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Düster, intensiv, geheimnisvoll: "Seelenspalter" ist atemberaubende Assassinen-Fantasy von der mehrfach preisgekrönten Autorin Ju Honisch Nur die Starken überleben in den Acht Reichen, die miteinander in einem endlosen Krieg um die Vorherrschaft liegen. Das begreift Maleni sehr schnell, als sie nach einem Massaker, dem ihr ganzes Dorf zum Opfer fällt, Aufnahme beim Orden der Xyi findet. Unerbittlicher Drill und ein geheimnisvolles Ritual lassen einen Teil von Maleni zur Assassinin Taryah werden, die ohne Mitleid zu empfinden oder Fragen zu stellen ihrem blutigen Handwerk nachgeht. Doch weder in den Acht Reichen noch beim Orden der Xyi sind die Dinge so einfach, wie sie scheinen. Und eines Tages muss Maleni erkennen, dass Taryah nicht nur ein Teil von ihr ist – sondern ihr größter Feind.
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Seitenzahl: 941
Ju Honisch
Seelenspalter – Die Geheimnisse der Klingenwelt
Roman
Knaur e-books
Schön wie der Morgen, tödlich wie die Nacht – und sich selbst ihr größter Feind
Taryah tanzte. Der Klang der Trommeln und Flöten mischte sich mit dem Geruch der parfümierten Kerzen. Er durchdrang jede Pore, suchte nach dem Gemüt der Menschen, betörte es wie süßer Nebel; drang dann noch tiefer, in den Bauch, die Eingeweide, das Zentrum der Sinneslust. Doch Duft und Musik allein waren es nicht, die ihr Publikum mit offenen Augen träumen ließen.
Es war Taryah selbst.
Jetzt verharrte sie auf dem linken Fußballen und hob ihr rechtes Bein so hoch, dass ihre Gliedmaßen eine gerade Linie gen Himmel bildeten – nur einen winzigen Augenblick lang. Und schon stand sie wieder auf beiden Füßen, wirbelte herum, ließ sich vom Rhythmus tragen, ließ sich gleiten, leiten, verleiten von den Klängen. Die Musiker teilten ihre Kunst mit ihr, ohne sie ansehen zu dürfen. Doch sie erspürten sie mit ihren Künstlersinnen und verwoben ihre Musik mit Taryahs Schönheit und exquisiter Erotik. Sie fühlte die Verbindung zwischen ihnen – die sich aneinander steigernde Wildheit, die Anmut und Grazie, Inbrunst und Musikalität einte sie und zog sie mit sich. Weiter und weiter. Und tiefer und tiefer.
Taryah schwebte beinahe, schien mit ihren Füßen kaum noch den Boden zu berühren, glitt nahezu lautlos durch den weitgehend möbellosen Raum, dessen Intarsien-verschnörkeltes Parkett ihr eine Bühne der Pracht bot. Nur das leise Klingeln ihrer goldenen Knöchel- und Armreifen mischte sich ebenso zart wie zärtlich in den Rhythmus der Musik.
Taryahs Arme und Hände formten jene Gesten der Liebe, die Einladung und Versprechen zugleich waren. Langsam glitten sie an ihrem Körper entlang, als liebkosten und umrahmten sie dessen perfektes Kunstwerk. Dann wieder streckten sie sich sehnsuchtsvoll nach ihrem Zuschauer, als wäre dieser ihr nah und doch so fern. Und ihr Zuschauer dankte es ihr, sog an ihrem Zauber, atmete Schönheit und Perfektion in einer Welt, die sonst wenig davon bot.
In seinem Blick las sie seine Gedanken – dass sie diese Schönheit nur ihm schenkte, ihm allein. Spürte, wie er es zuließ, dass dieser Gedanke ihn erfüllte, obgleich er wusste, die Schöne, die für ihn tanzte, tat es allein auf sein Geheiß hin. Er hatte sie hierher befohlen, zu sich bringen lassen. Doch nun ergötzte er sich an dem glitzernden Gedanken, sie wäre ganz freiwillig hier – weil sie ihn wollte, ihn vielleicht sogar liebte und nicht nur fürchtete. So, wie ihn alle fürchteten.
Sie sah sein versonnenes Lächeln, das Staunen in seinen Augen und die Gewissheit dahinter: Er hatte sie sich verdient.
Taryahs kastanienrote Locken flogen, jede einzelne wie fedrige Seide. Ihre Hüften kreisten, wippten, zuckten, lockten. Ihre Bewegungen boten Einblicke und verbargen schon im nächsten Moment, was man beinahe zu erhaschen gemeint hatte. Taryah war Fleisch gewordene Perfektion.
Ein Schleier fiel. Er senkte sich ganz sacht herab wie ein Nebelschwaden, und glitt dann wie zufällig vor dem Mann zu Boden. Atemlos griff er nach ihr, doch Taryah entzog sich ihm, war schon wieder davongewirbelt, während sie ihm noch ein Lächeln schenkte. Wie ein besonderes Kleinod war es, kostbar und doch wohlfeil.
Zwölf Schleier. Sieben davon lagen bereits vor ihm wie Beutestücke.
Taryah spürte sein siegessicheres Lächeln, verbuchte es als Bestätigung ihrer Kunst und erwiderte es huldvoll und vielversprechend.
Bald.
Ihre hellgrünen Augen versprachen immer viel. Ihre zarten, goldgeschmückten Knöchel, ihre langen Beine, ihre runden Hüften und ihre schmale Taille waren jedes für sich ein wortloses Versprechen. Und ihre Brüste in dem glasperlenbestickten Oberteil, das mit erstaunlich wenig Material bemerkenswert viel erreichte, wurden zum Unterpfand des Versprechens. So weich, so zart, so nah, so unerreichbar.
Bald erreichbar.
Bald.
Noch aber waren sie teilweise durch einen transparenten Seidenschleier bedeckt, der das, was kommen sollte, erst ankündigte und nach und nach in Szene setzte.
Nacktheit war trivial. Nur der Weg dorthin war erregend. Und über diesen Weg wusste Taryah mehr als ihr Gastgeber, dessen genussreiches Philosophenlächeln langsam hinter wachsender Begierde verschwand. Dabei konnte sie in seinen dunklen Augen lesen, wie wichtig ihm dieses versonnene Lächeln auf seinen sonst so strengen Lippen war. Er pflegte es bewusst, inszenierte sich mit ihm als ein Mann, der über den Dingen schwebte, bodenständig zwar, doch zugleich überlegen und stetig aufstrebend.
Dass Begierde in diesem Konstrukt ein zweischneidiges Schwert sein konnte, wusste Taryah. Sie sah, wie die Lust ihn durchdrang, wie er sich in den Wellen ihrer Sinnlichkeit rekelte. Aber sie wusste auch, dass die Wellen nicht zu Wogen werden durften. Nicht zu schnell jedenfalls, weil die Begierde ihn gleichermaßen irritierte, denn sie war unreflektiert und fremdgesteuert. Nur der Anspruch an eine Ästhetik, die seiner Erhabenheit zweifelsfrei zustand, rechtfertigte sie. Und natürlich die angestrebte körperliche Erfüllung selbst, denn nicht einmal dieser Mann hinterfragte einen ihm dargebotenen Orgasmus philosophisch.
Seine Feinde nannten ihn den Blutdenker – ein komplizierter Mann, und gefährlich. Man durfte ihm nur so weit gefallen, wie er sich selbst in diesem Spiel der Lust gefiel.
Der Goldschmuck an Taryahs Handgelenken klirrte leise, als sie nach dem nächsten Schleier griff. Ganz langsam zog sie das durchscheinende Seidenstück von den Resten ihrer Kleidung, die nur mehr aus vier Schleiern, dem Glasperlengeflecht, das ihre Brüste stützte, und einem goldbestickten Nichts bestand, das an einer geflochtenen Goldkordel ihre Scham bedeckte.
Dann ließ sie den Schleier fallen und riss sich, wie in einer Aufwallung plötzlichen Verlangens, auch den nächsten ab und warf ihn hoch in die Luft. Wie eine seidene Feder glitt er langsam und lautlos gen Boden, und sie umtanzte ihn, umgarnte ihn, wob ihre Anmut und ihre scheinbar unschuldige Lust in ihn, bis auch dieser sich ihrem Gastgeber zu Füßen schmiegte wie ein weiteres Versprechen.
Während Taryah ihren Tanz einem neuen Zenit entgegentrieb, betrachtete sie ihren Gastgeber und ihre Umgebung. Der Mann, der sie angefordert hatte, war stattlich und saß auf dicken Teppichen zwischen einer Vielzahl an Seidenkissen, halb gelöst, halb angespannt. Seine Linke ruhte locker zwischen den Beinen, mit der Rechten griff er bisweilen nach einem prunkvollen Rotweinkelch. Stühle gab es nur selten in den Boudoirs, die für die sinnlichen Freuden gedacht waren, denn sie wurden dort nicht gebraucht. Taryah wusste das. Sie wusste viel.
In einer weiteren funkelnden Drehung glitt ihr Blick zu den Musikern. Er hatte sie mit dem Rücken zu ihr postiert, um ihnen zu verwehren, was ihm allein zustand. Nein, der Blutdenker teilte nicht gern, nicht einmal den Anblick einer Tänzerin. Er hatte die Dinge gerne für sich allein, wollte sie erobern und besitzen und nichts preisgeben, das er nicht wohldurchdacht übergab.
Er war nicht nur Philosoph, er war ein Eroberer. Darin sah er sein Wesen, seine Profession, und er würde auch sie erobern. Er lauerte bereits darauf, war jedoch Stratege genug, zu warten und zu genießen, ehe er sein Fleisch in sie senkte. Er wusste, wie man sich den Genuss lange erhielt, wollte alles, in taktischer Reihenfolge. Seiner Reihenfolge.
Er war es, der bestimmte, wann etwas geschah, wann sich etwas änderte. Er war es, der die Welt in beherrschbare Teile zerschnitt – und dann beherrschte er sie.
Taryah las es in seinem Gesicht, in jenen siegesgewissen, harten Zügen, in die sich nie ein Zweifel schlich. Ja, er war ein machtbewusster und brutaler Mann. Doch er war auch dem Schönen zugetan, und nicht zuletzt war er vorsichtig. Er wusste das, aber sie wusste es auch. Und würde es zu nutzen wissen.
Nicht weit von ihm und den Köstlichkeiten an seinem reichgedeckten Tisch, mit dessen Köstlichkeiten er den erotischen Genuss mit dem lukullischen veredeln wollte, saß sein Mundschenk. Dem dürren jungen Mann hatte man eine Binde um die Augen gebunden, und so, blass und ängstlich, blickte er gerade nur nach unten auf die Speisen, die er zu verkosten hatte. Vielleicht sah er trotzdem mehr. Hätte Taryah Mitleid empfinden können, sie hätte es für ihn getan.
Stattdessen wandte sie Aufmerksamkeit und Körper wieder ihrem Gastgeber zu. Zandru von Lorennen war Sieger in einem schon Hunderte von Jahren andauernden Krieg, deren Sieger und Verlierer mit wandelndem Kriegsglück immer wieder ihre Rollen tauschten. Heute und hier war Zandru der Sieger, und er genoss seinen Sieg in tiefen Zügen. Wie den Wein an seinem Gaumen und das Versprechen der Lust in ihren Augen.
Ein weiterer Schleier fiel. Und wieder einer. Nun blieb nur noch einer übrig, den sie um sich schlang, über ihre Haut zog, ihre Brüste damit liebkoste. Ganz nah tanzte sie an den Blutdenker heran, wirbelte das bunte Stück Seide, das nur lose um ihre Hüften geschlungen war, und er fing es, hielt es, zog daran.
Er lächelte – siegesgewiss wie stets. Und immer noch ein wenig philosophisch, als trüge er eine Erkenntnis der Welt in sich, die auf der Schwäche der anderen basierte. So war es, dessen war er sich sicher. Nichts in seinem Leben hatte bislang dieses Weltbild getrübt, und er hätte es auch nicht toleriert. Auch Taryah wusste, dass sie gut daran tat, nicht an seinem Weltbild zu rütteln.
Dennoch gab sie den Schleier nicht frei, sondern ließ sich von ihm mit dem Tuch in seine Nähe ziehen. Schenkte ihm ihr sanftes, zuversichtliches Lächeln, während sie ihm gleichzeitig weiterhin vorenthielt, was er nun immer energischer von ihr forderte. Noch berührte er nicht sie, sondern nur den Schleier, den sie wie eine kühle, zarte Verbindung zwischen ihnen festhielt. Als Pfand. Als Fessel.
Ohne Frage war er stärker als sie. Auch wenn er dem Gemetzel seiner Schlachten lediglich vom Feldherrnhügel aus zusah, war er doch ein Kämpfer. Er hatte sich seine Position ebenso erkämpft wie seine Siege und wusste, was er wollte und wie er es bekam. Bald schon würde er ihr Spiel beenden, um das seinige zu beginnen.
Er war kein Spieler, er war Kriegsherr, und Taryah wusste, sie durfte den Augenblick, in dem sie ihn hinhielt, um ihn bis an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung zu führen, nicht überreizen. Genau die richtige Sekunde musste es sein, und dann würde sie nachgeben und ihm entgegenfließen wie die Seide, die er zarten Trophäen gleich um sich drapiert hatte.
Einen Moment noch.
Noch einen.
Jetzt.
Zu einfach durfte man es einem Kämpfer nicht machen, und so gönnte sie ihm zunächst einen kleinen Sieg. Er sah nicht aus wie jemand, der andere zu respektieren wusste, verachtete mit Sicherheit Frauen, die es ihm einfach machten – und vermutlich auch Männer, die ihm allzu willfährig Respekt zollten. Jene, die es nicht taten, räumte er beiseite, und wahrscheinlich würde er auch ihr keinen Respekt mehr entgegenbringen, sobald er seinen Sieg ausgekostet hatte. Sein Respekt galt nur ihm selbst und dem Bild, das er von sich hatte: Denker. Philosoph. Feinsinniger Genießer.
Und Sieger, natürlich.
Jetzt zog er sie zu sich. Sie half ihm nicht, überließ ihm die Führung, wehrte sich nicht, zähmte nur seine Geschwindigkeit. Es war nichts gewonnen, wenn er sie jetzt nur nahm und dann ging.
Nun konnte sie seine dunklen, harten Augen sehen, die sie unter buschigen Brauen musterten. Eine kunstvoll gewirkte Goldkappe verdeckte das vor der Zeit schütter gewordene Haar, und seine Muskeln rochen etwas zu sehr nach Parfüm. Ein eitler Mann, der sich nicht gesalbt hatte, um ihr, sondern allein um sich selbst zu gefallen. »Komm!«, befahl er und fuhr mit seiner Zunge an ihrem Oberschenkel entlang. Dann zwang er sie in die Knie.
Sie schenkte ihm einen Augenaufschlag. Ihre langen Wimpern flatterten nicht und ihre Augen, die in die seinen blickten, zeigten keine Scheu. »Eine Bitte, Herr«, flüsterte sie.
»Was willst du?«, fragte er unwirsch, und sie sah, dass er zu wissen glaubte, was sie von ihm erbitten würde. Eine Bezahlung vielleicht oder das Versprechen für das Gewähren einer Gunst.
Sie lächelte. »Nur die Gnade eines Schluckes Wein aus deinem Becher«, wisperte sie. »Mehr nicht. Der Tanz hat mich durstig gemacht.«
Er zog an dem Perlenhalter ihrer Brüste. Der riss, so wie vorgesehen. Schimmernde Perlen sprangen über den Boden, fügten ihr eigenes glasfeines Trommeln zur Musik wie Regen in der Nacht.
Ehe er ihr antwortete, griff er nach dem, was er befreit hatte. Seine Hände, mit denen er seinen Anspruch geltend machte, waren hart. Der Philosoph war dem Herrscher gewichen.
»Wein willst du?«, fragte er und kniff ihr in die Brustwarzen. »Was bekomme ich, wenn ich dir Wein gebe, Mädchen?«
»Alles«, sagte sie, ohne ihn zu berühren, hob nur ihre Hände, nicht in einer Abwehrgeste, sondern offen. Dann strich sie ihm mit dem linken Mittelfinger über seine Oberlippe. »Alles, was du dir vorstellen kannst und mehr.«
»Wein!«, befahl er unwirsch, und der Mundschenk streckte ihm den Becher entgegen, ohne seinen Blick vom Boden zu heben. Der Blutdenker nahm ihn und gleichzeitig ihre Finger in seinen Mund, um die er seine Zunge kreisen ließ, ehe er sie freigab.
»Du schmeckst süß«, sagte er und reichte ihr den Becher. »Wie Mandelkuchen.« Sie nahm das Gefäß in beide Hände und trank daraus. Guter Wein, getestet und geprüft vom Mundschenk und ohne Gift. Eben noch reiner Wein – bis ihre Lippen ihn berührten.
»Danke, Herr!«, sagte sie und neigte ihr Haupt, während sie den Becher an ihn zurückgab, ihn ihm darbot in einer Geste der besiegelten Einigkeit und der freiwilligen Unterwerfung, die er so schätzte.
Seine Hand griff nach dem einzig verbleibenden Kleidungsstück. Es würde nicht so schnell reißen wie der Perlenhalter. Er würde etwas mehr Geschick brauchen, vielleicht auch Geduld. Über beides verfügte er nicht mehr; sie sah es in seinen Augen, sah es an der Beule in seinen Beinkleidern, und sie behielt recht: Seine Augen wurden dunkler vor Ärger, während er erfolglos an dem goldenen Band zerrte, das ihr letztes Geheimnis verbarg. Ganz sicher wollte er keine Zeugen für sein Scheitern.
»Sollten wir nicht allein sein, Herr?«, fragte Taryah nun, beinahe schüchtern, und ihre Unterwürfigkeit gepaart mit seinem erfolglosen Nesteln an ihrer goldenen Kordel verfehlten ihre Wirkung nicht. »Geht!«, befahl er den Umstehenden unwirsch. »Rasch! Verschwindet!«
Musiker und Mundschenk sprangen auf und entfernten sich hastig, ohne sich umzudrehen. Eine geschnitzte Holztür fiel ins Schloss. Stille.
So war es gut.
Mit der Linken löste sie nun das Band, das den Weg zu seiner Erfüllung verwehrt hatte, und kurz darauf starrte er mit bebendem Atem auf den letzten Teil ihrer perfekten Blöße.
Ganz langsam schob sie ihm ihr Becken entgegen.
»Du wirst mir dienlich sein«, sagte der Mann, der die Köpfe seiner unterlegenen Feinde auf Lanzen über der Burg aufspießte, und griff nach ihr. »Sehr dienlich. Und auf jede erdenkliche Weise.«
»Mit allem, was ich habe«, stimmte sie ihm zu. »Mit jedem Teil meines Körpers und jeder Kunst meiner Hände und Lippen. Trinkt, Feldherr. Nehmt einen Schluck von Eurem Wein. Und dann erobert mich.«
Er ergriff den Kelch und leerte ihn, als würde das Teilen des Weines seinen Anspruch besiegeln. Sein Wein. Sein Wille.
Er zog sie zu sich.
Taryah lächelte.
Maleni rannte. Ihre Füße berührten kaum die Stufen der schmalen, steinernen Hintertreppe, und ihre Sinne schwirrten, wie immer in diesem Stadium ihres Seins. Sie blickte sich um, lauschte angestrengt, hörte jedoch nichts. Noch nicht.
Im Dunkel einer Nische stand ein grauer Rückensack in den Schatten. Sie griff hastig danach, zog etwas hervor, warf sich eine Bluse über, grau, sittsam und unauffällig. Der weite, mehrschichtige Hosenrock war braun. Blitzschnell zog sie die gestrickten Strümpfe hoch und band die Strumpfbänder über dem Knie. Lederschnürstiefel, ein graues Umschlagtuch und eine brave Wollhaube, unter der ihr rotes Haar verschwand. Da stand sie: Maleni, die bescheidene Magd, holte zuletzt ein unverziertes kleines Holztigelchen aus dem Sack, öffnete es, strich sich die asche- und dreckfarbene Paste ins Gesicht und mit ihr den Duft von Schmutz und Schmierseife. Ihre Hand zitterte leicht.
Eine Gestalt löste sich über ihr aus den Schatten, und sie fuhr erschrocken herum. Es geschah nicht oft, dass sie jemanden nicht kommen hörte. Der Mann, der die Livree der Palastdiener trug, war gut doppelt so alt wie sie. Sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich, die Haltung steif und aufrecht, beinahe arrogant, und seine schwarzen Augen musterten sie kalt und unbeweglich wie die eines Raubfisches, der in den Tiefen des Meeres das Vorbeitrudeln eines Ertrunkenen betrachtet. Sie starrte zurück, unsicher, wie lange er sie bereits beobachtete. Was hatte er gesehen?
Schließlich senkte sie ihren Blick in dem Versuch, jene Scheu und Unterwerfung der Magd Maleni auszudrücken, die sie im Moment nicht fühlte. Maleni. Die Heilkundige. Die Gehorsame.
Im Niederschlagen der Augen taxierte sie den Mann erneut – kurz nur, das musste reichen. Er war groß, eher schmal als kräftig, und seine Haltung hatte etwas Katzenhaftes. Dass er ein paar Stufen über ihr stand, war schlecht. Sie würde seinen eigenen Schwung, sein eigenes Gewicht nutzen müssen, um ihn von unten her die Treppe hinabzustürzen.
Da sah sie es: Seine Linke bewegte sich. Nur einen winzigen Augenblick lang tippte der kleine Finger auf das Gelenk des Ringfingers, einmal, zweimal.
Sie nickte. Dann berichtete sie: »Der Auftrag ist ausgeführt. Das Ziel ist entfernt worden.« Sie sagte es ohne Triumph und ohne Trauer.
Seine Augenbraue zuckte kurz. Gut, sollte das heißen, vermutete sie. »Der Seiteneingang des Pferdestalls ist offen«, antwortete er ruhig. »Die Händlerkarawane nach Weroburg ist weniger als eine halbe Tagesreise voraus ostwärts. Die Schwester sollte sie erreichen können. Ein Pferd steht gesattelt.«
Sie neigte ihr Haupt, signalisierte mit ihrem linken kleinen Finger ihren Dank, und schon war der Bruder die Treppe hinauf verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Sie nahm ihren Sack, stopfte das leise klingelnde Seidenbündel hinein und schob es ganz nach unten, weit von sich, unter einen falschen Boden
»Ich bin Maleni«, sagte sie sich still. »Ich bin eine Magd. Niemand sieht mich.«
Es war wie immer schwierig, Taryah in dem eigens für sie abgespaltenen Teil ihrer Seele zu verbergen. Taryah lebte so gerne und mochte es, gesehen zu werden. Sie glänzte von innen, strahlte, leuchtete und trug eine Schönheit in sich, die Maleni, die sich Antlitz und Körper mit ihr teilte, nicht annähernd erreichte. Taryah und Maleni waren eins. Und sie waren zwei. Und gemeinsam besaßen sie nur ein Leben, das sie retten – oder verlieren konnten.
Maleni griff nach dem Sack und rannte die Treppen hinunter. Wenn der Bruder seine Aufgabe erfüllt hatte, würde die Türe unten offen sein. Und danach wieder versperrt, als wäre es nie anders gewesen. Sie musste sich beeilen. Man wusste nie, wie lange es dauern würde, bis jemand den Liebhaber fand, den Taryah betörte und dann leblos zurückließ.
Als er den Wein getrunken hatte, war der Blutdenker in der Bewegung erstarrt. Er hatte nicht gleich verstanden. In seinem Denken war eine solche Ungeheuerlichkeit wie sein eigener Tod bis zu diesem Augenblick nicht vorgesehen gewesen. Ganz sicher nicht der Tod durch ein zartes, schönes Wesen, das er so gut wie erobert hatte. Das er gerne erobert hätte. Das er niemals mehr erobern würde, denn es hatte ihn besiegt.
Maleni huschte weiter durch die verlassenen Gänge, während sie sich die letzten Augenblicke im Tanzsaal erneut ins Gedächtnis rief. Taryahs Ziele und Liebhaber reagierten stets unterschiedlich auf ihr Gift. Manche schliefen langsam ein, hatten noch Zeit, das zu tun, was sie so unbedingt tun wollten, fühlten sich nicht schlecht, bemerkten kaum, wie Muskel um Muskel sich ihrem Willen entzog. Wenn es so war, gewährte Taryah ihnen ihren Wunsch. Ein ultimatives Abschiedsgeschenk. Manch einer war ihr mehr als nur nah gewesen und hatte ihr seinen letzten Atem ins Gesicht gehaucht.
Der Liebhaber der heutigen Nacht jedoch war erstarrt wie eine Statue aus Eis. Er hatte noch gelebt, als sie ihre Schleier und wenigen Kleidungsstücke zusammengesucht und in eines der Tücher gebunden hatte. Sie hatte seinen schweren Atem gehört, seinen hasserfüllten Blick gesehen und die Flüche, die er nicht mehr hatte aussprechen können, ebenso wenig gehört wie die Befehle, die ihm auf den vergifteten Lippen gelegen hatten. Befehle, die ihr – so sie ausgesprochen und befolgt worden wären – einen schmerzhaften und grausamen Tod garantiert hätten.
Bevor Taryah wie ein Wispern im Sturm verschwunden war, hatte sie ihm etwas ins Ohr geflüstert: »Du warst auserwählt vom Orden der Xyi. Stirb stolz im Glanz unserer Pflicht, Feldherr. Dein Tod wurde befohlen.«
Jetzt hatte Maleni die Tür erreicht, sah sich noch einmal um, band sich dann den Sack auf den Rücken, lugte vorsichtig durch den Türspalt und schlüpfte schließlich hinaus auf den Burghof. Es war längst nach Mitternacht, und die Nacht war mondlos bei bedecktem Himmel. Nur an zwei Stellen glühten dort Kohlen in Feuerkörben, der Rest lag im Dunkeln.
Sogleich sah und hörte Maleni, dass die Feinde nicht weit waren. Der Pferdestall befand sich auf der anderen Seite des großen Hofes, und davor lagerten die Soldaten ebenjenes Blutdenkers, der dem Fyrsthen von Gendern diente und dessen Einflussbereich zu erweitern gedacht hatte. Schlacht um Schlacht, Tod um Tod.
Die Anwesenheit der Kämpfer hier im Hof war eine Komplikation, vor der ihr Bruder sie nicht gewarnt hatte. Soldaten waren gemeinhin in ihren Quartieren untergebracht, in den Räumen dieser Burg, die der Blutdenker erobert hatte.
Noch vor kurzem hatte die Berenburg zur Fyrsthenei von Virniu gehört. Gendern war Verbündeter Virnius – gewesen.
Doch in diesem endlosen Krieg änderten sich die Bündnisse stetig, und Freunde und Feinde auseinanderzuhalten war nicht leicht. Ein toter Bote, und schon wusste man nicht mehr, ob der freundliche Recke an der Spitze einer verbündeten Armee sein Gastrecht dazu missbrauchen würde, die Familie des Gastgebers auszulöschen und das Reich des Fyrsthen von Gendern auszudehnen.
Maleni bewegte sich eng entlang der Wand des Innenhofes, schlich lautlos durch die Schatten und behielt die Männer am anderen Ende des Hofes dabei stets im Auge. Der Eingang des Pferdestalls befand sich in deren unmittelbarer Nähe. Hatte der Bruder das gewusst? Oder es nicht für erwähnenswert gehalten, weil er keinen Zweifel daran hegte, dass es ihr gelänge, ungesehen wie ein Windhauch zu verschwinden?
Dem Orden der Xyi sagte man nach, seine Brüder und Schwestern könnten sich unsichtbar machen. Doch auch wenn die Xyi vieles beherrschten, das wie Magie erschien – das Aufheben der physikalischen Gesetze gehörte nicht dazu. Die Magie war tot in dieser Welt; allein die Kunst der Xyi bestand.
Einen Augenblick lang hielt Maleni inne und sammelte sich. Noch hatte Taryah sich nicht vollständig in den geschlossenen Bereich ihrer Seele zurückgezogen. In Augenblicken wie diesen erschien es ihr stets, als hätte sie nicht die komplette Oberhoheit über ihren Leib und ihr Denken. Und das, obgleich sie gerade jetzt jede Bewegung und jede Regung ihres Körpers beherrschen musste, nicht zaudern, nicht zögern und nicht einen Moment darüber nachgrübeln durfte, wer sie war. Es war doch so leicht, schalt sie sich selbst. Sie war Maleni, Bauerntochter. Waisenkind. Kräuterkundige. Reisende. Wanderapothekerin. Harmlos. Unauffällig.
Und doch so schwer, denn sie war viele und vieles.
Was, so dachte sie, wenn ausgerechnet jetzt der Tod des Feldherrn entdeckt wurde? Dieser Zeitpunkt war stets ungewiss. Es konnte erst am Morgen geschehen oder in jenem Augenblick, in dem ein Bediensteter mehr Wein bringen würde. Einerlei. Weiter.
Maleni hielt ihren Blick gesenkt, damit das Glühen der Kohlenbecken sich nicht in ihren Augen spiegeln und sie verraten konnte. Denn einen Kampf würde selbst eine Schemenjägerin der Xyi verlieren. Auch nicht, wenn sie – wie Maleni selbst – auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen töten konnte: mit Gift, mit den Händen, den Füßen oder jeder Waffe, die es auf der Welt gab, und jedem Gegenstand, der sich zur Waffe machen ließ.
Dennoch blieb sie eine einzelne junge Frau, und auch wenn sie die Schatten der liegenden und ruhenden Gestalten nicht zählen konnte, waren es zu viele, um es mit ihnen aufzunehmen. Die Männer dort waren kampferprobt, sie waren wohlgerüstet, und sie würden sie besiegen. Dann würden sie sie töten. Langsam und genüsslich.
Keine Angst, dachte sie. Eine Schemenjägerin der Xyi erlaubte sich keine Angst. Angst war der größte Feind in einer Welt aus Feinden.
Aus der Dunkelheit lösten sich zwei Schatten und schritten über den Hof, bewaffnet und aufmerksam. Wachen. Maleni stand wie eine Katze – reglos, sprungbereit – und beobachtete die immer näher kommenden Männer aus den Augenwinkeln. Hatten sie sie schon gesehen? Nein, dann hätten sie schon reagiert.
Als sie nur noch wenige Schritte von Malenis Versteck in den Schatten trennten, blieben die Männer stehen und sprachen miteinander. Leise, verhalten, als wollten sie niemanden wecken, den man vielleicht besser nicht erzürnte.
Maleni spitzte die Ohren, verstand jedoch nur einzelne Worte.
»Leben die … noch?« Es war eine Frage.
Wer lebte, verstand Maleni nicht. Doch das gedämpfte Lachen der Antwort war hart und lüstern und voll überlegener Grausamkeit.
»… genug für …«
Maleni erinnerte sich dann, dass der Graav der Berenborg zwei junge Töchter gehabt hatte. Was wohl aus der Familie des Graaven geworden war? Sie hatte angenommen, sie wären alle längst tot, doch was, wenn sie noch lebten? Was, wenn sie einem Heer von Soldaten zur Belustigung dienten?
Maleni schüttelte den Kopf. Ihr Auftrag war eindeutig. Töte den Feldherrn. Sonst nichts. Rettungsaktionen lagen nicht in ihrem Aufgabenbereich. Und was sollte sie auch mit Geretteten anfangen? In einem Landstrich, in dem alsbald eine wütende Armee nach einer Mörderin suchen würde, würde es schwierig genug werden, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Es wäre Wahnsinn, jetzt nach irgendwelchen Überlebenden zu forschen, die sie dann doch nicht befreien konnte. Die sie nicht einmal aus dieser Burg würde befördern können, geschweige denn aus der Graavschaft, und für die sie nirgends einen sicheren Ort würde finden können.
Die eine Wache machte eine unanständige Geste und lachte. Beide kamen noch näher. Maleni hielt die Luft an und verschmolz mit der Dunkelheit. Es war keine Magie, nur eine Kunst, und sie war fehlbar.
»Jetzt?«, fragte sein Kamerad.
»Jetzt. Morgen ist es vielleicht schon zu spät.« Der Mann fasste sich wohlig in den Schritt und rieb sich.
»Gut. Dann geh. Und wenn du fertig bist, übernimmst du die Wache. Dann gehe ich.«
Der Mann nickte, und schon eilte er fort, die Hand an seinem Gürtel.
Sein Kompagnon blickte ihm einen Augenblick nach, wandte sich dann in Malenis Richtung und sah genau zu ihr hin.
Maleni blieb still, doch in Gedanken überschlug sie ihre Chancen. Wie lange würde sie brauchen, um den Dolch aus einer der vielen Taschen zu ziehen, die in ihrem Rock versteckt waren? Nicht länger als eine Sekunde, das Werfen des Messers schon einbezogen. Und das Aufspießen des Herzens der Wache. Würde er noch Zeit haben für einen Schrei oder bliebe es bei einem lauten Seufzer? Dann jedoch würde er fallen, und auch das verursachte vielleicht Lärm.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Maleni, wie die sich entfernende Wache auf eine Tür in einem der Seitengebäude zuhielt. Sein Schritt war federnd vor Vorfreude, und Maleni erkannte die Bewegung. Sie hatte sie schon öfter gesehen, das erste Mal vor vielen Jahren.
Jetzt aber musste sie sich entscheiden. Hier in den Schatten der Burgmauern, keine zweihundert Schritte entfernt von dem Mann, den sie heute getötet hatte.
Es war nicht der erste gewesen, der in den letzten Jahren ihre tödliche Kunst genossen hatte. Und hoffentlich nicht der letzte.
Sieben Jahre war kein Alter, in dem man bereits alles verstand. Malenis Wissensdurst war beachtlich, doch er lief allzu häufig ins Leere. Niemand in einer armen Bauernfamilie hatte die Zeit, einem kleinen Mädchen immer wieder Erklärungen zu geben, einerlei wie viele Fragen es stellte. Dabei hätte man Dinge manchmal dringend wissen müssen. Doch das stellte sich erst viel später heraus.
So war Maleni mit sieben Jahren stolz darauf, dass sie ihrer Mutter bereits helfen konnte. Sie konnte Pertoffeln schälen und im Herbst Äpfel aufsammeln. Sie konnte Getreidesamen in die Furchen ausstreuen, die ihr Vater mit dem Pflug zog. Sie konnte Salat und Gemüse im Garten ernten und wusste, wie man es wusch.
Sie konnte schon ganz viel, fand sie. Und es gab immer etwas zu tun. Die Eltern arbeiteten vom ersten Tageslicht an bis tief in die Nacht hinein, und Malenis zwei ältere Schwestern waren nicht minder beschäftigt. Sie lernten, den Haushalt eines Bauernhofes zu führen und das Hungern der Familie in Grenzen zu halten – außer im späten Winter, wenn die Vorräte aufgebraucht waren und das Frühjahr auf sich warten ließ. Aber so war das eben. Sie lernten von ihrer Mutter, mit Kräutern umzugehen, um die Familie bei Krankheiten vor dem Tod zu schützen.
Der Tod hieß Kyrros; er holte sich, wen er wollte und wann er wollte.
Doch das war normal. Alle Bauernfamilien in der Gegend hatten Familienmitglieder an Krankheiten und Verletzungen verloren. Es war traurig, doch es war eben so. Maleni hinterfragte es nicht. Kyrros war allgegenwärtig. Jeder starb irgendwann.
Die Bauern im Tal beteten Kyrros an, den Endgültigen Gott, über den man nichts wusste. Sie huldigten ihm, damit er ihnen die Gunst gewährte, sie möglichst lange zu ignorieren. An den Wegkreuzungen und auf den Gipfeln der Hügel stellten sie ihm Opferschreine auf, in denen sie die Hände der Verstorbenen auf Blumen betteten – ihm zu Ehren. Maleni wusste, wo die Hände ihres Bruders und ihrer Schwester lagen, die Kyrros die Hand gereicht hatten, und auch die ihrer Großeltern.
»Wie sieht er aus?«, hatte Maleni gefragt.
»Man sieht ihn nur einmal. Und dann kann man nicht mehr von ihm berichten«, hatte ihre Mutter ihr erklärt. Sie hatte auch immer gesagt, dass Kyrros den Krieg nicht mochte, weil er ihm ins Handwerk pfuschte. Doch ob das stimmte?
Die Kriegshorde brach in das Tal wie eine Sturmflut. Dutzende, berittener, bewaffneter und hungriger Soldaten. Sie wirkten ungeordnet, doch das täuschte. Sie gehorchten ihrem Anführer. Der war es auch, der ihnen befahl, sich in diesem Tal mit Proviant und allem zu versorgen, das sie brauchten.
Sie brauchten viel.
Malenis Familie und ihre Nachbarn hatten schon seit langem die schmale Straße über den Hügelpass zuwachsen lassen, damit man das Tal nicht fand. Doch vielleicht wussten die Soldaten ja, dass es diese Zuflucht gab. Oder sie hatten ihren Weg und das Tal durch Zufall gefunden.
Die Hufe donnerten. Maleni blickte zum wolkenlosen Himmel und erwartete ein Gewitter. Es waren ihre Schwestern, die sie packten und zum Haus zogen. Maleni wehrte sich, denn sie wollte doch sehen, was da donnerte. Sie entwischte der Familie, die sich blitzschnell in den Keller verzog.
»Nun komm schon!«, flüsterte ihre Mutter wütend und panisch. »Maleni, komm!«
Doch Maleni kam nicht. Ihr Vater war noch nicht zu Hause. Er hätte schon vom Feld zurück sein müssen, und solange er nicht da war, wollte Maleni nicht in den finsteren Keller. Dort standen die Vorräte auf den Regalen, daneben lagerte das Fass mit dem Beerenwein, und dahinter war alles verborgen, was die Familie an Wertgegenständen besaß – nicht mehr als ein paar Münzen für Notfälle.
Maleni büxte aus. Sie wollte sehen, wann ihr Vater heimkam und was es mit dem Donner, der immer näher kam, auf sich hatte.
Und so drehte sie sich um, lief auf ihren nackten Füßen wieder aus dem Haus, und achtete nicht auf den verzweifelten, gedämpften Ruf ihrer Mutter hinter sich: »Maleni! Maleni, versteck dich!«
Maleni aber versteckte sich nicht. Erst als sie hörte, wie die Kellerklappe sich schloss – sie draußen, Mutter und Geschwister im Keller – kam ihr der Gedanke, ob es nicht vielleicht gemütlicher gewesen wäre, mit ihnen zusammen auf den Vater zu warten. Doch dann tauchten die ersten Reiter auf dem ausgetretenen Pfad auf, der zu ihrem Haus führte, und Maleni tat instinktiv, wie ihr geheißen. Sie duckte sich und quetschte sich hinter ein Holzlager aus an der Wand gestapelten Scheiten. Zwischen Wand und Holz gab es einen winzigen Abstand, denn ihr Vater sagte immer, nasses Holz würde Wände nass machen. Und nasse Wände würden zu rotem Husten führen.
Außer ihrem kleinen Bruder und Maleni selbst hätte niemand in dieses Versteck gepasst. Gesehen hatte sie noch keine, aber Maleni wusste, was Soldaten waren. Das waren Menschen, die nichts anbauten, nichts ernteten, sondern über das Land zogen und sich nahmen, was sie wollten. Sie nahmen sich auch Menschen. Junge Männer zwangen sie in den Dienst, aber sicher war Kayu mit seinen vier Jahren noch zu jung. Und ihr Vater? Der war gewiss zu alt und Maleni konnte sich nicht vorstellen, dass er so etwas zulassen würde. Er war der Schultheiß dieses Tales. Er würde den Soldaten sagen, dass sie wieder gehen mussten.
Doch als sie ihn sah, sagte er nichts. Sie lugte durch die engen Zwischenräume der zu Feuerholz behauenen Scheite und hätte am liebsten nach ihm gerufen. Irgendetwas ließ sie freilich schweigen und ganz still sein.
Ihr Vater blutete aus mehreren Wunden. An einem Seil zogen ihn die Männer auf den Pferden hinterher, bis er in seinem eigenen Hof auf die Knie fiel.
»Wo sind deine Schätze, Matschkratzer?«, brüllte ihn einer der Kerle an, während er und seine Kumpane von ihren Pferden abstiegen. Maleni erstarrte vor Angst, als einer der Fremden die Pferde zur Seite des Hauses führte, dorthin, wo sie hinter den Holzscheiten verborgen war. Doch er band nur seine Pferde dort an, und Maleni brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass das ihr Versteck eben sicherer gemacht hatte. Sie rührte sich nicht, schrie auch nicht, stopfte sich nur die Faust in den Mund, während ihr Tränen der Angst über die Wangen liefen.
So sahen also leibhaftige Soldaten aus. Bewaffnete Männer, die mit dem Donner kamen. Ihre hohen Stiefel reichten bis weit über die Knie, und sie waren so bunt. Wie Blumenwiesen. Maleni hatte noch nie so bunte Kleidung gesehen. Kleidung war es nicht bunt. Sie war immer graubraun, außer wenn es eine Hochzeit im Tal gab. Dann trugen die Frauen bunte Bänder im Haar und am Rock, die sie eigens mit Zwiebelsud gelb oder mit Färberwaid blau gefärbt hatten.
Doch diese Männer waren farbenprächtig. Ihre weiten Beinkleider waren in mehreren Schichten angeordnet, und die äußere, längs geschlitzte Schicht bot klaffende Einblicke auf die untere, andersfarbige. Die Ärmel sahen auch so aus – weit, mehrschichtig und bunt. Die Männer trugen breite Ledergürtel um den Wanst und quer von der Schulter über die Brust bis zur Hüfte, und überall steckten Waffen, kleine Messer, große Messer, Schwerter. Manche der Eindringlinge hielten riesige Keulen, deren Enden in spitzen Eisenstacheln endeten. Manche hatten Spieße. Andere trugen Armbrüste.
Die Oberkörper der Männer steckten in harten Schalen aus Eisen oder festem Leder, und ihre Köpfe bedeckten entsprechende Helme, aus denen manchmal Federn in der Mitte zu wachsen schienen, die so bunt waren wie die Ärmel. Maleni hätte von so viel Pracht begeistert sein müssen, doch sie sah nur ihren Vater, der blutend auf dem Boden lag.
Tritte hagelten nun auf ihn ein und Schläge. Er schrie, Malenis so starker Vater schrie. Am liebsten hätte sie es ihm gleich getan, doch die Angst hatte ihr die Stimme genommen.
Inzwischen waren ein paar der bunten Kerle ins Haus eingedrungen, und Maleni hörte Geräusche der Zerstörung, das Verrücken von Möbeln, stürzende Gegenstände, zerschellendes Geschirr. Das klang furchtbar, doch es war nichts gegen die Schreie, die folgten. Die Mutter schrie; ihre Geschwister! Erst angstvoll, dann schmerzvoll und schließlich panisch vor Entsetzen. Männer drängten nach in das kleine Bauernhaus.
»Holt die Weiber raus!«, schrien die Männer, die noch draußen waren. »Holt sie raus, damit wir alle was davon haben!«
Durch das Geschrei konnte Maleni noch immer die Stimme ihres Vaters hören. »Lasst sie in Ruhe!«, brüllte er. »Fasst sie nicht an!« Und dann verloren sich seine Worte in einem hohen, letzten Schrei.
Ihre Mutter und Schwestern wurden über den Boden hinaus ins Freie gezerrt, blutig und mit heruntergerissenen Kleidern, und diesmal konnte Maleni nicht anders – sie schrie.
Eine Hand schlug ihr auf den Mund, und ein Griff an ihrem Nacken ließ sie erstarren. Das Herz wurde ihr kalt in der Brust, und sie wusste, dass ihr Schicksal nun besiegelt war. Doch dann geschah – nichts.
Sie schielte zur Seite. Neben ihr in dem engen Gang hockte eine schmale Gestalt, deren dunkle Kleidung sich kaum von den Schatten abhob. Auch das Gesicht wirkte im Zwielicht konturlos. Maleni verharrte, noch immer starr vor Entsetzen. Gleich. Gleich würde es geschehen. Zuckende und pumpende Körper jener Soldaten, die sich immer zu mehreren um Mutter und Schwestern scharten, diese festhielten und Unsägliches mit ihnen taten. Gleich würde sie neben ihnen liegen, die Beine auseinandergezogen, nackt und hilflos.
Doch die Gestalt neben ihr rührte sich nicht; schien kaum präsent zu sein, so unauffällig war sie. Nach und nach ließ sie Maleni vorsichtig los.
»Still!«, flüsterte sie. »Vielleicht wirst du heute leben. Sei ein Schatten.«
Und Maleni wurde zum Schatten, zog sich selbst in Körper und Geist zurück in die Dunkelheit, während ihre Welt brannte und ihre Familie schreiend um Gnade winselte.
Der Wachsoldat wandte sich ab und warf einen letzten Blick auf die Tür, hinter der sein Kamerad verschwunden war. Maleni wartete. Hatte er sie tatsächlich nicht gesehen? Man konnte sich nie sicher sein. Niemand konnte das, zu keinem Zeitpunkt. Und auf dieser Welt war es schlecht, bemerkt zu werden.
Maleni war sich dessen stets bewusst. Seit jenem Tag, als die Soldaten in das Tal ihrer Eltern gekommen waren, hatte sie diese Wahrheit verinnerlicht. Es betraf nicht nur sie. Es betraf jeden in den Acht Reichen – und somit auf der ganzen Welt. Heute lebte man noch. Morgen war man schon tot. Entdeckt und ermordet.
Sie beobachtete, wie der Soldat langsam wieder dem Feuer entgegenschlenderte, um das seine Kameraden saßen oder lagen. Er mochte sich jeden Augenblick nach ihr umsehen.
Noch tat er es nicht. Lange Minuten vergingen. Minuten, die sie nicht hatte.
Sie blickte an sich hinunter. Ihr graubraunes Gewand verschmolz mit den Schatten; der Dreck in ihrem Gesicht verfälschte dessen Form im spärlichen Licht. Wenn es ihr gelang, kein Geräusch zu machen, würde sie hier herauskommen. Die Karawane war schon weiter entfernt, als ihr lieb war, aber mit einem Pferd würde sie sie noch erreichen können.
Ganz langsam bewegte sie sich, ging ein wenig in die Knie, um auszutesten, ob ihre Bewegung wahrgenommen würde. Noch mit gebeugten Knien tat sie einen Schritt rückwärts und senkte ihren Fuß sanft ab. So würde sie abspringen können.
Doch ihr nächster Schritt führte sie nicht in Richtung des Pferdestalles, sondern seitwärts in die entgegengesetzte Richtung – ganz so, als hätten ihre Füße ein Eigenleben entwickelt. Manchmal geschah das, und Maleni hatte sich schon oft gefragt, ob es Taryah war, die in solchen Augenblicken ihre Schritte lenkte, den Gedanken dann aber verworfen. Taryah agierte weitaus pragmatischer. Taryah wäre längst von hier verschwunden. Taryah wusste, was gut für sie war.
Und so war es wohl Maleni selbst, die manchmal gegen jede Logik handelte; auch wenn »selbst« nicht immer leicht zu bestimmen war. Das war schwierig und doch gewohnt, denn Taryahs und Malenis Arbeitsfelder waren gut aufgeteilt, und die Kunst, einmal diese und einmal jene Person zu sein, ohne mit sich selbst uneins zu werden, war in ihr so angelegt. Nur manchmal haderte Maleni mit Taryahs beherrschender Präsenz, und dann wiederum ärgerte sich Taryah über Malenis allzu emotionale Reaktionen. So wie jetzt. Sie musste fort von hier, hatte keine Zeit für philosophische Erwägungen, und spürte doch jenes unterschwellige Beißen und Lodern in ihrer Seele, das sie zwang nachzusehen, was hier vor sich ging. Sie versuchte sich davon zu überzeugen, dass ihre Neugier der Geschwisterschaft der Xyi einen Wissensvorsprung erbringen mochte, doch sie wusste es besser. Jener Bruder auf der Treppe hatte es sicher längst in Erfahrung gebracht und ihr keine Kunde mitgegeben, die sie weiterreichen sollte. Also war sein Wissen vermutlich schon zum Berg unterwegs, geflüstert von Bruder zu Schwester, geleitet durch das Netz an Informationen und Informanten, das die Acht Reiche unsichtbar durchzog, ohne dass die Fyrsthen es je zu greifen vermochten. Außerdem war sie gewiss nicht die einzige Schemenjägerin der Xyi in dieser Gegend. Sicher konnte sie sich dessen freilich nicht sein, denn gemeinhin blieben sie allein, umgaben sich mit Menschen, die nicht zum Orden gehörten, so, wie man sich mit Blumen umkränzte oder mit Tarnung umgab. Ein jeder von ihnen erhielt irgendwann, irgendwo einen Auftrag, eine Aufgabe, erfüllte sie und reiste dann weiter – allein.
Vorsichtig glitt sie weiter entlang der Schatten und verschmolz mit ihnen bis zu jener Tür, durch die der Wachtposten verschwunden war. Niemand hatte Alarm gegeben oder in ihre Richtung geblickt. Ihr Blick wanderte zwischen ihrem Ziel, dem Weg dorthin und ihren Feinden hin und her. Diese geteilte Aufmerksamkeit war ihr in Fleisch und Blut übergegangen und bedurfte nicht mehr Konzentration als jener, die Maleni stets zu eigen war, die sie gelernt und verinnerlicht hatte: niemals etwas unbewusst tun. Immer denken, immer planen, immer die Herrschaft über alle Sinne und Gliedmaßen ausüben. Die vollständige Konzentration bestimmte ihr Leben und erhielt es.
Die Fokussierung der Xyi war einzigartig – ebenso wie ihr Gehorsam. Nur dass Maleni sich über Letzteren in diesem Moment hinwegsetzte. Hatte sie das je zuvor getan? Mit sieben hatte sie der Schemenjägerin der Xyi gehorcht, die sie von dem Schlachtfeld, das einst ihr Elternhaus gewesen war, mit sich genommen hatte. Danach hatte sie den Meistern und Meisterinnen des Berges gehorcht. Und als ihre Kunst und ihr Wissen so weit gediehen waren, dass sie allein komplexe Aufgaben meistern und diese überleben konnte, war sie in die Welt geschickt worden, um zu gehorchen und Befehle auszuführen. Mit achtzehn war ihre Anwärter- und Junxerzeit abgeschlossen gewesen. Seit drei Jahren verfolgten sie und Taryah ihre lebenden Ziele. Und brachten sie um.
Sie lauschte eine Weile an der Tür, öffnete sie leise, warf noch einen Blick über den Hof, und huschte dann in das Innere des Gebäudes. Der Gang lag im Dunkeln; nur an seinem Ende brannte eine Kerze in einem Halter und beleuchtete schwach eine Treppe aus dunklem Holz, die nach oben und unten führte.
Minutenlang stand Maleni reglos und erfasste ihr Umfeld. Sie tastete mit den Füßen über den Boden, fühlte durch ihre dicken, weichen Sohlen jedoch kaum mehr als unebenen Grund. Blitzschnell hockte sie sich hin und berührte den Fußboden mit der Rechten. Dies war kein festgetretener Lehm, aber auch kein Dielenboden. Die Rechtecke unter ihren Fingern waren rauh und nicht ganz eben. Ziegelsteine. Vermutlich ein Gesindetrakt.
Sie erhob sich und passte ihre Schritte dem Untergrund an. Dann glitt sie voran, vorsichtig, langsam, Fuß um Fuß, absolut lautlos. Bald hörte sie Geräusche; sie kamen die Treppe empor. Leise, unterdrückt und verzweifelt. Maleni kannte diese Geräusche. Sie waren ihr seit jenem letzten Tag auf dem Bauernhof ihrer Eltern im Gedächtnis geblieben, denn sie hatte damals sehr genau gesehen, was die Männer ihrer Familie angetan hatten. Sie hatte deren Grunzen, Höhnen und Stöhnen ebenso vernommen wie die Schreie und das Flehen der Opfer. Und das Lachen der Umstehenden. Vergessen hatte sie es nie, nur beiseitegeräumt. Im Berg hatte man ihre Erinnerung genommen und geformt. Taryah hingegen erinnerte sich nie daran. Sie war immer nur in einem schmal begrenzten Jetzt zu Hause. Sie war die Erfüllung der Aufgabe.
Maleni bemerkte, dass sie sich auf die Lippe biss. Sie hatte die Treppe erreicht und lenkte ihre Schritte nach unten. Stufe um Stufe schlich sie weiter, wie ein Geist. Als sie die schwere Holztür mit den Eisenbeschlägen erreichte, wusste sie, dass sie ihr Ziel gefunden – und hier nichts zu suchen hatte. Das Schuldbewusstsein schien ihr die Luft abzuschnüren wie ein Seidenschal, der sich ihr um die Kehle legte. Taryah hatte mit solchen Schals bereits getötet. Und Ungehorsam gegenüber dem Orden wurde geahndet.
Maleni musste sich ins Gedächtnis rufen, dass Taryah sich ja schlecht selbst umbringen konnte. Und auch, dass eine Schemenjägerin der Xyi bei allem Gehorsam immer auf sich allein gestellt war und eigene Entscheidungen fällen musste. Dies also war ihre eigene Entscheidung. Wie sie diese rechtfertigen würde, darüber würde sie später nachdenken.
Entgegen Malenis Befürchtung quietschte die Tür nicht in den Scharnieren sondern glitt gut geölt auf, als sie sie langsam und vorsichtig mit der Linken aufschob. In der Rechten hielt sie längst ihren Dolch.
Innerlich hatte sich Maleni für den Anblick gewappnet, der sie erwarten würde. Sie war nicht wie Taryah und wusste, dass sie schnell würde handeln – oder umkehren müssen. Dennoch durchzuckte sie beim Anblick des Wachsoldaten, der zwischen den Beinen eines nunmehr reglos wimmernden Mädchens lag und ein weiteres, angststarres in Schach hielt, jene altbekannte Panik, die sie einst hinter dem Holzstoß gespürt hatte. Sie wusste, dass es den grausameren Kämpfern in diesem endlosen Krieg längst einerlei war, wen sie schändeten oder wie alt der- oder diejenige war. An jenem längst vergangenen Tag auf dem Hof ihrer Eltern war Maleni sieben Jahre alt gewesen, Und sie wusste heute, welches Schicksal sie erwartet hätte. Ihr Körper war damals gefunden und gerettet worden. Ihr Geist jedoch hatte die Qualen ihrer Familie mitangesehen und –
Entschlossen schob sie die lähmenden Erinnerungen fort. Der Kerl hatte sie entdeckt. Groß war er, breit, bewaffnet. Und ohne jeden Skrupel. Er würde sich auf Maleni ebenso stürzen wie auf die beiden Mädchen, die wimmernd und winselnd auf dem Boden lagen.
Momente später zog Taryah den Dolch aus der Kehle des Mannes und ließ ihn geräuschlos auf den Boden sinken, wo er – von ihr abgewandt – sein Blut verspritzte, ohne ihre Kleidung zu besudeln. Taryah hingegen, das spürte Maleni, war ungehalten. Reine Zeitverschwendung, knurrte sie stumm. Töten war eine Kunstform, das Gemetzel hier hingegen sinnlos. Nicht ihre Art der Kunst. Maleni jedoch wusste, dass man schnell sein musste, wenn man kräftemäßig unterlegen war. Der Mann war immer noch von der Lust abgelenkt gewesen, die ihm die Gedanken lähmte. Und sie selbst hatte ihren Vorteil genutzt.
Taryah säuberte ihren Dolch an seiner Kleidung und schob ihn dann in sein Versteck zurück. Viel Zeit hatte sie nicht. Wenn der Mann nicht bald zurückkam, würden seine Kumpane ihn vermissen, und ihn verschwinden zu lassen, war nicht möglich. Zudem gab es zwei Zeugen, auch wenn die beiden Mädchen nicht wirkten, als könnten sie noch viel sagen.
Taryahs Augenbraue zuckte. Sie liebte den detailgenauen Plan und hasste es zu improvisieren. Dies war nicht ihre Aufgabe. Zudem fühlte sie Malenis Kampf, spürte, wie sie erneut die Oberhand gewann. War das sinnvoll? Maleni war ihre Schutzexistenz. Sie hatte sie von einer Aufgabe zur anderen zu tragen. Sie musste ihr Wissen und ihre Fähigkeiten – ihrer beider Fähigkeiten – dazu einsetzen, die Aufgaben zu erfüllen, die man ihnen stellte.
Taryah hockte sich rasch neben die beiden am Boden angeketteten Mädchen. Sie schätzte sie auf vierzehn bis sechzehn Jahre, und ihre Kleidung war nur noch in Fetzen vorhanden. Offene Wunden und dunkle Blutergüsse überzogen die geschundenen Körper, und ob die schreckstarren Augen sie überhaupt wahrnahmen, wusste Taryah nicht. Als sie einem der Mädchen mit dem Finger über die feuchte Stirn strich, bestätigte sich ihr Verdacht: Fieber.
Die Mädchen waren so gut wie tot. Taryah konnte es riechen. Als Kräuterkundige und Heilerin wusste Maleni, dass es hier nichts mehr für sie zu tun gab. Und Taryah? Die sollte nicht einmal hier sein. Sie zog sich zurück.
Maleni schluckte heftig, konnte den Anblick kaum ertragen und hörte zugleich die kühle Vernunft, die ihr sagte, dass sie die beiden nicht würde retten können. Ihre Ketten waren zu dick, ihr körperlicher Zustand war zu schlecht, und tragen konnte sie die Mädchen auch nicht; schon gar nicht beide gleichzeitig.
Als Schemenjägerin der Xyi wusste sie, wie der Tod aussah – und wie man ihn brachte. Niemand würde diese Gefangenen mehr quälen. Und sie musste endlich fort von hier, und zwar schnell, bevor auffiel, dass der Soldat, dessen Blut noch immer aus seiner Kehle sickerte, nicht zurückkam.
Sie griff nach einem auf dem Boden stehenden Holzbecher. Wasser hatte man den Mädchen immerhin gegönnt. Ein Tropfen, zwei aus einem kleinen Fläschchen waren genug.
»Trinkt«, sagte sie und setzte erst dem einen und dann dem anderen Mädchen den Becher an die Lippen. Sie waren zu schwach, um selbst danach greifen zu können. »Kyrros nehme sich euer an!«, betete sie dabei. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Götter verloren an Bedeutung, wenn man im Berg zu dem erzogen wurde, was sie heute war. Man gehörte dem Orden, man gehorchte dem Großmeister. Man betete zu niemandem.
Die Mädchen tranken, Flüssigkeit rann ihnen aus den Mundwinkeln. Sie waren schwach, so schwach. Das eine der Mädchen strich ihr mit dem Finger sanft über die Hand. Wollte sie ihr danken? Ihr verzeihen?
Dann wurden die Blicke der Mädchen starr.
»Es tut mir leid!«, flüsterte Maleni. »Es tut mir leid.«
Einen Augenblick später lag das Kellerverlies bereits hinter ihr. Sie wartete nicht. Es galt, keinen weiteren Moment zu verschwenden. Es war nicht ihre Aufgabe gewesen, sich ungebeten einzumischen. Es war nicht ihre Aufgabe zu töten.
Tatsächlich hatte Maleni das vorher noch nie selbst getan.
Sie hatte es geschafft, durch den Hof zu kommen – zielsicher, lautlos, flackerflink. Durch die Schatten, an einer Wand entlang, an ihr empor und schließlich wie eine Katze auf allen vieren über ein Zwischendach war sie davongekrochen.
Nun blickte sie hinab auf das spärliche Feuer der Soldaten und den einzelnen, wartenden, der in Kürze entdecken würde, was sie in der Kammer zurückgelassen hatte. Sie konnte es nicht verhindern; auch Taryah konnte es nicht. Nicht hier, im Hof, bei all den Zeugen. Natürlich hätte sie ihm in jenem Keller auflauern, hätte noch ein Leben nehmen und so ihren Vorsprung vergrößern können. Doch Warten war in Anbetracht jenes anderen Toten, der zwischen ihren Perlen lag, keine Option.
Über ein zerbrochenes, halb verkohltes Stück Dach ließ sie sich in das Innere des Stalls hinabgleiten. Der Kampfschaden der letzten Schlacht war stummer Zeuge, dass die Berenborg nicht ganz ohne Gegenwehr gefallen war. Maleni gab gut Acht auf die brüchigen Balken, verwandelte ihre Furcht in nahezu manische Akribie. Alles richtig machen. Keine Fehler. Keine Bewegung, die nicht hundertprozentig berechnet und geplant war. Kein Geräusch. Zum Klettern brauchte man beide Hände. Das machte diese zwangsläufig waffenlos. Sie durfte nicht hasten und musste sich doch beeilen. Wie langsam man war, wenn man fehlerlos in der Dunkelheit agieren musste, verstohlen und doch jederzeit zur Gegenwehr bereit. Maleni lächelte. Es musste und es würde ihr gelingen, denn das Gelingen war Teil des Planes.
Der Stall zog sich groß und mit doppelreihigen Boxen die ganze Seite der inneren Burgwehr entlang; die Tiere im Inneren bewegten sich schlaftrunken in ihren Boxen, und ihre Wächter schliefen reglos und fester, als sie es erwartet hätte. Der Bruder musste hier tätig gewesen sein, und er hatte gute Arbeit geleistet. Sehr gute Arbeit. Der Orden leistete stets gute Arbeit.
Kurz spürte Maleni Stolz. Es war gut, nicht zurückzudenken. Nicht über das hinauszudenken, was ihre Aufgabe war. Gehorsam hatte seine Berechtigung. Jetzt, da sie die Folgen ihres Ungehorsams fürchtete, wusste sie das plötzlich.
Aufmerksam inspizierte sie den düsteren Raum auf der Suche nach dem Reittier, das hier auf sie warten sollte; dann sah sie es: Ein Brauner, stark, doch nicht auffällig, gesattelt und mit zwei Taschen und einem Mantel bestückt. Ein Gefühl warmer Dankbarkeit durchflutete sie, doch sie ließ ihm nur wenig Raum, warf sich in den Kurierumhang, der über dem Sattel des Pferdes gehangen hatte und ihre weiblichen Formen verbarg, zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und griff nach den Zügeln. Raus hier. Jetzt. Hurtig.
Das zweite Tor des Stalles führte in den äußeren Befestigungsring, wo frische Kampfspuren davon zeugten, dass diese zwar praktische, aber für die Sicherheit katastrophale architektonische Fehlleistung den Feinden geholfen hatte, in den inneren Bereich einzudringen. Maleni schüttelte den Kopf über so viel Unvorsichtigkeit. Im Verteidigungsring war der Boden weich und grasig, und auch hier schliefen die dort lagernden Soldaten. Selbst die Wachen an der Wand schliefen. Und falls auf dem Wehrgang weitere ihren Wachdienst taten, so fiel ihnen auch nicht auf, dass aus den Stallungen mitten in der Nacht leise ein Pferd geführt wurde. Erst am großen Außentor wurde sie wie erwartet aufgehalten.
»Wer da?«, fragte eine unfreundliche Stimme.
»Geheimer Kurier des Feldherrn«, flüsterte sie, in der Hoffnung, ein Flüstern würde nicht als weiblich erkennbar sein.
»Parole?«
»Berensieg.« Ein gut informiertes Netzwerk hatte etwas für sich.
Sie harrte auf Zustimmung und hoffte inständig, die Parole mochte sich nicht geändert haben. Erfahrungsgemäß hatten sie nicht besonders lange Gültigkeit, und Maleni hatte den feingesponnenen Plan durchbrochen, eigenmächtig gehandelt, ihre Kompetenzen übertreten und so Zeit verloren.
Und sie hatte getötet.
Rasch schob sie den Gedanken fort und konzentrierte sich erneut auf den Torwachmann, die Hand bereit, ihm den Kehlkopf mit einem kurzen, spitzen Schlag einzudrücken, falls er seine Kameraden herbeirufen wollte.
Der Teil von Malenis Seele, der nicht sie selbst beherbergte, klaffte roh auf. Taryah lauerte auf eine Reaktion. Es war eine Kunst, auf eine Reaktion zu reagieren, bevor diese noch abgeschlossen war. Es galt, genau den richtigen Moment abzupassen; auch dann, wenn man im Dunkeln die Augen des anderen nicht sah. Eine Herausforderung. Taryah lächelte im Schatten der Kapuze.
Nicht zu töten wäre einfacher, dachte sich Maleni. Ein weiterer Toter, und ihre Fluchtchance würde noch weiter sinken, als es bereits geschehen war. Als sie es bereits hatte geschehen lassen.
»Kann passieren«, sagte der Wachmann da und zog das Manntor auf.
Maleni atmete geräuschlos aus und führte das Pferd zielstrebig und ohne Hast durch die schmale Öffnung. Verdammt, sie war nervös. Sie durfte nicht nervös sein! Nervosität war verdächtig. Doch die Erinnerung an den Keller, in dem sie nie hätte sein dürfen, verfolgte sie, ließ sich nicht abstellen oder umlenken, war einfach da wie ein Stück Unrat, das sich nicht forträumen ließ und nicht in Einklang zu bringen war mit den Belehrungen, die ihr fast ein ganzes Leben wieder und wieder eingebleut worden war: Nicht abweichen vom Plan. Der Plan ist durchdacht. Der Plan ist detailliert. Der Plan ist Gesetz und Gebot. Jede Sekunde zählt. Jede Einzelheit ist wichtig.
Taryah teilte diese Meinung. Maleni hatte sie ignoriert.
Außerhalb der Burgmauern schwang sie sich in den Sattel. Auf der steinigen Straße, die von der Burg fortführte, gellten die Hufschläge des Braunen allzu laut durch die späte Nacht und schienen in Malenis Seelenhast widerzuhallen. Jeden Augenblick erwartete sie, dass Alarm gegeben würde. Man würde den Feldherrn finden oder die Leichen im Keller, ihren nächtlichen Kurierritt hinterfragen und sie aufhalten. Dann wäre sie vielleicht schon bald in derselben bedauernswerten Situation wie die Mädchen, die sie erlöst hatte. Malenis Bruder würde ihr nicht zu Hilfe eilen. Rettungsaktionen standen weit hinter Geheimhaltung. Maleni schüttelte unwirsch den Kopf. Daran hätte sie denken sollen, bevor sie in jenen Keller gegangen war. Nun war es zu spät und ihre Entdeckung nur noch eine Frage der Zeit. Sie hatte den Mannen des Feldherrn ihren bereits errungenen Sieg gestohlen. Wenn sie auf dieser Straße bliebe, würde es nicht lange dauern, und die Mannen des Feldherrn würden sie finden.
Dabei war die Berenborg mit dem Tod des Feldherrn gar nicht frei. Sie gehörte nun zur Fyrsthenei Gendern, und Gendern würde seinen Anspruch auf die Graavschaft vielleicht auch ohne den Feldherrn einfordern. Nur eines war gewiss: Meredor, der Fyrsth von Gendern, würde voller Zorn auf denjenigen sein, der den besten und erfolgreichsten Streiter und Strategen seines Landes ermordet hatte. Und Soldaten fühlten ihre höchst eigene Loyalität zu einem Heerführer, der sie hatte siegen lassen – auch wenn das Heer vor nicht allzu langer Zeit noch an der Seite Virnius’ gekämpft hatte und nicht gegen die Fyrsthenei Virniu. Dieser endlos lange Krieg ließ die Wege der Treue kurz werden. Ein Heer hielt zusammen – und es war beinahe schon einerlei, für welchen der acht Reichsfyrsthen es kämpfte, solange es siegte, verpflegt wurde und die Ansprüche des Siegers geltend machen konnte. Ein hehres Ziel war ohnehin nicht mehr erkennbar für die Kämpfer.
Das Warum der Allianzen durchblickte niemand mehr – außer vielleicht den Xyi, die ihre Aufgabe darin sahen, das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten und ordnend in die Geschehnisse einzugreifen. So sahen es die Xyi. Und so sah es Maleni, die Schemenjägerin der Xyi, die den Krieg der Reiche hasste und sich Frieden wünschte und ein Ende der marodierenden Horden. Wenigstens sie hatte also ein Ziel. Und was sie tat, würde sie diesem Ziel näherbringen.
Eng an das Ross geschmiegt galoppierte sie die dunkle, breite Straße entlang, verlor ihr Gefühl für die bereits zurückgelegte Strecke und hatte nur einen ungefähren Eindruck von der verstrichenen Zeit. Das war sonst nicht so. Kämpferinnen der Xyi wussten um jede Sekunde, über die sie vor sich selbst Rechenschaft ablegen mussten.
Schließlich bog sie von der Straße ab, durchs Gestrüpp gen Norden. Vielleicht war es von Anfang an keine gute Idee gewesen, gen Gendern zu flüchten, obschon man sie vermutlich eher in der entgegengesetzten Richtung suchen würde. Egal – weiter.
Das Pferd wehrte sich, sie zwang es durch das kratzige Gebüsch, hielt an, sprang ab und ordnete das Gesträuch hinter sich. Sie entfernte gebrochene Zweige, verwob sie ineinander, trat Spuren glatt. Das erste graue Licht des anbrechenden Tages ließ sie sehen, was sie sehen musste. Ihre Verfolger würden es heller haben. Dann lauschte sie, hörte jedoch gegen den Wind nichts als das morgendliche Singen der Vögel. Die harmlose, friedliche Stimmung erschien ihr verlogen und falsch zu sein. Die Welt war nicht harmlos.
Mit blitzschnellen, geschulten Bewegungen holte Maleni die dort erwarteten Pferdeschuhe aus den Satteltaschen – breite Lederfüßlinge, die man um die Hufe schnallte und die nicht tief einsanken. Ihr erhabenes Relief gaukelte die Spur kleinerer Wildtiere vor. Einen gewieften Spurenleser würde man damit nicht verwirren können, doch Soldaten waren gemeinhin Kämpfer und keine Fährtensucher. Sie schwang sich wieder auf das Ross. Es tänzelte unruhig, hasste die Fremdkörper an seinen Hufen, wollte zur Straße zurück, doch Maleni ließ es nicht zu. Sie war eine exzellente Reiterin. Sie und alle Brüder und Schwestern der Xyi waren das. Mit Geschick und Willenskraft trieb sie das Tier weiter, gen Nordosten, wo sie bei der Anreise ein niedergebranntes Gehöft gefunden und Teile ihres Gepäcks zurückgelassen hatte. Zur Berenborg war sie dann mit nur wenig Gepäck auf einem Wagen gefahren, der sie in einer vereinbarten Taverne abgeholt hatte – verschleiert, geheimnisvoll, beschützt und lüstern beäugt von den Soldaten, vor denen sie jetzt floh. Der Feldherr hatte sie angefordert, und sie war gekommen.