Bittere Sonne - Lilia Hassaine - E-Book

Bittere Sonne E-Book

Lilia Hassaine

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Beschreibung

Saïd wird Ende der fünfziger Jahre in einem Bergdorf in Algerien für die damals florierende Autoindustrie in Frankreich angeworben. Nach fünf entbehrungsreichen Jahren kann er die Familie in seine Sozialwohnung in einem Vorort von Paris kommen lassen. Nadscha und ihre drei Töchter reisen voller Freude und Zuversicht in die neue Welt. Saïds älterer Bruder Kader war bereits mit Ève, einer Französin aus bürgerlicher Familie, verheiratet. Nachdem Nadscha nochmals schwanger geworden ist, beschließen sie und Saïd, das Baby Kader und Ève zu überlassen, da diese keine Kinder bekommen können. Doch unerwartet bringt Nadscha Zwillinge zur Welt. So werden Ève und Kader zu Daniels Eltern, während Amir bei Nadscha und Saïd aufwächst. Dass sie Brüder sind, bleibt ein streng gehütetes Familiengeheimnis. Lilia Hassaine lässt in einem facettenreichen Panoptikum ein lebendiges, sensibel gezeichnetes Bild über das Zusammenleben in den heute problembehafteten Banlieues von Paris während der fünfziger bis Ende der achtziger Jahre entstehen und zeichnet berührende Porträts der starken Mütter und ihrer selbstbewussten Töchter, die in der neuen Heimat ihre Träume zu verwirklichen suchen.

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Seitenzahl: 161

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www.lenos.ch

Lilia Hassaine

Bittere Sonne

Roman

Aus dem Französischenvon Anne Thomas

Lenos Verlag

Die Autorin

Lilia Hassaine, geboren 1991, ist eine französische Journalistin, Schriftstellerin und Fernsehredakteurin. Nach einem Literaturstudium schloss sie 2015 am Institut français de presse mit einem Diplom ab. Sie arbeitete für arte, Le Parisien und Le Monde, ab 2017 für die Sendung Quotidien (TMC). 2019 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, L’Œil du paon. Soleil amer ist ihr zweiter Roman, er wurde mit dem Prix littéraire de la Ville de Caen ausgezeichnet und schaffte es in die Vorauswahl für den Prix Goncourt.

Die Übersetzerin

Anne Thomas wurde 1988 in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz geboren und wuchs in Flensburg auf, nachdem sie 1989 mit ihrer Familie aus der DDR geflohen war. Seit 2013 ist sie als freiberufliche literarische Übersetzerin tätig (u. a. Colin Niel, Éric Plamondon, Dimitri Rouchon-Borie). Sie lebt hauptsächlich in Paris. Regelmässige Arbeitsaufenthalte in Berlin und London. Anne Thomas organisiert und leitet Übersetzungsworkshops in Schulen in Deutschland und Frankreich und ist als Dolmetscherin bei literarischen und kulturellen Veranstaltungen tätig.

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut français.

Titel der französischen Originalausgabe:

Soleil amer

Copyright © 2021 by Editions Gallimard, Paris

E-Book-Ausgabe 2024

Copyright © der deutschen Übersetzung

2024 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverfoto: edpics / Alamy Stock Foto

ISBN 978 3 03925 712 6

Für meine Mutter

Inhalt

Die Autorin

Die Übersetzerin

1959

Erster Teil: Die sechziger Jahre

1964

1965

1968

1969

Zweiter Teil: Die siebziger Jahre

1975

1976

1977

Dritter Teil: Die achtziger Jahre

1983

1984

1986

1987

1997

Glossar

Der Morgen muss enttäuschen.

Ob Nacht-, ob Taggestirne, keins, das nicht bitter war.

Arthur Rimbaud, Das trunkene Schiff

(deutsch von Paul Celan)

1959

Wilaya Sétif, Algerien

Zuerst ist da weisses Licht, die nackte Stadt, Relikte der Stille. Die ehemaligen Hauseingänge der Villen, von denen nur noch die Grundmauern stehen, waren mit Mosaiken gepflastert, die Wasserbecken längst ausgetrocknet.

In den Ruinen von Djemila wohnen Gespenster, man hatte sie ja gewarnt.

Aber die Kinder kamen jeden Sommer wieder, gingen am Venustempel vorbei, schritten durch die Strassen der antiken Stadt, erweckten die Statuen zum Leben. In dieser Steinoase irgendwo im Aurès-Gebirge spielten sie Theater. Die Bühne des römischen Amphitheaters wurde zur Arena, die Sandalen schabten über den Erdboden, rutschten an Steinchen ab. Die Duelle konnten Stunden dauern, bis die kleinen Opfer dieser brudermörderischen Kämpfe genug davon hatten, bäuchlings auf dem Boden zu liegen. »Du bist dran mit Sterben, Adil!«, rief einer, und ein Heer Untoter erhob sich gegen den siegreichen Gladiator. Die Partie war zu Ende, und ein anderes Spiel begann.

An jenem Tag waren sie mit selbstgebauten Keschern bewaffnet, die sie aus Ästen und Fischernetzen gebastelt hatten, von allen Seiten kamen sie angerannt. Die Schreie flogen zu den Höhen der Stadt Ferdjioua hinauf, die Adler über ihnen zogen als Antwort weite Kreise.

Für den Bruchteil einer Sekunde wurde die Stille tiefer. Eine Eidechse schlüpfte hinter einen Kalksteinblock. Die Raubvögel verschwanden.

Der Himmel verschmolz allmählich mit den Ruinen, färbte sich mit Ocker und Dunst. Zweige ballten sich zu Knäueln zusammen, trudelten langsam durch den Staub. Sonia fasste ihre grosse Schwester an der Hand, die gähnte und blinzelte. Die Luft wurde schwer, drückend. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.

Im Dorf weiter oben in den Bergen erkannte Nadscha den Wind. Sie webte, und ihr Korb flog ein paar Meter weg. Die Männer des Dorfes rannten ins Tal, sie mussten sich beeilen. Bald würde ein Sandsturm Djemila ersticken.

Als sie ankamen, war die Sonne auf die Erde herabgestiegen. Ein roter, weissglühender Nebel hing in den Ruinen. Ein Feuer ohne Flammen, eine glühende Schwade. Die Väter kamen nur mühsam voran, klammerten sich an Säulen, schrien die Namen ihrer Kinder, aber das Heulen des Schirokkos übertönte ihre Stimmen.

In der Ferne entdeckte einer ein weisses Tuch. Sie waren es. Im Schutz eines Mäuerchens, gesund und unversehrt, aber dem Verdursten nah. Maryam hielt ihre Schwester im Arm, die Mutter hatte ihr eingeschärft: »Du bist die Älteste, du musst auf Sonia aufpassen.«

Maryam war eigentlich gar nicht die Älteste. Vor ihr hatte es noch Ismael gegeben. In dieser Gegend, trocken im Sommer, eisig im Winter, war das fast schon banal. Ismael war drei Jahre alt gewesen. Eine Angina Pectoris hatte ihn dahingerafft. Seitdem hatte Nadscha nur Töchter bekommen: Maryam, Sonia und Nour, die noch ein Baby war.

Als sie die Kinder sah, rannte sie ihnen entgegen, war erleichtert. Der Wind hatte sich gelegt. Sie gab ihnen Ziegenmilch, die tranken sie in einem Zug aus, dann entwirrte Nadscha das Haar ihrer Töchter, das so lang war wie ihr eigenes. Gemeinsam mit den anderen Frauen des Dorfes, ihrer Mutter, ihren Cousinen, würden sie eine m’feremssa zubereiten, ein süss-herzhaftes Gericht aus Huhn und getrockneten Aprikosen. Ein abgewendetes Unglück war ihr schon Glück genug. Nadscha war knapp sechsundzwanzig, aber sie lebte bereits in der Angst zu verlieren. Hier war alles so zerbrechlich.

Ihr Mann Saïd hatte das Land vor sechs Monaten verlassen. Er war unter Hunderten von jungen Männern ausgewählt worden, um in der Nähe von Paris in einer Autofabrik zu arbeiten. Der Werber war eines Morgens ins Dorf gekommen und hatte die Robustesten ausgesucht, die, deren Hände von der Arbeit bereits schwielig waren. Nadschas grösste Angst war, dass er nicht wiederkäme, wie viele junge Männer, die nach Frankreich gingen. Wie Saïds Bruder Kader, der eine Französin geheiratet hatte. Saïd strotzte nur so vor Gesundheit, er war muskulös, dunkelhaarig, hatte feine, beinahe feminine Gesichtszüge und dunkelblaue Augen. Saïd war fleissig. Vielleicht bliebe er ebenfalls dort. Vielleicht liesse er sie allein, mit drei Kindern.

Sie rannte zur Schule, wo die Lehrerin den Frauen beim Briefeschreiben half. Sie schrieb Saïd, dass er bald zurückkommen möge: »Es hat seit Wochen nicht geregnet, die Ernte ist nicht gut. Brahim sagt, die Körner sind zu klein, um sie zum Weizenpreis zu verkaufen, er bietet nur die Hälfte. Ich habe versucht zu verhandeln, aber er lässt nicht mit sich reden. Der Teppich ist beinahe fertiggewebt, mein Cousin Kamel hat einen Käufer in Constantine gefunden, er wird mir das Geld vorstrecken. Den Mädchen geht es gut, aber Nour weint jede Nacht, das wird langsam anstrengend … komm bald wieder, bitte, komm zurück …«

Die Lehrerin hielt mitten im Diktat inne. »Die Seite ist voll … Wollen Sie ihm sagen, dass Sie ihn lieben?«

Nadscha riss ihr den Brief aus der Hand. »Nein, Madame. Liebe ist was für die Franzosen.«

Erster Teil

Die sechziger Jahre

1964

I

Der Krieg war vorüber und hatte seinen Teil Schweigen und Geheimnisse angeschwemmt. Saïd arbeitete jetzt schon fünf Jahre in Frankreich. Er war vom Handlanger zum angelernten Arbeiter aufgestiegen; er wusste, weiter würde er nicht mehr kommen. Sein einziger Stolz bestand darin, dass er genug Geld gespart hatte, um seine Familie nachzuholen.

Nadscha hatte sich vorgestellt, in Paris sei alles leichter. Auf dem Schiff von Algier nach Marseille hatte sie die restlichen Datteln an die Vögel verfüttert, überzeugt, dass es ihren Kindern an nichts mehr fehlen würde. Der Horizont war wolkenlos. Das wahre Leben begann.

Sie hatte oft an Frankreich gedacht, an den Komfort und den Wohlstand, den sie sich vorstellte.

Aber die Illusion hatte sie schnell aufgegeben: Die Wohnung war im dritten und letzten Stock eines heruntergekommenen Hauses. Sie hatten nur ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer mit Spüle. Vor allem war ihr Ehemann nicht mehr derselbe. Er war brutal gealtert, die Farbe seiner Augen hatte sich verändert, so stumpf und traurig waren sie geworden. Das war die Folge jahrelanger Fliessbandarbeit in den Tiefziehhallen der Fabrik. Saïd hatte die Barackensiedlungen erlebt, in Wohnheimen für Gastarbeiter genächtigt, Schlafsälen, in denen die Männer zu sechst oder zu siebt zusammengepfercht waren, ohne jede Privatsphäre. Man betrachtete sie schlicht als Werkzeuge, hatte sie von ihren Familien und den Freuden des Lebens abgeschnitten. Viele waren dem Alkohol verfallen.

Bei ihrer Ankunft fielen die Frauen der angestauten Frustration ihrer Männer zum Opfer.

Nadscha wurde schwanger.

An einem Samstag im Juli besuchte Saïd mit der ganzen Familie seinen grossen Bruder.

Kader wohnte in einem Einfamilienhaus mit Garten, Blumen im Garten und Bienen in den Blumen. Es war ein Haus, das herausstach in dem grauen Viertel, ein Haus aus Kalkstein und mit blau gestrichenen Fensterläden. Auf den Eingangsstufen streckte sich eine Katze in der Sonne. Der Ort hatte etwas Liebliches. Man drückte eine Holztür auf, und gleich dahinter war ein kleiner Tümpel. Maryam war elf, Sonia neun, Nour fünf. Maryam rannte los, die Fische mit Brot füttern. Sonia schnappte sich die Katze. Nour versteckte sich hinter den Beinen ihres Vaters.

Nadscha ging als Erste hinein. Sie hatte am Vortag matlu* gebacken und einen Korb voll mitgebracht.

Kader umarmte Saïd, den er seit Dezember nicht mehr gesehen hatte: Die beiden Brüder lebten zwanzig Kilometer voneinander entfernt, aber Kader verbrachte einen Teil des Jahres in Belgien – er arbeitete bei seinen Schwiegereltern in einem Schokoladenunternehmen, und eine der Fabriken war auf der anderen Seite der Grenze. Die Geschäfte liefen gut. Kader dankte Nadscha für das Brot: »Du bringst mir den Duft der Heimat! Wie geht es meinen Bergen?«, dann eilte er in die Küche und setzte Wasser auf. »Ève müsste jede Minute hier sein. Samstags hilft sie immer in der Bibliothek aus.«

Nadscha waren sofort die Bücher aufgefallen. Reihe um Reihe in den Wohnzimmerregalen, unordentliche Stapel auf den Kunstledersesseln. Noch nie hatte sie so viele gesehen. Sie trat näher und versuchte, die Titel zu entziffern. Nadscha sprach Französisch, aber konnte es weder lesen noch schreiben. Seit ihrer Ankunft ging sie einmal pro Woche mit anderen maghrebinischen Frauen in einen Kurs ins Gemeindezentrum. Sie lernte schnell. Und als sie mit der Hand die verstaubten ledernen Buchrücken entlangstrich, Duras, Gary, Céline, hörte sie draussen Reifenquietschen. »Das ist Ève«, rief Kader. »Sie hat gerade erst den Führerschein gemacht, es ist eine Katastrophe!«

Lachend kam Ève zur Tür herein. »Ich hab schon wieder eine Beule ins Auto gefahren! Hallo!«

Nadscha war überwältigt. Noch nie hatte sie eine Frau dieses Schlages getroffen. Ève trug einen Lederminirock und eine beige Satinbluse, die ihren Busen locker umspielte. Ève war blond, ihr Pony zu lang, das Gesicht mit Sommersprossen übersät.

Sie kam näher und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Sie sind also die berühmte Nadscha!« Die beiden Frauen tauschten einen liebevollen Blick. »Kommen Sie, ich muss Ihnen was zeigen. Dann sind die beiden unter sich«, schlug sie vor.

Ève stieg die Treppe hinauf, ohne erst die Stiefel auszuziehen, und Nadscha folgte ihr, sie konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Sie beobachtete, wie sie sich bewegte, wie sie sich hielt, wie sie sprach. Alles war anmutig und verdiente Aufmerksamkeit. Sie hörte Ève nicht zu, sie analysierte Ève. »Das ist unser Schlafzimmer. Ich hab hier eine Kleinigkeit versteckt, die meiner Mutter gehörte.«

Ève kniete sich hin und holte eine Hutschachtel unter dem Bett hervor. Darin lag ein naturfarbenes Babystrickjäckchen mit weissen Perlmuttknöpfen in Muschelform. »Das ist sehr schön«, flüsterte Nadscha, die noch kein einziges Wort gesagt hatte. »Na bitte. Das ist für Sie!«, erwiderte Ève und machte die Schachtel abrupt wieder zu. »Und jetzt gehen wir raus. Das Wetter ist herrlich.«

Nadscha wurde von dem Wirbelwind Ève überrollt. Sie liess sich führen, traute sich nicht, etwas zu sagen, traute sich nicht einmal, die Geschenke abzulehnen. Die beiden Frauen gingen ins Wohnzimmer. Die Mädchen stippten Sablés in Milchkaffee. Nour hatte ein Bilderbuch über Musik entdeckt und blätterte ganz vertieft darin, unempfänglich für die Aussenwelt. Sie war so anders als ihre Schwestern. Vorhin hatte sie sich als Einzige geweigert, ihrer Tante einen Begrüssungskuss zu geben. Saïd hatte die Stirn runzeln müssen.

Nour stach heraus, sowohl wegen ihrer Schönheit als auch wegen ihres Charakters. Manchmal hatte man das Gefühl, dass eine alte Seele in dem Kinderkörper wohnte. Wegen des pechschwarzen Haars und der graublauen Augen hatten ihre grossen Schwestern ihr einen unschönen Spitznamen verpasst: Sie nannten sie sahira, die Hexe. Aber Nour schenkte ihnen keinerlei Beachtung, sie liebte einzig ihren Vater.

Nadscha fragte, ob sie den Tee servieren dürfe. Kader hatte schon alles vorbereitet: »Hier bin ich für die Küche zuständig!«

Saïd verschluckte sich fast.

Auf dem Heimweg schimpfte er über seinen Bruder: »Die Französin buttert ihn unter. Sie hat ihn zum Schaf gemacht …« Nadscha gab keine Antwort, und er setzte hinzu: »Das ist doch keine Frau! Kein Haushalt, keine Küche, keine Kinder!«

»Warum?«

»Warum was?«

»Warum hat sie keine Kinder?«

»Sie kann keine kriegen.«

Damit war das Gespräch beendet. Nadscha hatte grosses Mitleid mit dieser Frau, die ihr ohne langatmige Erklärungen ein Erinnerungsstück der eigenen Mutter geschenkt hatte. Sie hatte geschenkt, wie nur wahrhaft grosszügige Wesen zu schenken verstehen: einfach so.

II

Nadschas Bauch schwoll von Woche zu Woche mehr an, bald schon war sie im vierten Monat. Der Sommer ging zu Ende, und die Einsamkeit machte sie melancholisch. Ihre Töchter spielten den ganzen Tag draussen, und sie blieb allein zurück und wiederholte die immer gleichen Handgriffe. Staub wischen, fegen, putzen. Der Französischunterricht war in den Sommermonaten ausgesetzt, und nach der Geburt würde sie bestimmt keine Zeit mehr haben. Einzig Èves Gegenwart bot ihr Abwechslung. Ihre Beziehung hatte sich zu einer echten Freundschaft entwickelt.

Ève kam jeden Mittwoch. Jedes Mal brachte sie Kleidung mit, die sie nicht mehr anzog und die Nadscha nie im Leben tragen würde: Abendkleider, kurze Blusen, unter denen der Kugelbauch hervorguckte, und den ganzen Nachmittag lang spielten sie Anprobe. Ève kämmte Nadschas lange braune Locken und wickelte ihr Haarbänder um den Kopf. Sie malte ihr Rehaugen mit schwarzem Kajal.

»Du siehst aus wie diese italienische Schauspielerin … Claudia Cardinale … ich bring dir mal ein Foto mit. Ihr habt das gleiche Gesichtchen, und die Augenringe, die du nicht leiden kannst, aber die machen den Zauber grosser Schauspielerinnen aus. Deine Müdigkeit macht dich schön, Nadscha. Wir sollten die Spuren der Zeit lieben lernen, Falten, die wie Tränen sind, von einem ängstlichen Naturell zeugen und die Stirn zerfurchen. Am besten altern Gesichter, die gelebt haben. Ich werde wie meine Mutter altern, ihre Falten waren nichts anderes als das reine Alter, das verbitterte Alter einer Frau, die ihren Körper getrimmt hat, aus Angst, zuzunehmen oder dem Tod auch nur einen Quadratzentimeter Haut zu überlassen. Ich bin vom selben Schlag. Und ich werde enden wie sie, auf einem weiss bezogenen Bett, und in traumlosem Schlaf diese Welt verlassen.«

Ève hatte die Gabe, schöne, tiefsinnige Dinge leichthin und geradeheraus auszusprechen. Dann wechselte sie mit einem Schulterzucken das Thema, als hätte das eben Gesagte keinerlei Bedeutung.

An jenem Tag hatte sie einen Plattenspieler und die erste Single von Enrico mitgebracht, einem jungen Künstler, den sie Nadscha vorspielen wollte. J’ai quitté mon soleil, j’ai quitté ma mer bleue, leurs souvenirs se réveillent bien après mon adieu* … Nadscha wollte es wieder und wieder hören, und sie erzählte Ève vom Schnee auf dem Aurès, von dem Tag, als sie die Schule abbrechen musste, um ihrer Mutter beim Weben zu helfen, dem Schmerz, den ihr das bereitet, von der Familie, die sie zurückgelassen hatte, Schwestern, Cousinen, mit denen sie so glücklich gewesen war, nie hatte sie sich einsam gefühlt, kein einziges Mal. An jenem Tag nahm sie Èves Hand und legte sie sich auf den Bauch. Das Baby bewegte sich.

»Was glaubst du, was es wird? Junge oder Mädchen?«

Nadscha hatte erwidert: »Ich weiss nicht … noch ein Mädchen, denke ich.«

»Warst du beim Arzt?«

»Wozu?«

»Um zu schauen, ob es dem Baby gutgeht. Ich kann mitkommen, wenn du willst.«

»Ich hab immer nur gesunde Babys gehabt, aber mein Sohn ist gestorben.«

An dem Abend war Saïd früher nach Hause gekommen und hatte seine Frau noch geschminkt vorgefunden. Wutentbrannt fegte er den Teller vom Tisch, den sie ihm hingestellt hatte, und packte sie an den Haaren, er zitterte am ganzen Körper. Er stank nach Alkohol und schleppte sich mühsam ins Wohnzimmer: Er hatte nicht mal die Kraft, sie anzurühren. Nachdem er ein paar vage Beschimpfungen gemurrt hatte, sank er auf dem Sofa zusammen. Sie stand lange reglos an der Spüle, Kajal rann ihr aus den Augen, und sie wollte es nicht wegwischen, sah zu, wie die schwarze Tinte auf die Fliesen tropfte.

Am nächsten Morgen machte sie ihm seinen Kaffee, als wäre nichts gewesen. Er setzte sich wortlos neben sie und schlang das Frühstück hinunter. Aber ehe er zur Arbeit ging, blieb er an der Wohnungstür stehen, kam zurück und nahm sie in den Arm. »Nadscha … ich dachte, du wirst hier glücklich. Ich dachte, eine Familie, hier … aber schau uns an. Schau dich um … das ist kein Ort, um ein Kind grosszuziehen … die Mädchen werden grösser, sind in einem Zimmer zusammengepfercht … Und das neue Baby … Hör mal, ich habe mit Kader gesprochen, er wäre bereit …«

»Wozu? Wozu wäre er bereit, Saïd?« Nadschas Beine wollten nachgeben, sie hielt sich am Tisch fest.

»Das Baby zu adoptieren. Aber du musst natürlich einverstanden sein. Ich weiss, das ist schwer … aber denk drüber nach … bitte. Kader weiss über unsere Probleme Bescheid, ich habe lange mit ihm geredet, und Ève auch, sie will nur, wenn du auch einverstanden bist … in Algerien ist so was gar nicht mal unüblich, weisst du, wenn eine Frau keine Kinder kriegen kann, kommt es vor, dass ihre Schwester ihr …«

Nadscha hörte nicht mehr zu. Sie hielt sich den Bauch und ging ins Schlafzimmer. Sie wusste, dass eine Frage, die von Saïd kam, keine war. Sie holte tief Luft und raffte die Bettdecken zusammen, um sie aufzuschütteln. Es war herrliches Wetter. Als sie ins Sonnenlicht schaute, sah sie Èves Gesicht vor sich. Nadscha dachte den ganzen Tag lang an ihre Freundin, fiel von einem Gefühl ins andere. Zuerst war da Wut. Sie sann über die Wiege nach, das Wolljäckchen, das sie ihr geschenkt hatte, nein, offenbar bekam man nichts einfach so. Sie sann darüber nach, dass sie selbst nichts besass ausser der seltsamen Macht, Leben zu schenken, und dass Ève auch so schon verwöhnt genug war. Aber die Stunden vergingen, und allmählich gewann ein anderes Gefühl die Oberhand. Das menschliche Gehirn ist gut gemacht, es tröstet einen, noch ehe der eigentliche Schlag kommt. Genauso ist Trauern: Man leidet hinterher. Am Anfang denkt man an das schöne Leben, das der Verstorbene hatte, erinnert sich, erzählt, macht gute Miene. Doch ein paar Tage später ist da nur noch Einsamkeit und Leere. Genau das machte Nadscha jetzt durch. Sie schwankte zwischen Leere und Hoffnung, und die Hoffnung gewann – fürs Erste. Sie konnte nicht aufhören, sich ihre Freundin mit einem Baby im Arm vorzustellen, und dieses Bild besänftigte sie seltsamerweise. Sie wusste um die ewige Dankbarkeit, die Ève ihr gegenüber empfinden würde, und das unerschütterliche, ewige Band zwischen ihnen beiden. Vor allem stellte sie sich vor, wie ihr Kind aufwachsen würde, in einem geräumigen Haus, ein Dasein umgeben von Büchern, das Versprechen einer ungetrübten Zukunft. Sie sah die Freiheit, die es haben würde, die Träume, die es verwirklichen könnte. Die Wahl haben, darum ging es doch, sie, die stets ihrem Schicksalsfaden gefolgt war, ohne Murren oder Klagen.

Bei Einbruch der Nacht blieb sie vor dem Spiegel stehen: der zu lange Rock, die zu mageren Arme, die von vier Schwangerschaften bereits müden Brüste … Ihr Baby würde sie nicht wollen, das war sicher. Es würde Ève wollen. Und Ève wollte das Baby.

* Ausgewählte Namen und Begriffe erklärt die Übersetzerin in einem Glossar ab Seite 180.

* Ich habe meine Sonne verlassen, mein blaues Meer, die Erinnerungen kommen erst lange nach dem Lebewohl. (Anm. d. Übers.)

1965