Spiele niemals mit dem Tod - Darja Donzowa - E-Book + Hörbuch

Spiele niemals mit dem Tod Hörbuch

Darja Donzowa

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Beschreibung

Die Miss Marple aus Moskau - gefährliche Ermittlungen auf eigene Faust.

Wer hat dem vierjährigen Sohn des berühmten Krimi-Autors Kondrat Rasumow die Pistole geschenkt, mit der er seinen Vater erschoss? Der Liebhaber seiner Mutter Lena? Lena selbst? Tanja, seit kurzem Haushälterin in dem großzügigen und chaotischen Schriftsteller-Haushalt, glaubt einfach nicht an Lenas Schuld. Sie beginnt nach dem wirklichen Täter zu suchen ...

Darja Donzowa wurde in Russland dreimal "Schriftstellerin des Jahres", zwei ihrer Bücher wurden zum "Bestseller des Jahres" gekürt.

"Die große Satirikerin unter den Krimi-Frauen." Literaturen.

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Zeit:11 Std. 38 min

Sprecher:Katinka Springborn

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Informationen zum Buch

Gefährliche Ermittlungen auf eigene Faust.

Wer hat dem vierjährigen Sohn des berühmten Krimi-Autors Kondrat Rasumow die Pistole geschenkt, mit der er seinen Vater erschoss? Der Liebhaber seiner Mutter Lena? Lena selbst? Tanja, seit kurzem Haushälterin in dem großzügigen und chaotischen Schriftsteller-Haushalt, glaubt einfach nicht an Lenas Schuld. Sie beginnt nach dem wirklichen Täter zu suchen.

Darja Donzowa wurde in Russland dreimal »Schriftstellerin des Jahres«, zwei ihrer Bücher wurden zum »Bestseller des Jahres« gekürt.

»Die große Satirikerin unter den Krimi-Frauen.« Literaturen.

Darja Donzowa

Spiele niemals mit dem Tod

Kriminalroman

Aus dem Russischen von Helmut Ettinger

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Über Darja Donzowa

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

1. Kapitel

Ich erwachte, als ein Lichtstrahl über mein Gesicht glitt. Hatte ich doch tatsächlich vergessen, die Vorhänge zuzuziehen, und das Fenster meines Schlafzimmers geht nach Osten hinaus. Wie spät war es eigentlich? Zwanzig vor acht konnte es noch nicht sein, denn dann hätte der abscheuliche Wecker bereits geklingelt, der mich morgens aus dem Bett wirft, damit ich die anderen wecke. In diesem Haus kriecht keiner gern aus dem warmen Nest. Rufe ich: »Aufstehen!«, verschwinden die Köpfe noch einmal unter der Decke. Deshalb ist der Wecker auch auf eine so merkwürdige Zeit gestellt – zwanzig Minuten vor acht. Die Kinder haben ausgerechnet, daß Viertel vor acht zu spät, aber halb acht viel zu früh ist. Die letzten zehn Minuten vor dem Aufstehen sind die süßesten.

Mit einem Seufzer streckte ich meine linke Hand aus und tastete auf dem Nachttisch nach dem winzigen Casio, den mir Kira zu Neujahr geschenkt hatte. Da ich ins Leere griff, schlug ich die Augen auf.

Direkt vor mir ein riesiger Schrank in Weiß und Himmelblau mit Goldkante. Dazu eine Tapete, die wie ein Gobelin aus einem Petersburger Palast anmutete. Neben dem Schrank eine Marmorfigur von beträchtlicher Größe: eine füllige Dame, die mit gerundetem Arm einen Lampenschirm hielt. An ihren mächtigen Schenkeln hatte es sich ein Hündchen aus Marmor bequem gemacht …

Verblüfft starrte ich auf dieses Stilleben, bis mir wieder einfiel, was gestern passiert war. Ich setzte mich auf. Ich war nicht zu Hause, sondern würde in dieser fremden Wohnung wahrscheinlich längere Zeit verbringen. Aber immer der Reihe nach.

Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Tatjana Romanowa. Ich wohne mit meiner Freundin Katja zusammen, die – was für ein Zufall – meinen Familiennamen trägt. Wir sind nicht miteinander verwandt und haben auch nichts mit der letzten Zarendynastie zu tun. Wir sind einfach eng befreundet. Schwestern, die um die Gunst ihrer Eltern buhlen, verstehen sich oft nicht so gut wie wir. Solchen Streit haben wir nicht auszutragen.

Warum ich bei Katja eingezogen bin, obwohl ich eine Wohnung und sogar eine Datsche mein eigen nenne, ist eine andere Geschichte, die wir hier nicht erörtern wollen. Bevor ich Katja kennenlernte, war ich mit dem reichen Geschäftsmann Michail verheiratet, der mich immer bei meinem eigentlichen Vornamen Jefrossinja rief. Aber von einem Tag auf den anderen brach mein schönes Leben zusammen. Michail entpuppte sich als Krimineller. Er hat einen Menschen umgebracht und büßt dafür jetzt in einem Lager im Komi-Gebiet. Wir sind geschieden, und von Gefühlen für meinen Ex ist nichts geblieben. Kinder hatte ich nie, einen wirklichen Arbeitsplatz ebenfalls nicht. Meine liebenden Eltern hatten mich von klein auf für eine Künstlerlaufbahn bestimmt. Daher schickten sie mich zunächst in die Musikschule und dann aufs Konservatorium, wo ich Harfe studierte. In der heutigen Zeit ein äußerst passendes Instrument.

Stellen Sie sich einen Nachtclub vor: Auf der Bühne erscheint eine Harfenistin und zupft hingebungsvoll eine klagende Melodie. Die Gäste werfen bestimmt mit Besteckteilen und abgenagten Hühnerknochen nach ihr … Die Bunten Abende der Sowjetzeit, als Opern- und Schlagersänger, Tänzer und Rezitatoren einander abwechselten, gibt es heute nicht mehr. Die wenigen Stellen in Sinfonieorchestern sind besetzt. Nur als Solistin hätte ich noch auftreten können. Aber der Herr hat mir nicht genügend Talent geschenkt, dafür um so mehr Sitzfleisch und Gehorsam. Soll doch selbst der geniale Swjatoslaw Richter gesagt haben: »Talent ist wichtig, aber ein Musiker braucht einen eisernen Hintern.« Meiner muß aus Gußeisen sein. Mit sechs bis acht Stunden Üben am Tag meisterte ich die Technik, aber Inspiration kann man nicht erzwingen. Die Finger liefen flink über die Saiten, doch meine Seele war weit weg. Die Herzen des Publikums blieben kalt. Also ließ ich das Musizieren sein und suchte mir einen Mann.

Um die Vergangenheit endgültig loszuwerden, legte ich mir den Namen Tatjana zu. Vielleicht hätte ich doch etwas besser nachdenken und eine Larissa, Mascha oder Lena werden sollen. Aber nun ist es passiert, und alle rufen mich nur noch … Tanja.

Ich führe Katja die Wirtschaft – koche, putze, wasche und kümmere mich um ihren kleinen Sohn Kira. Regelmäßig habe ich den Streit zu schlichten, den der ältere Bruder Serjosha mit seiner Frau Julia vom Zaune bricht. Außerdem wimmelt es im Hause von Hunden, Katzen und Hamstern … Gäste und Verwandte geben sich die Klinke in die Hand.

Viele Frauen wären längst davongelaufen, müßten sie wie ich tagaus, tagein am Herd stehen und abends auch noch Berge von schmutzigem Geschirr bewältigen. Aber ich bin glücklich und liebe die Jungen wie meine eigenen Söhne. Ich bin immer für sie da, denn Katja hat einfach keine Zeit. Sie ist eine erstklassige Chirurgin, die mit Hingabe an der Schilddrüse operiert. Fachleute wie sie kann man in Rußland an einer Hand abzählen. Die Patienten stehen bei ihr Schlange. Sie kommen nicht nur aus den ehemaligen Unionsrepubliken, sondern auch aus Deutschland, Frankreich und Italien. Besonders die Ausländer sind gute Rechner. Sie wissen genau, Frau Romanowa macht ihnen eine hervorragende Operation, und wesentlich billiger als bei ihnen zu Hause.

Katja kann einem leidenden Menschen nichts abschlagen. An manchen Tagen übernimmt sie nach drei Operationen auch noch Dienst in der Klinik.

Als ich in diesen chaotischen Haushalt einzog, ernährte man sich dort von fertig gekauften Pelmeni, von Dosenwürstchen und Rührei. Als Höhepunkt der Kochkunst kam am Sonntag eine Tütensuppe von Knorr auf den Tisch. Und das nicht, weil Katja faul ist, sondern weil sie einfach keine Zeit hat … Seit ich ihr die Wirtschaft führe, kümmere ich mich um alles, in erster Linie um das Geld. Ich habe ein großes graues Heft, das mir bei der Haushaltsplanung helfen soll. Also: Einnahmen: 5000, Ausgaben: 6000. Wie sehr ich mich auch mühe, die Rechnung geht nie auf. Was habe ich nicht schon alles probiert – das Geld in Häufchen eingeteilt, jedes in ein Kuvert gesteckt und darauf geschrieben: »Essen vom 7.–14. Februar«, »Lebensmittel vom 15.–22. Februar« … Aber dann zerriß sich Kira die Hose, ging an Serjoshas Wagen die Zündung kaputt, brauchte Julia Strumpfhosen, mußte ich für die Hunde, die sich überfressen hatten, Abführmittel kaufen – drei Tabletten für 200 Rubel … Und schon war meine Hand im Kuvert für die nächste Woche …

Als mit den Kuverts nichts mehr ging, versuchte ich es mit anderen Behältnissen. Nun wanderten die Geldscheine in leere Kaffeedosen, die ich an verschiedenen Orten versteckte. In meiner Naivität nahm ich an, wenn ich länger nach dem Geld suchen müßte, werde es länger reichen. Nun lösten sich 2000 Rubel zusammen mit der Dose einfach in Luft auf. Ich wühlte alle Schränke, Kommoden und Matratzen durch, aber der so perfekt versteckte Schatz tauchte nicht wieder auf.

Mein Leben ist ein täglicher Kampf um die Steigerung der Einnahmen und die Senkung der Ausgaben. Aber am Ende bin ich damit kläglich gescheitert. Was habe ich nicht alles versucht: Ich habe meine Rubel in Dollar, Deutsche Mark und einmal sogar in japanische Yen getauscht.Trotzdem war ich bald wieder auf der Wechselstelle, diesmal nur, um die ganze Operation rückwärts zu vollziehen. Das Ganze erinnert sehr an den Witz von den hungrigen Tschuktschen, die abends Kartoffeln pflanzten und sie am nächsten Morgen wieder ausgruben, weil sie endlich etwas zu essen haben wollten.

Manchmal konnte ich ein wenig hinzuverdienen, aber von diesen seltenen Sümmchen wurde unser Budget nicht größer. Auch Katja, Serjosha und Julia gaben sich alle Mühe, mehr beizutragen, aber … Am Ende führte die Jagd nach dem großen Geld dazu, daß ich jetzt in diesem protzig eingerichteten Zimmer sitze und traurig um mich blicke. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß ich eine große Datsche und eine Sammlung von Bildern russischer Maler mein eigen nenne. Beides habe ich von meinen Eltern geerbt. Aber die Datsche werden wir um nichts in der Welt verkaufen. Im Sommer leben wir dort wie im Paradies. Und auch nur ein einziges Bild zur Versteigerung zu bringen läßt meine neue Familie nicht zu. Nicht wir haben sie gesammelt und nicht wir dürfen sie verkaufen, meinen sie. Sie soll für die Kinder und Enkel bleiben.

Gestern war Montag, und Katja ist nach Miami geflogen. Man hat sie in die USA eingeladen, wo sie ein Jahr lang in einer Spezialklinik Schilddrüsen operieren soll. Als sie das Fax mit dem Gehaltsangebot bekam, glaubte sie, jemand hätte aus Versehen ein paar Nullen zu viel geschrieben. Aber am Telefon wurden ihre Zweifel bald zerstreut.

Kira mußte seine Mutter natürlich begleiten. Katja, die sich auch von Serjosha und Julia nicht trennen wollte, stellte die Bedingung, daß der 25-jährige Sohn mit Frau ebenfalls nach Miami kommen könne. Der Chefarzt der Klinik, der Katja unbedingt haben wollte, stimmte sofort zu und fand für den jungen Mann Arbeit in einer Werbeagentur. Das war bestimmt nicht leicht, aber an solche Launen großer Chirurgen ist man dort offenbar gewöhnt. Als Katja dann erklärte, auch ihre Hunde, die Möpse Mulja und Ada, die Staffordshire-Terrierhündin Rachel sowie die Katzen Klaus und Semiramis reisten mit ihr, sagten die Amerikaner gar nichts mehr, sondern baten sie nur noch, an die Bescheinigungen vom Tierarzt zu denken.

Gestern habe ich mich, in Tränen aufgelöst, an der Zollkontrolle von ihnen verabschiedet.

»Eine Artistenfamilie?« fragte der Grenzbeamte freundlich, als er die Käfige mit den Tieren sah.

Bald standen diese auf einem Wagen, und Kira begleitete sie zur Paßkontrolle. Er schaute sich noch einmal um und rief: »Sei nicht traurig, Tanja, ein Jahr vergeht so schnell!«

Ich nickte ergeben: Natürlich. Kira tippte mit dem Finger auf seine Jacke und kicherte. Ich seufzte auf. In der Innentasche saß die Kröte Gertrud, die für die Einreise nach Amerika keine Genehmigung hatte …

Als alle fort waren, fuhr ich nach Hause und streifte noch einmal durch die leeren Zimmer. Niemand rief mehr: »Tanja, wann gibt’s Essen?« oder »Tanja, mein Hemd ist nicht gebügelt!« Keine Hunde tobten umher, keine Katzen miauten, kein Fernseher heulte, keine Julia keifte und kein Serjosha sang laut in der Badewanne. Wie sehr hatte ich mich manchmal nach ein wenig Stille gesehnt, aber jetzt konnte ich damit gar nichts anfangen. Außerdem mußte ich noch am selben Abend diesen Ort verlassen und mich an meine neue Arbeitsstelle begeben.

Dabei hatte Katja mir angeboten, das Jahr einfach auszusetzen. »Tanja«, meinte sie, »Geld ist doch nun kein Problem mehr. Wir schicken dir welches, wenn jemand nach Hause fährt.« Aber die Vorstellung machte mich krank. Was sollte ich allein in der leeren Wohnung anfangen? Außerdem hatte ich mein Leben lang jemandem am Rockzipfel gehangen. Erst waren das meine liebenden Eltern, dann, als Papa gestorben war, meine tatkräftige Mutter, danach mein Mann und schließlich Katja … Gut, daß die Amerikaner mir, einer unverheirateten Frau, das Einreisevisum verweigert haben. Ich bin schon bald vierzig, und es wird Zeit, daß ich selbständig werde.

Tagelang haben wir versucht, für mich eine richtige Arbeit zu finden. Musiklehrerin? Notenkopistin? Hundefriseuse? Immobilienmaklerin? Vertreterin? Was kann eine Frau heutzutage sonst noch tun, wenn sie nicht mehr ganz taufrisch ist und einen so ausgefallenen Beruf wie ich hat?

»Geh doch in meine Schule als Hortnerin«, riet mir Kira.

»Das nun gerade nicht!« antwortete ich ihm. »Woher nehme ich die Engelsgeduld?«

Schließlich hatte Katja den rettenden Einfall.

»Tanja«, sagte sie, »hast du schon mal was von Kondrat Rasumow gelesen?«

Dumme Frage! Ich bin wild auf Krimis und verschlinge alles, was herauskommt. Zwar gefallen mir die Frauen mehr – die Marinina, Daschkowa und Poljakowa, aber einige Männer habe ich ebenfalls schon mit Gewinn gelesen, zum Beispiel Leonow oder die Brüder Wainer. Auch von Kondrat Rasumow hatte ich das eine oder andere in der Hand. So richtig gefallen mir seine Romane allerdings nicht – sie enden immer schlecht, und seine Helden sind meist nicht sehr sympathische Leute.

»Ich habe seine Frau Lena behandelt«, fuhr Katja fort. »Sie hat mich gerade angerufen, verstehst du …«

Natürlich verstand ich. Fast alle Patienten Katjas enden als gute Bekannte, denen ihr Arzt aus jeder Lebenslage zu helfen hat. Ihr Telefonbuch platzt von solchen Nummern aus allen Nähten, und sie löst mit leichter Hand fremde Probleme.

»Hör doch mal zu, Tanja«, beharrte Katja.

»Ja, ja«, murmelte ich, ohne zu begreifen, was sie sagen wollte.

Die Gattin des beliebten und sehr erfolgreichen Autors hatte geklagt, in ihrem Hause sei die Hölle los. Die Zimmermädchen seien schnippisch und machten lange Finger, was die Köchin auf den Tisch bringe, könne niemand essen. Tausende Rubel Haushaltsgeld verschwänden wie in einem schwarzen Loch, die Kinder trieben, was sie wollten, die Gouvernanten kümmerten sich nicht um die Erziehung, sondern machten Kondrat schöne Augen und umschlichen ihn mit schwingenden Hüften. Mit einem Wort, sie brauche eine Haushälterin, am besten eine Dame um die Vierzig ohne sexuelle Ambitionen, ehrlich und tüchtig, die mit fester Hand Ordnung schaffen könne. Sie fragte, ob Katja nicht jemanden wüßte. Die Person müßte ständig bei der Familie wohnen, für ein entsprechendes Gehalt, versteht sich.

»Das ist dir doch wie auf den Leib geschrieben!« hatte Katja gemeint. »Ich will aber keine Haushaltshilfe sein!«

»Haushälterin«, verbesserte mich Katja. »Du wirst Köchin und Zimmermädchen, dazu noch die Hauslehrer der älteren Tochter unter deinem Kommando haben. Sie geht nicht zur Schule.«

»Warum?«

Katja zuckte die Schultern.

»Ich weiß nicht. Vielleicht ist sie nicht gesund. Also, wenn du keine Lust hast, mußt du nicht, aber wenn du mich fragst, die Stelle ist nicht übel.«

Nach einigem Zögern sagte ich zu, und Katja rief im Hause des Schriftstellers an.

»Liebste Lena«, säuselte sie in den Hörer, »ich glaube, ich habe die Richtige gefunden. Ihr Name ist Tatjana Romanowa. Nein, nein, sie ist kaum vierzig. Sie kann alles und ist eine ehrliche Haut. Sie hat ein Jahr bei mir gearbeitet, aber ich gehe jetzt für ein Jahr nach Miami … Für sie lege ich die Hand ins Feuer. Wo denkst du hin, von Kondrat will sie nichts. Wenn wir schon mal dabei sind – sie hat einen jüngeren Liebhaber, mit dem sie sich an ihrem freien Tag trifft.«

»Von wem redest du da?« fragte ich empört.

Katja kicherte.

»Lena ist Kondrats vierte Frau. Er soll ein großer Weiberheld sein, deshalb ist sie so mißtrauisch.«

»Dann soll sie doch eine Alte anheuern!«

»Na hör mal!« gab Katja zurück, »manche ältere Dame hat nichts gegen einen jüngeren Partner, aber was ist sie schon für eine Haushälterin? Nein, Kräfte, die man bezahlt, müssen jung sein. Aber da kann es unerwünschte Nebenwirkungen geben. Also, entscheiden mußt du!«

»Na gut«, murmelte ich ergeben, »dann soll es eben so sein.«

Ich drehte also das Gas ab, zog alle Stecker heraus, gab die Wohnung in die Obhut der Miliz und stellte mich noch an diesem Montagabend mit einer kleinen Reisetasche bei meiner neuen Herrschaft ein.

Das Haus, in dem Rasumow wohnt, machte schon auf den ersten Blick einen äußerst seriösen Eindruck. An der Tür – Wechselsprechanlage und Videokamera. Drinnen residierte ein Concierge. Nicht das übliche Mütterchen, das sich kaum auf den Beinen halten kann, sondern ein strammer Busche um die Dreißig in schwarzer Livree. Läufer auf den Treppen und ein riesiger Spiegel im Lift, wo es nach Kognak, französischem Parfüm und teuren Zigaretten duftet.

Die fünfte Etage hatte nur zwei Türen. Auf der einen prangte in goldenen Ziffern eine 110.

Ich läutete. Hinter der stählernen Tür, die mit teurem Leder, Farbe Milchkaffee, gepolstert war, ertönten sphärische Klänge. Ich mußte grinsen. Es war die »Kleine Nachtmusik«. Nicht einmal vor dem Meister aus Salzburg machen die Hersteller von Türgongs und Mobiltelefonen halt. Warum sind sie gerade auf ihn verfallen, um den Ohren ihrer Kundschaft zu schmeicheln? Viel besser paßt doch der »Säbeltanz« von Chatschaturjan, wenn man zur Tür laufen muß. Der bringt einen richtig in Schwung.

Aber hier eilte niemand herbei, um zu öffnen. Die Nachtmusik dudelte vor sich hin. Schließlich tönte es von irgendwoher: »Was gibt’s?«

Wie freundlich und gewählt man sich doch bei einem Schriftsteller ausdrückte!

»Guten Tag, ich bin Tatjana Romanowa.«

Die Tür wurde geöffnet, und vor mir baute sich eine Matrone von etwa fünfzig Jahren auf – riesig wie ein russischer Ofen. Ihr enormer Busen wogte frei unter einer weiten Strickjacke, und der lange Rock ließ nur ein paar riesige Hauspantoffeln mit giftgrünen Bommeln sehen. Das Haar hatte die Schöne straff zu einem Schwanz gebunden. Aus einem teigigen Gesicht blickten mir zwei unangenehm kleine, durchtriebene Augen entgegen.

»Sie sind Lena?« fragte ich verblüfft.

»Die Gnädige ist im Schlafzimmer«, knurrte die Person und entfernte sich mit schwerem Tritt. Die Pantoffeln klatschten gegen die nackten Fersen.

Ich stand allein und ziemlich verloren in der Diele. Da hörte ich von fern Absätze klappern, und vor meinen Augen erschien ein schlanker, bildhübscher Teenager von etwa fünfzehn Jahren. Die kastanienbraunen Locken glänzten seidig im Licht des Kronleuchters, die Wangen waren gerötet, die purpurnen Lippen lächelten. Ein Wesen, wie gemalt.

»Du bist sicher Kondrat Rasumows Tochter«, sagte ich freundlich und legte den Mantel ab. »Machen wir uns bekannt. Ich bin eure neue Haushälterin Tatjana Romanowa. Wir werden bestimmt gute Freundinnen. Du kannst Tanja zu mir sagen wie alle meine Bekannten. Und wo ist deine Mutter?«

»Sehr angenehm«. Das Mädchen lächelte und reichte mir ihre schmale blasse Hand, an der ein eleganter Brillantring blitzte. »Ich bin Lena, Kondrat Rasumows Gattin.«

2. Kapitel

Als ich an die Begegnung mit meiner Arbeitgeberin am Vortag dachte, entfuhr mir ein tiefer Seufzer. In eine so idiotische Lage war ich bisher nur einmal geraten. Im Sommer war mir auf dem Hof unser Nachbar Ustinow begegnet. Der schlohweiße, gepflegte alte Herr schob einen Kinderwagen mit einem Säugling vor sich her, der noch kein Jahr alt war. Er strahlte mir entgegen.

»Tanja, schauen Sie nur, wie süß unsere Anetschka ist!«

Da ich wußte, daß Ustinows Enkelin im vergangenen Jahr die Schule beendet hatte, entgegnete ich freundlich: »Herzlichen Glückwunsch zum Urgroßvater, Pjotr Michailowitsch.«

Der Alte lief puterrot an und stieß durch seine wunderschöne Zahnprothese: »Das ist meine Tochter!«

Seit einem Jahr hatte sich der ganze Hof das Maul darüber zerrissen, daß Ustinow den Verstand verloren haben mußte, nach dem Tode seiner Frau eine Klassenkameradin seiner Enkelin zu heiraten. Das fiel mir nun ein, viel zu spät natürlich.

Ein Sonnenfleck war vom Boden bis zur Decke gewandert, als ich ächzend aufstand. Zeit, mit der Arbeit zu beginnen und vor allem die Bewohner dieses Palastes kennenzulernen. Ich verharrte noch ein wenig unschlüssig neben dem gewaltigen Schrank, zog dann aber Hose und Pullover in Schwarz über, daß ich mir vorkam wie Jane Eyre, und machte mich auf die Suche nach der Herrin des Hauses.

Lena saß in einem riesigen Arbeitszimmer am Schreibtisch und blätterte in irgendwelchen Papieren. Als sie mich erblickte, lächelte sie und fragte: »Stehen Sie immer so früh auf?«

Mein Blick fiel auf die wunderschöne Wanduhr, die dreiviertel zehn anzeigte. Wenn das früh war, wann frühstückte man hier wohl?

»Unser Tag beginnt gegen zwölf«, erklärte mir die Frau des Hauses. »Da wird das Frühstück serviert, das Mittagessen gegen sechs und das Abendbrot gegen elf.«

In meinem Gesicht mußte etwas gezuckt haben, denn sie fügte rasch hinzu: »Kondrat leidet an Schlaflosigkeit und bleibt bis fünf oder sechs Uhr morgens wach. Deshalb ist unser Tagesablauf so verschoben. Ich muß nicht früh aufstehen. Als Künstlerin arbeite ich lieber abends. Wanja ist erst vier, und Lisas Lehrer kommen ins Haus.«

»Ist sie krank?« fragte ich mitfühlend.

Lena zuckte die zarten Schultern.

»Lisa ist dreizehn und Kondrats Tochter aus erster Ehe. Ihre Mutter, sozusagen unsere Exgattin, hat sie dem Vater zugeschoben. Ihre einzige Begründung war: ›Ich will sie nicht haben!‹ Lisa lebt also jetzt bei Kondrat. Aus Mitleid verwöhnt der Vater das Früchtchen ohne Ende. Aus fünf Schulen ist sie schon rausgeflogen … Na, Sie werden ja sehen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Wohnung.«

Die Zimmer nahmen kein Ende. Kondrats Schlafzimmer lag neben seinem Arbeitsraum.

»Rühren Sie auf seinem Schreibtisch um Gottes willen nichts an«, warnte Lena, »und nähern Sie sich auch nicht dem Computer – mein Mann bringt Sie um! Ihre Vorgängerin, die furchtbar gern ›Labyrinth‹ spielte, hat mit einer Diskette einen Virus eingeschleppt. Ein halbfertiger Roman war dahin. Können Sie sich das vorstellen?«

»Ich kenne mich nicht gut mit Computern aus und mag sie gar nicht«, erklärte ich. Wir gingen weiter.

Der Salon, das Eßzimmer, Lenas Schlafzimmer, Wanjas Kinderzimmer, Lisas Zimmer, die Küche, zwei Bäder und drei Toiletten, schließlich ganz am Ende des Korridors eine Kammer von etwa zehn Quadratmetern, die für mich vorgesehen war. Köchin, Zimmermädchen und Hauslehrer wohnten nicht im Haus, sondern erschienen jeden Tag zur Arbeit.

»Natascha«, erklärte Lena, als wir in die Küche kamen, »das ist Tatjana Romanowa. Sie ist jetzt hier für alles zuständig.«

Das Riesenweib nickte schweigend und fragte dann in aufsässigem Ton: »Und wer bringt das Frühstück raus? Ich hab’s nur vorzubereiten. Und dauernd zur Tür zu rennen, hab ich auch keine Zeit.«

»Heute um elf kommt das neue Zimmermädchen.« Lena seufzte.

»Bestimmt wieder so eine faule Schlampe wie Sweta«, fauchte die Köchin und fügte spitz hinzu: »Am besten, Sie sagen dem Mädchen gleich, daß Ihr Mann nur seine Scherze macht und sie nicht wirklich ins Bett holen will.«

Lena bekam rote Flecken im Gesicht, aber da erschien ein pummeliges Mädchen im Pyjama mit einer Mickymaus darauf in der Küche und beklagte sich vorwurfsvoll: »Ich habe meinen Kakao nicht ans Bett bekommen.«

Natascha wandte sich zum Herd um und rührte heftig mit dem Löffel in einem Topf mit undefinierbarem Gebräu. Lena warf ihrer Stieftochter einen strengen Blick zu.

»Das neue Zimmermädchen kommt erst um elf. Auf das Frühstück wirst du also noch etwas warten müssen. Außerdem kannst du dir den Kakao auch selber machen!«

Lisa nickte, ging zur Spülmaschine, nahm eine riesige blaue Tasse heraus, auf der Goofy prangte, und fragte: »Wo ist der Kakao?«

»Im Schrank!« knurrte Natascha.

Lisa holte eine gelbe Schachtel mit dem Häschen Quicky daraus hervor und fragte wieder: »Wieviel nimmt man davon?«

»Nach Geschmack!« brummte Natascha unwillig.

»Und wieviel ist das?« beharrte Lisa.

Lena lief erneut rot an, und ihr Kindergesicht wirkte plötzlich böse. Jetzt sah ich, daß Rasumows Gattin weit über zwanzig, eher schon an die Dreißig war. Sie wirkte nur wie ein halbes Kind, weil sie so zart war und mit dünnem Stimmchen sprach. Außerdem brachte die Morgensonne an den Tag, daß sie ein volles Make-up trug. Es war sehr sorgfältig aufgetragen, aber mich erstaunte, daß sie sich schon so früh am Tag zurechtmachte. Auch ihr Haar glänzte verdächtig; wahrscheinlich hatte sie mit Gel nachgeholfen.

»Und wie ist mein Geschmack?« kam es erneut von Lisa.

»Drei Teelöffel!« raunzte Natascha.

Das Mädchen tat, wie ihm geheißen, und fragte dann: »Was jetzt?«

»Wasser drauf!« befahl die Köchin, die langsam die Geduld verlor.

»Und guten Appetit.«

Lisa drehte den Wasserhahn auf und wollte die Tasse darunterhalten.

»Herr im Himmel!« stöhnte Lena, nahm ihr die Tasse aus der Hand, goß heißes Wasser in den Goofy und befahl: »Ab in dein Zimmer!«

»Danke«, sagte Lisa und ging mit kleinen vorsichtigen Schritten, die Tasse vor sich her tragend, aus der Küche.

Als wir wieder an Lenas Schreibtisch standen, erklärte meine neue Arbeitgeberin: »Das war’s. Machen Sie sich um Himmels willen an die Arbeit. Dieser Haushalt übersteigt meine Kräfte!«

Sie schwieg einen Augenblick. Dann aber brach es aus ihr hervor: »Haben Sie gesehen, was für eine Szene Lisa aufgeführt hat? Das reine Schmierentheater! Sie hat ihren Kakao nicht ans Bett bekommen! Das verwöhnte Gör! Ich habe versucht, ihr Benehmen beizubringen, aber Kondrat vergöttert seine Tochter. Er begreift nicht, daß es immer schlimmer wird, wenn er ihr in allem nachgibt.«

Ich sagte dazu nichts. Ich denke, Hausangestellte sollten nicht über Familienmitglieder reden, nicht einmal mit der Hausfrau. Außerdem hatte ich den Eindruck, daß Lisa wirklich nicht wußte, wie man Kakao macht. Woher auch, wenn man sie von vorn und hinten bediente?

Eine Woche später hatte ich die Lage im Griff. In diesem Haus herrschte tatsächlich ein unvorstellbares Durcheinander. Natascha kochte schlecht. Wenn sie das Essen nicht anbrennen ließ, dann war es aus einem anderen Grunde ungenießbar. Außerdem behauptete sie, die Familie verbrauche am Tag zwei Stück Butter, eine Flasche Öl und drei Kilo Fleisch, von teureren Dingen wie Lachs, Pralinen oder Kaffee gar nicht zu reden. Abends ging sie stets mit einer vollen Tasche nach Hause.

Ich sah mir die Sache bis zum Donnerstag an. Dann mußte ich sie fragen: »Natascha, was haben Sie da in Ihrer Tasche?«

»Was geht Sie das an?« gab die Köchin zurück.

Aber da hatte ich schon ein ansehnliches Schweinefilet und eine Dose Kaviar in der Hand.

»Geht’s dir nicht gut?« empörte sich Natascha und stemmte die Arme in die Seiten. »Ich nehm’s doch nicht von deinem!«

Ich maß die ungepflegte Gestalt mit strengem Blick und erklärte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Sie sind entlassen.«

Ein schöner Satz aus einem Groschenroman fiel mir ein, und ich legte nach: »Ohne Zeugnis und Abfindung! Und seien Sie froh, daß ich Sie nicht wegen Diebstahl anzeige!«

»Geh doch zum Teufel!« blaffte die Köchin und verschwand.

Nun mußte ich mich selber an den Herd stellen. In aller Bescheidenheit kann ich sagen, daß mein Essen den Rasumows schmeckte. Selbst der schweigsame Kondrat bat um Nachschlag von der Fleischsoljanka und meinte dabei: »Lena, endlich hast du eine gefunden, die kocht wie meine Mutter.«

Das neue Zimmermädchen Marina gefiel mir noch weniger als die Köchin. Sie rauchte ständig in der Küche, und man mußte ihr alles mehrmals sagen. Sie putzte schlecht und übersah geflissentlich alle Zimmerecken. Aber das war nicht die Hauptsache. Vor allem empörte mich ihr unverschämtes Auftreten. Zwei Tage lang bediente Marina bei Tisch in Hosen. Am Mittwoch erschien sie in Minirock und knallengem Pulli. Als sie aber am Donnerstag die Suppe hereintrug, fiel mir glatt die Kinnlade herunter. Das kleine Biest hatte sich in Ledershorts gezwängt! Ach, was sage ich, das waren echte Hot Pants – zwei winzige Stückchen schwarzen Leders, aus denen ein appetitlicher Popo quoll. Strumpfhosen trug sie nicht. Oben herum hatte sie eine knallrote Weste an, die nur mit zwei Knöpfen geschlossen war. Der Ausschnitt enthüllte einen üppigen Busen, der bei den schmalen Hüften und der Wespentaille besonders herausfordernd wirkte. Als das »Rocker-Girl« so im Speisezimmer auftauchte, blieb allen Familienmitgliedern der Mund offenstehen. Nur der vierjährige Wanja fuhr weiter in aller Ruhe mit seinem Löffel über die Tischdecke. Lena lief zornrot an, aber Kondrat brummte genüßlich. Er bekam feuchte Augen und säuselte: »Was haben wir denn da für eine Suppe, Kindchen?«

»Hühnerbrühe«, zwitscherte Marina, beugte sich über ihn und berührte ihn sanft mit der Hüfte. »Mit Nudeln …«

»Gib mir davon«, bat Kondrat und sah sie durchdringend an.

Marina lächelte ihm zu.

Lena, immer noch puterrot, hüllte sich in Schweigen. Als das Mahl beendet war, ging ich energischen Schrittes in die Küche und erklärte: »Das war’s, Marina, wir benötigen Ihre Dienste nicht länger.«

Das freche Ding wollte widersprechen, aber ich ließ nicht mit mir spaßen. Ich drückte ihr einen Umschlag mit vollem Monatsgehalt in die Hand und setzte sie vor die Tür.

Da ich nun alle Angestellten vertrieben hatte, stand ich am Donnerstagabend allein da.

Ganz ohne Hilfe konnte ich aber nicht zurechtkommen. Das Haus war ständig voller Gäste – Lenas Freundinnen, Kondrats Bekannte oder Partner … Gegen zehn Uhr abends setzte man sich zu Tisch. Vor ein Uhr nachts zog keine Ruhe ein. Selbst Wanja war erst gegen Mitternacht ins Bett zu kriegen. Seine Kinderfrau Anna, eine nette Fünfzigjährige, klagte seufzend: »Wie soll denn hier Ordnung reinkommen, wenn der Vater ihn selber aus dem Bett holt und den Gästen vorführt!«

Anna gefiel mir. In die Hauswirtschaft mischte sie sich nicht ein und ließ sich nur selten in der Küche blicken. Auch Wanja bekam ich kaum zu Gesicht.

Kondrat liebte seine Kinder abgöttisch. Bei Lisa regnete es ständig Geschenke – Schokolade, Plüschtiere, Bücher, Comics, Chips … Aber auch Wanja bekam sein Teil ab. Jeden Abend Punkt sieben Uhr spielten Kondrat und er Krieg. Mit Spielzeugpistolen und -gewehren tobten sie durch Zimmer und Flure. Als ich das zum ersten Mal erlebte, schrak ich zusammen. Die Waffen sahen täuschend echt aus und hörten sich auch so an. Nach vierzig Minuten war der Spuk vorüber. Wanja hatte gesiegt, und Kondrat zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Ans Schreiben ging der Autor täglich von eins bis sechs. Und ich muß sagen, da war er konsequent. Bevor er nicht zehn Seiten in den Computer gehämmert hatte, war an Freizeit nicht zu denken.

Lena verbrachte ihre Tage irgendwo. Zu Hause erschien sie in der Regel gegen zehn, elf Uhr abends. Sie war Malerin, was bedeutete, daß sie tagelang Ausstellungen, Vernissagen und Präsentationen besuchte. Neben ihrem Schlafzimmer hatte sie sich ein kleines Atelier eingerichtet. Als ich dort Staub zu wischen begann, wurde mir bald klar, daß Lena die Arbeit nicht erfunden hatte. Die angefangene Landschaft auf der Staffelei blieb die ganze Woche über unberührt. Kein Strichlein kam hinzu. Lena war nicht unangenehm oder gar vulgär. Sie brauchte Komfort und Zerstreuung, alles andere war ihr gleichgültig. Hätte sie einen einfachen Ingenieur geheiratet, dann säße sie heute wohl in Staub und Dreck zwischen Bergen schmutziger Wäsche. Aber das Schicksal hatte ihr den reichen Kondrat beschert, in dessen Haus gut bezahlte Geister aufräumten, kochten und das Essen servierten. Ja, sie war faul, liederlich und nicht sehr klug, aber nicht bösartig. Geld spielte für sie keine Rolle. Als ich sie fragte: »Wieviel wird hier in der Woche für Essen ausgegeben?« bekam sie vor Staunen runde Augen.

»Wieviel wird denn gebraucht?«

»Na, sicher nicht das ganze Einkommen«, meinte ich vorsichtig.

Lena zuckte die Achseln.

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«

»Und was machen Sie, wenn kein Geld mehr da ist?« fragte ich spitz.

»Dann laß ich mir von Kondrat welches geben«, entgegnete Lena ungerührt.

Ich ließ es sein, notierte aber von nun an in einem Heft alle Ausgaben. Am Ende der ersten Woche wollte ich es Lena vorlegen, aber die winkte nur ab.

»Das interessiert mich nicht. Sagen Sie mir Bescheid, wenn das Wirtschaftsgeld ausgeht.«

Ich seufzte auf. Kein Wunder, daß hier so viel Geld verschwand. Gigantische Summen gab diese Familie nicht nur fürs Essen aus. Lisas Lehrer nahmen durchweg zehn Dollar für die Unterrichtsstunde. Es waren fünf – für Mathematik, Russisch, Deutsch, Geographie und Geschichte. Warum Lisa nicht zur Schule ging, bekam ich nicht heraus. Äußerlich wirkte sie gesund, zumindest ihr Appetit war enorm. Nur etwas kam mir merkwürdig vor: Die große Dreizehnjährige war offenbar noch sehr infantil. Sie las nur Comics, konnte selbstvergessen mit ihrer Barbiepuppe spielen und schwärmte für Trickfilme. Noch etwas fand ich bedenklich: Lisa wußte und konnte so gut wie gar nichts. Von Kindern verstand ich nicht allzu viel, denn ich hatte bisher nur mit Kira zu tun gehabt. Aber der war den ganzen Tag beschäftigt gewesen – mit der Schule, den Hausaufgaben und seinem Bodybuilding. Er konnte Pelmeni kochen, räumte sein Zimmer auf, wenn auch sehr ungern, führte die Hunde aus und kam, wenn nötig, ohne die Erwachsenen zurecht. Ihm wäre im Traum nicht eingefallen, andere zu bitten, ihm Tee zu bringen oder ein Brot zu schmieren. Dafür hätte es wohl eine Kopfnuß vom großen Bruder oder die empörte Antwort von Julia gesetzt. »Bist du krank? Mach’s doch selber!«

Lisa konnte rein gar nichts, nicht einmal einen Tee aufgießen. Die Hauslehrer gaben ihr keine Aufgaben, sie trieb keinen Sport und hatte keine Freundinnen. Entweder malte sie Bildchen aus, oder sie saß vor Computerspielen für Sechsjährige. Ihr Zimmer quoll über von allem möglichen Klimbim – allein Plüschhäschen zählte ich über zwanzig. Ich bin es gewohnt, mit Haustieren zu leben. Mir kam es seltsam vor, daß es in diesem riesigen Palast keinen einzigen vierbeinigen Mitbewohner gab – keine Katze, keinen Hund, keinen Hamster, ja nicht einmal Fische.

Am Freitagabend standen für mich zwei Dinge fest: Diese Familie brauchte eine Haushaltshilfe. Und die wollte ich nicht bei den Agenturen, sondern in meiner Bekanntschaft finden. Ohne besondere Zeugnisse, medizinische Bildung und Fremdsprachenkenntnisse. Vielleicht eine Frau, die ihre Arbeit verloren hatte und dringend nach einer neuen Beschäftigung suchte. Gleich am Sonnabend wollte ich in Katjas Wohnung gehen und in ihrem Telefonbuch blättern. Da aber trat ein Ereignis ein, das die ganze Lage schlagartig veränderte.

Pünktlich um sieben Uhr abends sprang Wanja, mit Helm und Säbel angetan, in den Korridor und brüllte: »Papa, geh in Deckung!«

Für Anna war das Kriegsspiel eine willkommene Gelegenheit, sich ein wenig auszuruhen. Sie kam in die Küche, um sich einen süßen Kaffee zu gönnen.

»Zeig dich, Terminator«, rief Kondrat zurück.

»Heute bin ich nicht der Terminator, sondern eine riesige grüne Maus«, entgegnete Wanja.

»Sehr gut!« rief sein Papa und forderte: »Hau ab, Maus, sonst frißt dich der böse Kater!«

»Versuch’s doch«, quietschte der Junge begeistert.

Und sie tobten unter ohrenbetäubender Knallerei durch Zimmer und Korridore.

»Ein furchtbares Spiel«, murmelte Anna über ihrer Kaffeetasse, »und dieser Lärm!«

Ich nickte mitfühlend.

»Andererseits brauchen Jungen so was«, fuhr die Kinderfrau fort. »Es ist gut, daß der Vater sich Zeit für ihn nimmt.«

Auch hier konnte ich ihr nicht widersprechen.

Im Korridor ging es indessen immer wilder zu.

»Los«, schrie Wanja, »ergib dich!«

»Das hättest du wohl gern?« kam es von Kondrat. »Kater ergeben sich nie!«

»Ich habe eine neue Anti-Kater-Pistole!« kreischte Wanja. »Da hast du!«

Es knallte, ein kleines bißchen anders als sonst, ein-, zwei-, dreimal … Dann ein schweres Poltern. Offenbar spielte Kondrat jetzt den tödlich Getroffenen und brach zusammen.

»Hurra!« rief Wanja. »Der Kater ist tot! Ich habe gewonnen!«

Wir tranken weiter unseren Kaffee und hörten, wie Wanja triumphierend befahl: »Aufstehen, Papa, bring mir meinen Preis! Papa, steh auf!«

Mir wurde plötzlich kalt. Wanjas Stimme schraubte sich immer höher.

»Papa, steh auf! Papaaaaa …«

Der Schrei ging in entsetztes Heulen über. Anna und ich stürzten auf den Korridor hinaus und blieben wie angewurzelt stehen.

3. Kapitel

Kondrat lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet. Sein Körper nahm fast die ganze Breite des Korridors von Lenas Schlafzimmer bis zum Arbeitszimmer ein. Ein Hosenbein war hochgeschoben und ließ ein nacktes Bein mit starker schwarzer Behaarung sehen. Vom Anblick dieses schutzlos ausgestellten Schenkels wurde mir fast schlecht. Ein paar Schritte weiter neben der Wohnzimmertür schrie immer noch Wanja.

»Anna!« kommandierte ich mit stählerner Stimme.

Die Kinderfrau erwachte aus ihrer Erstarrung, stürzte zu ihrem Schützling, zog ihn an sich und redete beruhigend auf ihn ein:

»Komm, Wanja, wir gehen ins Kinderzimmer.«

»Nein!« brüllte der Kleine. »Papa, Papa …!«

»Dein Papa ist müde«, fiel Anna ein. »Wenn er ausgeschlafen hat, steht er wieder auf.«

Wanja schluchzte auf und sagte: »So was hat Papa noch nie gemacht.«

»Das hat er sich heute ausgedacht, um dich ein bißchen zu erschrecken«, flüsterte die Kinderfrau beruhigend und zog den Jungen weg. »Du bekommst jetzt den Siegerpreis.«

Als sie fort waren, trat ich einen Schritt an den Schriftsteller heran und fragte: »Kondrat Fjodorowitsch, ist Ihnen nicht gut?«

Keine Antwort, nicht einmal ein Stöhnen oder die Bitte um Hilfe. Ich nahm all meinen Mut zusammen, hockte mich neben meinen Hausherrn und blickte ihm ins Gesicht. Seine Augen waren weit geöffnet, das rechte mehr als das linke, der Mund etwas zur Seite verschoben, und die Kinnlade hing hilflos herab. Aber das war nicht das Schlimmste. Auf der Stirn, mitten zwischen den Augenbrauen, wo die Inderinnen einen Fleck tragen, klaffte ein kleines, kreisrundes Loch mit leicht gezackten Rändern.

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, daß es von einer Kugel war. Wie merkwürdig – es war fast kein Blut zu sehen.

»Kondrat Fjodorowitsch«, sprach ich ihn noch einmal an, diesmal beinahe im Flüsterton, »geben Sie mir ein Zeichen, wenn Sie mich hören, bewegen Sie die Hand oder die Augenlider!«

Aber der Schriftsteller lag reglos da. Etwas Schreckliches war passiert. Beim Kriegsspiel hatte Wanja seinen Vater erschossen. Ganz in der Nähe lag eine kleine schwarze Pistole. Ich schaute ängstlich zu ihr hin. Aus den unzähligen Kriminalromanen, die ich gelesen hatte, war eines fest in meinem Kopf hängengeblieben: Am Tatort nichts berühren!

Mehrere Minuten lang stand ich wie betäubt im Korridor. Als ich begriffen hatte, daß Kondrat nicht mehr atmet, griff ich nach dem Telefon, hielt aber noch einmal inne. Ich mußte die Miliz anrufen, das war klar. Aber auf welcher Nummer? Auf der amtlichen 02 um keinen Preis. Kondrat war ein bekannter Mann, der viel über die Kriminalpolizei geschrieben hatte. Kommissare waren bei ihm in der Regel korrupte Typen, die für fette Bestechungsgelder Verbrechen vertuschten. Deshalb gefielen mir auch seine Romane nicht. Katja und ich haben nämlich einen Bekannten, Major Wolodja Kostin. Wir sind gute Freunde und haben sogar unsere Nachbarin Nina überredet, mit ihm die Wohnung zu tauschen, so daß wir jetzt direkt nebeneinander wohnen.

Dieser Major, das kann ich mit absoluter Sicherheit sagen, nimmt kein Schmiergeld an. Wer es nicht glaubt, braucht sich nur einmal seine abgeschabten Anzüge und die ausgetretenen Schuhe anzusehen … Auch unter seinen Kollegen habe ich noch keine geldgierigen Typen getroffen. Sie tun gewissenhaft ihre Arbeit und können sich furchtbar aufregen, wenn ihnen ein Krimi in die Hände fällt, wie sie Rasumow schreibt.

»Wenn ich den mal in die Finger kriege«, hörte ich Wolodja seufzen, als er in einem solchen Bändchen herumblätterte. »Für den sind wir alle Schweinehunde. Wer fürs Innenministerium arbeitet, ist der letzte Dreck.«

»Ich will es gar nicht abstreiten«, mischte sich Slawa Samonenko, ein anderer Major, in das Gespräch ein. »Solche gibt’s auch, aber die Mehrheit arbeitet auf Ehre und Gewissen. Kannst du dir vorstellen, wie sauer wir sind?«

Ich biß mir auf die Zunge. Bevor ich sie kennengelernt hatte, stammten meine Kenntnisse über unsere heldenhafte Miliz auch nur aus Kriminalromanen. Die Jungs in der blauen Uniform flößten mir keinen Respekt ein. Erst durch die Bekanntschaft mit Kostin und Samonenko bekam ich mit, wie sie wirklich waren.

Eigentlich konnte ich jetzt nur Wolodja anrufen. Da fiel mir ein, daß er am nächsten Tag seinen 40. Geburtstag feierte. Wir hatten ihm zu diesem wichtigen Anlaß eine Reise in die Vereinigten Arabischen Emirate geschenkt, noch dazu für ganze drei Wochen. Im März ist keine Urlaubszeit, daher ließ ihn sein Vorgesetzter leichten Herzens ziehen. Er mußte gerade in Dubai eingetroffen sein. Sicher lag er schon am Strand und schaute hübschen Badenixen nach. Ich aber stand hier in einer fremden Wohnung neben der Leiche eines berühmten Schriftstellers und verfluchte den Tag, an dem Katja die Idee hatte, mich bei diesen Leuten unterzubringen.

Dann fiel mir Slawa Samonenko ein, der im Dienst sein mußte. Mit zitternder Hand drückte ich die Knöpfe des Telefons.

»Lieber Gott, mach, daß Slawa in seinem Büro sitzt …« Entweder war mein Stoßgebet erhört worden, oder in dieser Stadt passierten zu wenig Verbrechen, jedenfalls erklang es aus dem Hörer frisch und munter: »Hier Samonenko.«

»Slawa«, hauchte ich und spürte, wie es mir den Hals zuschnürte, »hier ist was Schreckliches passiert!«

Eine Stunde später drängten sich in Rasumows Wohnung die Leute. Außer der Ermittlergruppe erschienen sogleich auch noch Kamerateams der Sendungen »Straßenpatrouille« und »Die Kriminalpolizei berichtet« sowie ein paar junge Männer mit Diktiergeräten. Wie hatten die nur von der Sache Wind bekommen? Aber Kondrats Tod war natürlich ein gefundenes Fressen für Schreiberlinge jedweder Sorte.

Slawa kam in die Küche, überflog mit entgeistertem Blick die endlose Reihe der Elektrogeräte und seufzte auf. »Tanja, kannst du uns einen Tee machen, oder erlaubt deine Herrschaft das nicht?«

»Die Herrschaft über die Küche steht vor dir«, brummte ich und schaltete den Wasserkocher ein. »Lena, Verzeihung, Frau Rasumowa, ist das alles ziemlich schnuppe.«

»Wo ist sie überhaupt?« wollte Slawa wissen.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Sie hat gesagt, sie geht ins Fitneßstudio. Aber auf ihrem Handy heißt es immer nur: ›Der Teilnehmer ist zeitweilig nicht erreichbar‹.«

»In welches Studio geht sie denn?«

Wieder war ich nur sehr unvollständig informiert.

»Ich glaube, in den Zentralen Armeeklub. Zumindest sind die Quittungen von dort.«

Da kam ein rundlicher Typ, den ich nicht kannte, in die Küche und rief nach Slawa.

Lena tauchte wie immer erst gegen zehn Uhr abends auf. Der Leichnam war bereits abtransportiert, der Korridor gewischt. Wanja hatte ein Beruhigungsmittel bekommen und schlief fest. Auch Lisa lag mit einer Dosis Valokordin in ihrem Bett. Für diese Zeit herrschte in der Wohnung ungewöhnliche Stille.

Lena, mehrere Pakete im Arm, rauschte fröhlich trällernd in die Diele. Ich ging zur Tür und wußte nicht, wie ich anfangen sollte.

Die junge Frau hängte ihre Jacke auf und fragte munter: »Hier ist es ja still wie im Grab! Wo sind sie denn alle?«

Sie hatte mir selbst das Stichwort gegeben, und so stammelte ich nur: »Kondrat ist ermordet worden!«

Lena blieb der Mund offenstehen. Dann faßte sie sich und lächelte schief.

»Bis zum 1. April haben wir noch einen ganzen Monat! Du machst vielleicht Witze, Tanja!«

»Du irrst dich …«, begann ich und stockte wieder.

Merkwürdig, plötzlich waren wir per du. Bisher hatte sie mich stets sehr korrekt mit Vor- und Vatersnamen angesprochen.

Eine Stunde lang saßen wir miteinander in der Küche. Lena rauchte ununterbrochen. Wenn ich in ihr blasses, aber ruhiges Gesicht schaute, konnte ich mich nur wundern. Ich hatte erwartet, sie würde in Tränen ausbrechen, einen hysterischen Anfall bekommen oder in Ohnmacht fallen … Für alle Fälle hatte ich ein Beruhigungsmittel und Salmiak bereitgestellt. Und die Telefonnummer des Hausarztes herausgesucht. Aber Lena zündete sich nur eine Zigarette an der anderen an und starrte stumm auf das nachtdunkle Fenster. Endlich hatte sie offenbar einen Entschluß gefaßt, schob die Zigarettenpackung beiseite und sagte: »Hier ist also ein schrecklicher, unbegreiflicher Unfall passiert. Hauptsache ist jetzt, daß die Wahrheit nicht in die Zeitungen kommt. Wanja begreift im Moment noch nicht, was er da getan hat. Aber was soll später werden? Kannst du dir vorstellen, was es bedeutet, den eigenen Vater getötet zu haben? Ich habe dieses blöde Kriegsspiel nie gemocht, dieses Ballern und Hauen … Ich habe immer das Gefühl gehabt, daß es gefährlich ist … Kannst du mit diesem Slawa sprechen, Tanja? Soll er den Reportern sagen, Kondrat hätte Selbstmord begangen. Es wird sein Nachteil nicht sein.«

Ich starrte sie verblüfft an.

»Aber Kondrat …«

»Kondrat …!« fiel mir Lena zornig ins Wort und goß sich reichlich Kognak in ein Wasserglas. »Kondrat hat immer gesagt, ein Schriftsteller lebt vom Skandal. Je lauter die Medien schreien, desto höher steigt die Auflage. Da hat er nun seinen letzten Skandal!«

Und sie leerte das Glas in einem Zug.

»Aber für einen Selbstmord braucht es Gründe«, versuchte ich einzuwenden.

»Daß ich nicht lache!« gab Lena schon etwas lallend zurück. »Jetzt geht es um Wanja. Kondrat können wir sowieso nicht mehr helfen. Was meinst du, ob Anna bereit wäre, sofort mit dem Jungen nach Zypern zu fliegen? Ich habe dort eine Schulfreundin. Die ist mit einem Zyprioten verheiratet und hat eine kleine Tochter.«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Wenn du gut zahlst? Aber das Geld könnte ja jetzt auch zum Problem werden.«

»Unsinn!« Lena winkte ab. »Wanja muß sofort von der Bildfläche verschwinden. Für Zypern braucht man kein Visum. Wenn die Kinderfrau einverstanden ist, setze ich die beiden morgen früh ins Flugzeug … Lisa kommt in ein Internat. Von der habe ich schon lange die Nase voll. Wenn du wüßtest, was ich hier gelitten habe! Kondrat hatte ich auch satt, diesen egoistischen, in sich selbst verliebten, launischen Kerl! Manchmal war er einfach unerträglich. Lisa, dieses verwöhnte Ding, hat mich immer an seine erste Frau erinnert! Die blöden Gäste und die ewigen Gelage! Dabei gehe ich am liebsten mit den Hühnern ins Bett! Ich bin eine Frühaufsteherin, Kondrat dagegen ein ausgesprochener Langschläfer! Und dann seine blöde Art, in der Wohnung in Unterhosen herumzulaufen! Und die stinkenden Zigarren! Oder die Angewohnheit, morgens um fünf aus der Badewanne zu rufen: ›Lena, wasch mir den Rücken!‹ Soll das jetzt wirklich ein Ende haben? Diesen Palast verkaufe ich und erstehe dafür eine kleine Dreizimmerwohnung. Für mich und Wanja reicht das allemal. Mir wird es so gut gehen wie nie zuvor!«

»Du wirst arbeiten müssen«, wagte ich einzuwerfen.

»Weshalb?« fragte Lena erstaunt.

»Wovon willst du denn leben?«

Die junge Witwe lachte laut auf und griff wieder nach der Kognakflasche.

»Ich hab so viel Geld, daß es für drei Leben reicht. Und im Computer liegen zwölf neue Romane. Die verkaufe ich nach und nach.«

»An wen?«

Wieder mußte sie lachen.

»Was bist du doch naiv, Tanja. Kondrat ist berühmt! Mit seinen Büchern verdienen die Verlage Unmengen von Geld. Wenn ich verlauten lasse, daß ich neue Krimis von ihm habe, stehen sie Schlange! Sie werden sich gegenseitig überbieten. Und ich werde den Preis hochtreiben. Nein, Geld ist kein Problem für mich. Außerdem bringen die Wohnung, sein idiotischer Jeep, groß wie ein Autobus, auch noch einiges ein. Mir genügt der Volkswagen.«

»Du hast ihn also gar nicht geliebt«, stellte ich verwirrt fest.

Lena, nun völlig betrunken, sprang auf und erklärte mit gellender Stimme: »Ich habe ihn gehaßt und immer befürchtet, daß das noch jahrelang so weitergeht.«

»Aber du warst doch eifersüchtig auf ihn!«

»Kein Stück! Ich wollte einfach nicht, daß ihn mir irgendeine Hergelaufene wegschnappt. So einen reichen Schriftsteller hätte doch jede gern. Mir ging es nur ums Geld.«

»Kondrats Tochter hat aber Anspruch auf einen Teil des Erbes.«

»Nichts dagegen«, meinte sie grinsend. »Aber was ich in bar habe, davon weiß keiner was. Und die Romane laß ich auf Disketten verschwinden. Was bleibt dann noch? Die Wohnung und das Auto. Davon gehört die Hälfte mir, und die andere Hälfte wird zwischen Wanja und Lisa aufgeteilt. Das freche Ding kommt in ein Internat, und das wird von ihrem Erbe bezahlt!«

Darauf konnte ich nichts mehr sagen.

Am nächsten Morgen, schon bei Sonnenaufgang trat Lena mit festem Schritt in mein Zimmer.

»Entschuldigen Sie, Tatjana«, sagte sie in offiziellem Ton. »Ich weiß, daß ich Sie aus dem Schlaf reiße, aber ich muß Klarheit haben. Werden Sie weiter für mich arbeiten?«

Ich blinzelte verschlafen und begriff nicht recht, was sie von mir wollte. Lena deutete mein Schweigen auf ihre Weise und fügte hinzu: »Wir hatten 1000 Dollar im Monat vereinbart. Ich lege noch 500 drauf, wenn Sie bleiben und mir die Sorge um Lisa, die Wohnung und das Essen vom Halse halten. Sie können sicher sein, Gäste wird es keine mehr geben.«

»Aber Sie wollten die Wohnung doch verkaufen«, wandte ich schüchtern ein und war auch wieder beim »Sie«.

Lena biß sich auf die Lippen.

»Das kann ich erst in einem halben Jahr, wenn ich das Erbe antrete.«

»Und Lisa wollten Sie ins Internat geben!«

»Das Mädchen bleibt erst einmal hier!« warf Lena hin und rauschte aus dem Zimmer. Mir war ein Rätsel, was während der Nacht wohl geschehen sein konnte. Ich kroch aus dem Bett und schlurfte in die Küche. Neben dem Tisch lag einsam einer von Wanjas Hausschuhen. Ich hob ihn auf und ging ins Kinderzimmer. Hier erwartete mich eine Überraschung. Das Bettchen war gemacht und alles Spielzeug sorgfältig aufgeräumt.

Ich suchte nach Lena und fand sie am Computer in Kondrats Arbeitszimmer.

»Verzeihen Sie«, begann ich vorsichtig.

Als sie meine Stimme vernahm, schloß sie sofort eine Datei. Die Worte »Bis zum Hals im Unglück« hatte ich aber noch lesen können. Das war wohl einer von Rasumows neuen Romanen.

»Was gibt’s?« fragte Lena. »Brauchen Sie Wirtschaftsgeld? Das Geld liegt im Safe hinter dem Bild mit der Winterlandschaft. Den Code finden Sie hier im Schreibtisch.«

»Nein, nein, wo ist Wanja?«

»Mit Anna nach Zypern unterwegs«, antwortete Lena ruhig, schaute auf die Uhr und fügte hinzu: »Es ist neun. Jetzt starten sie gerade.«

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Soviel Entschlossenheit hatte ich ihr gar nicht zugetraut. Im Handumdrehen hatte sie Tickets besorgt und die beiden zum Flugplatz gebracht …

Lena klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch und ließ hören: »War’s das?«

Ich zog mich in die Küche zurück und bereitete das Frühstück zu.

Die nächsten beiden Tage gingen vorüber, als sei nichts geschehen. Lena verschwand morgens und kam erst spätabends zurück. Lisa erhielt weiter zu Hause Unterricht und spielte danach am Computer. Gäste ließen sich in der Tat nicht sehen. Im Zentralen Haus der Schriftsteller gab es eine große Trauerfeier, die für meinen Geschmack zu pompös geriet. Eine Unmenge von Menschen kamen zusammen und ließen sich allesamt vollaufen, selbst die Frauen. Am Ende waren nur noch drei Personen im ganzen Saal nüchtern – Lisa, Lena und ich. Die Witwe, ganz in Schwarz, saß am Kopfende der Tafel und rührte keinen Bissen an.

Beim Hauptgang wurden die Gespräche ringsum immer lauter.

»Es heißt«, mümmelte eine stark geschminkte Dame mit vollem Mund, »er hat sich umgebracht.«

»Direkt in die Stirn hat er sich geschossen«, bestätigte ein Mann in zerknautschtem Jackett. »Die halbe Schädeldecke ist ihm weggeflogen, deswegen hat man auch den Sarg geschlossen gehalten.«

»Was war denn sein Problem?« seufzte die Dame. »Geld hatte er wie Heu, bekam märchenhafte Honorare, nicht so wie wir armen Poeten.«

»Jetzt ist die Zeit der Idioten«, fiel ein anderer Mann im Kordsakko ein, »der Groschenromane. Da gilt die hohe Literatur nichts mehr.«

Ich hörte aufmerksam zu, was die Leute miteinander schwatzten. Irgendwer hatte geschickt ein Gerücht in Umlauf gesetzt. Überall war nur von Selbstmord die Rede. Andere Versionen kamen gar nicht in Betracht. Lena saß da, stumm und gramgebeugt. Lisa, das unbekümmerte Kind, stopfte Berge von Eis in sich hinein. Ich hatte meine Hausherrin unterschätzt. Wie mit einem Zauberstab hatte sie das alles arrangiert.

Am Freitag drohte die Sache jedoch aus dem Ruder zu laufen. Morgens rief Slawa Samonenko an und forderte Lena auf, in sein Büro zu kommen, um eine Aussage zu machen. Als sie bis Mitternacht immer noch nicht zurück war, meldete ich mich bei Slawa zu Hause.

»Wer ist da?« flüsterte er in den Hörer.

Samonenko hat drei kleine Kinder. Ihn mitten in der Nacht anzurufen ist eigentlich eine Frechheit.

»Slawa«, sagte auch ich im Flüsterton, »Lena ist verschwunden, Rasumows Witwe.«

»Mein Gott, ich habe ganz vergessen, dir Bescheid zu sagen«, seufzte Slawa auf. »Keine Sorge, Tanja, sie ist bei uns.«

»Was heißt, bei euch?« erwiderte ich verständnislos.

»In Untersuchungshaft.«

»Weshalb?«

»Sie steht im Verdacht, ihren Ehemann Kondrat Rasumow ermordet zu haben«, erklärte mir mein Bekannter gähnend.

»Das kann nicht sein!«

»Bitte, Tanja, ich bin todmüde und will schlafen. Komm morgen früh in mein Büro. Wir müssen dich sowieso vernehmen. Dort reden wir dann über alles. Aber jetzt – entschuldige bitte.« Damit legte er auf. In dieser Nacht bekam ich kein Auge zu. Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die andere. Als Lisa gegen Mittag ihre Mathematikstunde begann, eilte ich zu Slawa.

In seinem geräumigen Büro wurde ich mit einer Unmenge neuer Tatsachen konfrontiert. Kondrats tödliche Verletzung stammte nicht von einer Spielzeugpistole, die Plastikkugeln verschoß.

»Das weiß doch jeder«, meinte der Major eindringlich, »daß so ein Ding kein Stirnbein durchschlägt. Schlimmstenfalls hätte es eine Beule gegeben. Hätte Wanja das Auge getroffen, wäre es vielleicht tödlich gewesen, aber die Stirn?«

»Ich hab das Loch in Kondrats Kopf selber gesehen«, flüsterte ich.

»Das Loch!« wiederholte Slawa. »Genau darum geht es. Der Junge hatte eine scharfe Waffe.«

»Das ist ja unglaublich!« Mir nahm der Schreck fast die Luft. »Er hätte sich selber umbringen können!«

»Ohne weiteres«, räumte Slawa ein. »Irgendwer hat ihm die Waffe in die Hand gedrückt und erklärt, was für ein tolles Spielzeug das ist.«

»Bevor er schoß«, erinnerte ich mich, »hat er gerufen, er hätte einen neuen Revolver. Wer konnte dem Jungen eine tödliche Waffe geben? Das war doch gefährlich …«

»Wer das getan hat«, erklärte mir Slawa in aller Ruhe, »der wußte genau, daß Vater und Sohn jeden Abend Krieg spielen. Das haben sie doch regelmäßig getan?«

Ich nickte.

»Na, siehst du«, fuhr Slawa fort. »Der Junge hatte mehrere Spielzeugwaffen. Kannst du dich erinnern, wer ihm als letzter einen Revolver geschenkt hat?«

Ich seufzte tief auf. Da zählte man eher die Sterne am Himmel als Wanjas Schießprügel. Er hatte beinahe jeden Tag einen neuen bekommen. In Kondrats Haus gaben sich die Gäste die Klinke in die Hand. Jeder brachte etwas für die Kinder mit. Lisa bekam Puppen oder Berge wahnsinnig teurer Pralinen. Wanja fast immer Waffen. Die Kinderfrau Anna empörte sich ständig, weil echte Danaergeschenke darunter waren, die in den Händen eines Vierjährigen nun wirklich nichts zu suchen hatten. Erst am Dienstag hatte er ein Gewehr bekommen, das kleine, aber durchaus nicht ungefährliche Plastikkugeln verschoß. Zuerst traf Wanja damit mehrere Kristallgläser, dann bekam seine Kinderfrau zufällig eine Kugel in die Seite. Empört wies sie in der Küche einen ordentlichen Bluterguß vor. Natürlich wurde ihm die Flinte sofort weggenommen. Außerdem besaß er noch einen Bogen, zu dem scharfe Pfeile gehörten. Am Mittwoch hätte die Kinderfrau am liebsten Semjon Goworow ermordet, den Nachrichtensprecher im zweiten Fernsehprogramm. Dem war nichts Besseres eingefallen, als Rasumow junior von einer Reise nach Japan einen Harakiri-Säbel mitzubringen – zwar eine Imitation, aber immer noch scharf genug.

»Du kannst dich also nicht erinnern?« fragte Slawa noch einmal.

Ich schüttelte den Kopf.

»Die Gäste hat Anna stets eingelassen. Ich habe in der Küche alle Hände voll zu tun, daß nichts anbrennt. Die Geschenke bekamen die Kinder immer als erstes. Lisa hat an dem Abend von einer Sängerin Kosmetik geschenkt bekommen. Sie hat sie mir noch gezeigt. Aber Wanja … Stimmt, später brachte die Kinderfrau leere Schachteln von Spielzeugwaffen in die Küche …«

»Wo sind die jetzt?« wollte Slawa sofort wissen.

Ich meinte verwundert: »Bestimmt noch in unserer Abstellkammer. Gute Kartons werfe ich nicht weg.«

»Warum?« fragte er.

»Die kann man doch noch gebrauchen. Kira hat zum Beispiel immer was daraus gebastelt.«

»Du bist ein sparsamer Mensch, Tanja«, bemerkte Slawa beinahe neidisch. »Meine Nussja wirft alles sofort weg. Wann ist denn Lena an jenem Abend zu Hause aufgetaucht?«

»Gegen zehn. Und du hast sie wirklich festnehmen lassen?«

»Erst einmal vorläufig«, erläuterte der Major. »Wir haben noch keine Anklage erhoben. Aber das wird bald passieren.«

»Was habt ihr denn gegen sie in der Hand?«

Slawa runzelte die Brauen.

»Sie hält sich für sehr klug, deine Hausherrin. Sie dachte, sie kann alle Spuren verwischen. Wahrscheinlich hat sie zu viele Krimis ihres Mannes gelesen. Aber damit kommt sie bei uns nicht durch. Weißt du, daß jede Waffe eine Nummer hat?«

»Natürlich weiß ich das.«

»Also – die, mit der man Kondrat erschossen hat, ist ordentlich bei der Miliz registriert. Ihr Besitzer heißt Anton Semjonow. Er ist sauber. Denn er hat die Waffe schon vor einem Monat als vermißt gemeldet. Böse Menschen haben sie ihm gestohlen. Er hatte sie immer im Handschuhfach seines Ladas, sozusagen zur eigenen Sicherheit. Als er kurz in einem Geschäft war, wurde in sein Auto eingebrochen. Danach waren das Autoradio, seine Sonnenbrille, die Handschuhe und seine Sauer weg. Verstehst du?«

»Was gibt’s da nicht zu verstehen? Wie oft werden Autos ausgeräumt!«

»Genau«, murmelte Slawa. »Die Diebereien nehmen zu, alle Gauner erwischt man nicht. Aber jetzt wird es interessant: Dieser Anton Semjonow ist Lenas Geliebter. Die Dame hat sich oft bei ihm beklagt, wie schwer sie es hat. Neulich hat sie ihn direkt aufgefordert, Kondrat umzulegen. Semjonow ist kein Held und hat das rundweg abgelehnt. Aber Lena hat nicht lockergelassen und ihm goldene Berge versprochen. Er hat mit ihr Schluß gemacht, und von Stund an war die Pistole verschwunden. Warum sagst du denn nichts mehr?«

Was sollte ich darauf sagen? Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Lena ihrem eigenen Sohn kaltblütig eine Mordwaffe in die Hand drückt. Sie machte sich solche Sorgen um den Jungen, daß sie ihn gleich nach Zypern bringen ließ. Aber vielleicht hatte sie das auch nur getan, um ihn von der Bildfläche verschwinden zu lassen? Ich weiß nicht, ob das Gesetz erlaubt, einen Vierjährigen zu verhören. Wanja ist ein aufgeweckter Junge. Wenn Lena ihm wirklich die Pistole … Nicht auszudenken! Was sollte ich denn jetzt machen? Was wurde aus Lisa? Mußte ich sie zu ihrer leiblichen Mutter bringen?«

»Hör mal Slawa«, sagte ich in bittendem Ton, »ich möchte mit Lena sprechen.«

»Warum?«

»Na, erstens habe ich eine ziemlich große Summe Wirtschaftsgeld, dann ist da Lisa, und schließlich – was soll ich mit der Wohnung machen? Wenn du sie schon eingesperrt hast, wird sie etwas brauchen – ihren Pyjama, einen Morgenrock …«

»Na klar, ihren Pyjama!« Slawa lachte laut. »Daß du mir die Lockenwickler nicht vergißt!«

»Na und, sind die verboten?«

»Also, Tanja, Sachen kannst du ihr morgen bringen. Die werden am Seiteneingang abgegeben. Geh heute schon mal vorbei und schau auf die Liste, was erlaubt ist. Sie kann höchstens hier in meinem Büro eine Kleinigkeit essen und ein paar Zigaretten empfangen. Lauf ins nächste Geschäft, es ist nicht weit. Du hast eine halbe Stunde. Eher wird sie nicht gebracht.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und rannte in den Supermarkt.

4. Kapitel

Slawa ließ uns in seinem winzigen Arbeitszimmer allein. Allerdings schloß er von außen ab, und das Fenster hatte ein schweres Gitter.

Lena sah schlecht aus. Sie war blaß, die Augen glänzten fiebrig, ihr Haar war zerzaust und ihr Hosenanzug zerknittert. Wahrscheinlich hatte sie darin geschlafen.

»Iß«, sagte ich streng und stellte Salat in einer Plastikdose, ein Stück geräuchertes Huhn und eine Flasche Mineralwasser vor sie hin. Daneben legte ich drei Schachteln »Vogue«.

Sie griff nach den Zigaretten.

»Iß erst mal was«, wiederholte ich.

»Ich mag nicht.«

»Na weißt du, in den Zeitungen heißt es immer, im Gefängnis muß man Hunger leiden.«

Sie zuckte die Schultern.

»Es gibt ständig irgendwas, aber ich bringe nichts runter. Herr im Himmel, warum muß mir so was passieren?«

Ich schwieg taktvoll und beschloß, zunächst von praktischen Dingen zu reden.

»Was soll ich mit Lisa anfangen?«

Lena murmelte: »Keine Ahnung. Ruf ihre Mutter an. Ihre Nummer findest du in meinem Telefonbuch – Ludmila Safonowa.«

»Und das Wirtschaftsgeld …«

»Hör mal, Tanja«, murmelte Lena leise, »ich bleib hier nicht lange. Das ist alles ein Mißverständnis! Es wird sich bald aufklären. Warte einfach ab.«

»Die sagen, du hättest Kondrat umgebracht«, teilte ich ihr leise mit.

»Unsinn«, erwiderte sie ebenso leise. »Dummes Zeug! Warum sollte ich meinen Mann umbringen? Wer schlachtet ein Huhn, das goldene Eier legt?«

Ich dachte mir mein Teil. Offenbar hatte Lena vergessen, was sie mir, betrunken wie sie war, über die neuen Romane, das Geld und den Verkauf der Wohnung gesagt hatte.

»Ich hatte ihn wirklich satt«, fuhr sie fort, »das will ich gar nicht bestreiten. Aber als Frau eines berühmten Literaten ging es mir doch gut, oder?«

Ich nickte.

»Es heißt, dein Liebhaber behauptet …«

»Anton ist ein Dreckskerl!« entfuhr es Lena. »Ein Gigolo, ein Schoßhündchen! Wenn ich wirklich vorgehabt hätte, Kondrat aus dem Wege zu räumen, dann wäre ich doch nicht zu diesem Jammerlappen gegangen, sondern hätte mir einen echten Killer, einen Profi, gesucht. Das Geld dafür hätte ich gehabt. Ich hätte mir ein Alibi verschafft, wäre ins Ausland gefahren. Aber ich hätte um keinen Preis mein Kind da hineingezogen. Ich bin doch nicht verrückt! Anton habe ich um gar nichts gebeten!«

»Aber warum denkt er sich so was aus?«

»Das ist eine gute Frage«, meinte sie nachdenklich. »Er hat ganz bewußt eine Falschaussage gemacht.«

Wir saßen eine Weile schweigend da. Dann schlug Lena plötzlich mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Hör zu! Heute abend kommt mein Anwalt. Spätestens morgen bin ich wieder draußen.«

Man führte sie in die Zelle zurück. Slawa und ich blieben allein.

»Slawa«, bat ich, »kannst du es so einrichten, daß ich Lisa bei mir behalten darf und nicht zu ihrer Mutter schicken muß? Ich könnte doch ihre Tante oder so etwas Ähnliches sein.«

»Na gut«, willigte der Major ein. »Wenn du unbedingt willst …«

Er dachte eine Weile nach und sagte dann: »Heute abend oder morgen früh wird es eine Haussuchung geben, ist dir das klar?«

Ich nickte. Vor allem mußte ich das Geld aus dem Safe nehmen und an einen sicheren Ort bringen. Wenn die Miliz weg war, würde ich es zurücklegen.

Aber vielleicht kam Lena ja auch bald wieder frei …