebenfalls im zweiten Stock wohnte Tinas Bruder Jefim mit seiner Frau Karina. An dem Abend, da Larionow uns in seinem Hause einführte, tauchte dort auch noch sein Neffe Maxim mit einem Mädchen auf, das er als seine Verlobte Nastja vorstellte. Wenn man sich in diesem Haus zu Tisch setzte, war die Runde kaum zu überblicken.

Die Hausangestellten huschten wie unsichtbare Schatten durch die Räume. Stets mit einem Lächeln auf den Lippen, lasen sie einem jeden Wunsch von den Augen ab. Bei Tisch hatte ich fallenlassen, dass ich gern vor dem Einschlafen einen Krimi lese und Pralinen dazu nasche. Schon stand auf meinem Nachtschrank eine elegante Tischlampe und beim Fenster ein Regal mit den neuesten Kriminalromanen. Arrangiert wurde das, während ich unten beim Abendbrot saß. Jemand musste also in Windeseile nach Moskau gefahren sein, ein ganzes Geschäft leer gekauft und das Regal gefüllt haben. Jeden Abend erwartete mich nun eine neue Schachtel wunderbarer belgischer Pralinen.

Ich wollte Gleb Larionow dafür danken, aber der sagte nur obenhin: »Es gehört zu Marinas Pflichten, sich um euch zu kümmern. Dafür wird sie bezahlt.«

Marina spielte offenbar die Rolle einer Haushälterin. Ob sie in der Villa wohnte oder jeden Tag zum Dienst kam, war für mich nicht ersichtlich. Ein eigenes Zimmer hatte sie wohl nicht, aber als ich eines Morgens gegen sieben Mulja hinausließ, die sich an Hühnchen überfressen hatte, begegnete ich Marina im Vestibül, tadellos gekleidet und frisiert wie immer. Und einen Tag später gegen Mitternacht, als ich mir ein Glas Wasser aus der Küche holen wollte, stieß ich dort auf sie, wie sie gerade für Tina eine Tasse Kakao bereitete, die diese unbedingt im Bett serviert haben wollte. Der Koch, der wortkarge Jewgeni, hatte das Haus bereits gegen neun Uhr verlassen. Daneben beschäftigten die Larionows mehrere Zimmermädchen, den Chauffeur, einen Gärtner und zwei Schränke von Sicherheitsleuten, die abwechselnd im Torhaus Dienst taten. Einige der Angestellten wohnten in dem kleinen Häuschen, das weiter hinten im Garten stand.

Bereits am Montagabend füllten sich unsere Schränke wie von Zauberhand mit Kleidung, Schuhen, Unterwäsche und sogar Kosmetik. Verblüfft kramte ich in einem hübschen rosafarbenen Kosmetiktäschchen, das bis zum Rand mit Produkten der Firma Bourgeois gefüllt war. Dass ein dienstbarer Geist meine Schuh- und Kleidergröße auf geheimnisvolle Weise erraten hatte, konnte ich mir noch vorstellen. Aber woher wusste er, dass ich die Tagescreme Goldener Strand benutzte, dazu Rouge von bräunlichem Ton und farblosen Nagellack? Außerdem erschien auf meinem Frisiertisch das Parfüm von Shiseido in dem birnenförmigen Flakon. Ende Mai hatte ich selbstvergessen den Duft dieses Produkts eines Japaners mit Pariser Stil eingesogen. Gekauft hatte ich es nur deshalb nicht, weil mich der Geiz davon abhielt.

Mit einem Wort, ich habe noch nie in einem Haus mit so viel Wohlstand und Luxus gelebt. Zu tun gab es für mich dort absolut nichts. Bezahlte Angestellte räumten die Zimmer auf, kochten das Essen, erledigten das Waschen und Bügeln. Ich räkelte mich den ganzen Tag auf einem Liegestuhl mit Baldachin im Garten, umgeben von meinen geliebten Krimis, Obst und Süßigkeiten. Nahmen die Erdbeeren oder Pfirsiche auf dem Teller etwas ab, wurde sofort nachgelegt. Hunde und Katzen tollten über Beete und Rasenflächen, und niemand fand etwas dabei. Als Mulja im Übermut einen Rosenstrauch arg lädierte, sagte der Gärtner nur besorgt: »Pass auf, du kleiner Wildfang, dass du dich nicht stichst! Dann ist das Geheule groß!«

Kira und Lisa ließen sich’s in Tinas Gesellschaft wohl sein und vertilgten Eis in ungeahnten Mengen. Das Wetter hatte sich beruhigt, die Sonne strahlte vom Junihimmel. Ein netter Architekt hatte irgendwoher den Grundriss unserer Datsche beschafft, wo nun fleißig gearbeitet wurde. Bislang war man noch mit der Beseitigung der Trümmer beschäftigt. Alles erledigte sich wie von selbst. Der Koch Jewgeni war auch noch ein hervorragender Konditor. Er produzierte wie am Fließband Sahnetorten, knusprige Brötchen, Mohnhörnchen … Mit einem Wort, wir waren in einem Garten Eden gelandet, der uns einen wunderbaren Sommer versprach.

3. Kapitel

Tina blieb bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, andere Menschen zu erschrecken. Die stets übellaunige Angelika, den finsteren Jefim, seine schweigsame Frau, Maxim und Nastja behelligte sie allerdings nicht. Das Opfer ihrer Scherze war meist Rada, die mit erstaunlicher Beständigkeit auf jeden Trick hereinfiel. Am Montag begegnete Tina allerdings mir im Korridor und wies mir schluchzend einen fast abgeschnittenen Finger an der rechten Hand vor. Er war blutüberströmt und sah schrecklich aus.

Ich lachte nur. »Nein, nein, meine Liebe, den Trick habe ich schon einmal im Fußgängertunnel vor der Metrostation gesehen.«

»Bei dir hat es keinen Zweck«, meinte Tina ungerührt. »Aber pass mal auf, wie Rada gleich aufkreischt.« Damit lief das Mädchen in den Salon, von wo zuerst ein Schreckensschrei und danach erleichtertes Gelächter zu mir drang. Rada war wieder hereingefallen.

Am Dienstag legte Tina ihrer Stiefmutter ein Hühnerbein aus Gummi auf den Teller, und am Mittwoch tauschte sie ihre Nachtcreme gegen eine Mixtur aus, von der sich auf Radas Haut plötzlich bläuliche Flecke bildeten. Die ließen sich mit lauwarmem Wasser leicht wieder beseitigen. Aber diesmal reagierte Rada nicht so gelassen.

»Na warte«, drohte sie, »das kriegst du wieder!«

Als ich mit Tina am Donnerstag in die Schwimmhalle kam, schrien wir beide entsetzt auf. Im Wasser trieb mit dem Gesicht nach unten Radas makelloser Körper. Das blonde Haar umschwebte sie. Bald aber sah ich, dass es etwas zu lang war. Radas blonde Mähne fiel bis zu den Schultern herab, bei der »Wasserleiche« aber reichte es fast bis zur Taille. Auch Tina begriff schnell, dass man sie hereingelegt hatte, sprang lachend ins Wasser und legte eine Gummipuppe auf den Beckenrand, die erschreckend naturgetreu ausgeführt war.

»Also, Rada«, plapperte sie dabei, »du bist mir ja eine! Hast den Spieß umgedreht!«

Rada, von dem Erfolg beflügelt, schien auf den Geschmack gekommen zu sein. Am selben Abend hörte man Karina im Salon wild aufschreien. Natürlich liefen alle Hausbewohner sofort zusammen und stießen auf Jefims Frau, die halb wahnsinnig vor Angst nach oben wies. Als ich den Blick hob, entrang sich meiner Brust ein Stöhnen. Rada hatte sich an der Gardinenstange erhängt. Ein dickes Seil würgte sie, die Beine waren ausgestreckt, das Gesicht verzerrt, und aus dem Mund hing ihre bläulich verfärbte Zunge.

»Nein!«, brüllte Jefim auf. »Wann ist endlich Schluss mit dieser Idiotie? Wie weit wollt ihr es denn noch treiben?«

Rada hob den Kopf.

»Ich wollte Tina erschrecken. Entschuldige, Karina.«

Die arme Frau, die blass war wie kalorienarmer Kefir, konnte nur flüstern: »Das hast du dir ja fein ausgedacht! Ich wäre fast tot umgefallen!«

»So toll war das nicht!«, rief Tina. »Die Schlingen unter deinen Achseln sind zu sehen. Aber die Zunge hast du prima hingekriegt! Wie hast du das gemacht? Mit einem Filzstift?«

»Darauf kommst du nie!«, rief Rada kichernd und befreite sich von Gurten und Schlingen. »Ich habe Blaubeeren gegessen! Gut, was?«

»Das reine Irrenhaus!«, knurrte Jefim böse. »Wie satt ich das habe! Von dir, Rada, hätte ich so etwas nicht erwartet.«

Die Stiefmutter ging zur Tür, drehte sich zu ihrem Stiefsohn um, der mindestens zehn Jahre älter war als sie, streckte ihm die blau gefärbte Zunge heraus und sagte giftig: »Wie hältst du es nur mit diesem Stiesel aus, Karina? Der versteht ja überhaupt keinen Spaß!«

»Genau!«, rief Tina, und beide liefen davon, fröhlich zwitschernd wie zwei Kanarienvögel.

»Was unseren Vater nur geritten hat«, brummte Jefim, »diese Person zu heiraten!«

»Jefim!«, kam es warnend von Karina.

»Ach, halt den Mund!«, fuhr der Mann sie an und ging.

Verlegen versuchte Karina ihren Gatten zu verteidigen. »Jefim hat Schwierigkeiten, er ist mit den Nerven am Ende. Ich bin ihm nicht böse. Die Zeitung, wisst ihr …«

»Oje, schon wieder diese Leier!« Maxim wieherte. »Uns brauchst du doch nichts vorzumachen! Das Geschäft, die Zeitung … Wer liest denn dieses Käseblatt? Wie hoch war noch mal die Auflage? Hundert Exemplare? Wenn sein Vater ihn nicht voll finanzieren würde, wäre unser Jefim schon lange pleite!«

»Mein Mann gibt ein nicht gewinnorientiertes Blatt heraus«, erklärte Karina mit bebender Stimme. »Geld verdient man heutzutage mit sex and crime, aber Jefim schreibt grundsätzlich über erhabene Dinge.«

»Uns musst du nichts erzählen von seinen kommerziellen Erfolgen«, giftete Maxim. »Er lässt sich von seinem Vater aushalten.«

»Trinken wir lieber Tee«, warf Nastja ein, um ihren Bräutigam zu bremsen.

Eng umschlungen verließ das Pärchen den Raum.

»Dieser Maxim«, kam es nun in beleidigtem Ton von Karina, »hat es gerade nötig! Hockt in Glebs Firma herum, aber wofür ihn mein Schwiegervater bezahlt, weiß keiner! Lebt selber wie die Made im Speck und zeigt mit dem Finger auf andere!«

Ich wusste zu dem hässlichen Geplänkel gar nichts zu sagen.

Am Freitag kurz vor dem Mittagessen war mir so heiß, dass ich noch rasch ein Bad nehmen wollte. Wieder schwamm die Gummipuppe im Wasser. Auch Rada fing an, sich zu wiederholen.

Ich erfrischte mich kurz, rührte die Puppe aber nicht an. Schließlich war sie für Tina gedacht.

Nach Essen war mir bei dieser Hitze nicht zumute. Daher setzte ich mich gar nicht erst zu Tisch. Gegen fünf Uhr nachmittags rannte Lisa an meiner Liege im Garten vorbei, wobei sie in einen Teller mit Kirschen trat. Tina, eine Fliegenklatsche in der Hand, jagte ihr nach. Wenn ich in den Zeitungen von minderjährigen Prostituierten und Drogensüchtigen las, dann freute ich mich darüber, wie natürlich und unverdorben Kira, Lisa und Tina noch waren. Sie lärmten und tobten, wollten dauernd etwas anderes und gaben keine Ruhe, aber ihre Vergnügungen waren noch unschuldig und nachvollziehbar. Lärmende Kinder, die einander mit der Fliegenklatsche nachjagten, gefielen mir entschieden besser als stille Teenager, die unter einer Plastiktüte Klebstoff schnüffelten.

Trotz der fortgeschrittenen Stunde wärmte die Sonne noch immer, und ich träumte im Garten vor mich hin, untätig und faul wie lange nicht. Ich wusste gar nicht, wie ich nach einem solchen Sommer wieder zu meinen häuslichen Pflichten zurückkehren sollte. Wie schnell man sich an den Müßiggang gewöhnen kann! Ich hatte inzwischen sogar aufgehört, mein Bett selber zu machen. Warum auch? Sobald ich draußen war, huschte ohnehin das Zimmermädchen hinein, wechselte die Bettwäsche und brachte das riesige, mit Kissen überhäufte Lager in mustergültige Ordnung.

Zum Abendessen gab es Rebhuhn in saurer Sahne. Ich mag diese winzigen Vögelchen mit dem dunklen Fleisch gar nicht essen, aber alle Anwesenden verputzten sie mit großem Vergnügen. Nur Radas Platz blieb leer.

»Wo ist denn unsere Mutter?«, erkundigte sich Jefim in boshaftem Ton.

»Keine Ahnung«, antwortete ihm Karina. »Ich habe sie heute den ganzen Tag nicht gesehen.«

»Bestimmt ist sie im Wellness-Salon«, vermutete Maxim. »Das ist doch ihre Welt: Masken, Massagen und was sonst noch dazugehört.«

»Ja, so ist das eben«, kam es wieder von Jefim. »Womit soll sie einen Mann auch halten? Doch nur mit ihrem glatten Lärvchen. Übrigens sollten wir unserem Vater mal stecken, dass unsere ›Mama‹ sich sonstwo herumtreibt, wenn er nicht zu Hause ist. Zum Beispiel hat sie in der vergangenen Woche lauthals erklärt, sie fährt zum Friseur, um sich die Haare färben zu lassen. Stattdessen ist irgendwo herumgeschwirrt. Als sie zurückkam, habe ich sie mir genau angesehen. Ihr Haar war nicht ein bisschen verändert. Sie ist so wiedergekommen, wie sie weggefahren ist. Mir kann es ja egal sein, wo meine Stiefmutter sich herumtreibt, aber Vater tut mir leid.«

»Ich würde dir nicht raten, deine merkwürdigen Beobachtungen Onkel Gleb zu petzen«, brummte Maxim und bearbeitete mit der Gabel konzentriert die Reste seines Rebhuhns. »Du weißt, wie aufbrausend er ist. Da kannst du dir schnell ein paar Maulschellen einfangen.«

»Hm, der Kuchen schmeckt aber gut«, warf Karina ein, die den aufkommenden Streit im Keim zu ersticken versuchte.

»Ja, mit Äpfeln, den esse ich am liebsten!«, pflichtete ich ihr bei. Ich mag es nicht, wenn Leute, die an einem Tisch zusammensitzen, Giftpfeile aufeinander abschießen.

»Die Kruste ist das Beste«, fiel Nastja ein.

Karina und ich warfen Maxims Verlobter einen dankbaren Blick zu und begannen uns über das Backen eines guten Kuchens zu unterhalten, immer bemüht, zu verhindern, dass die Männer auch nur ein Wörtchen einwerfen konnten.

»Der Biskuitteig ist ebenfalls hervorragend gelungen.«

»Aber Hefeteig schmeckt besser.«

»Stimmt, vor allem Kuchen mit Decke.«

»Und die Äpfel sind bestens ausgesucht – nicht zu süß und nicht zu sauer.«

»Ja, eine zu süße Apfelfüllung ist widerlich.«

»Rada muss im Hause sein«, warf plötzlich Kira ein.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte ich.

»Außer dem Mercedes von Onkel Gleb stehen alle Autos in der Garage«, erklärte der Junge. »Vor dem Essen haben wir Versteck gespielt, und ich bin in Radas Wagen gekrochen. Die fährt doch nicht mit dem Bus!«

»Das stimmt«, meinte Karina. »Öffentliche Verkehrsmittel hat Rada noch nie benutzt.«

»Wo kann sie nur stecken?«, fragte Maxim verwundert. »Warum ist sie überhaupt nicht zu sehen?«

»Vielleicht ist sie böse auf mich?«, äußerte Tina eine Vermutung. »Ich hab ihr beim Frühstück Hundekacke aus Gips auf den Stuhl gelegt.«

»Bitte keine Einzelheiten!«, empörte sich Jefim. »Mir wird gleich schlecht.«

Ich fand auch, dass derartige Themen nicht für ein Tischgespräch taugten, schimpfte aber nicht mit Tina, sondern sagte einfach nur: »Sei nicht traurig. Du und Rada, ihr neckt euch doch ständig, und ihr macht das auch Spaß.«

»Wenn sie uns nicht sehen will, dann ist uns das egal«, fasste Maxim zusammen. »Wir werden deshalb keine Tränen vergießen. He, Marina!«

Die Haushälterin war sofort zur Stelle.

»Wo ist die Dame des Hauses?«

Die Frau zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht.«

»Ist sie im Hause?«

»Verzeihen Sie, ich habe sie den ganzen Tag nicht gesehen.«

Die Anwesenden blickten sich schweigend an. Mir wurde mit einem Mal ganz kalt.

»Im Pool«, stammelte ich, »schwimmt schon seit heute Morgen die Gummipuppe. Am Ende …«

Alle sprangen auf und rannten durch die Galerie zum Wellnesstrakt. Karina schaltete vor Schreck nicht das Oberlicht, sondern nur die Wandleuchten ein. Wir starrten ins Wasser, in dem ein blondes Wesen mit weit ausgebreiteten Armen trieb. Mir fiel sofort auf, dass das Haar diesmal nicht hüftlang war, sondern in Schulterhöhe endete. Kalter Schweiß rann mir den Rücken herunter.

»Sie meinen, das ist sie?«, fragte Jefim mit belegter Stimme.

»Wir müssen nachschauen«, flüsterte Maxim.

Dem jungen Mann machte das Ganze offenbar schwer zu schaffen. Sein Gesicht verfärbte sich bläulich wie die Kacheln, mit denen die Wände bedeckt waren.

»Sie ist es«, stellte ich fest. »Die Gummipuppe hatte längeres Haar.«

»Wir müssen sie herausholen«, murmelte Nastja.

»Bringst du das fertig?«, fuhr Maxim seine Verlobte an.

»Nein«, antwortete Nastja verwirrt. »Dazu habe ich zu viel Angst. Schaut mal, die trägt Radas Ring, den mit dem Brillanten, den sie so liebt!«

»Mamma mia«, brummte Jefim und wich einen Schritt zurück. »Was machen wir denn jetzt?«

»Wir müssen Papa anrufen«, meinte Tina mit zitternder Stimme. »Hier, nimm!«

Sie hielt mir ihr Handy hin. Ohne zu begreifen, warum man ausgerechnet mich mit dieser Mission betraute, presste ich das winzige Ding an mein Ohr, hörte bald ein ziemlich ärgerliches »Ja?« und stammelte: »Gleb, hier ist Tanja.«

»Was ist passiert?«, fragte er sofort.

»Wir haben hier ein kleines Problem.«

»Geht es nicht etwas genauer?«

»Äh – äh – äh …«

»Was soll das Gestammel, ich habe zu tun!«

»Verstehen Sie, es ist etwas geschehen …«

»Also, Tanja, wie viel Geld brauchst du? Wenn es nicht mehr ist als 20 000 Dollar, dann geh in mein Arbeitszimmer …«

Jetzt wurde ich wütend. Larionows Art, alles mit den grünen Scheinen regeln zu wollen, raubte mir die Fassung. Wahrscheinlich schrie ich deshalb, für mich selber unerwartet, in den Hörer: »Rada ist ertrunken! Sie ist tot!«

»Ich komme sofort«, erklärte Larionow und legte auf.

Am Pool hielt es nun keiner mehr aus. Wir verließen die Schwimmhalle und standen an der Einfahrt beisammen.

»Wir sollten einen Rettungswagen rufen«, schlug Lisa schüchtern vor. »Vielleicht können die sie wiederbeleben.«

»Rada ist zu lange tot«, warf ich ein. »Ich habe sie schon heute Vormittag gesehen und dachte, es wäre wieder die Puppe.«

»Aber bei der Miliz müssen wir anrufen«, meinte jetzt Nastja.

»Bevor Papa hier ist, tun wir überhaupt nichts«, erklärte Tina kategorisch wie eine Erwachsene.

Alle verstummten. Dagegen mochte niemand etwas sagen.

Gleb Larionow musste einen Hubschrauber benutzt haben, denn trotz der Staus, die es um diese Zeit überall gab, war er fünfzehn Minuten später in Aljabjewo.

»Wo ist sie?«, rief er, als er aus dem Wagen sprang.

Hinter dem Mercedes fuhr ein Kleintransporter auf das Gelände und rollte bis zur Eingangstreppe.

»Im Pool«, sagte Jefim leise.

»Mir nach!«, rief der Hausherr und gab ein Zeichen mit der Hand. Aus dem Kleintransporter sprangen mehrere Männer in korrekten Anzügen und verschwanden sofort im Haus.

»Wie ist es passiert?«, begann Gleb Larionow das Verhör.

»Wir wissen es nicht«, antwortete Karina im Flüsterton. »Aber vielleicht kann Tanja …«

Larionow starrte mich an. Die Zunge klebte mir am Gaumen, und ich lallte: »Ich wollte mich etwas abkühlen …«

Da waren Schritte zu hören. Die Männer, die mit Larionow gekommen waren, traten wieder auf die Treppe heraus. Mir schien, als hätte sich eine Schar Friedhofskrähen auf dem weißen Marmor niedergelassen. Einer trug Radas Leiche unter dem Arm. Von ihrem blonden Haar tropfte noch das Wasser. Ich wich ein paar Schritte zurück. Auch die anderen wollten das Weite suchen. »Was ist denn das?«, zischte Jefim. »Um Gottes willen!«

Da ließ der Mann den Körper der unglücklichen Frau zu Boden fallen. Das, was einmal Rada gewesen war, rollte die Treppen hinunter direkt Gleb Larionow vor die Füße.

»Die Puppe!«, kreischte Tina.

Larionow fluchte lästerlich. »Seid ihr denn alle verrückt geworden?«

Kaum waren die Anwesenden wieder etwas zu sich gekommen, da rief jemand mit heller Stimme: »Was ist denn hier los? Wieso bist du um diese Zeit schon zu Hause, Gleb?!«

Am Tor stand Rada, strahlend und mit einem großen Korb am Arm. Alle starrten sie mehrere Sekunden schweigend an und riefen dann wie aus einem Munde: »Wo warst du denn?«

»Bei den Jerschows«, antwortete Rada erschrocken. »Bei Nikita und Lena. Sie haben heute Morgen angerufen und mich eingeladen, ihr neues Haus anzuschauen. Ich hatte Nikita geraten, hier in Aljabjewo eine Villa zu kaufen, und da bin ich eben …«

»Das heißt also«, stellte Larionow mit einem unguten Blick fest, »du hast diese idiotische Puppe ins Wasser geworfen und bist dann verschwunden?«

»Wo denkst du hin?« Rada schüttelte heftig den Kopf. »Ich war heute noch gar nicht am Pool.«

»Aber wer hat sich dann diesen blöden Scherz erlaubt?« Der Hausherr starrte jeden Einzelnen prüfend an. »Und warum hat dieses Ding aus Gummi deinen Ring am Finger?«

Alle schwiegen betreten. Dann ließ Tina leise hören: »Den habe ich ihr angesteckt, aber nicht heute. Und dann habe ich vergessen, ihn abzunehmen. Erst jetzt ist mir das wieder eingefallen.«

»Also, meine Herren, für Sie gibt es hier nichts zu tun«, sagte Larionow zu den Anzugträgern in einem Ton, der nichts Gutes verhieß.

Die stiegen schweigend in ihr Fahrzeug und waren schon verschwunden.

»Und ihr, ab in mein Arbeitszimmer, alle miteinander«, knurrte Gleb Larionow und versetzte der Puppe einen Fußtritt.

Ich zuckte zusammen. Unter diesem Blick des Hausherrn kam ich mir vor wie das Kaninchen vor der Schlange.

4. Kapitel

Der Zorn, der nun auf uns niederging, war schrecklich. Jeder bekam etwas ab: Tina und Rada, die sich im Wechsel als Leichen dargestellt hatten, Kira und Lisa, weil sie ständig lärmten, der gehässig grinsende Maxim, die zitternde Karina, Jefim, der sich bei jeder Gelegenheit ans Herz fasste, und die vor Schreck völlig verstummte Nastja. Nur mich verschonte Larionow. Mehr noch, er donnerte die anderen an: »Tanja macht das einzig Richtige! Liegt den ganzen Tag im Garten, verschlingt Krimis und Pralinen dazu. Nehmt euch ein Beispiel an ihr!«

»Von solcher Lektüre kommt mir der Kaffee hoch«, warf Jefim ein, der den gebildeten Ästheten gab.