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Ju Honisch

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Beschreibung

»Bisse« – diese 17 ungewöhnlichen Geschichten beißen dem Leser jegliches Wohlgefühl aus dem Gemüt. Es sind keine klassischen Gespenstergeschichten, keine triefenden Splatter, doch auch kein lauschiger Kerzenscheingrusel. Das Grauen ist vielmehr ganz nah, im Alltäglichen unter uns oder vielleicht schon unmittelbar hinter uns, vor uns, in uns sogar. Es lauert. Es kann der brave Kollege sein, der einem noch nie so richtig aufgefallen ist, der so nette Arzt oder der lächelnde Traummann von der Kontaktanzeige. Das Normale ist es, das sich sanft und jäh als anormal entpuppt und den Leser frösteln lässt. Böse und gemein sind diese Geschichten. Hinterhältig und fies treiben sie Haken in die Leserseelen, drehen sich um sich selbst und enden stets etwas anders als gedacht. Nichts für Leser mit allzu schwachen Nerven, aber genau das Richtige für Liebhaber gepflegten Grusels und bizarr-phantastischer Ideen.

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Seitenzahl: 440

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Ju Honisch

Bisse

17 ungewöhnliche Geschichten

Ansichtssache

(Anmerkung der Autorin: Die alte Rechtschreibung der Briefschreiberin ist ihrem Alter geschuldet und beabsichtigt)

3.8.

Liebe Emma!

Es ist wirklich eine Unverschämtheit, was diese Leute einem zumuten. Gestern Nacht haben sie wieder Krach gemacht, daß hier alles gewackelt hat. Ich bin wirklich ratlos. Noch um viertel nach zehn habe ich die Kinder über mir den Flur entlanglaufen hören! Diese Bagage kann einfach nicht leise auftreten. Das machen die mit Absicht, ganz bestimmt. Ohne Teppich auf dem nackten Holzboden. Und natürlich in Straßenschuhen. Ich habe natürlich gleich mit dem Besen an die Decke geklopft. Ich habe ihn ja immer neben dem Bett stehen. Daß es nicht möglich ist, diese Kinder entsprechend zu erziehen, ist doch wirklich unglaublich. So hätten wir mal unserem Vater kommen sollen! Da wäre aber was los gewesen!

Aber das gilt ja heutzutage alles nichts mehr. Nur Rücksichtslosigkeit. Was habe ich nicht schon alles versucht! Doch was will man anderes erwarten von diesem verlotterten Volk. Die Frau lebt mit diesem Mann zusammen, und sie sind nicht mal verheiratet! Die Kinder sind aus erster Ehe. Wenn es eine Ehe war. Sodom und Gomorrha sage ich Dir. Sodom und Gomorrha!

*

An dieHausverwaltungSteiner GmbHJungmannstraße 87

60528 MünchfurtMünchfurt, den 3.8.

Sehr geehrte Herren!

Ich möchte mich hiermit nochmals eindringlich beschweren über das Verhalten der Familie Sammer, die in der Wohnung über mir wohnt. Wie schon in früheren Schreiben berichtet, herrschen in dieser Wohnung Zustände, die man wirklich niemandem zumuten kann.

Da Frau Sammer und ihr in wilder Ehe (!) lebender Gefährte auf meine Bitten und Klagen nur mit Unverschämtheiten reagieren, wende ich mich erneut an Sie, mit der dringenden Bitte, hier mit Macht einzuschreiten. Das Benehmen dieser Leute ist einfach nicht tragbar. Die Kinder sind laut, und keiner hält sich an die Hausordnung. Außerdem putzen sie nie richtig die Treppe, wie es sich gehört.

Zudem werfen die Kinder immer wieder von oben Gegenstände auf meinen Balkon. Erst vorletzte Woche habe ich wieder einen Ball dort gefunden. Er hat zwei meiner Petunien abgebrochen. Wenn Sie glauben, daß von diesem Volk auch nur ein Angebot gekommen wäre, sie zu ersetzen, dann täuschen Sie sich.

Wenn Sie als Hausverwaltung einem schon zumuten, in einem Haus mit einem moralischen Sumpf zu leben, so sehe ich es immerhin als meine Pflicht an, Sie auf die Zustände aufmerksam zu machen.

Ich bitte diesmal wirklich um Ihre Stellungnahme!

Mit vorzüglicher Hochachtung

Anneliese Trotta

*

Logbuch des Kapitäns des Raumschiffs »Freie Fahrt«

Sternzeit 245456,9

Eintrag:

Abmahnung für Fähnrich Friebelwinn. Seine grobe Fahrlässigkeit ist Grund für das vollständige Ausbrennen des Primärantriebs. Kurz vor dem Ausfall näherten wir uns einem Planetensystem mit Einzelzentralgestirn (gelb). Die Planeten sind von unterschiedlicher Beschaffenheit. Einer von ihnen gehört wahrscheinlich der Klasse A an und verspricht die Möglichkeit von intelligentem Leben. Weitere Messungen sind aufgrund der Ausfälle zurzeit nicht durchführbar.

Wir haben die Fahrt gedrosselt. Den letzten Berechnungen nach müssten wir das System unbeschadet durchqueren können. Habe Sonderschichten angeordnet. Vorrang hat die Reparatur der Sensorik. Chefingenieur Bergomer hat die Lösung des Problems in maximal fünfzehn Arbeitsschichten zugesagt.

*

4.8.

Liebe Emma!

Gestern habe ich wieder einen Brief an die Hausverwaltung geschrieben. Dieses Chaos kann doch schließlich kein Dauerzustand sein. Diesmal habe ich sie ausdrücklich um eine Stellungnahme gebeten. Ich bin es wirklich leid, immer nur ignoriert zu werden. Dieser üblen Bande muß doch mal ein Riegel vorgeschoben werden! Den Sammers, meine ich.

Heute bin ich dem Zehnjährigen auf der Treppe begegnet. Wenn Du glaubst, der hätte mich gegrüßt, dann täuschst Du Dich aber. Ich habe ihn also zur Rede gestellt. »Mein Junge«, habe ich gesagt, »hat Dir denn niemand beigebracht, daß man grüßt?« Nun rate mal, was er geantwortet hat! Mir ist ja fast die Luft weggeblieben. »Geben Sie erst mal unseren Ball her«, hat dieser unverschämte Rotzlöffel mir geantwortet.

Da können die aber lange warten. Erst will ich meine Petunien ersetzt haben!

*

Logbuch des Kapitäns des Raumschiffs »Freie Fahrt«

Sternzeit 245457,3

Eintrag:

Das Schiff ist in die Anziehungskraft eines der Planeten geraten. Durch den noch bestehenden vollständigen Ausfall des Primärantriebes können wir nicht aus der Gravitation herausmanövrieren. Um eine Kollision zu vermeiden, passen wir den Flugvektor mittels Hilfsantrieb einem niedrigen Orbit an. Fähnrich Friebelwinn befindet sich in Schutzhaft in der Brigg. Wir alle bekommen einen Eindruck davon, wie es ist, vollständig gelähmt zu sein.

*

5.8.

Mein liebes Emmchen!

Stell dir vor, was passiert ist! Als ich heute aus dem Gottesdienst kam, lag der Ball nicht mehr auf dem Balkon! Dafür waren weitere Petunien abgebrochen, und auch eine Begonie ist nun kaputt. Diese Bande muß doch tatsächlich auf meinen Balkon geklettert sein! Einbruch ist das. Jawohl! Und Diebstahl. Stell dir das vor! Ich lebe mit Verbrechern unter einem Dach! Da muß man ja Angst haben, daß man nachts im Bett ermordet wird! Ich habe natürlich gleich die Polizei angerufen. Die kamen auch, konnten aber nichts feststellen. Ich habe allerdings darauf bestanden, daß sie bei den Sammers nachfragen. Das haben sie auch getan. Ich konnte zwar nichts hören, aber sie sind wieder weggegangen, ohne jemanden festzunehmen. Nun stell dir das mal vor! Wir haben noch gelernt, Verbrechen lohnt sich nicht. Aber für die Bande gilt das offenbar nicht. Ich muß schon sagen, ich bin sehr enttäuscht. Wo soll das alles enden? Unser Vater würde sich im Grabe umdrehen!

*

Logbuch des Kapitäns des Raumschiffs »Freie Fahrt«

Sternzeit 245458,5

Eintrag:

Die »Freie Fahrt« konnte mit maximalem Hilfsantrieb eine direkte Kollision mit dem Planeten vermeiden – jedoch war unser Orbit zu niedrig, um der atmosphärischen Reibung zu entgehen. Daher sind wir nach einem absteigenden Spiral-Orbit schließlich notgelandet. Dabei gab es weitere Ausfälle der Technik.

Schadensbericht:

Sensorik: Totalausfall

Primärantrieb: Totalausfall

Lebenserhaltungssysteme: arbeiten bei 10%, langsam, aber stetig fallend

Ein Zugriff auf den Interstellar-Partikelantrieb ist nicht möglich. Daraus ist zu schließen, dass wir auf einem Planeten mit abschirmender Atmosphäre gelandet sind. Leider können wir immer noch nicht erfassen, was um uns herum ist. Ein geregelter Ausstieg eines Erkundungstrupps ist derzeit nicht möglich, da die Schleusensicherheitsautomatik nur funktioniert, wenn Daten von den Sensoren vorliegen.

*

6.8.

Liebe Emma!

Heute lag doch schon wieder so ein Spielzeug von den Sammers auf meinem Balkon. Irgendein automatisches Gefährt, sehr schwer. Weiß glänzend und scheibenförmig mit langen Fortsätzen daran. Das war bestimmt nicht billig. Ich frage mich, wo die Leute nur das viele Geld hernehmen. Das kann ja gar nicht mit rechten Dingen zugehen! Ich habe mir vorgenommen, der Polizei doch noch einen Hinweis zu geben, daß sie da mal ermitteln sollen. Das kann ja wohl nicht angehen.

Jedenfalls stehlen die mir dieses Ding nicht vom Balkon, das kann ich Dir versichern. Ich habe es gleich mit reingenommen und in den Halter für Vaters große Silberschale eingespannt. Du weißt schon, der mit den starken Schrauben. Er hatte sie doch damals als ersten Preis gewonnen beim Schützentreffen der Offiziere. Das Ding hat genau da reingepaßt, wie angegossen. Den Halter habe ich dann mit einem Tuch bedeckt und im Schrank eingeschlossen. Das Ding klauen sie mir nicht mehr vom Balkon. Wenn sie das wiederhaben wollen, dann müssen sie schon die Tür aufbrechen. Und dann wird die Polizei ja hoffentlich etwas unternehmen.

*

Logbuch des Kapitäns des Raumschiffs »Freie Fahrt«

Sternzeit 245459,7

Eintrag:

Weiterer Energieabfall durch Ausfall der Solarkollektoren. Chefingenieur Bergomer kann sich den Ausfall nur dadurch erklären, dass wir uns in vollständiger Dunkelheit befinden. Technisch, sagt er, ist der Notlichtenergiesammler in Ordnung. Um Energie zu sparen, haben wir, bis auf den Maschinenraum und die Brücke, alle Systeme auf Sparmodus geschaltet. Decks eins bis drei sind vollständig evakuiert, geräumt und abgeschaltet. Da der Recycler unter den derzeitigen Energie-Bedingungen nicht arbeitet, sind Nahrungsmittel und Getränke rationiert worden. Wer nicht direkt mit der Reparatur der Antriebe und Systeme zu tun hat, ist ruhiggestellt, um nicht übermäßig Luft zu verbrauchen. Die Bordtemperatur ist auf 14 Grad gesenkt. Winterequipment und Thermodecken wurden ausgegeben.

Da wir nicht erfassen können, wo wir gelandet sind und welche Atmosphäre uns umgibt – falls eine existiert – wird auch innerhalb der nächsten Tage die Bordluft deutlich schlechter werden. Wissenschaftsoffizier Leutnant Heibrauer hat bei gleichbleibendem Verbrauch eine kritische Grenze der atembaren Luft für Sternzeit 245467,5 errechnet. Das lässt uns nicht viel Zeit, um zu reagieren.

Ein Krisenteam bestehend aus mir, Wissenschaftsoffizier Leutnant Heibrauer, dem Bordarzt Dr. Grissgramm, dem leitenden Bordingenieur Bergomer und dem Leiter der Sicherheitsabteilung Tirisan tagt regelmäßig, um die aktuelle Lage und mögliche Lösungen zu diskutieren. Kommunikationsoffizierin Leutnant Svoboda sendet friedliche Grüße auf allen Bundesfrequenzen.

*

7.8.

Liebes Emmchen!

Heute Nacht habe ich seltsame Geräusche vernommen. Erst habe ich natürlich gedacht, es käme wieder von den Sammers, aber denk nur, wie erstaunt ich war, als es aus meinem eigenen Schrank kam! Es war eine Art Summen. In der Tat war es dieses Spielzeug, dessen Automat wohl angesprungen war. Ich habe versucht, es abzustellen, habe aber keinen Schalter gefunden. Schütteln hat auch nichts genützt. Wahrscheinlich muß man irgendwo einen Schlüssel reinstecken, denn ich habe auch keine Batterienklappe gefunden, obwohl ich versucht habe, mit dem Schraubenzieher (der mit dem Holzgriff von Vater) in die Ritzen zu fahren und das Ding aufzuhebeln. Es hat sich aber als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen. Ich habe es dann zwischen zwei Kissen gesteckt und diese zusammengebunden. Jetzt hört man nichts mehr.

Ich hoffe sehr, es ist nicht so ein Musikautomat. Ich möchte nur ungern aufwachen zu irgendeiner lauten Bumbum-Musik. Diese Negerrhythmen sind einfach nichts für mich. Weißt du noch, wie Vater sie immer gehaßt hat? Wie bei den Hottentotten, hat er immer gesagt.

*

Logbuch des Kapitäns des Raumschiffs »Freie Fahrt«

Sternzeit 245460,5

Eintrag:

Wir stehen offenbar unter Angriff. Bei Sternzeit 245459,9 erlebte die »Freie Fahrt« schwere Erschütterungen, die zu einem Teilausfall der Gravitationskontrolle führten. Teile der Decks sind nun ohne eigene Schwerkraftregelung. Das Schiff scheint in einem Winkel von 50 Grad auf der Seite zu liegen. Da von dem Gravitationsausfall auch Teile des Maschinenraums betroffen sind, hängen nun überall Seile und Strickleitern, um das Erklimmen der Korridore zu ermöglichen.

Dr. Grissgramm hat sich vorerst aus dem Krisenstab zurückgezogen, um die Verletzten zu versorgen. Leider hatten wir auch Verluste zu beklagen: Fähnriche Rotmann und Basinmata sind ihren Sturzverletzungen erlegen. Für Sternzeit 245460,8 ist eine kurze Trauerfeier für sie anberaumt. Im Grunde haben wir keine Zeit und keine Energie dafür, und Leutnant Heibrauer hat der Entscheidung offiziell widersprochen, doch ich meine, wer im aktiven Dienst fällt, hat Anspruch auf einen solchen Abschied. Vielleicht hilft es auch, die Mannschaft in dieser Krisensituation zusammenzuhalten.

*

8.8.

Liebe Emma!

Heute habe ich nochmals bei der Polizei angerufen, wegen des Einbruchs auf meinen Balkon. Stell dir vor, sie haben die Ermittlungen eingestellt! Ist das denn die Möglichkeit! Wegen Geringfügigkeit, haben sie gesagt. Und weil sich keine hinreichenden Verdachtsmomente ergeben hätten. Das ist doch wirklich nicht mehr zu fassen! Wo leben wir denn? Man sollte wirklich meinen, es gebe keine Gesetze! Anarchie ist das. Davor hat uns Vater immer gewarnt, und jetzt ist es soweit.

Geringfügigkeit! Wahrscheinlich wollen sie warten, bis man mich ermordet. Wer weiß, ob sie dann auch noch von Geringfügigkeit sprechen. Aber das lasse ich nicht auf mir sitzen. Da kennen die mich aber schlecht. Gleich morgen werde ich an den Polizeipräsidenten schreiben. Davon muß er doch schließlich wissen! Heute nicht mehr. Heute fühle ich mich nicht so richtig gut.

*

Logbuch des Kapitäns des Raumschiffs »Freie Fahrt«

Sternzeit 245461,5

Ergebnis-Protokoll der Krisensitzung

Anwesend: Kapitän Jakob August Kraft, Leutnant Amadeus Heibrauer, Chefingenieur Sven Bergomer, Chef des Sicherheitsdienstes Loracu Tirisan, Kommunikationsoffizier Ellen Svoboda.

Entschuldigt: Bordarzt Dr. Richard Grissgramm

Probleme:

Die fehlende Sensorik macht uns immer noch blind gegenüber unserer physischen und strategischen Situation.

Die zerstörten Antriebe einschließlich Notfallantrieb verhindern es, dass wir uns von dem Planeten lösen, um durch den Partikelantrieb im All wieder Energie aus der Sonne zu laden.

Der Sauerstoffgehalt der Luft sinkt zusehends.

Die schwindenden Vorräte an Trinkwasser und Nahrung beeinflussen die Belastbarkeit der Crew und setzen uns einen engen Zeitrahmen zur Problemlösung.

Teilweise ausgefallene Schwerkraftfelder haben zur Folge, dass bei Aktionen jeder Art zusätzlich Energie und Sauerstoff verbraucht werden.

Ad a) Chefingenieur Bergomer ist der Meinung, in Kürze eine – wenngleich auch primitive – energiesparende Ersatzvorrichtung fertiggestellt zu haben, die auf der Basis von Radiowellen und hochenergetischen Röntgen- und Bridelstrahlen arbeiten wird. Eine weitere Reparatur wird erst möglich sein, wenn das Energieproblem gelöst ist.

Ad b) Theoretische Möglichkeit, eventuelle Energiequellen des Planeten anzuzapfen, um wenigstens die Umlaufbahn zu verlassen. Diese Möglichkeit setzt allerdings eine funktionierende Sensorik zum Auffinden dieser Energiequellen voraus.

Ad c) Es könnte theoretisch die Möglichkeit bestehen, dass wir die Außenluft verwenden können. Das zentrale Luftfiltersystem könnte Gefahrenstoffe aus einem unserer Atmosphäre ähnlichen Gasgemisch filtern. Doch auch hier fehlen entsprechende Angaben der Sensorik, um den Filtern dezidierte Vorgaben zu machen.

Ad d) Alle zurzeit nicht beschäftigten Mannschaftsmitglieder sind von Dr. Grissgramm auf Tablettennahrung gesetzt worden. Derzeitige Zufuhr 1800 kcal pro Tag. Die Reserven sind von Wissenschaftsoffizier Heibrauer so berechnet worden, dass uns Wasser und Nahrung ausgehen, drei Schichten, bevor der Sauerstoff vollständig verbraucht ist.

Ad e) Auch die ausgefallenen Gravitationsfelder können erst nach Restauration der Energiewerte wieder hergestellt werden.

Fazit:

Es ist dringend erforderlich, die Außenwelt zu erkunden. Leiter der Sicherheitsabteilung Tirisan wird dies mit einem Team von fünfzehn Freiwilligen übernehmen. Geplant ist, dass das Team in Raumanzügen in einem evakuierten und entsprechend gesicherten Teil des Schiffs mit Gewalt eine Außenschleuse öffnet. Ein weiteres Team wird die Öffnung danach verschließen und gegen Eindringlinge sichern. Leutnant Svoboda wird in regelmäßigen Abständen Berichte einfordern. Permanente Kommunikation ist aufgrund der prekären Energielage nicht möglich. Wir wünschen dem tapferen Team – und auch uns – alles Gute!

Verluste heute: Fähnrich Friebelwinn hat sich in seiner Zelle erhängt. Durch die Schräglage des Schiffes war es ihm möglich, sich am Bettfuß aufzuknüpfen.

Von einer Trauerfeier wird auf Wunsch der Crew abgesehen.

*

9.8.

Liebe Emma!

Heute wollte ich mir noch mal dieses Spielzeug ansehen. Es wundert mich etwas, daß die Sammers noch gar nicht danach gefragt haben. Vielleicht gehört es ja diesmal gar nicht ihnen? In diesem Fall sollte ich es natürlich zum Fundbüro bringen. Aber so weit ist es gar nicht gekommen. Stell dir vor, wie eklig! Als ich den Schrank aufmachte, krochen da weiße Ameisen oder so etwas Ähnliches drin herum. Also ich weiß wirklich nicht, wo die hergekommen sein können! Schließlich ist meine Wohnung picobello sauber. Das weißt du ja.

Es waren wirklich sehr seltsame Insekten. Sie krabbelten auf ihren Hinterbeinchen und hatten runde, glasig spiegelnde Köpfchen. Also wirklich scheußlich. Gott sei Dank hatte ich die Fliegenpatsche gleich zur Hand. Bei so was mach ich kurzen Prozeß. Schließlich kann man sich ja kein Ungeziefer heranziehen. Patsch, patsch, das war es dann mit der Plage. Ich muß allerdings gestehen, daß sie ziemlich eklige matschige rote Flecken hinterlassen haben. Ich mußte das ganze Regal abwischen. Danach habe ich es gründlich mit Insektenspray ausgesprüht.

Jetzt frage ich mich natürlich, wo sind die nur hergekommen? Aber wahrscheinlich braucht man sich da nicht lange zu fragen. Bei dem Lotterstall über mir ist es natürlich kein Wunder, daß da auch Ungeziefer ist. Ich werde das der Hausverwaltung schreiben. Vielleicht reagieren sie ja darauf endlich. Schließlich müßten sie ein Interesse daran haben, daß ihr Haus nicht verseucht wird.

Eigentlich ist das auch ein Fall für die Gesundheitsbehörden. Das wäre doch etwas! Wenn das Gesundheitsamt hier eine Ungezieferverseuchung feststellt, dann müßte die Hausverwaltung darauf reagieren. Schon von Amts wegen. Jawohl.

Im Nachhinein ist es richtig schade, daß ich die widerlichen Tiere weggeräumt habe. Ich habe mir jetzt ein Glas bereitgestellt. Wenn ich wieder welche sehe, werde ich sie darunter einfangen. Für das Gesundheitsamt, als Beweisstück.

*

Logbuch des Kapitäns des Raumschiffs »Freie Fahrt«

Sternzeit 245462,0

Eintrag:

Es steht zu befürchten, dass wir unser Außenteam verloren haben. Nach ihrem Ausstieg aus dem Schiff berichteten sie in regelmäßigen Abständen. So wissen wir, dass das Schiff fest von einer faserigen Substanz eingehüllt ist, die makrotextile Eigenschaften zu haben scheint. Das Außenteam kämpfte sich ebenso mühsam wie tapfer durch eine Art Dschungel, der der Beschreibung nach aus fest verwobenen Ästen und Lianen bestand. Der erste Kontakt mit fremden Lebensformen fand noch auf der Außenhülle des Schiffes statt. Es handelte sich um eine Insektenart mit langen Fühlern, sehr ähnlich gigantisch überdimensionierten Staubmilben, laut Leutnant Heibrauer. Sie scheinen in dem Faser-Dschungel heimisch zu sein. Sie waren jedoch nicht aggressiv und auf keinen Fall intelligent genug, um dem Schiff gefährlich werden zu können.

Den letzten Kontakt zum Team hatten wir, als es den Dschungel bereits verlassen hatte. Es schilderte eine dunkle Ebene mit hartem, großrilligem Boden. Kommunikationsoffizier und Wissenschaftsoffizier versuchen derzeit gemeinsam, die letzte Übertragung sprachwissenschaftlich zu analysieren. Sie lautete: »Eben wird es hell. Ohne Dämmerung vollzieht sich der Anbruch des Tages vertikal. Oh! Mein Gott, es ist ein R…«

Die gesendeten Messdaten des Außenteams und ihre ausgelegten Handsensoren geben uns, was die Zusammensetzung der Atmosphäre angeht, weiterhin Rätsel auf. Zunächst gab es Hinweise auf atembares Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch. Die letzten Messungen machen hingegen deutlich, dass die Atmosphäre von massiven Giftstoffen durchzogen ist, deren Zusammensetzung hochgradig gesundheitsgefährdend, wenn nicht tödlich ist. Wir haben daraufhin die Luke wieder vollständig versiegelt. Ohne Schiffssensoren können wir das Gift nicht ausfiltern.

Die nächste Sitzung des Krisenteams wird darüber entscheiden, ob ein zweites Außenteam zur Erkundung geschickt wird. Wir senden inzwischen auf erweiterten Frequenzen Friedensgrüße in allen uns bekannten Sprachen, haben jedoch noch keine Antwort erhalten.

*

10.8.

Liebe Emma!

Auf die Technik ist auch kein Verlaß mehr. Seit heute abend bekomme ich weder die ARD noch das ZDF mehr rein. Immer nur Schneegegriesel. Ab und zu sieht man schemenhaft ein Frauen- und dann wieder ein Männergesicht. Aber man kann überhaupt nichts verstehen. Ich möchte nur wissen, was das für ein komischer Sender ist. Bestimmt irgendwas von den Russen. Weißt Du noch, Vater hat immer gesagt, daß die Kommunisten uns über das Fernsehen indoktrinieren wollen. Und glaubst Du, daß es keine Kommunisten mehr gibt? Also ich glaube das nicht. Einmal ein Roter, immer ein Roter. Das hat unser Vater ja auch immer gesagt.

Jedenfalls konnte ich die Schwarzwaldklinik nicht ansehen, und da war ich schon sehr enttäuscht. Es gibt doch so wenig Niveauvolles, was man sich noch anschauen kann. Immer nur Geballere und Nackte, den ganzen Tag. Keine Moral.

Morgen muß ich gleich den Fernsehtechniker anrufen. Na, das kostet dann auch wieder Geld. Wahrscheinlich ist gar nichts kaputt. Der Fernseher ist doch gerade mal erst zehn Jahre alt. Nein, ich wette, diese vermaledeiten Kinder haben an der Antenne rumgespielt.

Ach, Emmchen, ich fühle mich gar nicht wohl heute. Irgendwie ist mir sehr schwach. Wenn es mir morgen nicht besser geht, dann werde ich wohl Dr. Zimmermann anrufen und bitten, mal vorbeizuschauen. Eigentlich macht er ja keine Hausbesuche mehr. Ich hoffe, er schickt nicht wieder seine Vertretung, diesen Dr. Semper. Der war mir irgendwie unheimlich.

*

Logbuch des Kapitäns des Raumschiffs »Freie Fahrt«

Sternzeit 245462,0

Eintrag:

Immer noch keine Antwort vom Flottenhauptquartier. Es ist natürlich möglich, dass unsere Nachricht aufgrund der Energieknappheit nicht angekommen ist oder dass wir die Antwort aus dem gleichen Grund nicht empfangen können.

Ergebnis der heutigen Krisensitzung: Das Technikerteam 2 wird über eine noch zu bauende Zapfeinrichtung Energie aus den Handstrahlern der Mannschaftsbewaffnung ab- und in den Atmosphärenantrieb einleiten. Der dazu benötigte Energiewandler ist ebenfalls noch im Bau. Laut Chefingenieur und Wissenschaftsoffizier ist dies eine mögliche, wenngleich auch diffizile Aufgabe. Aufgrund der Hochqualifizierung der Mannschaft ist es aber kein aussichtsloses Unterfangen. Es bedeutet jedoch, dass wir keine ausreichende Bewaffnung zur Ausrüstung eines neuen Außenteams haben werden.

Die auf Radiowellen und hochenergetischen Röntgen- und Bridelstrahlen basierende Sensorersatzvorrichtung arbeitet leider nicht mit dem erhofften Erfolg. Die erhaltenen Daten sind widersprüchlich und kaum zu deuten. Wir werden den Anteil der Bridelstrahlung noch erheblich erhöhen müssen, um überhaupt zu auswertbaren Ergebnissen zu kommen. Dies bedeutet aber eine erhebliche Strahlenbelastung der Umwelt, die wir dieser aus ethischen Gründen nicht zumuten wollten. Die feindliche Haltung, die wir aus den Geschehnissen wohl interpretieren müssen, macht uns diese Entscheidung jedoch etwas leichter.

Leutnant Svoboda wird entsprechende Strahlungs-Warnungen zusammen mit den Friedensgrüßen weiterhin in regelmäßigen Abständen senden.

*

11.8.

Liebe Emma!

Ich muß mir wohl einen bösen Virus zugezogen haben, denn seit heute Nacht fühle ich mich wirklich sehr krank. Ich bin tatsächlich davon aufgewacht, daß meine Nase blutete und gar nicht mehr aufhören wollte. Also Nasenbluten hatte ich doch schon seit meiner Kindheit nicht mehr. Ich frage mich wirklich, was das zu bedeuten hat. Es ist schon etwas entnervend. Aber mach Dir mal keine Sorgen. Du weißt ja, daß ich eine eiserne Konstitution habe. Es wird sicher bald vorbei sein.

Etwas beunruhigend ist allerdings, daß ich meinen Arzt nicht anrufen kann. Dieses dumme Telefon funktioniert nicht. Es brummt nur vor sich hin, und manchmal hört man wieder irgendeine fremde Sprache. Ich hätte mir wirklich nie so ein Funktelefon aufschwatzen lassen sollen. Die modernen technischen Spielereien sind einfach nichts wert.

Aber morgen werde ich mich sicher schon besser fühlen. Dann gehe ich zum Arzt. Man ist wirklich schon recht hilflos, wenn man kein Telefon hat. Aber mach Dir man keine Sorgen, es wird schon werden. Unser Vater hat uns schließlich dazu erzogen, uns immer zusammenzunehmen und nicht zickig zu sein.

Es tut mir nur leid, daß ich die Briefe an Dich nun nicht in mein Tagebuch schreiben kann, ich fühle mich einfach nicht gut genug, um aufzustehen. Aber da wo Du bist, kannst du mich ja auch so hören. Ach, es ist schon traurig, daß der liebe Gott Dich so früh zu sich geholt hat. Heute vermisse ich Dich besonders.

*

Logbuch des Kapitäns des Raumschiffs »Freie Fahrt«

Sternzeit 245463,0

Eintrag:

Wir trauern um die Mitglieder des Technikerteams 2 sowie um 12 weitere Mannschaftsmitglieder, die die Explosion mit in den Tod gerissen hat, darunter auch Bordarzt Dr. Richard Grissgramm, der sich vergewissern sollte, dass das Team die vorgeschriebenen Ruhezeiten einhält.

Unsere Verluste sind seit dem Ausfall der Sensorik auf insgesamt 42 gestiegen, beinahe ein Drittel der Besatzung.

Bei dem Versuch, die Roh-Energie der Handstrahler abzuzapfen und umzuwandeln, ist es zu einer großen Explosion gekommen. Die Werkstatträume sind vollkommen zerstört. Im Bereich der Decks 2 bis 4 wurde ein annähernd kugelförmiges Loch in den Schiffsinnenraum gesprengt. Die Außenhülle ist wie durch ein Wunder unversehrt geblieben.

Die Stimmung an Bord ist sehr schlecht. Das gute Training und die Motivation der Mannschaft verhindern zwar ein Abdriften in Verzweiflung und Lethargie, doch es ist für uns alle nicht leicht. Jeder von uns hat liebe Freunde und gute Kameraden verloren, Menschen mit denen wir nun schon so lange zusammen waren. Zur Trauer mischt sich wachsender Pessimismus und die Angst, nie mehr von hier fortzukommen. Da wir für die Kühleinrichtungen der Krankenstation nicht genug Energie haben und das Lufttauschersystem nur bei 10% läuft, durchweht das ganze Schiff der Geruch der Verwesung. Sanitätsoffizier Kristen hat aromatisierte Mundschutzmasken verteilt, um das Atmen zu erleichtern.

Inzwischen ist die Energie der Lebenserhaltungssysteme so weit abgesunken, dass das Trinkwasser weiter rationiert werden musste und die Atemluft einen weitaus zu hohen Kohlendioxidgehalt hat. Müdigkeit und Übelkeit sind die Folge. Richard hätte uns hier sicher helfen können, aber er ist tot.

Wissenschaftsoffizier Heibrauer hat einen neuen Vorschlag. Es gibt eine einzige Energiequelle, die wir noch nicht genutzt haben, da sie als nicht zugänglich gilt. Es handelt sich dabei um die unabhängige Energieversorgung des Selbstzerstörungsmechanismus. Um eine taktisch notwendige Selbstzerstörung zu garantieren, auch wenn ein Schiff schon schwer angeschlagen ist, ist diese Funktion durch ein eigenes Energienetz gesichert. Heibrauer und Bergomer sind sich einig, dass es grundsätzlich möglich sein muss, diese Energie umzuwandeln. Allerdings halten sie das Risiko für nicht gering, wobei ihre Einschätzungen bedenklich unterschiedlich ausfallen.

Bevor wir diesen letzten und gefährlichsten Schritt unternehmen, habe ich alle Mannschaftsmitglieder aufgefordert, sich noch einmal Gedanken zu machen, ob nicht noch eine andere, ungewöhnliche Lösung, ein Geistesblitz uns aus unserer misslichen Lage retten kann.

*

Liebes Emmchen!

Das ist mir noch nie passiert. Ich weiß gar nicht, welcher Tag heute ist. Ich liege hier im Bett, und es geht mir so vieles durch den Sinn. Aber alles ist verschwommen und verflüchtigt sich ganz schnell. Heute früh bin ich aufgestanden, um das Bett abzuziehen, denn es war ganz voller Blut. Aber ich bin hingefallen, weil ich nicht stehen konnte. Was kann das nur für ein Virus sein?

Auf meinem Kissen liegen büschelweise Haare von mir, und wenn ich nur einen Spiegel in der Nähe hätte, könnte ich wenigstens genauer sehen, was mit mir los ist.

Aber ich habe schon so lange gebraucht, um nur wieder ins Bett zu kommen. Da konnte ich doch nicht noch zum Spiegel gehen. Und danach war ich so erschöpft, daß mir alles schwarz wurde. Ich muß mir wirklich sehr wehgetan haben bei dem Sturz, denn ich habe überall blaue Flecken und Blutergüsse. Du weißt ja, was Vater immer gesagt hat, blaue Flecken zählen nicht, die verschwinden von selber. Na, ich hoffe, er hat auch diesmal recht. Man ist ja nicht mehr die Jüngste.

Wenn ich doch nur telefonieren könnte! Das Telefon ist neben meinem Bett, aber es gibt immer noch komische Geräusche von sich. Und ich kann es auch nicht so lange halten. Es fällt mir immer aus der Hand.

Stell Dir nur vor. Ich habe sogar versucht, Sammers zu Hilfe zu holen und habe mit dem Besen an die Decke geklopft. Aber die hören ja nicht zu.

*

Logbuch des Kapitäns des Raumschiffs »Freie Fahrt«

Sternzeit 245463,7

Eintrag:

Es ist sehr still geworden auf der »Freien Fahrt«. Heute Morgen hatten wir zwei Selbstmorde zu verzeichnen. Fähnriche Epldorn und Chroch haben gemeinsam den Freitod gewählt. Ich hätte gerne eine Ansprache gehalten, um der Mannschaft Mut zuzusprechen, aber wir haben nicht genug Energie für das Interkom.

Leutnant Bergomer und Leutnant Heibrauer arbeiten unablässig an dem Problem, an die Energie des Selbstzerstörungs-Mechanismus heranzukommen. Bislang ist ihnen das nicht geglückt. Leutnant Heibrauer nimmt an, dass diese Energie sich nicht im Ruhezustand des Mechanismus manipulieren lässt. Wenn er recht behalten sollte, müssten wir die Selbstzerstörungssequenz einleiten und hoffen, dass während des Countdowns der Transfer gelingt und wir die Sequenz dann noch rechtzeitig abbrechen können. Es ist kein schöner Gedanke. Zehn Minuten sind eine sehr kurze Zeit, um neue Verfahrensweisen zu finden und durchzuführen.

Aber wir haben keine weiteren Optionen mehr. Beim derzeitigen Reservestand von Atemluft und Wasser kann ich keine Verzögerung durch weitere Experimente zulassen. Wir werden es einfach riskieren müssen.

*

Ach Emmchen!

Das ist schön, daß Du mich besuchen kommst. Es ist so dunkel geworden.

*

Automatisches Logbuch des Kapitäns des Raumschiffs »Freie Fahrt«

Sternzeit 245464,2

Eintrag:

Zehn

Neun

Acht

Sieben

Sechs

Fünf

Vier

Drei

Zwei

Eins

Nu…

Der Jogger

Dr. Justus Semper hatte sich angewöhnt, morgens sehr früh zu joggen. Sein Dienst war um 03:00 Uhr nachts vorüber. Seine Kollegen von der Nachtwache setzten sich dann in ihre repräsentativen Automobile und fuhren nach Hause, in die geordneten Verhältnisse wohlbewachter Häuser in der mit Swimmingpool ausgestatteten Peripherie der Stadt. Die Krankenschwestern verschwanden im Verbindungsgang zum Schwesternheim oder warteten in nervösen Grüppchen auf den Nachtbus, der sie zu den ungleich weniger feudalen Wohnungen in den ihren Gehältern angepassten Vierteln der Vorstädte bringen würde.

In seinem kleinen Büro zog Dr. Semper sich um. Der dunkle Jogginganzug entsprach nicht der farbenreichen Mode und war auch nicht so ostentativ athletisch, wie die seiner jungen Kollegen. Nicht einmal ein Markenschildchen hatte er, keinen Puma und kein Krokodil, keine schrägen Streifen. Doch der Anzug war das Richtige, um damit durch die Nacht zu joggen.

Dr. Semper mochte dunkle Farben. Sie passten zu ihm, wie er fand, und hätte er ein so belangloses Thema wie die Auswahl von zur Persönlichkeit passenden Farben jemals mit seinen Kollegen diskutiert, so wären auch diese sicherlich seiner Meinung gewesen.

Doch wäre ihm das nie in den Sinn gekommen, denn die Nebensächlichkeiten des Lebens interessierten ihn wenig. Eitelkeit war, wie er meinte, sinnlos, wenn man eine gewisse Ebene des menschlichen Daseins erreicht hatte. Er sah sich gerne als Philosoph und hatte den Beruf des Arztes wohl auch deshalb ergriffen, weil er sich in der Rolle des selbstlos Helfenden gefiel. Die Idee des »guten Menschen« hatte ihn von jeher bewegt, doch er war sich bewusst, dass Stand und Einkommen eines Mediziners auch sonst Vorteile boten, die nicht zu verachten waren. Er hätte es nie selbst so formuliert, aber er war mit Leib und Seele Arzt.

Seine Arbeit konnte er weitgehend seinen Bedürfnissen anpassen und die Regelmäßigkeit der Krankenhausabläufe entsprach seinem ausgeprägten Sinn für Ordnung, von der Arbeitseinteilung bis hin zur Verpflegung. Auch seine rigide Diät stellte in der klinischen Atmosphäre kein Problem dar.

Manchmal wünschte er sich, mit seinen jungen Kollegen in engerem sozialen Kontakt zu stehen, doch ihre Oberflächlichkeit und ihr gieriges Streben nach Gewinn und Aufstieg stießen ihn ab. So hielt er sich im Hintergrund, wohl wissend, dass er den Ruf eines »Kauzes« genoss. Man war höflich zu ihm. Er machte seine Sache ordentlich. Mehr gab es nicht an Anknüpfungspunkten. Trotzdem fühlte er sich verantwortlich für die jungen Kollegen und versäumte nie, sie auf alle ihre Fehler und Unzulänglichkeiten genauestens hinzuweisen, eine Hilfsbereitschaft seinerseits, die zu seiner Enttäuschung meist falsch ausgelegt wurde.

Erst kürzlich hatte ihn ein besonders unerfreuliches Exemplar von Nachwuchsmediziner als ekelhaften Schnüffler und verknöcherten Pedanten bezeichnet. Eine unschöne Szene. Er hatte den jungen Mann aus dem Team entfernen müssen, um den anderen jungen Kollegen nicht zu schaden, für deren positive geistig-moralische Entwicklung er sich verantwortlich fühlte. Ein fauler Apfel … äußerst bedauerlich.

Er packte sein Frühstück in den Rucksack und trat hinaus in die Nacht. An der Bushaltestelle wartete niemand mehr. Die Straßenlaternen verbreiteten ein kühles Licht und nur noch vereinzelt leuchtete bunte Lichtreklame. In den menschenleeren Stunden nach Mitternacht wirkten diese elektrischen Lockeinrichtungen ebenso trivial wie frivol. Ihr unnützes Blinken verstärkte den Eindruck von absoluter Einsamkeit. Ihre farbenreichen Botschaften und Einladungen zu mehr Konsum verpufften in der feuchtkühlen Nachtluft und ihre abgrundtiefe, nackte Hässlichkeit vermittelte den Eindruck, als sei die Stadt eine alternde Hure, die sich ebenso gewaltsam wie sinnlos mit der Schminke ihrer Profession begehrenswert zu machen suchte.

Er schnallte seinen Rucksack auf den Rücken, das einzige Zugeständnis an die derzeitige Mode, das er machte – und auch dies nur der Not gehorchend und dem Sinn für das Praktische folgend. Dann schloss er sorgfältig den Reißverschluss an seiner Jacke und begann zu laufen. Vom Krankenhaus aus erstreckte sich der gewaltige Park quer durch die Innenstadt.

Er wohnte auf der anderen Seite. Es war eine überdurchschnittlich lange Strecke, die er beinahe jede Nacht auf diese Weise zurücklegte, im Dunkeln, lange bevor die ersten sportlichen Kopfhörer-Träger zusammen mit den Park-Polizisten auf den Pfaden erschienen. Ein Blick auf seine Uhr bestätigte sein Zeitgefühl. Es war bereits spät, so beschleunigte er seine Schritte, ärgerlich, dass er sich vertrödelt hatte, noch ärgerlicher, dass er nicht wusste, wobei. Pünktlichkeit war ihm Lebensgrundlage, Verspätung ein Grauen.

Er war nicht darauf angewiesen, sein Heim zu Fuß zu erreichen. Welcher wohlbezahlte Oberarzt war das schon? Doch er liebte es, durch die dunklen Parkwege zu laufen, liebte die Stille und die nächtliche Kühle, die ihm in der sonst lauten und heißen Stadt eine Art Reinheit und Klarheit vorgaukelten. Er mochte das Gefühl, weichen Waldboden unter seinen Füßen zu spüren, fühlte sich befreit auf den mondbeschienenen Pfaden, als tauche er ein in die nächtliche Version des Paradieses, nicht als Engel, sondern als verstohlener Besucher. Zu dieser Zeit schien der ganze Park ihm zu gehören.

Die sonderbare Vorliebe des nächtlichen Joggens brachte ihm hin und wieder Warnungen ein, denn der Park war zu keiner Zeit ungefährlich und keiner seiner jungen Kollegen hätte ihn freiwillig des Nachts durchquert, es sei denn für sehr viel Geld und Prestigegewinn und womöglich noch umgeben von mehreren Leibwächtern. Der Jogger verzog seinen Mund zu einem dünnlippigen Lächeln, während er sich dieses Bild ausmalte.

Er selbst hatte keine Furcht. Vielmehr mochte er das prickelnde Gefühl, das ihn antrieb, ebenso wie die wohlige Einsamkeit, die ihn umfing wie eine schwarze Decke und ihn allein ließ mit seinen Gedanken und Theorien, seinen Plänen und Wünschen. Mit der ihm eigenen Akribie räumte er in dieser Zeit seine Seele auf, beurteilte das, was ihn während des Tages belastet hatte, und zog entsprechende Konsequenzen, plante für den nächsten nächtlichen Dienst.

Den Weg kannte er genau. Er hielt sich nicht an die großen Hauptadern des Parks, sondern lief die schmalen, verborgenen Pfade entlang. Hier war man der Natur am nächsten. Hier konnte er sich fühlen, als sei er in der Wildnis, allein mit seiner Kraft und selbstverantwortlich für sein Überleben.

Er lief in dem gleichmäßigen, federnden Trott des Leichtathleten, und tatsächlich war er in seiner Jugend Langstreckenläufer gewesen, was seine große Vorliebe für das Joggen erklärte. Seine Schritte waren lautlos auf dem weichen Parkboden. Er hörte seine eigenen Bewegungen, das Aneinanderreiben von Stoff, genoss das Gefühl, von der Nachtluft gestreichelt zu werden. Einen iPod trug er nicht, konnte nicht begreifen, wie man sich mit einer Konserve voller künstlicher Klänge das natürliche Umfeld nehmen konnte, wie so viele Jogger es taten. Stille war ein Geschenk. Sie war kostbar und selten geworden, und er liebte sie.

Blätter und Zweige streiften ihn. Wie immer tat sich bald eine eigene Geräuschwelt auf, wenn man zu lauschen verstand. Der Wind in den Bäumen wirkte nach einiger Zeit lauter, und im Buschwerk konnte man kleine Tiere hören, wie sie sich vor dem nächtlichen Jogger in Sicherheit brachten. Die Natur raschelte und sirrte, wisperte und säuselte.

Semper registrierte jedes Geräusch, versuchte es zuzuordnen und zu deuten. Sein Gehör war ausgezeichnet und diese Musik der Nacht erschien ihm als ein Klanggebilde orchestraler Größe, das zum Morgengrauen hin anschwoll, als wolle es die Kakofonie des hellen Tages einläuten.

Ein neues Geräusch mischte sich in die Symphonie. Stimmen. Sie flüsterten nur, sehr leise, kaum vernehmbar. Sie schienen sich sicher, dass man sie nicht hörte. Der Jogger stutzte. Um diese Zeit waren keine gewöhnlichen Menschen im Park unterwegs. Selbst die Penner vermieden es, hier die Nacht zuzubringen, und wenn sie es dennoch taten, so verhielten sie sich still.

Er sah auf seine Uhr. Die leuchtenden Zeiger gaben die gleiche Zeit an wie vorher. Sie war stehen geblieben. Er machte sich eine geistige Notiz, diese Marke nicht mehr zu kaufen und einen Beschwerdebrief an den Hersteller zu schreiben. Dann sah er zum Himmel. Noch war es dunkel, doch die ersten Boten des Morgens waren schon erkennbar. Gegen Osten wurde das Licht etwas grauer und der Park stellte sich dar wie eine grobkörnige Schwarz-Weiß-Fotografie.

Es war spät.

Die Stimmen kamen näher, wurden deutlicher, verhießen nichts Gutes. Der Jogger lief schneller. Das gepresste Tuscheln war nun vermischt mit den Geräuschen brechender Zweige und raschelnder Blätter. Wer immer es war, sie bewegten sich rasch auf ihn zu. Während Semper mit noch größerer Geschwindigkeit als zuvor seinem Zuhause entgegenstrebte, deutete er mit aller Konzentration die näherkommenden Geräusche.

Auf keinen Fall war es ein Liebespaar. Liebespaare vermieden es, anderen Menschen im Park zu begegnen. Auch waren es wohl mehr als nur zwei Personen. Das Rascheln klang eher nach einer kleinen Gruppe. Drei oder vier junge Männer, so schloss er, liefen hinter ihm her. Ihm wurde klar, dass nun das eintraf, wovor ihn seine Kollegen immer gewarnt hatten. Der Park war ein Sammelplatz krimineller Elemente, und wenngleich sie sicher nicht auf ein spezielles Opfer gewartet hatten, waren sie offensichtlich schnell bereit, zu handeln, wenn sich eines bot. Er war dieses Opfer.

Semper erinnerte sich wieder an einige Morde, die sich erst vor Kurzem in diesem Park ereignet hatten. Obdachlose hatte man erschlagen. Sie hatten einen Unterschlupf unter den dicht belaubten Bäumen gesucht und waren brutal zu Tode geprügelt und verstümmelt worden. Ganze Teile hatte man aus den armen Kerlen herausgeschnitten und im weiteren Umkreis um die Leiche verstreut, Organe entnommen und nutzlos im Gebüsch drapiert. Manche wiesen Bissspuren auf. Durfte man den Zeitungsberichten glauben, so hatten auch altgediente Beamte der Mordkommission Probleme gehabt, beim Anblick der Leichen ihr Frühstück bei sich zu behalten.

Um Raubmord konnte es sich nicht handeln. Die Opfer hatten nichts besessen außer ihrem Leben. Vielmehr hatten die Mordlust selbst sowie offenbar ein ausgesprochener Hang zum Sadismus die Täter getrieben. Es gehörte mehr als nur kriminelle Energie dazu, ein solches Massaker zu veranstalten.

Seither hatte es mehrere Anregungen gegeben, die Polizei nachts im Park Streife gehen zu lassen. Doch auch die Ordnungshüter waren nicht erpicht darauf, den Park im Dunkeln zu inspizieren und begnügten sich so damit, die breiteren Wege mit dem Auto abzufahren, oder patrouillierten hier erst nach Sonnenaufgang.

Der war nicht mehr weit entfernt. Schon gab es einen ersten zartrosa Streifen am grauen, östlichen Horizont. Der Jogger rannte nun mit langen Sätzen, während die Stimmen lauter wurden. Semper verstand sie deutlich.

»Den kriegen wir«, rief es links von ihm, und rechts von ihm tönte es: »Seine Leber gehört mir!«

Aus dem Gebüsch brach ein baumlanger Kerl hervor. Der Jogger registrierte eher automatisch eine abgewetzte Lederkluft und ein narbiges Gesicht. Auf der Stirn hatte der Angreifer eine etwas dickliche Fledermaus tätowiert, eine Tatsache, die Semper zu einem anderen Zeitpunkt sicherlich amüsiert hätte.

Der Lederkerl stürzte sich auf ihn, und Semper wich mit einer Behändigkeit aus, die man dem sehnigen älteren Herrn kaum zugetraut hätte. Der Angriff ging ins Leere. Doch da standen nun zwei weitere Kerle vor ihm, bewaffnet mit langen Messern und einem Baseball-Schläger. Sie grinsten. Semper wusste, dass sie ihn nun ermorden wollten, obwohl er sich keinen logischen oder nutzbringenden Grund hierfür vorstellen konnte. Er konnte die Vorfreude in ihren Gesichtern sehen, spürte den Gruppenzwang, der eventuelle Skrupel eines Einzelnen im Nichts verschwinden ließ. Sie sahen ihn an, als wollten sie sich an seiner Angst weiden, doch der Jogger verspürte nur eine Art von Entrüstung.

Der Baseball-Schläger raste auf ihn nieder. Wie in Zeitlupe sah Semper die große Holzkeule auf sich zukommen und wand sich, um ihrem Schlag zu entgehen, drehte sich und verbog sich, während er weiter versuchte, zum Ende des Parks zu hasten. Es war nicht mehr weit. Er war fast zu Hause. Doch nicht jetzt, nicht hier, so nah an seiner Wohnung!

Beinahe gelang ihm das Ausweichmanöver, doch da glitt ein Messer von der anderen Seite auf ihn zu. Jemand ergriff seine Füße, um ihn zu Boden zu reißen. Er fiel, ruderte mit den Armen. Hände griffen nach ihm. Grinsende Münder gaben den Blick frei auf schlecht gepflegte Zähne.

Nun war es nicht mehr zu verhindern. Noch immer versuchte er weiterzukommen, fort und in die Sicherheit seiner Wohnung, die doch so nah war. Die schiere Wut packte ihn. Die Mörder waren über ihm, lächelten zähnefletschend, voller Vorfreude, voller Lust …

*

Justus Semper erreichte gehetzt die Tür seiner Wohnung. Doch, in seiner Hast, den Tod im Nacken, zitterten ihm die Finger so sehr, dass das Schlüsselloch ein fast unüberwindliches Hindernis darstellte. Schneller! Das musste schneller gehen! Mit Vehemenz schlug er die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. Geschafft. Gerade noch einmal geschafft.

Mit der Hand wischte er sich das Blut aus dem Gesicht. Das war knapp gewesen. Viel zu knapp. Er konnte es noch nicht fassen. Man hatte ihn überfallen, tatsächlich und leibhaftig überfallen. Diese dummen Kinder. Diese dummen, leeren, hohlen jungen Menschen.

Aus seinem Rucksack nahm er sein Frühstück und verstaute es im Kühlschrank. Er brauchte es im Moment nicht. Wer mochte schon Blutkonserven nach so viel Frischkost?

Draußen, auf der anderen Seite der schweren Jalousien, ging soeben die Sonne auf.

Neuerungen

»Ich sage dir doch, sie will nichts mehr von mir wissen. Sie braucht mich nicht mehr, sagt sie. Ich würde nur stören.« Das Irrlicht zuckte empört mit seiner Flamme. »Zweihundertachtzig Jahre beste Zusammenarbeit – und nun dies.«

Der Waldschrat rutschte peinlich berührt auf seinem Ast hin. Und danach – geraume Zeit später – her. Sein moosiges Gewand rieb dabei Faser für einzelne Faser gegen die kantige Borke des Baumes. Seine kurzen Beine hingen regungslos drei Meter oberhalb des Waldbodens.

Er senkte seinen Blick. Langsam. So langsam, wie er alles tat. So senkte er schon eine ganze Weile, als das Irrlicht, das weitaus flinker war, den Gesprächsfaden wieder aufnahm.

»Ich würde ja nichts sagen, wenn sie wenigstens ein anderes Irrlicht gefunden hätte. Naja, böse wäre ich natürlich schon. Zweihundertachtzig Jahre sind schließlich kein – Pappelstiel. Aber wenigstens würde es in der Familie bleiben. Gewissermaßen. Also, versteh mich richtig. Ich bin natürlich nicht der Meinung, dass eine familiäre Bindung einen solchen Schritt leichter machen würde. Aber so!«

Das Irrlicht zuckte flackernd. »Es ist beschämend. Das ist es. Einfach beschämend. Und natürlich nicht nur für mich. Auch für sie. Gerade für sie. Dabei hat sie immer so viel auf sich gehalten. Meine Götter, war das immer ein Etepetete-Getue. Und jetzt das.«

Die Spitze der Flamme bog sich melancholisch, flackerte dünn, wurde streifig. Fast sah das Irrlicht weinerlich aus. So viel suizidales Verhalten verunsicherte den Baum, in dessen Krone es saß. Er raschelte beunruhigt mit den Blättern, als wolle er den Waldschrat darauf hinweisen, dass es hier etwas Dringendes zu tun gab. Walter Waldschrat, dessen Kommunikationsfähigkeit mit den blättrigen Gesellen recht gut war, auch wenn diese gemeinhin noch langsamer reagierten als er selbst, verstand denn auch die Warnung. Er begann, sich Gedanken zurechtzulegen, die zu Worten geformt werden sollten, wenn er erst damit fertig war, seinen Blick wieder zu heben.

Letzteres nahm jedoch im Moment seine ganze Konzentration gefangen. Er hob.

Und hob.

Sein filzig grüner Hut zitterte vor Eile. Seine Tannennadel-Haare sträubten sich einzeln, nacheinander. Blattgrüne pupillenlose Augen suchten den hellen Schein seines Gesprächspartners.

Der rutschte indes ungeduldig auf dem Ast hin und her und machte den Baum nervös, der wider besseren Wissens Angst vor Verbrennungen hatte. Bäume mochten generell kein Feuer, und dieser hatte Grund genug, sich an die verheerende Wirkung von Flammen zu erinnern. Lang war’s her. Lang. Viele Winter und Sommer lang, und heute konnte man ihm diese Erfahrung wirklich nicht mehr ansehen. Längst hatten neue Jahresringe seine schwarze Verwundung verschwinden lassen. Aber er spürte sie noch wie heute, konnte noch die tobenden Flammen auf seiner Borke fühlen, die sich nach innen fraßen, seine Haut zu Kohle werden ließen, schwarzen Staub aus seiner Borke zu machen suchten.

Seither mochte er keine Flammen, auch nicht die harmlosen kalten des Irrlichts, obgleich er wusste, dass sie ihm nichts anhaben konnten. Viel konnte ihm nicht gefährlich werden in seinem Dasein: der Blitz, der Axtträger, der Feuerentfacher. Das Irrlicht nicht, auch nicht der Waldschrat, der sein Freund war, sein entfernter Verwandter gar.

Aber das Flackern machte ihn nervös. Seine Blätter seufzten im Wind. Und auch Walter Waldschrat seufzte und hielt dazu mit dem Heben des Blicks ganz kurz inne, so etwa zwei bis drei Minuten.

Das Irrlicht tanzte weiter hin und her.

»Man kann mir bestimmt nicht nachsagen, ich sei nicht anpassungsfähig. Schließlich ist sie nicht die erste Nachtdrude, mit der ich zusammenarbeite. Gewiss nicht. Ich bin viel älter als sie und viel erfahrener. Aber das zählt ja auf einmal nicht mehr. Dabei haben wir so gut harmoniert. Es war eine wirklich gute Zusammenarbeit. Ich meine, wir sind beide auf unsere Kosten gekommen. Nie habe ich mich an einer Seele auch nur vergriffen. Ein bisschen Angst und Verlorensein einstreichen – das ist alles, was ich je wollte. Jetzt sag mir ehrlich: Ist das so viel verlangt?«

Walter Waldschrat hatte nun den Kopf so weit gehoben, dass er das Irrlicht direkt anblickte. Er sah, was viele nicht sehen konnten, die hungrigen, brennenden Augen inmitten der kalten Flammen. Sein grünblättriger Blick ließ das Flammenbündel kurzzeitig verstummen. Seine moosige Ruhe strahlte Unveränderbarkeit aus. Doch Rrrisch, das Irrlicht, wusste es besser und entzog sich dem beruhigenden Einfluss.

»Es hat einfach keinen Stil, was sie da macht. Das tut man nicht. Wir sind doch keine Menschen! Der ganze Witz ist, dass wir eben keine Menschen sind. Ich bitte dich, wer wollte schon Mensch sein? Wolltest du Mensch sein? Sie würden dich mit ihren blechernen Bestien überfahren, während du noch überlegst, ob du die Zehen für den zweiten Schritt über die Straße heben sollst.«

Das war natürlich dummes Zeug, und der Baum schüttelte sich ärgerlich. Er fand, dass Rrrisch gut daran tun würde, ein wenig bei der Realität zu bleiben: Schrate überquerten nie die Straße. Außerdem sagte man so ein Wort einfach nicht. Es war unhöflich, und es war obszön. Er selbst sagte nie »Straße«, egal wie er sich fühlte. Der Begriff existierte für ihn einfach nicht, obwohl er natürlich wusste, was eine Straße war, auch wenn er in dem guten Viertel des Waldes lebte, wo es solche schrecklichen Dinge nicht gab. Ihm war jedoch durchaus bewusst, dass es Verwandte von ihm gab, die in unmittelbarer Nachbarschaft solcher grausigen Umgebung lebten. Er bedauerte sie zutiefst.

Als Baum konnte man sich seine Nachbarschaft nur in den seltensten Fällen aussuchen. Eben lebte man noch in einem ersten Viertel, umgeben von Verwandten und besucht von gefiederten Freunden, und schwups kamen irgendwelche Zweibeiner und zogen eine Gerade mitten durch die Realität. Man musste noch dankbar sein, wenn sie einen dabei nicht umlegten.

Früher war alles ganz anders gewesen.

Das fand auch Rrrisch.

»Es ist kaum ein paar Jahrhunderte her, da erstreckte sich das Land ohne glatte Linien bis zum Horizont und darüber hinaus.« Der Baum stellte erfreut fest, dass Rrrisch es vermieden hatte, das böse Wort noch mal zu sagen. »Kaum schaut man mal nicht hin, da ziehen sie überall dem guten Boden die Haut ab und schmelzen schwarze Steine darüber. Und was sie mit dem Sumpf machen, das kann ich gar nicht aussprechen.«

Bei der Straße hatte das Irrlicht weniger Zurückhaltung gezeigt, fand der Baum ein wenig verärgert. Aber er wusste, wovon Rrrisch sprach. Nur hinter vorgehaltenem Ast konnte man so ein Wort wiederholen: »Trockenlegen«. Die Vorliebe der Menschen für schwarze Linien in der Welt und trockene Böden war pervers. Er wusste, er würde diese Wesen nie begreifen.

»Jedenfalls ist es eine Schande«, fuhr Rrrisch fort. »Stell dir vor, was sie macht! Ich trau mich kaum, es auszusprechen.«

Der Baum hoffte inständig, Rrrisch würde nicht wieder eines jener Worte gebrauchen. »Straße« hatte bereits gereicht, um ihm die Laune zu verderben. Und es gab so viele Worte – beinahe jährlich mehr – die er nicht mochte und die in einem gepflegten Wald als ausgesprochen unanständig galten.

Der Waldschrat bereitete sich darauf vor, in absehbarer Zeit Entsetzen zu empfinden. Genauer gesagt war er damit beschäftigt, die Entscheidung vorzubereiten, ob Entsetzen empfunden werden sollte oder nicht. Das Entsetzen selber würde dann noch einmal einen eigenen Vorgang benötigen.

Als niemand dem Irrlicht mit entsprechender Floskel Mut zusprach, die Hemmung zu überwinden und die angekündigte Schande zu erwähnen, blieb Rrrisch nichts anderes übrig, als selbst seine Entschlossenheit dafür zusammenzunehmen. Es zauderte auch bei Weitem nicht so lange, wie es vielleicht als anständig gegolten hätte, mehr aus Effekt als aus tatsächlicher Zurückhaltung. Rrrisch galt nicht als zurückhaltend. Auch nicht als sehr mutig. Eher schon als direkt.

»Sie inseriert.«

Der Baum, der in panischer Erwartung schon mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, war ein wenig enttäuscht. Was immer das sein mochte, es sagte ihm nichts. Er raschelte irritiert. Der Waldschrat sah wie vom Donner gerührt aus. Aber das tat er eigentlich immer. Es lag an seiner Langsamkeit und an seinen großen, grün spiegelnden Augen und hatte nichts mit einer Reaktion zu tun.

Rrrisch nahm sich zusammen und wartete. Diesmal wollte es warten, bis Walter so weit war. Das bedurfte größerer Geduld. Es hüpfte währenddessen durch die Äste, züngelte kalt und vergeblich nach Blättern, schien Zweige entfachen zu wollen und verbreitete im Baum panische Unruhe.

Schließlich war es so weit. Walter hatte seinen Kopf in entsprechende Höhe gehoben, seinen Entscheidungsfindungsprozess durchlaufen, die Entscheidung gefällt, sie in Worte gefasst und sprach sie nun aus.

»Sie was?«

»Inseriert. Annonciert. Das ist eine menschliche Eigenart. Die tun das dauernd. Sie nehmen Worte und schreiben sie dorthin, wo andere Menschen sie lesen können. Man nennt diese Orte Medien. Und sie sind meistens …«, Rrrisch machte eine bedeutungsvolle Pause, »aus Papier.«

Das Schütteln, das durch den Baum ging, war so immens, dass der Waldschrat von seinem Ast zu purzeln drohte, ja in der Tat gepurzelt wäre, eigentlich schon fast im Purzeln begriffen war, wenn er nicht das Einzige getan hätte, das er wirklich schnell tun konnte.

Er hörte auf, auf dem Ast zu sein und begann im gleichen Moment, auf dem Boden zu existieren. Rrrisch flog zu ihm herab.

»Ist das nicht schrecklich?«, sprach es und interpretierte Walters Gesichtsausdruck, vorwegnehmend, als erschreckt. Auch der Baum fand es schrecklich. Ihm kräuselten sich immer noch die Wurzeln vor lauter Entsetzen. Zwar hatte er die Bedeutung eines Mediums noch nicht hundertprozentig erfasst, war aber über die Frechheit Rrrischs, ein Wort wie »Papier« in seiner Gegenwart auszusprechen, mehr als nur pikiert.

Natürlich wusste der Baum, dass man von einem Irrlicht keine besondere Behutsamkeit oder Finesse erwarten konnte. Irrlichter hatten keinen Stil. Trotzdem, fand er, hatte er so viel Rücksichtslosigkeit nicht verdient. Er nahm alle seine Säfte zusammen und formulierte so aus lauter Ärger und Abscheu ein Wort, von dem er wusste, dass es auf Rrrisch einen entsprechenden Eindruck machte.

»Löschwasser!«, wisperten die Blätter gehässig. Da aber nur die Zischlaute deutlich aus dem Baum drangen, ignorierte Rrrisch diesen Einwurf völlig. Es züngelte nur tänzelnd auf dem Waldboden herum, umkreiste den Schrat und wartete.

Der Schrat hatte nun jedoch auch bemerkt, dass die normale lineare Gangart seiner Gesprächstechnik für ein so heißes Thema nicht angemessen war. Es dauerte einfach zu lange für seinen Gesprächspartner. So schaltete er um auf paralleles Zeitempfinden. Das konnte er wirklich gut. Auf diese Weise vermochte er zu kommunizieren, ohne dass sein Gegenüber allzu lange auf die Antwort warten musste.

Es war eine äußerst praktische Begabung. Sie bestand daraus, dass er nicht mehr nach einer Antwort suchte, sondern um sich herum augenblicklich einen Zeitbereich schaffte, in dem er die Antwort schon gesagt hatte. Für ihn war das nicht sehr schwierig, aber Kreaturen, die mit ihm kommunizierten, fanden es mitunter sehr irritierend, eine Antwort gehört zu haben für etwas, das man eben erst sagte – ja in weniger gut ausgesteuerten Momenten vielleicht noch nicht einmal formuliert hatte.

Rrrisch hatte damit jedoch keine Probleme. Es sprach seit vielen Jahren mit dem Schrat und ärgerte sich lediglich, dass es ihm noch nie gelungen war, die Frage auf eine bereits empfangene Antwort im Nachhinein noch zu ändern.

»Ein Medium?«, hatte der Schrat gefragt. »Ist das nicht die moderne Bezeichnung für eine Hexe?«

Die kalte Flamme züngelte unsicher. Die Wahrheit war, Rrrisch wusste es nicht genau. Eigentlich konnte es sich nicht vorstellen, dass es sich um Hexen handelte, obwohl das natürlich einiges erklären würde. Nachtdruden und schwarze Hexen hatten oberflächlich gesehen einiges gemeinsam, obgleich Hexen selbstverständlich viel harmloser waren. Aber es war sich ziemlich sicher, was eine Annonce war. Den Begriff kannte es schon eine Weile. Er war nicht so schrecklich neu.

Es zögerte flackernd.

»Nein. Mit Hexen hat es, glaube ich, nicht zu tun. Das könnte ich noch verstehen. Aber es ist wirklich Menschenwerk. Nichts weiter als Menschenwerk.« Das erklärte zwar nichts, klang aber beeindruckend. »Sie gibt diese Annonce auf in einem Medium. Und das Medium ist in einem Menschennetz. Frag mich nicht, wie so etwas funktioniert. Ich weiß nur, dass Menschen jetzt auch Netze spinnen können, wie Spinnen – oder wie Nachtdruden. Netze, die die Welt umspannen. Und dann kommen Menschen zu ihr, ohne dass ich sie durch den Sumpf irreleiten muss … darf. Sie kommen einfach so von alleine. Freiwillig. Sie kommen wegen der Annonce.«

Der Waldschrat hatte das ziemlich unglaublich gefunden und seiner Meinung soeben kräftigen Ausdruck gegeben, sodass Rrrisch sofort ohne Pause weiterreden konnte.

»Ja. Freiwillig. Stell dir das vor! Als ob schon jemals jemand freiwillig zu einer Nachtdrude gekommen wäre. Ja, ich weiß«, reagierte er dann übergangslos auf die Antwort des Waldschrats, dass doch wohl noch niemand wirklich freiwillig eine Nachtdrude aufgesucht hätte, »natürlich nicht so freiwillig. Das klassische Muster ist, dass sie mir in die Irre folgen, dann auf sie stoßen und in ihr all die Schönheit erkennen, die sie sich immer gewünscht haben. Dann kamen sie natürlich schon freiwillig mit. Aber wenn sie gewusst hätten, dass sie nicht die schönste Frau der Erde ist, die gerade sie will, sondern dass sie langsam die Seele herausgesaugt bekommen und schließlich als leere Hüllen lebend verfaulen in ihrem Netz, mit nichts in ihnen außer Sehnsucht und Reue, dann wären sie natürlich nicht freiwillig gekommen.«

Das Irrlicht tänzelte unwirsch hin und her.

»Aber in der Annonce steht nicht, dass sie eine Nachtdrude ist. Sie ist doch nicht dämlich. Und du hättest dir wirklich sparen können zu sagen, dass sich ja dann nicht so viel geändert hat. Natürlich hat sich viel geändert. Es hat sich alles geändert. Die Leute fahren einfach zu ihr. Sie reißen sich drum. Sie kommen sogar mit dem Auto. Sie kommen zu ihr. Ohne mich.«

Rrrisch war von Trauer überwältigt.

*

Sie war die Nacht. Sie war das Netz. Sie war die Schönheit. Ihre Augen hatten die Farbe von Versprechungen, ihr Mund den Klang von Schwüren, ihr Körper war fleischgewordene Verheißung.

Vom Dunkel des Waldes hob sie sich nicht ab, war Schatten; nicht greifbar, nicht sichtbar, bis sie zum Wunsch, zum Verlangen des Besuchers wurde. Dann war sie der Wunsch, nahm Gestalt an in seiner Form, war Antwort auf seine Erwartung, war nichts, was nicht Sehnsucht war. Ihre seidigen Haare wehten selbst in der Windstille Abenteuer verheißend. Ihr zartes Gesicht leuchtete in zugeneigtem Lächeln. Ihre weiche, nackte Haut war auf den Fingerspitzen zu fühlen, noch bevor sie in greifbare Nähe kam. Ihre Kleidung umhüllte sie wie der Schatten, aus dem sie bestand, trügerisch, sich wandelnd, mit dem Sternenlicht einmal mehr, einmal weniger werdend.