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Perfekt bis in den Tod E-Book

Darja Donzowa

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Beschreibung

Die Miss Marple aus Moskau und ein Mord mit Humor.

Tanja, Detektivin wider Willen, steht vor ihrem schwersten Fall. Sie soll den Maler Boris beschatten. Als dessen Geliebte bei seiner Geburtstagsfeier vergiftet wird, gerät natürlich die Ehefrau in Verdacht. Doch Tanja entdeckt, dass jeder der Geburtstagsgäste ein Motiv hat, und stürzt sich mit Elan in die Ermittlungen. Da geschieht ein zweiter Mord ...

„Die große Satirikerin unter den Krimi-Frauen.“ Literaturen.

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Informationen zum Buch

»Mord mit Humor.« Bücher

Tanja, Detektivin wider Willen, steht vor ihrem schwersten Fall. Sie soll den Maler Boris beschatten. Als dessen Geliebte bei seiner Geburtstagsfeier vergiftet wird, gerät natürlich die Ehefrau in Verdacht. Doch Tanja entdeckt, dass jeder der Geburtstagsgäste ein Motiv hat, und stürzt sich mit Elan in die Ermittlungen. Da geschieht ein zweiter Mord.

»Die große Satirikerin unter den Krimi-Frauen.« Literaturen

Darja Donzowa

Perfekt bis in den Tod

Kriminalroman

Aus dem Russischen von Helmut Ettinger

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Über Darja Donzowa

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

1. Kapitel

Der Wecker klingelte wie immer um zwanzig vor acht. Mit großer Mühe hob ich die Augenlider ein wenig und schloss sie gleich wieder. Glücklich die Menschen, die in aller Herrgottsfrühe quietschvergnügt aus dem Bett springen. Die Morgengymnastik machen, eine kalte Dusche nehmen, zum Frühstück nur gesundes Müsli essen und sich bester Laune in ihre Arbeit stürzen. Fahrstühle ignorieren sie grundsätzlich. Treppen sind für sie nur kostenlose Trainingsstrecken.

Ich beneide jeden, der ein solches Leben führt. Mir ist es leider nicht gegeben, mich derart zusammenzureißen. Von Frühsport halte ich gar nichts. Es ist doch zu schön, bis elf faul im Bett zu liegen. Wären da nicht Lisa und Kira, die zur ersten Stunde in der Schule sein müssen, könnte das auch bis zum Mittag so gehen. Kaltes Wasser ist mir zutiefst zuwider. Ins Meer kriegt mich keiner unter 25 Grad Wassertemperatur. Und Treppensteigen mit schweren Einkaufstaschen gehört auch nicht gerade zu meinen Vorlieben.

Gestern bin ich erst gegen ein Uhr nachts eingeschlafen, weil ich mich im Bett von dem neuesten Krimi der Marinina nicht losreißen konnte. Ohne es zu merken, habe ich dabei eine ganze Schachtel Pralinen verputzt. Müsli kann ich nicht ausstehen. Ich weiß nicht, wie man es fertigbringt, am Morgen als Erstes diese Pampe mit verschrumpelten Trockenfrüchten in sich hineinzustopfen.

Der Wecker klingelte zum zweiten Mal. Diese neueste Errungenschaft der Technik tut das so lange, bis man mit der flachen Hand draufschlägt. Ich streckte mich ordentlich und bekam endlich die Augen auf. Es half nichts, ich musste aus der Falle.

Stöhnend und die ganze Welt verfluchend, suchte ich nach meinen Pantoffeln und schlurfte zur Balkontür. Die schweren Plüschvorhänge glitten mit einem Rascheln beiseite, und das helle Morgenlicht schlug mir entgegen. Blinzelnd schaute ich hinaus und … erstarrte vor Staunen.

Vor mir auf dem Balkon saß, die Vorderpfötchen niedlich über der zottigen Brust gekreuzt, ein Känguru. Verdattert starrte ich das Tier an, dann zog ich die Vorhänge mit einer heftigen Bewegung wieder zu und stürzte zum Bett zurück. Ruhig, ganz ruhig, sagte ich mir. Offenbar war ich noch nicht richtig wach, den Wecker hatte ich mir nur eingebildet. Ich träumte wohl noch. Wie sonst sollte auf den Balkon einer Wohnung im siebenten Stock eines Hauses mitten in Moskau ein Känguru kommen? Wahnsinn! Ich kniff mich in den Arm und schrie leise auf. Nachdem ich einige Minuten gewartet hatte, öffnete ich die Übergardine vorsichtig wieder und starrte auf das fremde Wesen. Das süße Beuteltier blinzelte mich mit seinen blauen Augen an, drehte die großen Ohren hin und her und kräuselte lustig das Schnäuzchen. Erschreckt zog ich die Gardine noch einmal vor und rannte in die Küche. Dort setzte ich geräuschvoll den Wasserkessel auf und lief dann, Lisa und Kira zu wecken. Sollten die nachschauen, ob auf meinem Balkon ein Känguru saß oder nicht. Wahnvorstellungen hatte ich an mir bisher nicht bemerkt. Woher sollten die auch kommen, wo ich weder trank, schnupfte oder kiffte?

Da fiel mein Blick auf den Kalender. Ich musste laut lachen. Na klar, der 1. April! Lisa und Kira hatten mir einen Streich gespielt. Das musste ja ein riesiges Plüschtier sein, das sie da auf den Balkon geschmuggelt hatten, während ich schlief. Ihr Plan war perfekt aufgegangen. Ich hatte wirklich einen Moment geglaubt, da säße ein lebendes Tier vor mir. Aber wieso wackelte es mit den Ohren und blinzelte mir zu? Was die Technik heute alles zuwege bringt! Na wartet, ihr Schlingel!

Als Lisa und Kira sich gähnend am Frühstückstisch eingefunden hatten, sagte ich ganz ruhig: »Na, wer von euch hat sich das mit dem Känguru ausgedacht?«

»Womit?«, fragte Kira verwundert zurück.

»Mit dem Känguru.«

»Welches Känguru?«

»Das auf meinem Balkon sitzt.«

Kira legte die Gabel nieder und fragte besorgt: »Bist du krank?«

»Keine Spur.«

»Du hast wieder bis in die Nacht Krimi gelesen«, meinte Lisa seufzend. »Wir sind gleich weg, leg dich hin und schlaf noch ein bisschen, dann wird’s schon wieder gehen.«

»Ist ja gut! Ich hab begriffen, heute ist der 1. April! Aber ihr hättet euch nicht so in Unkosten stürzen sollen.«

»Von wem redest du?«

»Von euch! Das Känguru war bestimmt nicht billig.«

»Wir haben nichts gekauft«, sagte Kira leise.

»Tut dein Kopf sehr weh?«, fragte nun Lisa bekümmert.

Jetzt reichte es mir. Ich knurrte nur: »Na, dann kommt mal mit.«

Als wir in meinem Zimmer waren, schnarrte ich im Kommandoton: »Los, holt das Ding rein!«

Die Kinder schauten auf den Balkon.

»Da ist nichts!«, riefen sie einstimmig.

Ich drückte meine Stirn an die Glasscheibe. Tatsächlich – der Balkon war leer!

»Also, Tanja«, rief jetzt Kira, »wie hast du das gemacht! Uns so reinzulegen! Klar, wir waren noch nicht ganz munter. Aber uns ist so was Tolles nicht eingefallen!«

»Sei nicht traurig«, murmelte ich verwirrt, »der Tag ist ja noch lang.«

»Woher hast du nur diese Ideen?« Lisa war fast beleidigt. »Ein Känguru auf dem Balkon!«

Sich gegenseitig schubsend, liefen die beiden in den Korridor und stritten schon wieder darüber, wer an der Reihe sei, mit den Hunden Gassi zu gehen. Ich trollte mich in mein Zimmer und machte die Tür hinter mir zu. Also war es doch eine Halluzination? Dabei hatte das Tier so echt gewirkt! Der Wind hatte an seinem graubraunen Fell gezaust! Wir schrieben zwar den 1. April, aber draußen war es bitterkalt. Immer wieder gingen Schneeschauer nieder.

Vorsichtig schlich ich mich zur Balkontür und schaute noch einmal hinaus. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Das Känguru saß wieder da, als sei nichts gewesen. Zu Tode erschrocken, schlug ich ein Kreuz und sagte laut: »Hebe dich hinweg!«

Aber das putzige Tier hob eine Pfote und berührte mit einer fast menschlichen Geste die Fensterscheibe. Es klang wie ein leichtes Klopfen. Nun kam also zum visuellen auch noch ein akustisches Trugbild hinzu.

An der Wohnungstür klingelte es. Die Kinder kamen mit den Hunden zurück. Wie von der Kette gelassen, fegten unsere drei über den langen Korridor in die Küche, wo sie ihr Frühstück vermuteten.

»Es ist schon wieder da!«, rief ich und grinste töricht.

»Was?«, fragte Kira und griff nach seiner Schultasche.

»Das Känguru!«

»Also, Tanja«, rief Lisa vorwurfsvoll, »willst du uns ein zweites Mal verkohlen?«

»Nein, es sitzt da draußen und hat sogar ans Fenster geklopft!«

Die Kinder rannten wie der Blitz in mein Zimmer, und ich hinterher.

»Dachte ich mir’s doch!«, rief Kira, nun richtig enttäuscht. »So blöd können auch nur wir sein, Lisa! Jetzt hat sie uns zum zweiten Mal hereingelegt!«

»Na warte, Tanja«, keifte Lisa, »das kriegst du wieder!«

Langsam glaubte ich wirklich, ich sei nicht mehr ganz bei Trost. Ich konnte nur stammeln: »Großes Ehrenwort, es hat dort gesessen, mit der Pfote…«

»… die Trommel geschlagen und ein Winterlied gesungen!« Kira hielt sich den Bauch vor Lachen. »Los, Lisa, wir müssen, sonst kommen wir noch zu spät zur Schule!«

Fort waren sie. Wütend zog ich die Übergardine zu. Der Balkon konnte mir gestohlen bleiben. Außerdem wurde es auch für mich Zeit, zur Arbeit zu gehen. Mein Chef legt Wert auf Pünktlichkeit.

Meine Arbeitsstelle ist etwas ungewöhnlich – die Agentur »Alibi«. Wir helfen jedem, der unsere Dienste bezahlen kann. Aber wir sind nicht billig. Zum Beispiel will einer mit seiner Geliebten nach Spanien reisen. Was sagt er seiner Frau? Ganz einfach: Er kommt zu »Alibi«, und die Sache ist geritzt. Seiner Gattin erklärt er kühn, er müsse dienstlich nach Norilsk im Hohen Norden oder nach Magadan auf der fernen Halbinsel Kamtschatka, Orte, wo sie keine zehn Pferde hinbringen. Wenn der Reisetag herankommt, schickt seine »Dienststelle« einen Wagen, ein netter Chauffeur lädt das Gepäck ein. Die Gattin kann ihren »Dienstreisenden« sogar zum Flugplatz begleiten. Der marschiert vor ihren Augen mit dem richtigen Ticket zum Schalter und checkt ein. Der Chauffeur ist so nett und bringt die Ehefrau wieder nach Hause zurück. Von dort meldet er der »Firma« telefonisch Vollzug: »Iwan Iwanowitsch ist abgeflogen.«

Abends ruft der liebende Gatte an und teilt mit, wo seine Gattin ihn telefonisch erreichen kann. Wenn sie das ausprobiert, antwortet ihr eine nette Frauenstimme aus dem »Hotel«: »Iwan Iwanowitsch sitzt gerade beim Abendessen.«

Eine halbe Stunde später ruft er zurück. Am Ende der »Dienstreise« stellt er sich pünktlich wieder ein und hat sogar ein paar hübsche Souvenirs von jenseits des Polarkreises mitgebracht – bestickte Fausthandschuhe, Knochenschnitzereien oder Stiefel aus Rentierfell.

Solche Dienstleistungen bietet »Alibi« natürlich auch für Frauen an. Außerdem führt die Agentur die verschiedensten delikaten Aufträge aus. Kürzlich hat eine Schauspielerin zum Beispiel zwei junge Burschen angeheuert, die eine verhasste Kollegin mit faulen Tomaten bewerfen sollten. Wir lassen eine abgelegte Geliebte bei der Hochzeit ihres Verflossenen aufkreuzen oder überreichen einer anderen welke Chrysanthemen zum Zeichen, dass die Affäre zu Ende ist. Unser Betätigungsfeld ist sehr breit. Worauf sich Semjon Grebnew, der Chef der Agentur, allerdings nicht einlässt, sind kriminelle Machenschaften. Wenn es darum geht, Ehemann oder Ehefrau zu betrügen oder einer Firma etwas vorzumachen, deren Mitarbeiter dringend eine Auszeit braucht, sind wir zur Stelle. Er bekommt von uns einen echten Krankenschein samt Hinweisen zu den Symptomen dieses oder jenes Leidens. Wenn aber Semjon einen wirklichen Rechtsbruch wittert, weist er dem Kunden sofort die Tür.

Zumindest habe ich das bisher geglaubt. Meist kommen Leute zu uns, die ihrem Partner oder ihrer Partnerin einmal Hörner aufsetzen wollen. Heute habe ich zum Beispiel die Freundin einer überaus erfolgreichen Geschäftsfrau zu spielen. Die Dame handelt mit Fisch, hat ihr Geld in drei große Geschäfte gesteckt und einen schwindelerregenden Aufstieg hingelegt. Bei ihrem Mann dagegen ging es nur nach unten. Der Betrieb, in dem er arbeitete, wurde geschlossen, und ihm blieb nur das Arbeitsamt. Die erfolgreiche Frau bot ihm an, eines ihrer Geschäfte zu leiten, aber das brachte er nicht über sich. Er begann zu trinken, und der soziale Abstieg war programmiert. Sie liebte ihn offenbar immer noch und wollte sich auf keinen Fall scheiden lassen. Doch der Alkohol machte ihn nahezu impotent, er liebte nur noch die Flasche. Unsere Geschäftsfrau tat weiter so, als sei alles in Ordnung. Allerdings legte sie sich einen Liebhaber zu. »Für die Gesundheit«, wie sie treuherzig bekannte.

Ich sollte nun die Freundin mimen, mit der sie angeblich das Wochenende verbringen wollte.

Im Büro zog ich mich rasch um. Für unsere Zwecke haben wir dort einen ganzen Kostümfundus – Abendkleider, Trainingsanzüge, Jacken und Röcke oder Jeans … An diesem Abend sollte ich als reiche, aber vulgäre Person auftreten. Die Freundin einer Dame, die mir gestern erklärt hatte: »Wenn du ’ne ordentliche Show hinlegst, kriegste von mir Forellen zum Großhandelspreis. Dann kannste für’n paar Kopeken Fisch mampfen, so viel du willst.«

Ich schlüpfte in eine schwarze Kniehose, streifte mir einen knallroten Pullover über und behängte mich reichlich mit Gold. Unsere Ringe, Ketten und Armbänder sind meist billiger Tand, wirken aber bei etwas Distanz wie echt. Nur für ganz besondere Fälle zaubert Semjon aus seinem Safe echte Kolliers mit Saphiren und Smaragden hervor. Mehrfach hatte ich bereits zu Künstlerempfängen zu gehen, wo man sich nicht mit billigem Talmi sehen lassen kann. Für einen Säufer musste ich mich allerdings nicht so herausstaffieren. Da reichte es, wenn ich ordentlich glitzerte und blinkte.

In der Agentur hält man viel von mir. Ich bekomme stets die kniffligsten Aufträge. Zwar bin ich noch nicht lange bei »Alibi«, aber mit den meisten spinne ich einen guten Faden. Der Chef ist nett und zahlt ordentlich, mit den Kollegen, unter denen auch ein paar echte Schauspieler sind, komme ich wunderbar aus. Was braucht der Mensch noch zu seinem Glück? Ich bin ein großer Krimifan, und auch die Bühne ist mir nicht fremd. Denn ich, Tatjana Romanowa, bin ausgebildete Harfenistin. Ich habe das Moskauer Konservatorium absolviert und sogar einige Jahre konzertiert, allerdings ohne großen Erfolg. Deshalb hatte ich mich entschlossen zu heiraten. Aber da gelang mir auch nichts. Mein Mann Michail entpuppte sich als Verbrecher, als ein echter Mörder und Halsabschneider. Auch ich wäre sicher eines seiner Opfer geworden, hätte man ihm nicht vorher das Handwerk gelegt. Er hat seinen Prozess gehabt und sitzt jetzt irgendwo in einem Lager seine Strafe ab. Wo das ist und wie es ihm geht, will ich nicht wissen. Wir sind geschiedene Leute.

In der letzten Zeit habe ich bei meiner Freundin Jekaterina Romanowa, kurz Katja, gelebt. Dass wir denselben Familiennamen tragen, ist reiner Zufall. Wir sind nicht miteinander verwandt. Aber uns verbindet mehr, als Verwandtschaft es je könnte. Katja ist eine hervorragende Chirurgin und hat sich auf die Schilddrüse spezialisiert. Ich führe ihr die Wirtschaft, koche, wasche und halte die Wohnung in Ordnung. Sie hat zwei Söhne – den 24-jährigen Serjosha und den 12-jährigen Kira. Serjosha ist mit der Journalistin Julia verheiratet. Außerdem haben wir einen ganzen Zoo in unserer Wohnung: vier Hunde – die Möpse Ada und Mulja, Rachel, einen Staffordshire, und den Hofhund Ramik, drei Katzen namens Klaus, Semiramis und Pinguin, die Kröte Gertrud, die Hamster Bongo und Dongo, den Papagei Kescha und das Meerschweinchen Isabella de Bourbon. Letzteres muss stets mit dem vollen Namen angesprochen werden. Auf die Kurzform – Bella – hört es nicht.

Im Januar dieses Jahres wurde Katja eine Stelle in Amerika angeboten. Das Gehalt war so, dass meine Freundin gar nicht ablehnen konnte. Die Kinder und die ganze Menagerie nahm sie mit. Ich blieb ganz allein in der Wohnung zurück. In den letzten Wochen zerbrachen Katja und ich uns die Köpfe, um für mich eine Arbeit zu finden. Ich kann nicht gerade viel. Eigentlich nur kochen und sehr mittelmäßig Harfe spielen.

Am Ende brachte mich Katja als Haushälterin in der Familie des wohlhabenden Bestsellerautors Kondrat Rasumow unter, wo es sehr turbulent zuging. Was ich da zu tun hatte, schien auf den ersten Blick nicht besonders schwer zu sein. Ich sollte das Hausmädchen, die Köchin und die Hauslehrer von Lisa, Kondrats Tochter aus erster Ehe, beaufsichtigen.

Kaum war ich eine Woche an meiner neuen Arbeitsstelle, da wurde Kondrat ermordet. Ich will mich hier nicht lange darüber verbreiten, was Lisa und ich in dieser Zeit durchgemacht haben. Ihre leibliche Mutter wollte seit langem nichts mehr von ihr wissen. Nach dem Tod des Vaters blieb sie im Grunde als Waise zurück. Bei all den schrecklichen Erlebnissen sind Lisa und ich uns sehr nahegekommen. Wir haben uns einen kleinen Kater zugelegt, ihn Pinguin getauft, und auf der Straße den herrenlosen Ramik aufgelesen, ein Hundejunges, dessen Rasse wir nicht kannten. Jetzt lebt die 14-jährige Lisa bei mir, und mir ist, als hätte ich schon eine große Tochter.

Ende März tauchte unerwartet Kira mit all seinen Tieren wieder bei uns auf.

»Weißt du, Tanja«, erklärte er, als er seine Koffer auspackte, »dieses Amerika ist nichts für mich. Stell dir vor, die plagen sich in der siebenten Klasse noch mit dem Einmaleins herum. In Geographie ist immer nur von Amerika die Rede. Physik und Chemie haben sie gar nicht. Und überhaupt sind die alle doof! Weißt du, worüber die lachen?«

»Worüber denn?«

»Na, einer lässt einen Furz, und die anderen lachen sich halb tot – als ob ihnen ’ne Gehirnwindung fehlt. Und dann sind viele so dick! Richtige Elefanten laufen da auf der Straße rum. Die stopfen aber auch allen Mist aus Schachteln und Tüten in sich hinein. Und bei jeder Gelegenheit rufen sie gleich nach dem Kadi! Nein, ich fand’s dort gar nicht cool! Weißt du, was die in New York in der Metro machen?«

»Was denn?«

»Fressen! Setzen sich hin, holen einen Becher mit Suppe oder eine Tüte Chips hervor und schaufeln sich das rein! Überall liegen leere Packungen rum. Die Wände sind beschmiert und die Sitze besprüht, man mag sich gar nicht draufsetzen. Das einzige Gute ist: Mama verdient einen Haufen Geld. Was die jeden Monat kriegt, da können wir hier ein ganzes Jahr von leben!«

Ich strich ihm über den wirbeligen Schopf. Als Kira sein Gesicht an meiner Schulter barg, stellte ich verwundert fest, dass er schon fast so groß war wie ich. Das ist allerdings nicht verwunderlich. Ich bin nur 1,58 und wiege 47 Kilo. Ich machte mir etwas Sorgen, wie er mit Lisa auskommen würde, aber die beiden waren sofort dicke Freunde. Auch die neue Mischung unserer Tiere stellte ich mir nicht ganz einfach vor. Doch die Möpse und die Staffordshire-Dame waren von dem langen Flug so erschöpft, dass sie auf Pinguin und Ramik überhaupt nicht reagierten. Nur die Katzen fauchten den neuen, frechen Kater ein paar Mal heftig an. Die Möpsinnen begriffen bald, dass der kräftige, lustige Ramik ein guter Spielgefährte war. Klaus und Semiramis gingen daran, Pinguin Benehmen beizubringen. Der ist eigentlich eine Katze. Als wir ihr diesen männlichen Namen verpassten, wussten wir das noch nicht. Jetzt leben wir alle einträchtig zusammen und warten darauf, dass Katja, Julia und Serjosha endlich aus Amerika zurückkommen.

Mein Tag lief ab wie vorgesehen. Nachdem ich die Freundin der Fischhändlerin gegeben hatte, ging ich noch einmal ins Büro zurück.

»Gut gemacht«, lobte mich mein Chef Semjon, »für heute hast du frei. Sei morgen um elf Uhr wieder hier. Ich habe einen neuen Auftrag für dich.«

Das freute mich. Ein Auftrag war immer gut, da klingelte die Kasse.

»Kaputt?«, fragte Semjon und wandte sich seiner Hausbar zu.

»Ziemlich«, gab ich seufzend zurück. »Erst habe ich mich um die Fischdame gekümmert, und dann musste ich drei Stunden lang mit ihrem Mann schwatzen – so ein langweiliger Kerl, einfach zum Weglaufen!«

»Nun hast du es ja geschafft«, sagte mein Chef aufmunternd. »Willst du einen Kognak?«

»Aber nur einen ganz kleinen! Du weißt doch, mir dreht der Kopf schon vom Hinschauen.«

»Das gefällt mir!« Semjon musste lachen und goss eine ordentliche Menge in einen großen Schwenker. »Eine berauschte Frau ist zu allem bereit.«

Er nippte und verdrehte genussvoll die Augen.

»Ist er gut?«

»Ein Geschenk von einem dankbaren Kunden. Schließlich sind nicht alle so wie Madame Worobjowa!«

Ich verzog das Gesicht. Madame Worobjowa war unser Schreckgespenst. Semjon besteht in der Regel auf Vorkasse. Zu Anfang hatten ihn nämlich manche Kunden hereingelegt. Seitdem geht es bei ihm nur noch nach dem Prinzip: Morgens zahlen, abends liefern. Wenn der Auftrag erledigt ist, gibt es eine Schlussabrechnung. Denn oft haben wir unvorhergesehene Ausgaben. In der Regel ist das für die Kunden kein Problem. Nur bei Jelena Worobjowa war das anders. Sie zückte den Taschenrechner und ging jeden Posten einzeln durch. Plötzlich fragte sie spitz: »Wofür soll denn das hier sein?«

»Eine Monatskarte für den Mann, der für Sie unterwegs war«, erklärte Semjon.

Die Dame runzelte die Brauen.

»Eine Karte für einen ganzen Monat? Aber heute ist doch erst der 12.! Da bezahle ich nur die Hälfte.«

Von so einer Person konnte man natürlich keinen Kognak als Geschenk erwarten. Der von Semjon war wirklich von der feinsten Sorte – rollte ölig über die Zunge und hatte eine wunderbar goldbraune Farbe.

»Tanja«, hub Semjon plötzlich an, »du bist meine beste Kraft, und das weißt du auch.«

Ich nickte.

»Daher übertrage ich dir jetzt eine ganz besondere Aufgabe.«

Ich sah ihn erwartungsvoll an. Sicher winkte dafür auch eine besondere Vergütung. Als hätte er meinen Gedanken erraten, fuhr Semjon fort: »Natürlich gibt es dafür ein entsprechendes Honorar.«

»Wieviel?«

»100 Dollar pro Tag.«

Das war nicht schlecht, aber was sollte ich dafür tun?

»Nichts Besonderes. Eine gewisse Anna Remeschkowa möchte, dass du ein Auge auf ihren Mann hast. Das soll bei ihr zu Hause passieren. Sie ist viel in Geschäften unterwegs und hat einen Maler zum Mann – einen mit viel Phantasie und hübschen Aktmodellen. Du verstehst schon.«

Unsere Agentur gilt offiziell als Detektei, und wir bekommen häufig derartige Aufträge. Allerdings versucht Semjon solche Kunden in der Regel abzuwimmeln. Und was sollte an dieser Sache Besonderes sein? Das war doch ganz normale Routine! Nur das Honorar schien mir erstaunlich hoch. Das machte mich stutzig.

»Die Auftraggeberin ist Olgas beste Freundin«, ließ Semjon mit einem Seufzer hören.

Jetzt war alles klar. Olga Gawrilowa, eine drittklassige Schauspielerin aus einem Theater, das keiner kannte, war Semjons Ex-Frau. Ihre Scheidung liegt drei Jahre zurück, aber mein Chef fürchtet noch immer alle Frauen wie der Teufel das Weihwasser. Mindestens einmal die Woche taucht Olga in unserem Büro auf und verlangt unter großem Geschrei mehr Geld. Sie lässt sich nicht davon abbringen, dass er sie bis zur Bahre unterhalten muss. Semjon ist ein friedlicher Mensch, der gern alles gütlich regelt. Lieber zahlt er, als sich mit dieser ordinären Person auf einen Streit einzulassen.

»Alles klar.« Ich musste lächeln.

Semjon hob hilflos die Arme.

»Entschuldige schon, diese Kundin ist kein einfacher Fall. Ich fürchte, außer dir wird niemand mit ihr fertig. Aber du mit deiner Intelligenz und …«

»Schon gut, Semjon«, unterbrach ich ihn. »Als was soll ich dort aufkreuzen?«

»Sie brauchen eine Haushaltshilfe«, antwortete mein Chef erleichtert. »Die letzte hat Anna hinausgeworfen, weil sie ihr angeblich frech gekommen ist.«

Mit einer energischen Handbewegung setzte ich den Kognakschwenker ab. Ob nun Haushaltshilfe oder etwas anderes – das war mir gleich.

2. Kapitel

Kaum hatte ich am nächsten Morgen die Augen aufgeschlagen, stürzte ich zur Balkontür und schaute hinaus. Es schneite wie zu Neujahr. Man konnte denken, wir hätten Januar und nicht April. Kein Känguru auf dem Balkon zu sehen. Nun konnte ich sicher sein, dass ich wieder ganz normal war. Ich zog mir etwas Einfaches, Unauffälliges an und lief los, um mich bei Anna Remeschkowa vorzustellen.

Die erfolgreiche Geschäftsfrau wohnte in einem schönen Haus aus hellen Klinkern unweit der Metrostation Kiewskaja. Die Wohnung in der siebenten Etage war bald gefunden. Ich hatte kaum geklingelt, da erschien auf der Schwelle ein fülliges Mädchen in sehr exotischem Outfit. Ihren Oberkörper hatte sie in ein mit Pailletten besetztes giftgrünes Strickjäckchen gezwängt, den unteren Teil in eine rosafarbene Caprihose mit bestickten Aufschlägen.

»Was gibt’s?«, fragte sie schroff und blickte mich stirnrunzelnd an.

»Ich möchte zu Frau Remeschkowa«, antwortete ich schüchtern.

»Mama!«, brüllte sie, »hier ist eine Bettlerin, die will zu dir.«

»Ich komme«, ließ sich ein rauchiger Mezzo hören, und die Dame erschien auf der Bildfläche.

Ich bekam einen tüchtigen Schreck, riss mich aber sofort zusammen. Eine Art Heuschober, bestimmt zwei Meter hoch und ebenso breit, schob sich da auf mich zu. Das Bild von Heu drängte sich vor allem wegen der Haarfülle auf. Ihre Mähne war so gefärbt, dass man es kaum beschreiben kann: Das Haar, an den Wurzeln hellbraun, zeigte in der Mitte gelbe und an den Spitzen fast weiße Töne. Man konnte auch an Stroh denken, das von unten zu faulen beginnt. Dazu passte die Kostümierung. Das riesige Hinterteil, das an einen Kürbis erinnerte, hatte sie in ähnliche Beinkleider gezwängt wie die Tochter, nur waren sie nicht rosa, sondern von einem satten Grün. Den gewaltigen Busen, der Melonen aus Astrachan alle Ehre gemacht hätte, umspannte eine durchbrochene Strickjacke. Um den Hals trug sie eine schwere Kette, ihr Ohrschmuck erinnerte an Goldbarren, und die fleischigen Handgelenke steckten in massiven Armreifen, die wie Handschellen wirkten.

»Du bist die neue Haushaltshilfe?«, warf mir die Dame des Hauses kurz hin. Bevor ich antworten konnte, kam schon der Befehl: »Schuhe aus und ab in die Küche!«

Gehorsam tat ich, wie mir geheißen. Anna Remeschkowa ließ sich auf ein Sofa fallen, goss sich Tee ein und legte los: »Also, hör zu! Du wirst kochen, was ich dir sage, putzen, waschen und bügeln. Wenn du was beiseite schaffst, krieg ich das raus! Dann kannst du was erleben!«

Ich vermerkte, dass meine Arbeitgeberin mir nicht einmal Tee anbot. Daher setzte ich mich auf dem Schemel zurecht und sagte bewusst leise, aber kategorisch: »Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass ich nicht die Absicht habe, Ihnen den Haushalt zu führen. Soviel ich weiß, soll ich ein Auge auf Ihren Gatten haben.«

»Red leise«, zischte Anna. »Kannst du kochen?«

»Nun, eine Gourmetköchin bin ich nicht gerade …«

»Die brauchen wir hier auch nicht!« Anna lachte laut auf. »Wir sind einfache Leute und essen, was auf den Tisch kommt. Hauptsache, schmackhaft und reichlich. Du stellst dich an den Herd. Fürs Putzen finde ich eine andere. Aber denk an meine Worte, wenn du was mitgehen lässt, sollst du mich kennenlernen!«

Ich schaute in ihre blauen Äuglein, die wie zwei Knöpfchen zu beiden Seiten der dicken Nase saßen, und fragte unerwartet: »Womit handeln Sie?«

»Mit Klamotten«, teilte mir Anna bereitwillig mit, »höchste Qualität. So was in der Art.«

Und sie streckte ihr Bein vor, das einem Nilpferd zu gehören schien.

»Siehst du die Hose? Markenware, direkt vom Produzenten, und nicht mit zweitklassigem Zwirn genäht. Weißt du, wie andere das machen? Kaufen den größten Schund zusammen und drehen ihn den Leuten an. Aber für sich selber nur das Beste. So eine bin ich nicht. Was ich verkaufe, trage ich auch selbst. Da hab ich gleich einen Tipp für dich.« Unerwartet huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Wenn du auf dem Markt einkaufst, guck dir den Händler an. Wenn er seine eigene Ware trägt, ist die Sache in Ordnung. Wenn nicht, lass ihn links liegen. Deine Hose ist ja nicht gerade teuer, vom Tscherkisow-Markt?«

Ich nickte.

»Schund«, stellte Anna fest. »Für dreihundert eingekauft. Von dir haben sie mindestens einen Tausender verlangt, stimmt’s?«

Erstaunt über ihren Durchblick, antwortete ich: »Neunhundert.«

»Klar«, brummte Anna. »Denk dran, wenn du mir hilfst und meinen Bock auf einem Weib ertappst, kannst du von mir Klamotten zum Großhandelspreis haben, so viel du willst. Für Kopeken läufst du dann schicker rum als alle anderen, verstanden? Wer mir hilft, braucht es nicht zu bereuen.«

Ich nahm mich zusammen, um nicht zu lächeln, und schaute in ihr rundes, bauernschlaues Gesicht. Irgendwie hatte ich in der letzten Zeit Glück mit russischen Handelsleuten. Die eine winkte mit Forellen, die andere mit tollen Sachen.

Nach einer Woche war ich in diesem Hause akzeptiert und wusste über alle Mitglieder der Familie Bescheid. Es waren nur drei – Anna, ihre Tochter Irina aus erster Ehe und ihr Gatte Boris Lwowitsch Ljamin, den sie der Untreue verdächtigte.

Während Anna und Irina aus demselben Holz geschnitzt waren (die Tochter wirkte wie eine Kopie der Mutter), gehörte Ehemann Boris in eine ganz andere Schublade. Bildlich gesprochen: Sollten Anna und Irina Handschuhe sein, dann war Boris ein Stiefel. Was von beiden ist besser? Dumme Frage, jedes Ding hat seinen Nutzen, aber zusammen ergeben sie eben kein Paar.

Der hagere, im Grunde spindeldürre Boris hielt sich fast den ganzen Tag in seinem Atelier auf. Mir war streng verboten, dort auch nur einen heruntergefallenen Papierschnipsel anzufassen.

Anna und Irina aßen für ihr Leben gern – fette, schwere Sachen wie dicke Erbsensuppe mit Rippchen, Schweinekoteletts, mit viel Fett zubereitete Bratkartoffeln, Schokoladeneis, Schlagsahne, Bananen … An Butter und Mayonnaise wurde nicht gespart. Sorgen um ihre Figur schienen sich die Damen nicht zu machen. Vor dem Schlafengehen konnten sie glatt eine Schachtel Pralinen in sich hineinstopfen. Ihre Leber musste aus Eisen und ihr Magen aus Plastik sein, denn bei all der Völlerei klagten sie nie über Bauchweh und brauchten keine Abführmittel. Sie sahen aus wie das blühende Leben, was von einer hervorragenden Verdauung zeugte.

Boris dagegen plagte sich ständig mit einer Gastritis herum. Für ihn musste ich faden, dünnen Brei kochen und immer eine Thermosflasche Magentee bereithalten.

Anna und Irina vergötterten Thriller, auch zu einem Pornofilm sagten sie nicht nein. Ehemann Boris dagegen stand auf Filme von Ingmar Bergman oder Luc Besson.

Die Damen verschlangen begeistertLiebesromane und lasen Skandalblätter wie »Megapolis« oder »Speed-Info«. Auf Boris’ Nachtschränkchen dagegen lag ein Band mit Tschechow-Erzählungen oder das Wirtschaftsblatt »Kommersant«.

So war das mit allem. Die Frauen gingen gegen elf zu Bett, der Künstler dagegen blieb mindestens bis zwei Uhr nachts in seinem Atelier. Anna konnte drei Tage lang in denselben Sachen herumlaufen, Boris dagegen war dauernd im Badezimmer anzutreffen … Man konnte sich nur wundern, wie die beiden sich gefunden hatten und nun schon fünf Jahre irgendwie miteinander zurechtkamen.

Ich hatte den Eindruck, Boris ließ sich von Anna einfach aushalten. Seine merkwürdigen Bilder in düsteren Grautönen konnten einen depressiv machen. Mehrfach ließ ich Leute ein, die den Künstler aufsuchten, aber die meisten gingen nach einer halben Stunde wieder, ohne etwas gekauft zu haben. Offenbar wirkten Boris’ Werke nicht nur auf mich so niederschmetternd.

Annas Geschäfte dagegen liefen hervorragend. Wenn man sie näher kannte, wirkte sie gar nicht so abstoßend. Sie war einfach ein schlecht erzogenes Weib, das unerwartet eine Glückssträhne hatte.

Irina ging in die zehnte Klasse. Ihren Stiefvater konnte sie nicht ausstehen. Daran war er zum Teil selber schuld. Als sie zum Beispiel vor ein paar Tagen zum Frühstück in einem engen roten Kleid erschien, zu dem sie blaue Strümpfe und einen zartgrünen Blazer trug, wagte Boris schüchtern einzuwenden: »Kindchen, ich glaube, deine Farbpalette ist nicht ganz korrekt.«

»Soll ich vielleicht in Braun und Grau rumlaufen wie deine Vogelscheuchen?«, gab Irina schnippisch zurück.

»Das brauchst du nicht«, meinte der »Herr Papa« friedlich, »lass einfach die Strümpfe oder die Jacke weg, sonst siehst du aus wie ein Papagei.«

»So was trägt man jetzt«, brummte Anna und stopfte sich Käse in den Mund.

»Das sehe ich«, stellte ihr Gatte fest und maß seine Frau mit einem kritischen Blick. Die trug an diesem Tag ein hellblaues Kleid mit rosa Borte, dazu eine orangefarbene Jacke mit einer großen künstlichen Orchidee am Revers.

»Gefalle ich dir nicht?«, fragte Anna herausfordernd.

»Überhaupt nicht«, erwiderte Boris. »Es passt einfach nichts zusammen. Bei deiner Figur solltest du so was nicht anziehen. Frauen verhüllen ihre Problemzonen, aber du betonst sie noch.«

»Ich habe keine Problemzonen«, erklärte Anna kichernd und füllte ihren Teller mit Rührei und Speck.

»Wie du meinst«, sagte der Künstler. »Ich gehe arbeiten.«

Mit leichtem, kaum hörbarem Schritt trollte er sich aus der Küche. Irina sah der dürren, leicht gebeugten Gestalt nach und fragte taktlos, wie Kinder sein können: »Mama, warum zum Teufel lebst du mit diesem Kerl zusammen? Was findest du nur an dem Bock?«

Vier Tage später konnte ich Semjon Vollzug melden. Boris in flagranti zu ertappen war einfacher, als einem Kind einen Bonbon wegzunehmen.

Als Irina an diesem Morgen zur Schule gegangen war und Anna sich aufgemacht hatte, um ihre Geschäfte zu inspizieren, trat ich mit Leichenbittermiene vor den Künstler und jammerte: »Boris Lwowitsch, seien Sie so gut…«

Der Maler ließ die Staffelei stehen, legte den in graue Farbe getauchten Pinsel ab und fragte: »Ist etwas passiert, meine Liebe?«

»Mein Sohn hat sich den Arm gebrochen und muss rasch ins Krankenhaus. Geben Sie mir bitte ein paar Stunden frei. Das Mittagessen steht auf dem Herd, das Abendbrot ist auch fertig, und um sieben bin ich wieder zurück.«

»Natürlich«, rief der Hausherr, »welche Frage. Kinder gehen immer vor. Sie müssen heute Abend auch nicht zurückkommen, ich gebe Anna Bescheid.«

»Ich wollte Sie eigentlich bitten«, sagte ich leise, »Ihrer Frau nichts zu sagen. Sie zieht es mir sonst vom Lohn ab. Und ich brauche doch jeden Rubel. Mir wäre es am liebsten, sie erfährt gar nichts davon.«

Darauf erklärte Boris mit großer Geste: »Aber, aber, nur keine Tränen. Machen Sie, dass Sie fortkommen. Ich schweige wie ein Grab.«

»Ich räume nur noch rasch in der Küche auf«, rief ich froh und eilte über den Korridor.

Nur wenige Minuten später blinkte am Hauptapparat unserer Telefonanlage ein grünes Lämpchen. Boris war mir in die Falle gegangen. Offenbar informierte er die Dame seines Herzens gerade über die unerwartete Gelegenheit.

Eine Viertelstunde später rief ich: »Boris Lwowitsch, ich bin schon weg!«

»Gehen Sie nur, meine Liebe«, tönte es aus dem Atelier, »vergessen Sie aber nicht, Anna ist spätestens um acht zu Hause.«

Ich klappte laut mit der Tür und stand im Treppenhaus. Doch statt fortzugehen, schlich ich leise einen Absatz höher und machte es mir dort auf dem breiten Fensterbrett bequem.

Es dauerte eine Weile, dann setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Bald darauf klapperten Absätze über den Hausflur, es klingelte an der Tür, und eine junge, helle Stimme fragte: »Boris, bist du sicher, dass wir allein sind?«

»Natürlich, Kindchen«, antwortete der Künstler. »Meine Kröte taucht erst zum Abendbrot auf, und das Kind unserer Haushaltshilfe hat sich zum Glück den Arm gebrochen.«

Die Tür klappte. Ich grinste mir eins und verließ das Haus. Die Sache lief wie geschmiert. Sollte Boris ruhig seinen Spaß haben. Meine Mission ging zu Ende. Und wo sind die Beweise, werden Sie fragen. Kein Problem. Die Regale im Atelier des Malers quellen über von allem möglichen Kram – Tonvasen, Gipsohren und Figuren aller Art. Eine der zu Dutzenden dort aufgestapelten Schalen ist nicht das, was sie zu sein scheint. In ihr ist eine Mikrokamera versteckt. Wenn sie einmal eingestellt ist, arbeitet sie 24 Stunden lang. Alle paar Minuten nimmt sie die Szene geräuschlos auf. Nach dem Frühstück habe ich sie für sechs Stunden programmiert. Alle fünfzehn Minuten wird sie mir ein gestochenes Bild liefern. Da kann ich nur hoffen, dass Boris seine Geliebte nicht ins Schlafzimmer schleppt. Aber das ist wenig wahrscheinlich, denn er hat in seinem Atelier eine herrlich bequeme Spielwiese…

Ich pfiff mir eins und trollte mich zur nächsten Metrostation. Da sich alles so gut gefügt hatte, wollte ich die unerwartete Freizeit voll für mich nutzen.

Auf dem preiswerten Markt an der Station Kiewskaja kaufte ich ordentlich ein und eilte nach Hause, um meine Lieben mit einem guten Essen zu verwöhnen.

Kira und Lisa waren gerade mit den Hunden unterwegs. Das ist mit unserem Rudel gar nicht so einfach. Man könnte jeden einzeln ausführen, aber in welcher Reihenfolge? Die in der Wohnung Zurückgelassenen fangen garantiert an zu randalieren. Daher ist das Gassi gehen jedes Mal ein großes Ereignis. Kira als der Stärkste nimmt Rachel, die inzwischen fast siebzig Kilo wiegt. Lisa führt Ramik und Mulja an der Leine. Ada darf frei laufen, weil sie am besten hört und ein bisschen ängstlich ist. Bei jedem lauten Geräusch wirft sie sich zitternd zu Boden. Ihr fällt gar nicht ein, durch das nächste Loch im Zaun unseres Hofes zu entwischen. Rachel ist ebenfalls ein ruhiger Hund und hört recht gut, dafür sind Ramik und Mulja echte Racker. Wenn man sie von der Leine lässt, verschwindet er sofort in unbekannter Richtung, sie aber stürzt sich auf die Mülltonnen und schlingt alles in sich hinein, was dort an Fressbarem herumliegt. Dabei haben wir sie nicht etwa auf Diät gesetzt. Die kugelrunde Mulja wird dreimal täglich gefüttert, obwohl zweimal viel besser für sie wäre.

»Da kommt Tanja!«, rief Kira, als er mich erblickte.

Rachel drehte mir langsam und würdig den Kopf zu, Ada winselte leise auf, Mulja und Ramik zerrten heftig an den Leinen.

»Stell die Taschen ab!«, rief Kira, »ich bring sie rauf!«

Er lief mir entgegen, hinter ihm Rachel, gemessenen Schrittes. Von der anderen Seite strebte Lisa auf mich zu, heftig gezogen von Mulja und Ramik.

»Langsam, langsam«, suchte ich sie zu bremsen, »ihr werdet noch alle hinfallen!«

Aber zu spät. Die Szene lief so schnell ab, dass ich glaubte, ich sähe einen Stummfilm. Mulja schlüpfte zwischen Kiras Beinen durch. Um nicht auf sie zu treten, sprang er über sie hinweg und stolperte dabei über Ramiks Leine.

»Vorsicht!«, rief ich, aber zu spät. Zwei Schritte vor mir stürzte Kira auf den hart gefrorenen Boden. Ich ließ die Taschen fallen und wollte ihm wieder auf die Beine helfen. Aber zuerst musste ich Mulja, Ada und Ramik beiseiteschieben, die wie wild vor Freude um mich herumsprangen. Rachel kann ich nicht beiseiteschieben, wenn sie sich nicht selbst bewegt. Ich stieg einfach über sie hinweg.

Kira saß da und streckte seinen Arm merkwürdig von sich.

»Das tut weh«, flüsterte er.

Als ich in sein blasses Gesicht blickte, war mir klar, dass er große Schmerzen haben musste. Es sah aus, als könnte er gleich das Bewusstsein verlieren.

Zu Hause angekommen, zogen wir ihm vorsichtig die Jacke aus und sahen, dass sein Arm vom Handgelenk bis zum Ellenbogen förmlich vor unseren Augen anschwoll. Zuerst färbte er sich rosa, dann rot und schließlich blau.

»Du musst sofort in die Filatow-Klinik«, sagte ich im Befehlston.

Kira nickte ergeben, und Lisa kamen die Tränen.

»Heul nicht«, sagte Kira aufmunternd, »es tut gar nicht weh. Und morgen brauche ich nicht in die Schule zu gehen! Ich habe frei, herrlich!«

Ich runzelte die Stirn und lief ins Schlafzimmer, um etwas Geld einzustecken. Natürlich sind wir krankenversichert, aber wenn ein Schein knistert, gibt sich der Arzt bestimmt mehr Mühe.

Als ich die Bettwäsche aus dem Schrank warf, um an mein Versteck zu kommen, hörte ich ein leises Klopfen am Fenster. Auf dem Balkon saß wieder das Känguru.

»Verschwinde!«, rief ich wütend, »du hast mir gerade noch gefehlt!«

Im Krankenhaus bestätigte der Arzt meinen Verdacht: Der Arm war gebrochen. Zum Glück war es ein glatter Bruch ohne Komplikationen. Eine beleibte Krankenschwester gipste Kiras Arm ein und drückte mir einen »Merkzettel zur Pflege von Kindern mit verletzten Gliedmaßen« in die Hand.

»Gib mal her«, bat Kira und nahm mir das gelbe Blatt aus der Hand. »Klasse, Lisa, lies mal: Schonung, keine besondere Diät und keine Schule!«

Jetzt schaute ich mir das Papier näher an.

»Das könnte dir so passen, Freundchen! Hier steht: ›Kinder mit Beinverletzungen sind vom Unterricht befreit.‹ Du hast doch einen gebrochenen Arm, wenn ich nicht irre.«

»Nein, Tanja«, heulte Kira auf, »wenigstens einen Tag!«

Ich sah mich nicht imstande, ihm diesen Wunsch abzuschlagen.

»Also gut, aber nur morgen.«

»Hurra!«, brüllte Kira auf, wollte hochspringen, rutschte dabei aus und fiel dem Mann, der die Zufahrt zum Krankenhaus bewachte, direkt vor die Füße.

»Du hast’s erfasst, mein Junge«, rief er Kira anerkennend zu. »Wenn schon ins Krankenhaus, dann richtig!«

»Kira, was machst du denn?«, riefen Lisa und ich aus einem Munde.

»Ist doch nichts passiert«, murmelte er schuldbewusst, »bin halt hingefallen.«

Ich schaute auf die Uhr. Schon halb sieben! Ich musste zu meiner Arbeit zurück. Nie mehr wollte ich die Gesundheit meiner Lieben als Vorwand benutzen. Kiras gebrochenen Arm hatte ich förmlich herbeigeredet.

Als wir bei der Metrostation Majakowskaja angekommen waren, fragte ich: »Schafft ihr es ohne mich bis nach Hause?«

»Kein Problem«, antwortete Lisa.

Kira seufzte auf und erklärte: »Der Arm tut echt weh.«

»Ist nicht so schlimm, mein Lieber«, suchte ich ihn zu trösten. »Nimm eine Analgintablette, dann wird es gleich besser.«

»Du hast ja keine Ahnung, wie sehr er weh tut«, stöhnte Kira, »und auch noch der linke! Mir geht es bestimmt ganz schnell besser, wenn du Lisa und mir dort drüben etwas kaufst!«

Ich folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger mit dem abgekauten Nagel und las: »Konditorei Deli-France, Eingang über den Tschaikowski-Saal«.

Meine Güte, wie sich die Zeiten geändert hatten! Anfang der achtziger Jahre habe ich manchmal in diesem Konzertsaal gespielt. Allerdings bin ich immer durch den Künstlereingang von der Gorkistraße her hineingegangen. Ich erinnere mich noch, wie Musiker und Zuhörer empört waren, als der Direktor das einzige Buffet im Foyer schließen ließ, wo Sandwichs mit vertrocknetem Käse und fettiger Räucherwurst verkauft wurden. Seine Begründung war einfach: »Ein Musentempel ist keine Futterkrippe. Die Leute sollen hier Musik genießen und keine billigen Brote kauen. Klassische Musik hat mit Wurst nichts zu tun!«

Als wir das weitläufige Foyer betraten, erkannte ich es nicht wieder. Von einem Musentempel war hier nicht mehr viel zu spüren. Man konnte gleich zwischen drei Etablissements wählen – einer Eisdiele, einem Café und einer Saftbar.

Kira und Lisa zogen mich zum Stand der Konditorei. Als ich die Preise sah, schwanden mir fast die Sinne. Ein Fruchttörtchen kostete hier 70 Rubel, ein Stück Erdbeertorte einen halben Hunderter und ein winziges Croissant immer noch 35. Auch die Kinder sagten gar nichts mehr, aber von hinten drängten neue Käufer, und wir mussten uns entscheiden.

»Nimm zwei Quarktaschen zu 40 Rubel«, flüsterte mir Lisa zu, »und dann schnell weg von hier.«

Ich nickte. Direkt vor uns standen zwei fein zurechtgemachte Figuren – eine Dame in mittleren Jahren und ein Mädchen etwa in Lisas Alter in Samtjacke und lederner Hose.

»Ich will die da«, sagte das Mädchen in launischem Ton und wies mit manikürter Hand auf die teuersten Stücke.

»Fünf mit Schlagsahne, vier mit Erdbeeren und sechs mit Kirschen«, orderte daraufhin die Mama.

Die Verkäuferin packte die süßen Sachen vorsichtig in kleine Schachteln mit dem Firmennamen. Kira seufzte laut auf und erklärte neidisch: »Natürlich, die mit dem Gelee schmecken am besten!«

»Halt die Klappe«, zischte Lisa und zog ihn am Ärmel, »die können wir uns nicht leisten.«

Kira warf mir einen erschrockenen Blick zu und plapperte los: »Die will ich ja gar nicht, ist viel zu viel Sahne drauf, da tut einem bestimmt der Bauch weh … Nimm lieber die Quarktaschen!«

Das aufgedonnerte Mädchen drehte sich kurz um, streifte Kira und Lisa mit einem verächtlichen Blick und sagte laut: »Außerdem die mit den Himbeeren, Bananen, Stachelbeeren und Johannisbeeren … Und natürlich auch von den billigen Quarktaschen.«

»Natürlich, natürlich«, kam es von Mama.

»Und was wünschen Sie?«, fragte mich die zweite Verkäuferin.

Heiße Wut stieg in mir auf, und schon hörte ich mich sagen: »Sechs von den Törtchen mit Schlagsahne, fünf mit Erdbeeren, sieben mit Kirschen …«

»Tanja, was machst du denn«, flüsterte mir Lisa zu, »wir wollten doch die Quarktaschen …«

»Und zehn Quarktaschen«, ratterte ich ungerührt weiter. »Außerdem noch die mit Mohn und die dort mit Stachelbeeren.«

»Auch von denen je zehn?«, erkundigte sich die Verkäuferin.

»Natürlich!«

Als die überglücklichen Kinder, mit Schachteln und Tüten behängt, endlich in der Metro verschwunden waren, seufzte ich auf und ging über den Bahnsteig, um auf meinen Zug zu warten. Ich will einfach nicht, dass Lisa und Kira wie Bettler aufwachsen, deren Eltern kein Geld haben, um ihnen etwas Süßes zu kaufen. An die Preise mochte ich dabei nicht denken. Ein Glück, dass ich genug Geld bei mir gehabt hatte. Ich wollte mir schon lange ein Paar pelzgefütterte Handschuhe zulegen, hatte aber noch nichts Passendes gefunden. Das Biest in den Lederhosen hatte aber auch so widerwärtig gegrinst!

Als ich dann endlich in der Metro saß, klappte ich meinen Krimi auf und dachte bei mir: Zum Teufel mit den Handschuhen, der Winter ist sowieso vorbei.

3. Kapitel

Am nächsten Tag saßen Semjon und ich gegen Mittag beisammen, um die Fotos anzuschauen. Der Maler Boris sah nackt auch nicht besser aus – dürre Arme und Beine, fahle Haut und Pickel auf dem Rücken. Dafür war die Dame einfach eine Schönheit. Sie hatte eine ideale Figur mit schlanker Taille, straffer Brust und langen Beinen, war aber weit entfernt von der magersüchtigen Silhouette jener Super-Models, die zwar angezogen wunderschön aussehen, aber entblößt wohl eher an Betonplastiken erinnern, aus denen Eisenstäbe spießen.

Die Geliebte meines Arbeitgebers war in Maßen schlank mit hübschen weiblichen Rundungen.

»Kennst du sie?«, fragte Semjon interessiert.

Ich schaute mir das Gesicht genauer an.

»Nein, die habe ich noch nie gesehen.«

»Einsame Klasse«, entfuhr es meinem Chef bewundernd, »bei der sitzt alles genau am rechten Fleck.«

»War’s das dann mit Anna Remeschkowa?«, fragte ich erwartungsvoll.

»Unsere Kundin hat gebeten, du möchtest noch eine Woche bleiben.«

»Wozu denn das?«

Semjon zuckte die Achseln. »Sie will sichergehen, dass er nur eine von dieser Sorte hat.«

Ich blickte zweifelnd auf das Foto des mickrigen Boris. Wie ein leidenschaftlicher Don Juan sah der gerade nicht aus. Aber wer weiß …

»Anna kommt heute vorbei. Dann zeige ich ihr die Fotos«, teilte mir Semjon mit. »Und du, marsch, an die Arbeit.«

Am Sonnabend feierte Boris seinen Geburtstag. Dazu hatte er sich Gäste eingeladen: zwei Maler wie er, Andrej Kortschagin und Nikita Malyschew, samt Frauen, eine Dame, die sehr nonchalant wirken wollte, ständig kokette Blicke um sich warf und auf den Namen Sjuka hörte, und schließlich einen Mann mit den Manieren eines General Lebed, dessen Namen ich nicht sofort erhaschte.

Beim Eintreffen überreichten die Gäste dem Geburtstagskind Geschenke. Von den Künstlern erhielt Boris eine Flasche armenischen Kognak »Otar« und eine Geschenkpackung mit fünf Literflaschen Jonny Walker, Red Label. Sjuka überreichte einen Band mit Bildern des Louvre und der grobschlächtige Mann Eau de Cologne einer unbekannten Marke, das einen widerlichen Geruch verbreitete. Die neugierige Irina hatte die Flasche sofort geöffnet, und den Raum durchzog der schwere Brodem, an dem man die Kopie aus Ägypten sofort vom teuren Original unterscheidet.

Die Damen hatten sich aufs Schönste zurechtgemacht. Anna trug ein himbeerfarbenes Kleid, das mit Lurexfäden durchwirkt war. Das schien ihr direkt auf die füllige Figur geschneidert worden zu sein. Dazu hatte sie schwere Goldketten umgelegt, deren Glanz mit dem Glitzern der Robe wetteiferte. Irina erschien in einem knallengen hellblauen Stretch-Kostüm. Auf ihrem üppigen Busen strahlte eine Brillantbrosche in allen Farben des Regenbogens. Dazu trug sie passende schwere Ohrgehänge.

Ich aber konnte meine Augen nicht von Shanna wenden, der Gattin des Malers Nikita Malyschew. Da gab es keinen Zweifel: Die bezaubernde Blondine auf meinen Fotos war sie. Während ich das Essen auftrug, ging mir durch den Kopf, was eine so schöne junge Frau dazu bewegt haben könnte, sich ausgerechnet Boris zum Geliebten zu erwählen. Dabei sah ihr Mann Nikita ausgesprochen gut aus – ein hübscher, kräftiger Kerl von höchstens dreißig Jahren. Mein Arbeitgeber dagegen feierte gerade seinen 52. Geburtstag. Noch mehr wunderte mich Annas Verhalten. Ich kannte sie inzwischen und wusste, dass sie ihre Gefühle schlecht verhehlen konnte. Wenn sie sich aufregte, was bei jeder Kleinigkeit geschah, ging schnell teures Geschirr zu Bruch. Als die schöne Shanna in einem eleganten Hosenanzug, Farbe Milchkaffee, ins Zimmer trat, wurde mir ganz kalt vor Schreck, denn ich sah Anna schon aufkreischen und ihr das Tablett mit Südfrüchten entgegenschleudern, das ich gerade hereintrug.

Aber die Dame des Hauses umarmte Shanna lächelnd und sagte nur: »Ein hübscher Anzug, sicher nicht auf dem Markt gekauft.«

»Stimmt«, pflichtete ihr Shanna lächelnd bei und fügte hinzu: »Man kann aber auch dort manchmal sehr schöne Sachen finden.«

Offenbar wollte sie ihrer Gastgeberin etwas Angenehmes sagen. Überhaupt waren alle nett und freundlich zueinander. Bei Tisch plätscherten die Gespräche locker dahin. Shanna und Valeria, die Frau des Malers Andrej Kortschagin, aßen wenig, und dann auch nur Gemüse. Fleisch oder Kartoffeln rührten sie nicht an.

Zum Kaffee gab es Kognak und Liköre. Shanna ließ einen Seufzer hören. »Oh, Baileys, den ich so mag!«

»Darf ich dir davon einschenken?«, fragte Boris lächelnd.

»Leider viel zu viele Kalorien«, gab Shanna traurig zurück. »Ich will nicht zunehmen.«

Nikita musste lächeln. »Du wirst mir doch nicht magersüchtig werden?«

»Einmal ist keinmal.« Boris ließ nicht locker.

Anna nahm kurzerhand das Glas, das neben Shannas Gedeck stand, füllte es bis zum Rand mit dem Likör, der wie Milchkaffee aussah, und hielt es Shanna mit ihrem schönsten Lächeln hin.

»Auf Boris’ Geburtstag.«

»Na gut, auf Boris gestatte ich mir einen.« Shanna gab zögernd nach.

»Man darf auch nicht übertreiben«, meinte Anna friedlich. »Du kannst dich doch hinter einem Besenstiel umziehen. Ich habe die Flasche extra wegen dir gekauft. Die anderen mögen das süße Zeug nicht.«

»Genau«, kam es im Chor von den Männern, »da ist ein guter Kognak doch etwas ganz anderes.«

»Ich trinke am liebsten Whisky«, teilte Valeria mit. »Baileys schmeckt wie Wodka mit Milch.«

»Ihr habt doch alle keine Ahnung!« Shanna erregte sich zusehends. »Kognak, Whisky, Wodka, am besten noch unseren Selbstgebrannten vom Dorf! Dieser Likör ist ein edles Getränk für Menschen mit feinem Geschmack.«

»Darf ich auch mal kosten?«, fragte Irina.

»Nein!«, kam es von ihrer Mutter in unerwartet scharfem Ton. »Der ist für dich zu stark!«

Irina, nicht gewohnt, dass man ihr etwas abschlug, zog beleidigt einen Flunsch und wollte schon etwas erwidern, da roch Shanna an ihrem Glas und erklärte: »Duftet etwas merkwürdig, fast wie Amaretto.«

»Tatsächlich?« Anna wunderte sich und roch an der offenen Flasche. »Riecht wie immer. Probier mal, den habe ich im Supermarkt gekauft.«

Shanna leerte das Glas auf einen Zug. Dann erstarrte sie mit aufgerissenen Augen und halb offenem Mund.

»Nanu?« Nikita musste grinsen. »Schmeckt der so gut? Komm, krieg dich wieder ein!«

Boris, Anna und Andrej mussten lachen. Aber Shanna rülpste vulgär, und Speichel lief ihr aus dem Mundwinkel. Dann schrie sie laut auf, zuckte merkwürdig und fiel vom Stuhl. So fällt ein Mensch, der das Bewusstsein verliert. Dabei schlug sie mit dem Kopf gegen eine Bronzefigur, die Cupido, Amor oder sonst irgendeine Putte darstellen sollte. Auf dem teuren blauen Teppich breitete sich ein roter Blutfleck aus.

»Shanna!«, schrie Nikita auf und beugte sich über seine Frau. Er packte sie bei den Schultern und rief: »Was ist mit dir? Ist dir schlecht?«

»Wie schrecklich«, flüsterte Valeria, »ich falle gleich in Ohnmacht.«

Kreidebleich ließ sich Boris auf seinen Stuhl sinken und griff gedankenlos nach der Likörflasche.

»Rühren Sie die nicht an!«, schnarrte ich im Befehlston und fiel, ohne nachzudenken, aus der Rolle der bescheidenen Haushaltshilfe.

»Warum?«, fragte Andrej.

»Vor Eintreffen der Ermittlergruppe wird nichts angerührt!«, befahl ich.

»W-w-w-w-was für einer Gruppe?«, fragte Valeria stotternd.

Nikita, der neben der leblos daliegenden Shanna kniete, schaute bei diesen Worten erschrocken auf. Sein Hemd, Hände und Hosen waren mit dem Blut seiner Frau befleckt.

»Wir müssen einen Notarzt rufen!«, schrie Irina endlich. »Den Rettungswagen, schnell!«

Ich schaute die unbeweglich vor uns liegende Shanna aufmerksam an. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie starr zur Decke, der angewidert verzerrte Mund stand offen … Ich überwand meine Angst, näherte mich ihr und legte die Hand an den Hals der Frau, die noch vor fünf Minuten die fröhliche, kokette Shanna gewesen war. Die Halsschlagader war nicht zu spüren.

»Nein«, murmelte ich, »zuerst müssen wir die Miliz rufen.«

Eine Stunde später war Annas Wohnung nicht mehr wiederzuerkennen. Überall liefen geschäftige Leute umher, die routiniert und gleichmütig ihren Dienst taten. Die Leiche lag immer noch unverändert da. Ihre Konturen hatte man mit Kreide nachgezogen und alle Anwesenden ins Schlafzimmer verbannt. Dort saßen wir beisammen wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel. Ein junger Mann trat ein und sagte mit gut geschulter Beamtenstimme: »Ich bin Maxim Sipelow. Wir nehmen jetzt kurz Ihre Aussagen auf. Morgen sehen wir uns dann alle noch einmal in meinem Büro.«

»Ich möchte etwas sagen«, kam es unerwartet von Boris.

»Ich bitte darum«, reagierte Maxim.

»Meine Frau Anna Remeschkowa hat Shanna getötet«, erklärte der Maler mit leiser, aber fester Stimme.

»Oh«, entfuhr es Valeria.

»Was redest du da, du blöder Kerl!«, schrie Anna auf. »Bist du verrückt geworden?«

»Durchaus nicht«, entgegnete Boris gelassen. »Und Sie, junger Mann, schreiben das bitte auf. Haben Sie einen Stift?«

Maxim Sipelow zückte eifrig seinen Notizblock und fragte: »Name, Vorname?«

»Das hat doch Zeit!« Boris winkte ab. »Ich möchte erst zur Sache aussagen. Anna war wahnsinnig vor Eifersucht und hat die Dame dort angeheuert, mich zu überwachen.«

Alle Anwesenden drehten gleichzeitig die Köpfe nach mir um und starrten mich an.

»Soso«, sagte der Milizionär gedehnt, »fahren Sie nur fort.«

»Idiot!«, blaffte Anna.

»Ruhig, Bürgerin«, befahl Maxim, «unterbrechen Sie bitte nicht.«

Jetzt mischte sich Irina ein. »Du kleiner Bulle«, rief sie, »siehst du denn nicht, dass der Alte nicht alle Tassen im Schrank hat?«

Maxim starrte das Mädchen an. Er war wirklich noch sehr jung. Seine Pausbacken bedeckte kaum der erste Flaum. Unser Sherlock Holmes war wahrscheinlich noch keine fünfundwanzig Jahre alt.

»Ich bin durchaus Herr meiner Sinne!«, zischte Boris sie an und wandte sich mir dann in scharfem Ton zu. »Sagen Sie doch, lüge ich etwa?«

»Sind Sie tatsächlich nur eine Haushaltshilfe?«, fragte Maxim.

Ich schüttelte verwirrt den Kopf.

»Das is ja ’n Ding«, ließ Andrej fallen.

Valeria, die neben mir auf dem riesigen Bett saß, hob pikiert ihr Kleid an und rückte von mir ab.

»Blödmann!«, rief Anna.

»Halt den Mund, Mörderin«, gab Boris in aller Ruhe zurück.

»Wag es nicht, so mit Mama zu reden, du altes Stinktier!«, keifte Irina.

»Auch du Dreckstück solltest lieber die Klappe halten«, parierte das Geburtstagskind im selben Ton.

»So ein Schweinehund, der reine Abschaum!« Anna war nicht zu bremsen. Den gängigen Schimpfwörtern folgten jetzt verschiedene Mutterflüche.

»Bitte Ruhe, Bürger!« Maxim versuchte sich mit lauter Stimme durchzusetzen, aber niemand hörte auf ihn.

Da griff Anna nach einem kleinen, aber schweren Schemel und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen ihren Gatten. Boris riss den Kopf zur Seite, und das Geschoss landete unter lautem Geklirr in dem großen mehrteiligen Spiegel der Frisiertoilette.

»Hören Sie sofort auf!«, brüllte Maxim jetzt wütend. »Bürger, benehmen Sie sich!«

»Geh zum Teufel, Blödmann!« Irina stieß ihn beiseite und zielte mit einem Kissen auf ihren »Papa«. Das traf Boris mitten ins Gesicht.

»Du verdammtes Weibsstück!«, brüllte der auf.

»Lass mein Kind in Ruhe!« Nun stürzte sich Anna wutentbrannt auf ihren Gatten und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

Der wollte sich das nicht gefallen lassen und packte seine »Liebste« bei den Haaren. Wie wild zerrten sie sich hin und her.

»Jetzt ist aber Schluss!« Maxim suchte sich Gehör zu verschaffen.

Niemand nahm Notiz von ihm. Schließlich wollte Valeria die beiden trennen.

»Geh mir aus dem Weg!«, rief Anna und versetzte ihr einen solchen Stoß, dass sie zu Boden ging.

»Hände weg von meiner Frau!«, brüllte nun Andrej seinerseits und stieß Anna von hinten.

Jetzt prügelten sich schon vier.

»Tut doch endlich was!«, flehte Sjuka.

»Maul halten!«, warf der Mann barsch ein, der an General Lebed erinnerte. Bei diesen Worten griff er sich von irgendwoher einen riesigen Revolver und schoss in die Decke. Putz regnete auf das große Bett, und dem Kronleuchter fehlten zwei der kitschigen Glasanhänger.

Augenblicklich trat Stille ein.

»Oh, mein Gesicht«, sagte Sjuka unter Tränen in die Stille hinein. Sie wandte sich zu mir um und bat: »Schauen Sie bitte nach, ob ich etwas abbekommen habe.«

Ich sah mir ihre verdächtig glatte, völlig faltenlose Physiognomie, offenbar das Produkt eines geschickten Chirurgen, an und erklärte dann: »Alles in Ordnung.«

»Gott sei Dank«, murmelte Sjuka, »ich habe mich zu Tode erschrocken! Jeder Kratzer ist von Schaden! Die sind so schwer zu beseitigen!«

Mit zitternden Händen tastete sie Stirn, Wangen und Kinn ab. Die anderen waren völlig verstummt, nur schweres Atmen war zu hören. Mein Blick wanderte von der verschwitzten Irina über die leise schluchzende Valeria, die völlig zerzauste Anna und den hochroten Boris bis zu Andrej, der wütend vor sich hin starrte … Ein zerkratztes Gesicht wäre wohl nicht das Schlimmste gewesen, was in den vergangenen zwei Stunden passiert war. Dieser Milizionär aber auch! Warum schwieg er, da alle endlich einmal den Mund hielten?

Als ob er meinen Gedanken erraten hätte, erwachte Maxim endlich aus seiner Erstarrung, schüttelte den Kopf, blickte verwundert auf die Glassplitter, die ihm aus dem üppigen Haarschopf fielen und fragte: »Haben Sie überhaupt einen Waffenschein?«

»Laß mich in Frieden, Jungchen«, entgegnete »General Lebed« mit einem Seufzer. »Habt ihr denn keinen Vorgesetzten hier?«

4. Kapitel

Am nächsten Tag saß ich gegen Mittag dem Milizbeamten Anatoli Jeromin gegenüber. Der wirkte auch noch jugendlich, hatte aber nicht diesen Ausdruck im Gesicht, als sei er noch nicht ganz trocken hinter den Ohren. Dabei war er bestimmt kaum ein Jahr älter als Maxim. Aber er hatte schon etwas von einem erfahrenen Profi an sich. Er fragte mich nach der Agentur »Alibi« aus. Ich konnte frei von der Leber weg reden, denn sie war nach allen Bestimmungen registriert und ich eine fest angestellte Mitarbeiterin. Jeromin gab sich nett, setzte mir abscheulichen Beuteltee der Marke Pickwick vor und hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. Danach sah die Sache für Anna nicht gut aus.

»Wusste sie, wer die Geliebte ihres Mannes war?«, fragte Anatoli.

»Nicht, solange sie die Fotos noch nicht gesehen hatte.«

»Und, hat sie?«

»Das kann ich nicht bestätigen. Mein Chef hat gesagt, er wollte sie ihr vorlegen. Sie müssen ihn schon selber fragen.«

»Das werde ich«, bekräftigte der Untersuchungsbeamte. »Hat von dem Baileys sonst noch jemand getrunken?«

»Nein. Die anderen Gäste mochten das Zeug nicht. Wie Anna sagte, hatte sie die Flasche eigens wegen Shanna gekauft. Woran ist sie eigentlich gestorben? An einem Herzschlag?«

»In ihrem Glas haben wir Zyankali gefunden«, teilte der Milizionär seelenruhig mit. »Mit der Menge hätte man die halbe Stadt umbringen können. Als sie umfiel, war sie schon tot. Dafür haben zwei Sekunden gereicht. Das Getränk hat die Bürgerin Remeschkowa vergiftet.«

Nun legte er seine Version der Sache dar. Ich hörte ihm schweigend zu und spielte gedankenverloren mit meinem Schlüsselbund. Die Argumente der Ermittlung klangen durchaus logisch. Aber die Logik ist ein merkwürdig Ding.

Als Studentin am Konservatorium hatte ich aus einem unerfindlichen Grund Vorlesungen in Logik zu besuchen. Jeder wird verstehen, dass wir die Prüfungen in diesem jeder künstlerischen Natur so fremden Fach mehrmals wiederholen mussten. Dabei brach ich alle Rekorde. Geschlagene siebzehn Mal suchte ich den Dozenten auf und brachte ihn schier zur Verzweiflung. Es wollte mir einfach nicht gelingen, wenigstens ein Mangelhaft zu bekommen. Der war mir aber auch der Richtige! Hätte er doch der armen Harfenistin eine Drei gegeben und Schluss! Nein, er wollte mir unbedingt geordnetes Denken beibringen. Unsere achtzehnte Begegnung werde ich nie vergessen.

»Also, mein Kind«, sagte er leise, »wir stellen jetzt einen Syllogismus her. Folgendes ist gegeben: Alle Vögel fliegen. Der Sperling fliegt, folglich ist er ein Vogel.«

So eine dumme Behauptung, dachte ich bei mir. Auch Schmetterlinge fliegen, und natürlich auch Käfer, Flugzeuge oder Raketen …

»Jetzt Sie«, drängte mich der Professor. »Was für ein Syllogismus fällt Ihnen ein, na?«

Aber mir fiel gar nichts ein.

»Na gut, dann muss ich eben ein wenig nachhelfen«, meinte der Prüfende. »Gegeben ist: Alle Philosophen sind Wissenschaftler. Sokrates war ein Philosoph, folglich war er ein …«

Ich schwieg.

»Was ist mit Ihnen, mein Täubchen?«, fragte der Logiker seufzend. »Geben Sie sich doch ein bisschen Mühe! Sokrates war ein Philosoph, folglich war er …«

»Ein Vogel!«, rief ich freudestrahlend, denn das hatte ich mir von seinem ersten Vergleich gemerkt. Der Professor knurrte in sich hinein, nahm den Prüfungsbogen, füllte ihn rasch aus und sagte dann: »Also, meine Liebe, hier haben Sie ein ›Gut‹ für diese Prüfung, und ein weiteres für das Wintersemester. Damit haben Sie das Fach abgelegt. Nur kommen Sie mir nie wieder unter die Augen, denn bei Ihrem Anblick kann ich für nichts garantieren.«

Beleidigt steckte ich mein Prüfungsheft ein. Warum demütigte er mich so? Schließlich hatte er sein ganzes Leben lang Logik studiert. Wie würde er sich wohl anstellen, wenn er plötzlich Harfe spielen müsste?

Aber mit der Logik hatte ich wirklich nicht viel im Sinn. Doch selbst für mich klangen Jeromins Schlussfolgerungen überzeugend. Für Anna sah es in der Tat schlecht aus.