Black Witch - Enthüllung - Laurie Forest - E-Book

Black Witch - Enthüllung E-Book

Laurie Forest

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Beschreibung

Nichts vermag die Dämonenflut aufzuhalten. Elloren Gardner Grey, gerade erst enttarnt als Schwarze Hexe der Prophezeiung, ist auf der Flucht und weiß nicht, ob sie auf Freunde oder Feinde stoßen wird. Da ihr Anverwundener Lukas Grey entweder tot oder in den Händen des Großmagus Marcus Vogel ist, weiß Elloren: Die einzige Chance, das Blatt des kommenden Krieges zu wenden, besteht darin, Verbündete zu suchen, die ihr zuhören, statt sie umgehend zu töten. In den Reichen des Ostens haben sich die Wasser-Fae Tierney und Ellorens Bruder Trystan der Drachengarde angeschlossen, um sich auf Vogels Angriff vorzubereiten. Doch Trystan kämpft an zwei Fronten, denn das Misstrauen seiner neuen Kampfgenossen wird nur noch übertroffen durch die Verachtung, die ihm von allen Seiten entgegenschlägt. Und Tierneys Verbindung mit Aerdas mächtigstem Fluss hat eine Gefahr ans Licht gebracht, die noch schrecklicher scheint als der drohende Krieg. Die Schwarze Hexe ist zurück, die Prophezeiung steht unmittelbar bevor. Es ist an der Zeit zu kämpfen. Aber Vogel hält noch eine weitere erschütternde Offenbarung bereit, der niemand entrinnen kann. Band 4 der New York Times und USA Today Bestsellerreihe

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Seitenzahl: 1021

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Black Witch - Reihe

 

Band 1: Black Witch - Prophezeiung, ISBN 978-3-910522-41-1

Band 2: Black Witch - Erkenntnis, ISBN 978-3-910522-42-8

Band 3: Black Witch - Rebellion, ISBN 978-3-910522-43-5

 

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem TitelTHE BLACK WITCH 4 / THE DEMON TIDE by Laurie Forestbei Inkyard Press

1. Auflage: 2025Copyright © 2022 by Laurie ForestVeröffentlicht in Absprache mit Laurie Forest.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by foliant Verlag, Hegelstr.12, 74199 Untergruppenbach

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich des Rechts auf Vervielfältigung im Ganzen oder in Teilen jeglicher Form. Diese Ausgabe wird in Absprache mit Harlequin Enterprises ULC veröffentlicht.

Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Personen, Orte und Begebenheiten sind entwederder Phantasie der Autorin entsprungen oder werden fiktiv verwendet, und jede Ähnlichkeit mit realen lebenden oder toten Personen, Geschäftseinrichtungen Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.

Umschlaggestaltung © HildenDesignIllustration: © HildenDesign, Veronika Wunderer

Übersetzung: Freya RallLektorat: Dr. Clarissa CzöppanSatz: Kreativstudio foliant

E-Book AusgabeISBN 978-3-910522-54-1

www.foliantverlag.de

Für meinen Kreis lesender und schreibender Freundinnen und Freunde, weil ihr die besten und talentiertesten Menschen auf Aerda seid.Möge der violette Xishlon-Mond leuchten über euch allen.

Inhalt

Prolog

Auftakt

1. Die Fesseln des Zalyn’or

2. Das Jüngste Gericht

3. Schattenkuppel

4. Dämonennest

5. Feuer und Schatten

Erster Teil

1. Magus der Drachengarde

2. Krieg der Asrai

3. Wetterumschwung

4. Wenn der Vo sich erhebt

5. Wüstenglut

6. Drachengarde

7. Noi’khin

8. As’lorion

9. Sturm über dem Zonor

10. Vo’khin

11. Noi’khin Gardner

12. Transformation

13. Unterströmung

14. Verwandlung

15. Xishlon’vir

16. Schattenhexe

Zweiter Teil

1. Osten

2. Der Zonor

3. Magus im Zeichen der Drachin

4. Elementargewalten

5. Drachenwarte

6. Familie

7. Die wahren Geschehnisse

8. Tochter des Widerstands

9. Verbündet

10. Rückkehr einer Kriegerin

11. Der Vergessenheit ergeben

12. Traumverschmelzung

Dritter Teil

1. Smaragdalfar-Magie

2. Böse Hexe

3. Ny’laea Shizorin

4. Schwarze Verwindung

5. Albtraum

6. Wyvernfeuer

7. Flug

8. Eine Welt aus Opal

9. Aurenkuss

10. Schatten der Macht

11. Im Bann des Lavendelmonds

Vierter Teil

1. Blitzschlag-Küsse

2. Unwald

3. Xishlon-Sturm

4. Kupplerin

5. Lykanerin

6. Finde den Mond

7. Xishlon-Gärten

8. Hoffnung

9. Schattenlinien

10. Schattenverwindung

Fünfter Teil

1. Invasion der Schatten

2. Todgeweiht

3. Raubtier

4. Bücher und Zauberstäbe

5. Schattenmagus

6. Smaragdalfar-Schlachtschiff

7. Schattendrachen

8. Krieg

Sechster Teil

1. Kriegerin

2. Aufstieg der Schwarzen Hexe

3. Noi’khin-Gewittersturm

4. Icaral der Prophezeiung

5. Wyvernflügel

6. Untergang

Siebter Teil

1. Dryaden

2. III

3. Im Dunkel der Äonen

4. Hüterin des Waldes

5. Wiedergeboren

6. Der Kreis weitet sich

Epilog

Laurie Forest

Black Witch - Lichtmagie

Prolog

*

Der Dunkelstab

Sechs Jahre zuvor

*

Der Dunkelstab spürt das Schiff durch die Ausläufer der Schatten gleiten – wie eine Spinne es spürt, wenn eine Fliege ihr Netz streift.

Seine Macht erschauert, dann öffnet er seine Dunkelsphären-Sinne … bereit, sich aufs Neue zu erheben.

Der Verlorene Kontinent

Alaric Fynnes

Westlicher Ozean

 

Mit festem Griff umschließt Priesteranwärter Alaric Fynnes DasBuch der Urahnen, tritt an Deck der Eisenblüte und spürt eine Meeresbrise in seine Gewänder fahren. Die Seide glänzt in der Sonne, auf dem heiligen Schwarz der Robe glitzert der mit Silbergarn aufgestickte weiße Botenvogel des Urvaters. Die Segel flattern laut, und auch auf ihrem schwarzen Tuch prangt der Vogel des Urvaters, einen Strauß Eisenblüten in seinen Krallen haltend.

Alarics siebzehnjähriges Herz droht vor Freude zu bersten, als er den Anblick der funkelnden See in sich aufnimmt. Noch immer kann er kaum fassen, dass unter so vielen gerade er auserwählt worden ist, Priestermagus Marcus Vogel, seinen Mentor, auf diese unglaubliche Reise zu begleiten.

Auf der Suche nach dem Verlorenen Kontinent im Westen.

Auf geheiligter Mission des Urvaters selbst.

Mit einem Lächeln auf den Lippen drückt Alaric die Heilige Schrift fester an seine Brust, als sich Rufe erheben: »Der Verlorene Kontinent!« Er schaut zu den Seefahrer-Magi, die über die gischtenden Wellen deuten. Es liegt eine gespannte Erregung in der Luft, als Alaric den Blick auf die dunkle Landmasse richtet, die am Horizont kauert wie ein drohendes Ungeheuer.

Sein Herzschlag beschleunigt sich. Sollte tatsächlich endlich ihr Ziel in Sicht sein, nach Wochen auf dem krakenverseuchten, sturmgepeitschten Westlichen Ozean? Auf dem Weg zum sagenumwobenen Verlorenen Kontinent, um den Dunkelstab der Unsäglichen zu vernichten. Einen Zauberstab, der Priestermagus Vogel in einem Traum offenbart wurde, einer göttlichen Eingebung, die gleich drei Priesterseher ebenfalls empfangen haben … ebenso wie eine verstörende Vielzahl heidnischer Wahrsager. Weshalb es für das Überleben des Magusreichs von unermesslicher Wichtigkeit ist, dass Priestermagus Vogel diesen Zauberstab als Erster erreicht.

Um ihn zu zerstören.

Alaric entdeckt seinen Mentor am Bug des Schiffes, wo er durch ein Runenteleskop späht. Ihm stockt der Atem, als er die fesselnden Gesichtszüge des jungen Priesters betrachtet, Vogels elegante, charismatische Ausstrahlung, sein schulterlanges tiefschwarzes Haar, den Zauberstab und den eisernen Dolch an seinem Gürtel.

Vogel dreht sich um und begegnet Alarics Blick. Die Andeutung eines Lächelns umspielt seine Mundwinkel, und in Alarics Wahrnehmung erstrahlt eine Explosion von Blau – die heilige Tönung der Eisenblüte, auf die seine Lichtmagie der Stufe Fünf zu seiner großen Erleichterung ausgerichtet ist. Jegliche Anziehung verbotener Farben hat Alaric sorgfältig unterdrückt, seine kindliche Faszination für die verfluchten Fae-Töne Violett und Safran brutal ausgetrieben wie ein Gift.

Schüchtern macht Alaric sich auf den Weg zu Vogel, der alles verkörpert, wonach er selbst strebt.

Marcus Vogel war unbeschreiblich auf dieser langen, tückischen Überfahrt – wie er die tödlichen Kraken des Westlichen Ozeans bekämpft hat, während um sie herum die berüchtigte Sturmfront dieses Meers tobte. Niemals wird Alaric den Anblick vergessen, wie Vogel in tiefster Nacht am Bug der Eisenblüte stand und mit hochgerecktem Zauberstab silbergleißendes Magusfeuer auf die gigantischen Bestien schleuderte, einen tödlichen Blitzstrahl nach dem anderen. Wie er einige so heftig traf, dass ihre Köpfe zu einem blutigen Dunst explodierten.

Ebenso wenig wird er je die heilige Erfüllung vergessen, die er auf diesem Schiff gefunden hat, im Kreise seiner ausnahmslos männlichen Besatzung aus Styvianern der strengsten Magushäuser Gardneriens. Auf diesem Schiff ist kein verbotener Alkohol versteckt. Und die gesamte Mannschaft ist verwunden, selbst die jugendlichen Schiffsjungen. Alle bis auf Priestermagus Vogel und Alaric. Ihre kollektive Glaubenstreue verleiht ihm die euphorische Gewissheit, von der Hand des Urvaters selbst auf das Jüngste Gericht hingeleitet zu werden, in dem die Unsäglichen schon bald vom Angesicht der Aerda getilgt sein werden.

Mit pochendem Herzen erreicht Alaric die dunkel gewandete Gestalt seines Mentors. Die dräuend aufgetürmten Wolken am Horizont scheinen sich über das Schiff wölben zu wollen, wie um es in eine furchterregende Umarmung zu ziehen. Und direkt voraus, wo Wolken und Ozean sich treffen, taucht die verwaschene Kontur eines Kontinents aus dem Dunst auf.

Vogel wendet sich Alaric und den anderen zu, und in seinen durchdringenden grünen Augen glüht ein religiöser Eifer, der Alaric erschauern lässt. Alles verharrt.

»Gesegnete Magi«, hebt Vogel an, »es ist an der Zeit, die Unsäglichen der Quelle ihrer Macht zu berauben.«

 

Alarics Gefühl, einem Augenblick gewaltiger Tragweite beizuwohnen, wächst noch weiter an, als ihr Schiff im Schutz einer Mole aus lang vergangenen Zeiten festmacht. Er klammert sich an die Reling und spürt Unruhe in sich aufsteigen beim Blick auf die brodelnden Wolken aus widernatürlichen Schatten über ihren Köpfen. Wie groteske Trauben ballen sie sich über ihnen zusammen, während ein dunkler Nebel auf die Eisenblüte zuströmt wie eine Flut und das Schiff im nächsten Moment bereits einhüllt. Unheimlich kräuselt der finstere Dunst sich über Alarics Füße.

Alarics machtvolle Lichtadern ziehen sich schmerzhaft zusammen, als abrupt sämtliche Farbe um ihn herum erlischt. Sein Herz macht einen Satz, erschrocken schaut er auf seine Haut hinunter und entdeckt verstört, dass der vertraute Smaragdschimmer bei ihm ebenso verschwunden ist wie bei seinen Mannschaftskameraden – nur ein silbernes Glimmern ist geblieben. Die Eisenblüten auf den Segeln sind nun von einem stumpfen Grau, die zuvor grünen Augen der Besatzung zeigen nur noch verschiedene Schattierungen von Stahl.

Alaric umschließt den weißen Vogel-Anhänger vor seiner Brust mit der Faust und murmelt das vertraute Schutzgebet. Läutere die Aerda vom Schandmal der Unsäglichen …

 

Gemeinsam mit vier Magussoldaten der Stufe Fünf in wallenden Mänteln verlässt Alaric das Schiff, im Gefolge des zielstrebig einherschreitenden Priestermagus Vogel. Mit wachsendem Unbehagen beobachtet er die dunklen Blitze, die in bizarren Windungen durch die Wolkendecke zucken. Als er den Blick auf die Schatten senkt, die sich in fremdartigen Wirbeln um ihn und seine Begleiter emporkräuseln wie Rauch, überkommt ihn das verstörende Gefühl, dass dieser Rauch ein Bewusstsein hat.

Vogel hält inne, und Alaric und die Soldaten tun es ihm gleich.

Vor ihnen erhebt sich ein Wald, doch alles daran ist falsch. Die Bäume bestehen aus grauem Nebel, ihre Äste krümmen sich wie knochige Finger.

Nirgends ist Grün zu sehen. Kein Hauch von Leben.

»‚Siehe, die Wildnis wird verderbt sein und Schatten auf dem Land liegen‘«, intoniert Vogel. Er richtet seinen nun silbrigen Blick auf die Magi. »Seid getrost, Brüder. Der Urvater ist mit uns.«

Ermutigt umfasst Alaric seinen Zauberstab fester, und sie alle vollführen die Geste des fünfzackigen Segenssterns auf ihrer Brust. Gemeinsam betreten sie den Schattenwald, tauchen ein in eine Landschaft, die beunruhigend still ist – als würde der Wald den Atem anhalten.

Nach einer Weile lichten sich die Bäume. Als Alarics Blick zum Zentrum der Lichtung geht, durchfährt ihn ein Schock des Grauens. Aus dem Bodennebel erhebt sich ein zinnfarbener Hügel, an dessen Fuß ein dunkler Höhleneingang gähnt.

Und davor steht ein Todes-Fae.

Der bleiche Dämon ist unheimlich reglos und widernatürlich in die Länge gestreckt, seine Augen schwarz ausgefüllt, seine Ohren schwingen sich zu scharfen Spitzen empor. Obsidianglänzende Hörner schrauben sich aus seinem Kopf, und zahllose Arme recken sich aus seinem Leib, um den gesamten Hügel zu umschließen.

Seine bodenlosen Augen verengen sich, als die Magi sich ihm nähern.

Alaric drohen die Knie zu versagen, haltsuchend tastet er in seiner Tunika nach der Taschenausgabe des Buchs der Urahnen und murmelt Gebete, während sie dem Bösen selbst gegenübertreten.

Vogel bleibt nur wenige Handspannen davon entfernt stehen, und der Dämon richtet sich auf. Über seine Züge geht ein Ausdruck, der auf Alaric wie unendliche Erleichterung wirkt. Seine Hörner sinken wieder in sein stachliges schwarzes Haar und das seelenlose Schwarz in seinen Augen zerläuft zu normalen, von Weiß umgebenen Iriden. Die unzähligen Arme ziehen sich in seinen Körper zurück, der nun auf eine üblichere Größe zusammenschrumpft, bis vor ihnen die Gestalt eines jungen Mannes steht.

»Dryaden«, sagt der Dämon, und seine verstörende Grabesstimme dringt Alaric vibrierend bis ins Mark. »Ich spüre eure elementarmagischen Affinitätslinien. Gesegnet sei die Macht des III.« Sein Blick gleitet über ihre Zauberstäbe. »Ich habe gehofft und gebetet, dass Freunde des Gleichgewichts ausziehen würden, das Werkzeug des Schattens zu holen. Sind noch weitere bei euch? Kommt ihr mit einer dryadischen Armee, um den Schattenzweig an euch zu nehmen?«

Wir sind Magi, keine unreinen Fae, erwartet Alaric in gnadenloser Schärfe von Vogel zu hören, während sein Mentor das Ungeheuer niederstreckt, doch der Priestermagus bleibt seelenruhig.

»Wir kommen mit einer Armee«, bescheidet er seinem Gegenüber schlicht, und Alaric durchzuckt Überraschung.

»Dann kommt, Dryaden.« Der Dämon winkt ihnen mit einer bleichen Hand, an deren Fingern schwarze Klauen glänzen, ihm zu folgen. »Das Werkzeug sucht sich zu erheben und lockt die Sehenden aller Lande mit Visionen.« Ein gepeinigter Ausdruck tritt in seinen Blick. »Es will eurem Kontinent dasselbe antun wie dem unseren.«

»Wir werden uns davor zu hüten wissen«, bekräftigt Vogel, bevor er sich den Soldaten zuwendet. »Bleibt hier und sichert die Umgebung.«

Dann folgt Alaric mit hämmerndem Herzen Marcus Vogel und dem Dämon ins Innere des Hügels.

 

Dicht auf den Fersen seines Mentors und des verfluchten Todes-Fae steigt Alaric eine Wendeltreppe hinab, dann gelangen sie durch einen kurzen Gang in eine kleine Kammer. Eine schwebende Kugel silbrigen Lichts erhellt die gewölbten Wände und einen runden Tisch aus schwarzem Granit im Zentrum. In die Wände sind dicht befüllte Bücherregale eingelassen.

Und in der Mitte des Tischs liegt ein grauer Zauberstab mit gewundenem Griff.

Sie reihen sich um den Tisch, und der Blick des Todes-Fae hängt wie gebannt an dem Werkzeug.

»Ihr dürft ihn nicht berühren«, warnt er. »Ich gebe euch ein Tuch und eine mit Bannzaubern verstärkte Kassette, in der ihr ihn transportieren könnt.«

»Was hat er angerichtet?«, fragt Vogel mit einer Geste nach oben zur Außenwelt.

Der Todes-Fae begegnet seinem Blick, und die Kammer verdüstert sich. »Die Schattenkräfte haben alles zerstört. Alles außer mir.«

In Alaric regt sich widerspenstiger Argwohn. Du bist ein Todes-Fae, denkt er beißend. Das da oben ist wahrscheinlich dein Werk, Unsäglicher. Darum bist du das Letzte, was hier mit diesem verfluchten Schattenwerkzeug noch aufrecht steht.

»Ich habe dagegen angekämpft«, fährt der Dämon fort, und seine gepeinigte Miene kehrt zurück. »Aber der Schattenzweig hat sich als zu mächtig erwiesen. Nehmt euch in Acht, Dryaden – je größer die Zwietracht unter den Menschen, desto größer wird seine Macht. Er labt sich an Zwist und Hader. Und dann zerstört er das Gleichgewicht.«

»Das Gleichgewicht?«

»Er setzt die Gesetze der Natur außer Kraft. Vergiftet die Elemente. Nährt sich aus einer leeren Dunkelsphäre, die alles zu verschlingen sucht. Uns eingeschlossen.« Eindringlich starrt er Vogel an. »Lasst das nicht zu.«

Geschwätz eines Unsäglichen, empört Alaric sich innerlich, doch zugleich erwacht eine nagende Sorge in ihm.

Der Fae richtet einen langen, bleichen Finger auf den Zauberstab. »Die Menschen dieses Kontinents waren in eine Vielzahl von Gruppen zersplittert, ehe der Schattenzweig an Macht gewann. Sie hatten die Wahrheit des Ursprungsbaums im Zentrum ihrer Religionen vergessen und sich stattdessen ihren Splitterkulten an den Rändern zugewandt. Sie hatten ihre Verbindung mit der Natur vergessen.« Der Dämon weitet seine Nasenflügel. »Sie zerfielen in widerstreitende Fraktionen, und dann …«, wachsam schaut er zu Vogel, »… ergriffen die celtischen Streitkräfte den Schattenzweig.«

»Und?«, fragt Vogel, ohne den Blick von dem Zauberstab zu wenden.

Mit verengten Augen mustert auch der Todes-Fae das Werkzeug. »Seine Macht verdoppelte sich, als er sich am Unfrieden zwischen den Menschen nährte. Und sie bekämpften einander umso mehr, als der Schatten sein Gift in die Natur aussandte. Das Wasser verseuchte. Die Luft verpestete. Die Bäume erstickte. Die Welt ihrer Farbe beraubte und alles in Schatten tauchte. Und während die Menschen einander bekriegten, löste sich ihre Lebensgrundlage unter ihren Füßen auf.« Der Todes-Fae hält inne, in seinen Augen glänzen Tränen. »Und dann starb alles.«

Er verstummt für eine Weile, und als er weiterspricht, schwingt etwas Raueres in seiner Stimme mit. »Schon bald kämpften sie um Nahrung. Um das verbliebene Wasser. Klammerten sich an die Legenden ihrer Religionen von der Götterdämmerung. Sie versuchten zu horten, was sie hatten, statt es zu teilen. Und währenddessen breitete der Schatten sich stetig aus.« Seine Miene wird flehentlich, und die flammende Aufrichtigkeit darin stellt Alarics Welt auf den Kopf, denn in diesem Moment sieht der Todes-Fae ganz und gar nicht aus wie ein Dämon – sondern wie ein verängstigter junger Mann, der in aller Eindringlichkeit eine düstere Warnung zu übermitteln versucht.

»Nehmt euch in Acht vor seiner Macht, Dryaden«, beschwört der Todes-Fae den Priestermagus und Alaric. »Verschreibt euer Leben der Aufgabe, niemanden je wieder dieses Werkzeug des Bösen führen zu lassen. Oder das, was hier geschehen ist, wird ganz Aerda widerfahren.«

Nun schaut der Dämon Alaric an, und das Ausmaß der Dringlichkeit in seinen Augen lässt eine neuerliche Spur der Angst durch den Priesteranwärter rieseln. »Habt ihr bereits den Großen Weißstab an euch gebracht?«, will er wissen. »Den Zweig des Ersten Baums? Er hat in meinen Träumen zu mir gesprochen.«

Entrüstung wallt in Alaric empor, diesen Todes-Fae über den Heiligen Zauberstab des Urvaters sprechen zu hören, doch Vogel bleibt selbst im Angesicht solcher Blasphemie beeindruckend ruhig.

»Selbstverständlich«, versichert der Priestermagus dem Dämon – offenkundig nur, um ihn zu beschwichtigen.

»Das Ergrünen des Zweigs des Ersten Großen Baums ist die letzte Hoffnung, die Balance auf Aerda wiederherzustellen«, behauptet der Todes-Fae eindringlich. Er tritt an eines der Bücherregale und zieht einen dicken Band hervor, der handschriftliche Aufzeichnungen zu enthalten scheint. »Ich habe festgehalten, was hier geschehen ist«, erklärt er, und in diesem Augenblick wirkt er auf bizarre Weise eher wie ein Historiker denn wie ein verfluchter Dämon. »Nehmt diese Chronik mit euch und berichtet allen davon, damit sich diese Geschichte nicht wiederholt.« Nun gilt sein dunkler Blick sowohl Vogel als auch Alaric. »Der Schatten will ganz Aerda verschlingen. Lasst das nicht zu. Bewahrt das Gleichgewicht.« Er macht sich daran, weitere Notizbücher aus den Regalen zu holen, und Vogel greift über den Tisch und nimmt den Dunkelstab in die Hand.

Alaric stockt der Atem, all seine Muskeln sind wie versteinert. Schatten kräuseln sich empor und winden sich um Vogels Arm, während der das Werkzeug mit geruhsamer Neugier betrachtet.

Der Todes-Fae dreht sich um und erstarrt ebenfalls.

»Wir sind keine Dryaden«, bemerkt Vogel sacht.

Verwirrt verzieht der Todes-Fae das Gesicht. »Was?«

Blitzschnell zückt Vogel seinen Eisendolch und schleudert ihn über den Tisch. Dumpf schlägt die Waffe in die Brust des Dämons, und über das Gesicht des jungen Mannes geht ein Ausdruck des Schocks, als er zusammensackt und die Bücher mit ihm zu Boden poltern. Hörner schrauben sich aus seinem Kopf empor, seine Krallen werden länger und seine Augen verdunkeln sich. Ein wutentbranntes Funkeln tritt in seinen Blick, und eine lange schwarze Zunge schießt zuckend aus seinem Mund. Mehrere zusätzliche Arme sprießen aus seinem Leib und greifen nach dem Eisendolch, nur um hilflos davon abzuprallen wie an einem unsichtbaren Schild.

Vogel wendet sich wieder dem Dunkelstab zu, während der Dämon sich mit qualvoll verzerrter Miene keuchend am Boden windet.

»Wir sind keine Unsäglichen«, belehrt Vogel ihn beinahe sanft. »Wir sind die Gesegneten Ersten Kinder des Reinen und Heiligen Magusreichs. Eine Vision hat mich vor deiner Anwesenheit hier gewarnt. Dieser Dolch besteht aus reinem Eisen. Du bist vernichtet, im Namen des Urvaters im Himmel.«

Abermals sinken die Hörner des Dämons zurück in seinen Schädel und das Weiß seiner Augen wird wieder sichtbar. Seine Zunge verschwindet in seinem Mund, alle Arme bis auf zwei ziehen sich zurück.

Am Boden zerstört sieht er Alaric an. »Genau so beginnt es«, bringt er gepresst hervor. »Wenn du zulässt, dass er diesen Zauberstab in eure Heimat bringt, seid ihr verloren. Dann verwandelt ihr den Ort, von dem ihr kommt, in das hier.« Er gestikuliert wild in die Richtung der Welt über ihnen. »Und mit diesem Ende wird alles enden …«

Eine dunkle Ranke schießt auf den Todes-Fae zu, und Alaric zuckt zusammen, als sie den Eisendolch noch tiefer in die Brust des aufkeuchenden jungen Mannes rammt. Weitere Ranken sprießen seitlich daraus hervor und schlingen sich um den Fae.

Alaric fährt zu Vogel herum und sieht, dass der den Dunkelstab auf den Dämon gerichtet hält. Abermals ringt der Todes-Fae nach Luft, und Alaric schaut gerade noch rechtzeitig wieder zu ihm, um einen letzten eindringlich warnenden Blick aufzufangen, ehe die Augen des Mannes erlöschen.

Alaric kann sich kaum rühren, kann kaum atmen, als der Leichnam des Dämons zu dickem, schwarz brodelndem Rauch zergeht, emporsteigt und sich dann auflöst. Zögernd wendet er sich Vogel zu. Die Augen seines Mentors lodern wie silbernes Feuer.

»Es wird eine Weile dauern, bis wir einen Weg gefunden haben, diesen Zauberstab zu zerstören«, erklärt Vogel mit leisem Nachdruck. »Bis dahin wird es das Beste sein, zu sagen, er sei bereits vernichtet.«

Alaric nickt zittrig. Natürlich sollten sie ihn geheim halten, diesen angeblich unzerstörbaren Zauberstab. Und natürlich sollte Vogel derjenige sein, der ihn an sich nimmt und ergründet, wie er doch zu zerstören ist, denn kein Magus ist so rein wie er.

Einen Moment lang mustert der Priestermagus Alaric, und der Jüngling spürt jenen silbernen Blick bis ins Mark. Dann lässt Vogel den Dunkelstab unter seinem Mantel verschwinden, hebt die Hände und vollzieht ruhig die Austreibungsriten gegen alles Dämonische. Alaric zwingt sich, die Gebete des Exorzismus mitzusprechen, ertappt sich jedoch immer wieder dabei, wie sein Blick dorthin wandert, wo der Dunkelstab nun verborgen ist.

 

Als sie ablegen und den Kontinent mit geblähten Segeln hinter sich lassen, kehrt die Farbe in ihre Welt zurück.

Die Mannschaft beginnt, Balladen zu verfassen über ihre Fahrt. Sie besingen Vogels Sieg über den Todes-Fae. Wie er den Zauberstab der dunklen Mächte zerstört hat, ehe die Unsäglichen ihn in ihren Besitz bringen konnten. Und dass nun nur noch der Gesegnete Weißstab des Urvaters gefunden werden muss, um ihre heilige Mission zu erfüllen.

Mit tief gerunzelter Stirn umklammert Alaric die Reling, den Blick gen Westen gerichtet.

Als makellos glatte Linie starrt der Horizont zurück, darüber ein strahlend vielfarbiger Sonnenuntergang. Einen ebensolchen Sonnenuntergang gab es bei ihrem Aufbruch, erinnert Alaric sich, eine überwältigende Farbenpracht in allen nur vorstellbaren Schattierungen. Alarics Lichtmagie geriet außer sich. Er hatte Mühe, seine instinktive Verzückung zu unterdrücken beim Anblick all der geheiligten und frevelhaften Farben in einer so verwirrenden Verschmelzung. Ebenso verstörend ist das Durcheinander, das nun in seinem Inneren herrscht. Er betrachtet den beinahe schon unheimlich schönen Sonnenuntergang und schafft es nicht, die Furcht abzuschütteln, die sich tief in seinem Inneren festgesetzt hat wie ein Gesteinsbrocken.

»Einen gesegneten Abend, junger Magus.«

Vogels sonore Stimme lässt ihn zusammenfahren, im nächsten Augenblick tritt der Priestermagus mit einer Miene froher Gelassenheit neben ihm an die Reling. Alaric spürt einen Funken freudiger Erregung, sich allein in Gesellschaft seines vertrauten charismatischen Mentors wiederzufinden, der jedoch sogleich erlischt. Er kann einfach nicht anders. Unbehaglich huscht sein Blick dorthin, wo sich der Dunkelstab in seinem Futteral unter Vogels Mantel abzeichnet.

Mit Mühe unterdrückt Alaric seine Beklemmung, um die höfliche Erwiderung zu geben, die von ihm erwartet wird. »Der Urvater segne Euch mit seinem Heiligen Licht.« Abermals späht er zu dem Zauberstab hinunter, und aus dem Augenwinkel bemerkt er, dass seinem Mentor der Blick nicht entgangen ist.

»Was bedrückt dich, junger Magus?«, fragt Vogel mit bohrenden blassgrünen Augen.

»Ich mache mir Sorgen …«, setzt Alaric an und müht sich, seine Gedanken zu sammeln, während Vogel geduldig wartet. »Ich fürchte, …« Wieder gleitet sein Blick zum Dunkelstab. »… dass wir einen Fehler begehen. Indem wir das auf den Kontinent der Reiche bringen.«

Vogel nickt abgeklärt, als hätte er genau das erwartet. »Du hast den Dämon gehört«, erinnert er Alaric. »Der Dunkelstab hat Köder ausgeworfen, um von den Heiden gefunden und ergriffen zu werden. Nur durch die Gnade des Urvaters hat der Todes-Fae uns für Dryaden-Dämonen gehalten.«

Alaric nickt. Wahrhaftig ein riesiger Glücksfall. Er mustert die Kontur des Dunkelstabs und kann die aufwieglerischen Gedanken nicht unterdrücken, die in ihm emporsteigen. War es wirklich ein Glück? Oder sollten wir fliehen, solange wir noch können – nur weg von diesem Ding?

»Wie können wir sicher sein, dass der Dunkelstab uns nicht für das Böse missbraucht?« Unaufhaltsam brechen die Worte aus Alaric hervor, denn die Warnung des Fae dröhnt ihm unauslöschlich in den Ohren, auch wenn sie aus dem Mund eines Unsäglichen stammt.

Ein Lächeln umspielt Vogels Lippen. »Weil wir Magi sind. Voll der Gnade des Urvaters. In unseren Händen muss jedes Werkzeug der Macht sich transformieren.«

Wie ein Dolch fährt Alaric der Schreck ins Mark. »Aber … Ihr habt gesagt, wir zerstören ihn.« Sein Blick geht nach Westen, und er wird gewahr, dass der Sonnenuntergang nun nur noch ein matter Schimmer ist, das Feuerwerk von Farben eine bloße Erinnerung.

Verschluckt von der Dunkelheit.

»‚Unselig der Magus, der den Willen des Urvaters anzweifelt‘«, murmelt Vogel.

Beunruhigt zieht Alaric die Augenbrauen zusammen. Dass Vogel ausgerechnet diese Passage aus dem Buch der Urahnen zitiert, verheißt nichts Gutes. Gerade als er sich dem Priestermagus wieder zuwendet, zieht dieser den Zauberstab und raunt die Beschwörung des Büßers – ein erdmagischer Zauber, mit dem vom Weg abgekommene Priesteranwärter diszipliniert werden. Der dem Anwärter einen kleinen, aber scharfen magischen Gertenhieb versetzt, eine Mahnung, auf dem Pfad der Frömmigkeit zu bleiben.

Doch Vogel benutzt den Dunkelstab, um ihn zu wirken.

Protest schießt in Alaric empor, als der Priestermagus den Stab auf ihn richtet. »Halt …«

Schattenblitze bersten aus dem Dunkelstab hervor und schnappen um Alarics Leib, schnüren ihn ein und pressen ihm die Luft aus den Lungen, als er in die Höhe gerissen und in einer schwindelerregenden Parabel über Bord geschleudert wird.

Eine Mauer aus dunklem Ozean rast auf sein Gesicht zu, dann klatscht er in die Wellen. Kalt strömen die Fluten über ihm zusammen, während die Schattenmagie ihn immer weiter in die Tiefe katapultiert. Nackte Panik wallt in ihm empor, begleitet von einer entsetzlichen Klarheit.

Ich werde ertränkt. Während der Dunkelstab auf Gardnerien zusegelt.

Die Schattenmagie zieht sich zurück, unvermittelt kann Alaric seine Gliedmaßen wieder bewegen. Er reißt die Arme nach hinten und strampelt mit den Beinen in Richtung Oberfläche, während mit einem unwillkürlichen Atemzug Salzwasser in seine Kehle dringt und er würgen muss.

Plötzlich erscheinen überall um ihn herum substanzlose Visionen silbrig weißer Vögel. Ihre leuchtenden Leiber erhellen das dunkle Wasser, mit ausgebreiteten Schwingen beobachten sie seinen Aufstieg. Alarics Panik verwandelt sich in schieres Grauen, als er erneut Wasser einatmet und seine Schwimmzüge zu kopflosem Gestrampel zerfallen. Dunkle Flecken erblühen vor seinen Augen und verengen sein Sichtfeld. Die Oberfläche ist zu weit entfernt, er wird sie nicht mehr rechtzeitig erreichen.

Da taucht vor ihm eine große silberne Robbe auf, deren verschwommene Gestalt sich in Windeseile in die einer nackten blauen Frau verwandelt, mit silbrigem Haar und Kiemen am Hals.

Eine Phoca, erkennt Alaric in panischem Schock. Eine jener monströsen Robbenfrauen.

Als die Phoca nach ihm greift, ist er bereits nicht mehr in der Lage, sich zu wehren. Sie fasst ihn beim Arm und zieht ihn aufwärts, viel schneller, als er allein je schwimmen könnte. Der Blick ihrer überirdisch silbrigen Augen geht zu den ätherisch schimmernden Vögeln, die noch immer stumm in der Tiefe schweben, dann zurück zu Alaric. Ihre dunkelblauen Lippen teilen sich, dahinter kommen spitze Zähne zum Vorschein. Doch der verblüffte Ausdruck auf ihren Zügen …

Das ist ein menschlicher Ausdruck.

Weder dämonisch noch verflucht.

Genau wie bei dem Todes-Fae.

Mit letzter Kraft deutet er nach oben, seine Lungen schreien nach Luft, während die Phoca mit ihm in Richtung Oberfläche schnellt und die Welt ins Dunkel sinkt.

Die Macht der Dunkelsphäre erhebt sich

Die Schatten

An Bord der Eisenblüte, unterwegs zum Kontinent der Reiche

 

Die Schatten harren ihrer Gelegenheit. So, wie sie es immer tun. Eingebettet in den Dunkelstab im Klammergriff des Priesters in seinem ach so gerechten Zorn, wenige Sekunden nachdem er seinen Schützling über Bord geschleudert und weit in die dunklen Tiefen katapultiert hat.

Die Schatten spüren, wie der Blick des Mannes über die langsam wieder ruhiger werdende Wasseroberfläche schweift.

Und sie ergreifen ihre Gelegenheit.

Schleichend strecken sie ihre Fühler in die Hand des Priesters aus, winden sich um seine Affinitätslinien, erwachen wie ein Drache der Dunkelsphäre, der sein gewaltiges Haupt erhebt.

Schwelgen in dem offenen Bruch in der Seele dieses jungen Mannes.

Sie kriechen bis tief in seinen Geist hinein und lesen ihn.

Büße!, erschallt die wütende Stimme einer Frau in einer Erinnerung, die weit in die hintersten, dunkelsten Winkel seines Bewusstseins verbannt ist. Die Frau ist von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, in ihren blassgrünen Augen liegt ein grausamer Eifer, ihre grünlich schimmernden Züge besitzen dieselbe Eleganz wie die des Priesters, ihr glänzendes schwarzes Haar ist streng zu einer festen Schnecke zurückgebunden.

Um ihren Hals trägt sie eine dünne Silberkette, an der ein weißer Anhänger in Gestalt eines Vogels baumelt.

Die Frau macht einen Satz nach vorn, und die Schatten spüren den plötzlichen Schmerz am Arm des kindlichen Priesters, als ihre Fingernägel sich in seine Haut bohren, der Raum um ihn herumschwingt und er rücklings gegen einen der in die Wände eingelassenen Eisenbäume kracht, deren unbelaubtes Geäst sich bis über die Decke schlängelt.

Du bist böse!, faucht die Frau und hebt den langen dunklen Ast in ihrer Faust. In ihren Augen blitzt blanker Hass. Tu Buße! Schwöre es!

Nein, Mama …

Schläge hageln auf das Gesicht des Jungen herab, auf seine kleinen Schultern, und er kauert sich zu einem Häuflein Elend zusammen, fleht mit kindlicher Stimme: Mama, nicht … Nein! Ich büße! Ich schwöre, ich büße!

Sag es!, zischt sie, den Stock noch immer in der Hand. Sag, dass du böse bist, und fleh den Urvater um Gnade an!

Ich bin böse! Ich bin böse! Bitte, Mama, nicht …

Wieder prasseln Schläge auf ihn ein, das Kind schluchzt so haltlos, dass es kaum noch atmen kann. Drohend ragt die schwarzhaarige Frau in ihrer sorgsam gebügelten Tracht über ihm empor. Ihr makelloses Erscheinungsbild steht in hartem Kontrast zu ihrem aufgebracht geröteten Gesicht und dem wilden Ausdruck in ihren Augen.

Ohne Vorwarnung krallt sie ihre Finger um die Kehle des kindlichen Priesters und presst ihn an den Baumstamm. Sein Körper erschlafft, vergeblich ringt er nach Luft.

Du wirst die Gebote des Urvaters buchstabengetreu befolgen, hast du das verstanden? Du wirst seinen heiligen Namen verherrlichen!

In ihrem Klammergriff gelingt dem Jungen nur ein kleines Nicken. Die Hand der Frau löst sich von seinem Hals, und mit einem rauen Keuchen bricht das Kind kläglich in sich zusammen.

Sag es, fordert sie. Ich werde die Gebote des Urvaters buchstabengetreu befolgen.

Ich werde die Gebote des Urvaters buchstabengetreu befolgen, presst der Junge bebend mit heiserer Stimme hervor, während seine Emotionen zersplittern.

Die Frau wird still, nimmt eine spröde Gefasstheit an, als hätte jemand einen Vorhang zugezogen. Sie deutet mit ihrem Stock auf einen kleinen Schreibtisch. Darauf liegt Das Buch der Urahnen, daneben Papier, Feder und Tinte.

Schreib das Erste Buch ab, weist sie den kindlichen Priester an, und noch immer glüht Hass in ihren Augen, als sie ihn von oben bis unten mustert. Geh in dich und büße. Wenn du fertig bist, bringe ich dir etwas zu essen und wir beten gemeinsam, dass der Urvater deiner jämmerlichen Seele gnädig sei. Damit lehnt die Frau den Ast ordentlich an die Wand und verlässt durch eine schwere Eisenholztür das Zimmer. Mit dem Klicken des Schlosses springt ein weiterer Splitter vom Herzen des Kindes ab.

Im verzweifelten Wunsch, es der Frau recht zu machen – es dem Urvater recht zu machen – und nicht mehr böse zu sein, rappelt der Junge sich auf und schleppt seinen zerschlagenen kleinen Körper zum Schreibtisch. Stummes Schluchzen schüttelt seine schmalen Schultern, als er sich über das Papier beugt und zu schreiben beginnt.

Auftakt

Die Prophezeiung nimmt ihren Lauf

Gegenwart

 

Die Prophezeiung der Amaz

(Weisgesagt nach den Gesetzen der Astragalomantik mit Würfeln aus dem Holz der Heiligen Rotulme durch die Seherinnen der Göttin)

*

Töchter der Göttin, horcht auf!

Eine große Macht der Finsternis erhebt sich aus der verfluchten Welt der Männer.

Und inmitten ihrer Schatten werden ein Wyvern und eine Schwarze Hexe erstehen und im Aufeinanderprallen ihrer Kräfte Zerstörung über die Welt bringen.

*

Zu den Waffen, Gesegnete Töchter!

Die Stunde ist gekommen, die Aerda zu retten!

1. Kapitel

Die Fesseln des Zalyn’or

Freyja Zyrr

Cyme, Amazakaraan

Reiche des Westens

 

Freyja Zyrr, übergangsweise Kommandantin der Königinwache, schreitet die Basis der durchscheinenden Runenkuppel über Cyme ab, auf der Suche nach Bedrohungen. Die Runenaxt trägt sie auf dem Rücken, überall an ihrem Körper sind Hieb- und Stichwaffen festgeschnallt.

Allzeit kampfbereit, doch noch nie so sehr wie in dieser Nacht.

Die Luft ist mild, alles ist still. Ein trügerischer Frieden. Freyja blickt durch die Kuppel in die dunkle Wildnis außerhalb. Sie weiß, dass die Magi mit großer Wahrscheinlichkeit bereits dort sind und die Umgebung der Stadt auskundschaften. Vielleicht auch die Alfsigr. Beide abscheulichen Völker sind vereint in ihrem Wunsch, sich Amazakaraan einzuverleiben und seine Freien Frauen vom Angesicht der Aerda zu tilgen. Und dann ist da noch die Prophezeiung, von der sämtliche Seherinnen mit beunruhigender Überzeugung verkünden, ihre Zeit sei gekommen. Freyja rollt ihre Schultern. Das Gewicht der Axt darauf ist das einzig Beruhigende in dieser Nacht.

Aus den Bäumen hinter ihr dringt ein Rascheln heran. Sie dreht sich um und registriert die kuriosen Gestalten eines ganzen Schwarms von Eulen, die plötzlich im Geäst des Ulmenhains hocken. Im matten Schimmer der roten Runen auf ihrem Gefieder starren die nachtaktiven Raubvögel sie aus ihren runden Augen unverwandt an. Freyja holt ein Stück goldenen Lumensteins aus ihrer Tasche hervor, das ihre grünbraune Hand und das kleine Wäldchen in seinen bernsteinfarbenen Schein taucht. Dann hebt sie wieder den Blick und betrachtet die nächtlichen Kinder der Göttin. Drei Uhus mit orange glühenden Augen hocken in einer Reihe. Zwei gelbäugige Bartkauze fixieren die Kriegerin durchdringend. Eine Gruppe von Elbenkauzen stiert sie mit so bedrohlicher Miene an, dass es angesichts ihrer geringen Größe schon fast komisch wirkt.

Freyjas Blick geht zum Fuß der Bäume und trifft auf zwei geisterhaft weiße Schleiereulen auf den Schultern von Wynter Eirllyn, die dort im Dunkel steht – wie Freyja es vermutet hat, sobald sie die Vögel entdeckte.

»Kann ich dich sprechen?«, fragt Wynter schüchtern, die schwarzen Flügel eng um den schlanken Leib geschmiegt.

Freyja nickt und wartet, während Wynter in die schmale Waldschneise tritt, die ganz Cyme umgibt und aus der sich die schützende Runenkuppel erhebt. Direkt vor Freyja bleibt die Icaral-Elbin stehen, und die glühenden Zeichen überhauchen ihr weißes Haar mit einem rosigen Schein.

»Ich möchte dich um Hilfe ersuchen«, bringt Wynter mit leiser, gepresster Stimme hervor. Die verzweifelte Eindringlichkeit in ihrem Blick lässt ahnen, dass sie eine wahrlich monumentale Bitte hat.

»In welcher Angelegenheit?«, fragt Freyja und harrt geduldig einer Antwort, während Wynter große Mühe mit ihrem Anliegen zu haben scheint. Die Lippen der zarten Elbin zittern.

»Ich ersuche um Hilfe für meinen Bruder Cael und seinen Sekundanten Rhys Thorim«, bricht es schließlich aus ihr hervor. »Ich will sie aus der Gefangenschaft in Alfsigroth befreien.« Ihre Miene verkrampft sich, als fechte sie einen harten inneren Kampf aus, der diese Gedanken mit aller Macht zu unterdrücken versucht.

Mit verengten Augen mustert Freyja das Abbild der Halskette, die wie eine Tätowierung in Wynters blasse Haut eingebettet ist – jener Halskette, die allen Alfsigr in ihrem dreizehnten Lebensjahr verliehen wird. Deren Tragen Alfsigroth all seinen Bürgerinnen und Bürgern vorschreibt und die Wynter – wie alle Alfsigr – in einem lähmenden Klammergriff hält. Bis auf einen kleinen Funken ihres wahren Geistes, der sich einfach nicht auslöschen lässt. Das Zalyn’or, das an dieser Kette hängt, bereitet Freyja Sorge. Königin Alkaia empfindet ebenso, darum hat Freyja den Auftrag, mehrmals am Tag nach Wynter zu sehen. Sich zu vergewissern, dass Marcus Vogel nicht die Magie des Artefakts infiltriert und damit die Kontrolle über Wynters Geist an sich gerissen hat.

Doch es ist offensichtlich, dass diese Bitte von Wynter selbst kommt.

Eine Bitte im Namen von Männern.

»Warum kommst du damit zu mir?«, verlangt Freyja zu erfahren und bedenkt Wynter mit einem Blick, der besagt: Ich weiß genau, warum du damit zu mir kommst.

»Weil du einen Mann liebst«, erklärt Wynter mit der schlichten Gewissheit einer Empathin.

Innerlich verflucht Freyja sich dafür, Wynter vorhin gestattet zu haben, ihre Hand zu berühren. Denn nun weiß Wynter, dass Clive Soren, Kopf des zerschlagenen celtischen Widerstands, erst gestern Nacht zu Freyja gekommen ist.

 

Er stand außerhalb der Runenkuppel, nur wenige Schritte von ihrem jetzigen Standort entfernt, und wartete offenkundig auf Freyja. Seine hochgewachsene Gestalt war in den roten Schimmer der Runen getaucht, sein braunes Haar zerzaust, seine durchdringenden braunen Augen blickten ihr mit leidenschaftlicher Dringlichkeit entgegen.

Ein Sturm von Gefühlen brach in Freyja los, ihn hier so unverhofft vorzufinden. Ihr wurde die Kehle eng, als würde sie jemand unbarmherzig umklammern.

»Was machst du denn hier?«, fauchte sie, während ihr Blick hektisch die Umgebung nach Gardneriern, Alfsigr und Amaz absuchte, die ihn im Bruchteil einer Sekunde zu Asche verwandeln könnten.

Einen magielosen Celten.

Ich liebe einen magielosen Celten, wehklagte Freyja innerlich, und ihr zog sich das Herz zusammen beim Anblick dieses Gesichts, das ihr so gefehlt hatte.

»Geh in den Osten, sofort!«, zischte sie und wäre am liebsten durch die Kuppel geprescht, um ihm einen so harten Stoß vor die Brust zu versetzen, dass er endlich loszöge. Dass er endlich wirklich begriffe, wie er ihr das Herz zerriss, indem er sich noch immer hier aufhielt, in schrecklicher Gefahr, während sie ihn längst auf dem Weg nach Noilaan gewähnt hatte. »Die Vu Trin, die hier in den Unterlanden abgetaucht sind, können dich durch ein Portal in den Osten schicken, also los!«

»Ich gehe nicht ohne dich«, fauchte Clive zurück. »Nicht ohne dich, Freyja.«

»Sondern mit mir?«, entgegnete Freyja ungläubig. »Wir können nicht zusammen sein. Ich bin auf dieser Seite der Kuppel, und hier bleibe ich auch.« Für immer von dir getrennt, um mein Volk zu beschützen. Aber verflucht, Clive, geh wenigstens du nach Osten. Gib mir zumindest die Hoffnung, dass du eine Chance gegen die Magi hast, wenn sie kommen.

Mit gefletschten Zähnen erhoben die unbarmherzigen Tatsachen ihr hässliches Haupt …

Mein Volk hat keine Chance gegen die Kräfte der Magi.

»Schafft die Amaz hier fort«, drängte Clive. Er trat an den Kuppelschild heran, als könnte er ihm nichts anhaben, obgleich sie beide sehr gut wussten, dass Clive in Flammen aufgehen würde, sobald er ihn berührte – das Runenfeuer würde ihn von innen heraus verzehren.

»Und wohin?«, schleuderte Freyja ihm harsch entgegen.

Clives Kiefermuskeln spannten sich an, sein Blick wurde noch intensiver, als müsste er einen Strom von Unflätigkeiten zurückhalten. »Nach Osten«, blaffte er. »Ihr seid eine Insel inmitten eines unerbittlich steigenden monströsen Ozeans. Schafft eure Leute nach Osten!«

Nun schritt auch Freyja auf die Kuppel zu, bis sie nur noch eine Handbreit von Clive entfernt war. »Wie denn?«, fragte sie herausfordernd, mit zusammengebissenen Zähnen. »Wie sollen wir in den Osten gelangen?«

»Ihr habt doch Noi-Portalzauberinnen unter euch …«

»Und wenn wir im Osten ankämen, wie sollten wir da leben? Unter all den Männern? Unsere Religion und sämtliche Aspekte unserer Kultur verbieten uns den Umgang mit Männern.«

Da trat ein weicherer Ausdruck auf Clives Züge, eine Spur von Sehnsucht. »Und doch stehst du hier. Mit mir.«

Freyja zog sich das Herz in der Brust zusammen, als sie Clives innigem Blick standhielt und sich an ihr letztes Zusammensein erinnerte, über einen Monat zuvor. Wie sie sich in die Wälder im Südwesten davongestohlen hatten. Einander in die Arme gefallen waren, sobald sie Amazakaraan weit genug hinter sich gelassen hatten. Wie sie einander mit einer Intensität genommen hatten, die immer wieder aufs Neue jenes vertraute, bohrende Verlangen in ihr entzündete, auf Dauer mit Clive zusammen zu sein. Den Magi Seite an Seite mit ihm die Stirn zu bieten. Ihn niemals wieder gehen zu lassen.

»Ich habe mich für mein Volk entschieden, das weißt du«, teilte sie ihm mit, doch ihre Stimme war rau vor Frustration über jenes Dilemma, in das die Umstände sie zwangen. »Clive«, brachte sie mit brechender Stimme hervor, »die Noi haben uns die Aufnahme verwehrt. Genau wie die Ischkartani.«

»Dann zur Hölle mit den Noi und den Ischkartani«, grollte Clive und rückte noch näher. Beinahe berührte er die Runenkuppel. »Meinen Leuten haben sie auch die Tür vor der Nase zugeschlagen. Also zur Hölle mit denen. Geht trotzdem nach Osten. Freyja, die Gardnerier kommen, und die Alfsigr folgen ihnen auf dem Fuße. Und sie werden diesen Schild durchbrechen.«

»Das können sie nicht. Sonst wären sie längst hier.«

»Die Lykaner haben sie in einer einzigen Nacht ausgelöscht. Die kommen, Freyja.«

In ihrem Inneren tobte eine schreckliche Zerrissenheit. »Königin Alkaia will ein Reich ohne Männer. Selbst wenn die Noi ihre Tore für uns öffnen würden – wir haben kein Interesse daran, Teil von Noilaan zu werden. Wir sind Freie Frauen.«

»Ihr seid nicht frei«, blaffte Clive. »Ihr seid Gefangene eurer eigenen starren Regeln. Wenn ihr euch weiter daran festklammert, werden sie euch massakrieren. Die Magi werden auch die Kinder umbringen, Freyja. Euch alle. Die betrachten dein wie mein Volk als seelenlose Heiden. Die bringen euch alle um.«

»Ich habe Königin Alkaia bekniet, nachzugeben und mit uns in den Osten zu ziehen«, gestand Freyja ein und konnte sich immer weniger des Drangs erwehren, sich durch den Schild in Clives Arme zu stürzen. »Den gesamten Rat habe ich angefleht.« Eine frustrierte Träne rann ihr über die Wange, und sie wischte sie fort, um sich mit bebenden Lippen ein schwaches, bitteres Lächeln abzuringen. »Aber sie betrachten mich als voreingenommen.« Mit einer Geste deutete sie die Verbindung zwischen ihm und ihr an. »Verdorben von dieser Sache, über die ich niemals spreche.«

Clive runzelte die Stirn, Inbrunst glomm in seinen Augen auf. »Komm durch den Schild, Freyja«, lud er sie mit jetzt sanfter Stimme ein, und die kompromisslose Liebe in seinem Blick durchströmte sie wie ein fast schmerzhaft warmer Rausch.

»Nein«, stieß sie heiser hervor und schüttelte energisch den Kopf. »Ich bleibe hier«, damit stieß sie den Zeigefinger in Richtung Boden, »auf dieser Seite. Hier werde ich gebraucht. Sie brauchen mich, Clive.«

Trauer trat auf seine Züge, und unverwandt hielt er ihren Blick fest. »Ich weiß.«

»Es besteht noch immer eine Chance, dass wir nach Osten gehen«, ließ sie ihn wissen. »Königin Alkaia hat alle Amaz unter diesem Kuppelschild versammelt und lässt ihre Runenmeisterinnen Notportale errichten. Darum … schenk mir diese Hoffnung. Dass ich, falls wir wirklich dorthin gehen, dich wiederfinden könnte.«

Clives Kiefermuskeln traten hart hervor, in seinen scharfen braunen Augen schimmerten Tränen, und für einen Moment musste er den Blick abwenden, ehe er Freyja mit noch größerer Intensität abermals fixierte. »Ich finde dich. Kein Schild, keine Runenmauer, keine Religion und keine Kultur könnten mich je von dir fernhalten. Ich liebe dich, Freyja.«

Bebend holte sie Luft, während Clives Gestalt in einem Tränenschleier verschwamm, den sie nicht länger zurückhalten konnte. »Ich liebe dich auch, Clive Soren.«

»Ich finde dich«, gelobte er abermals und trat von der Kuppel zurück, ohne sich um die Tränen zu scheren, die nun auch ihm über die Wangen strömten. »Ich finde dich wieder da im Osten.«

Dann drehte er sich um, stapfte in den Wald und war fort.

 

»Ja, ich liebe einen Mann«, räumt Freyja nun an Wynter gerichtet ein. Explosiv hängen die Worte in der Luft. Es fühlt sich beängstigend und zugleich wie eine Offenbarung an, es auszusprechen. So ehrlich.

Auf dieser Seite der Runenkuppel.

»Ich weiß«, sagt Wynter, und in ihren Augen leuchtet Mitgefühl.

»Aber Wynter«, fährt Freyja bedauernd fort, »wir können deinen Bruder und Rhys Thorim nicht vor den Alfsigr retten. Nicht einmal dann, wenn sie Frauen wären. Tut mir leid.«

Schmerz zuckt über Wynters Gesicht, sie schmiegt die Flügel noch enger um ihren Leib und wendet den Blick ab. Als sie wieder aufschaut, liegt ein Flehen darin. »Dann ersuche die Königin, die Amaz nach Osten zu bringen und dort den Runenzauberer Rivyr’el Talonir ausfindig zu machen. Um alle Alfsigr von den Fesseln des Zalyn’or zu befreien.«

Wieder huscht Freyjas Blick zu dem Abbild der Kette um Wynters Hals. »Spürst du etwas?«

»Nur die gewohnten Zwänge«, bringt Wynter gepresst hervor, als könnte sie die Worte kaum aussprechen. »Vogel hat keine Kontrolle darüber. Noch nicht.«

Die unendliche Pein in Wynters Silberaugen weckt Freyjas Mitgefühl. Kurzentschlossen tritt sie auf die zartgliedrige Elbin zu, auch wenn sie halb fürchtet, die Göttin könnte jeden Moment vom Himmel herabfahren, um sie strafend zu schütteln. »Wir tragen das Ersuchen gemeinsam vor«, verspricht sie. »Und wenn wir im Osten sind, Wynter Eirllyn, dann helfe ich dir, Rivyr’el Talonir aufzuspüren. Und für die Befreiung deines Bruders und seines Sekundanten bitten wir die Vu Trin um Hilfe.«

Ein dankbares Lächeln erscheint auf Wynters alabasterweißen Zügen.

Unvermittelt werden die Eulen unruhig, und Wynters Lächeln verblasst, als sie verwirrt zu ihren Seelenverwandten aufblickt. Mit ängstlichen Rufen schwingen die Vögel sich in die Lüfte und fliegen davon.

Freyja schaut wieder zu Wynter und sieht, wie deren Augen sich weiten, als sie etwas hinter Freyja entdeckt.

Sofort zückt die Kriegerin ihre Runenaxt und wirbelt herum. Purer Schock durchfährt sie, als sie erkennt, was da auf der anderen Seite der Kuppel lauert.

Alfsigr, weiß wie Mondschein. Aber sie sind bizarr in die Länge gezogen, als hätte sie jemand auf einer Streckbank gemartert.

Und ihre Augen.

Riesige, grauschlierige Abgründe. Beinahe insektenhaft. Und ihre weißen Alfsigr-Gewänder sind überzogen von schattenhaften Runen, ebenso wie die Griffe der Schwerter in ihren Händen.

Seltsame Schwerter mit gewundenen Klingen.

Freyja läuft es kalt über den Rücken, als sie rasch zählt. Sieben Marfoir. Sieben elbische Meuchelmörder.

Die Marfoir nähern sich der Kuppel, ihre Bewegungen sind unnatürlich gleichgeschaltet.

»Verschwindet von unserem Land«, grollt Freyja und tritt auf den Schild zu.

»Lass dich nicht auf einen Kampf ein«, ruft Wynter angsterfüllt. »Die töten dich!«

Freyjas Nasenflügel beben, als sie ihre Axt erhebt. »Hol die Wachen«, befiehlt sie Wynter mit einem knappen Blick über die Schulter. »Sofort.«

Wynter nickt, doch dann erstarrt sie. Als Freyja wieder nach vorn schaut, sieht sie riesige Gliedmaßen wie Spinnenbeine aus den Rücken der Marfoir hervorbersten und sich nach vorn krümmen. So kalkweiß wie die Haut der Assassinen.

Freyja wird die Brust eng, und sie weicht einen Schritt zurück.

Absolut synchron legt sich ein unheimliches Grinsen über die Züge der Marfoir.

In einer einzigen zeitgleichen Bewegung strecken sie die Spinnenbeine seitlich aus, dann führen sie sie wieder vorwärts, bis sie die Runenkuppel beinahe berühren. Schatten dringen aus den Klauen an den Enden der bleichen Gliedmaßen, kräuseln sich empor und kriechen über den Schild, breiten sich über die Oberfläche und verdunkeln die Gestalten der Marfoir wie finsterer Nebel.

Das Letzte, was Freyja von der Außenwelt sieht, sind die insektenhaften Augen des Marfoir direkt vor ihr und das entsetzliche Lächeln auf seinen kalkweißen Lippen. Grauen steigt in ihr empor, und zugleich der unbändige Wille, ihr Volk zu retten. Blitzschnell wägt sie ab – angreifen oder die Amaz warnen?

Als ihr Entschluss feststeht, ruft sie kraft ihrer Gedanken ihre waldgrüne Stute herbei, sprintet in das Gehölz und schwingt sich mit einem Satz auf das geliebte Tier. Mit einem Druck ihrer Schenkel bedeutet sie dem Pferd, loszupreschen, zieht Wynter noch hinter sich in den Sattel und treibt die Stute dann zum Galopp. Auf zur Königin.

2. Kapitel

Das Jüngste Gericht

Marcus Vogel

Nördlicher Grat, oberhalb von Cyme, Amazakaraan

Reiche des Westens

 

Marcus Vogel blickt hinunter auf den heidnischen Sündenpfuhl Cyme. Er thront auf dem Rücken eines Drachen, auf einem zerklüfteten Gipfel des Nördlichen Grats. Unter den Pranken des gebrochenen Ungeheuers knirscht Schnee. Ein eisiger Wind peitscht gegen den grauen Schleier des Schilds, den Vogel um sich und den vieläugigen Raben auf seiner Schulter gewirkt hat. Schweigend beobachtet er das Netz der Schatten, die immer weiter über den Kuppelschild kriechen, unter dessen Schutz das Tal liegt.

Die Amaz stecken in der Falle, freut er sich hämisch. Wie Insekten unter einem Becher.

Fasziniert verfolgt er, wie der düstere Nebel sich um die blutroten Amaz-Runen windet. Schattenmächte im direkten Kräftemessen mit hochentwickelten Festungsrunen … die Welt wird nie wieder dieselbe sein, und durch seine Feueradern geht ein erregtes Prickeln. Erschauernd atmet er ein.

Amazakaraan, diese störrische Bastion heidnischer Auflehnung, endlich dem Ende nah.

Geschieht ihnen nur recht, den frevlerischen Huren, kocht er innerlich. Mit ihrer Feindseligkeit gegen das Magusreich. Und mit der elbischen Icaral-Bestie, die sie unter sich dulden.

Sein rechtschaffener Zorn wird noch größer.

Nie wieder werden die Amaz sich dem Heiligen Magusreich widersetzen.

Das Jüngste Gericht ist angebrochen.

Mehr als eintausend Magi reihen sich mit ihren Drachen auf dem Kamm des Grats, begleitet von einem Kontingent tödlicher Marfoir der Alfsigr. Und direkt unterhalb von Vogel sind Fallon Bane und ihre Brüder Damion und Sylus positioniert. Gemeinsam werden die mächtigen Geschwister die Speerspitze der Invasion bilden – unter der Führung der gnadenlosen Kommandantin Fallon Bane.

Die junge Frau wendet den Kopf nach Vogel um, ihre grünen Augen blitzen. Vogel hält ihren Blick fest und nickt ihr zu, während er sich nicht zum ersten Mal fragt, warum der Urvater die Macht der Schwarzen Hexe in die Hände der vom Bösen besudelten Elloren Gardner Grey gelegt hat und nicht in die der stets aufrechten Fallon Bane.

Das befleckte Gefäß vermag gereinigt zu werden.

Als Vogel der Vers aus der Heiligen Schrift in den Sinn kommt, erfüllt ihn eine Woge der Hoffnung auf Läuterung.

Läuterung für Elloren Gardner Grey.

Läuterung für ihn selbst.

Und für ganz Aerda.

Seine suchende Hoffnung wächst, je länger er den Blick über das stetig tiefer in die Schatten sinkende Tal schweifen lässt. Das Gewicht des vieläugigen Raben auf seiner Schulter ist beruhigend, erdend. Die Kreatur ist für ihn wie ein Fenster: Wenn Vogel die Augen schließt, kann er durch die Vielzahl derer des Tieres spähen. Er schwelgt im Glanz dieses Geschenks der Macht, das ihm der Urvater verliehen hat, und in seinem göttlichen Zorn. Spürt, wie jener Zorn seine Affinitätslinien läutert, während sich alles exakt nach dem heiligen Plan des Urvaters abspielt.

Der Icaral der Prophezeiung ist tot.

Der Dunkelstab transformiert durch sein heiliges Ziel.

Und die Schwarze Hexe …

Vogel schaut auf seine grün schimmernde Stabhand hinab, voller Ehrfurcht für die unerwartete Fügung des Urvaters – jene Fügung, die Elloren Gardner Grey unter seine Kontrolle bringen wird, und mit ihr den glorreichen Stab der Macht, den der Urvater ihr hat zukommen lassen. Vogel hat die Energie des Weißstabs erkannt, als sie mit perfekter Treffsicherheit seine Skorpione ausschaltete. Die Kriegerin in ihr erwachen zu sehen, war ein fesselnder Anblick. Und nun werden die Stäbe der Macht alsbald vereint sein, zum Schutze des Heiligen Magusreichs.

Mit verengten Augen mustert er abermals den Kuppelschild der Amaz unter dem Schattennetz und den darauf herumkriechenden Marfoir, die von hier aus kaum mehr als kalkweiße Punkte sind. Scharfsinnig rechnet er sich aus, dass es mindestens drei Tage dauern wird, ehe die Auslöschung Amazakaraans nach Noilaan durchdringt, denn selbst die besten unter den geheimen Portalen der Vu Trin bringen noch immer eine Zeitverzögerung mit sich.

Er lächelt.

Bis Noilaan von den Runenbrecher-Kräften des Magusreichs erfährt, wird es längst gefallen sein.

Und das heidnische Alfsigroth wird ebenfalls bald nicht mehr sein, dank des Bindezaubers ihrer Zalyn’ors – einschließlich Wynter Eirllyn, der abscheulichen Geflügelten, die sich unter dieser Kuppel verkrochen hat.

Ein Schauer des Ekels durchläuft Vogel beim Gedanken an jene widernatürlichen gefiederten Anhängsel. Doch dann folgt Erleichterung und nimmt seinem reflexhaft aufwallenden Hass die Schärfe. Die Eirllyn-Kreatur ist ein hilfloses kleines Ding, ihre abstoßenden Flügel zerrupft und flugunfähig, ihr Feuer längst erstickt.

Es wird ein Leichtes sein, sie zu erledigen.

Vogel freut sich schon darauf, sie den Elben zu übergeben, damit die sie nach eigenem Gutdünken niederstrecken. Der Monarch der Alfsigr, Iolrath Talonir, hat darauf bestanden, die Kreatur in seinen Gewahrsam zu nehmen, und die Religion dieser Heiden pflegt den gleichen Hass auf jene dämonischen Geflügelten wie die Gardnerier.

Lassen wir den Alfsigr diesen einen Triumph, sinniert Vogel großmütig, auch wenn es ihn dürstet, ihre Flügel eigenhändig zu vernichten. Lassen wir ihnen wenigstens diesen kleinen Segen zukommen, ehe wir die Herrschaft über sie und ihre Gebiete ergreifen.

Von der Seite dringt das Rauschen großer Schwingen heran und unterbricht seinen Gedankengang. Vogel wendet sich um und sieht einen Magussoldaten mit seinem Drachen zur Landung ansetzen. Hörner aus Schatten winden sich aus dem magusschwarzen Haar des getarnten Pyrr-Dämons empor – Hörner, die nur Vogel und seine Schattensoldaten sehen können. Unter dem Grün des Scheinzaubers glühen die Augen des Unholds feuerrot.

Vogel beäugt den schattengebundenen Dämon mit kaum verhohlener Abscheu. Die Beherrschung der Schattenmächte durch die Magi verlangt auch die Beherrschung unliebsamer Kreaturen – derer sie sich nach dem Jüngsten Gericht entledigen werden.

Der Soldat steigt ab. »Soeben ist ein Runenfalke eingetroffen, Eure Exzellenz«, verkündet er, und sein Höllenblick glimmt wie zwei Kohlenstücke.

»Und die Botschaft?«, will Vogel wissen.

Der flammende Abgrund in den Augen des Dämons verdüstert sich zu einem unheimlichen Glutrot. »Yvan Guryevs ‚Mörder‘, Stabmeister Mavrik Glass, ist zu den Noi übergelaufen.«

Eine vernichtende Feuersbrunst rast durch Vogels Linien und sengt sein Gefühl ungehinderten Triumphs hinfort, während ihm rasch klar wird, was das bedeutet.

Wenn Mavrik Glass, unser begabtester Assassine, ein Verräter ist … dann ist der Icaral der Prophezeiung womöglich …

… noch am Leben.

»Was genau wissen wir?«, fragt Vogel langsam und mit tödlichem Nachdruck, während ein Bild von schwarzen Flügeln in seine Gedanken drängt.

»Wir haben eine gefangene Spionin der Vu Trin gefoltert«, antwortet der Gesandte. »Sie hat gestanden, dass Yvan Guryev noch lebt. Sein Tod war eine Finte.«

Vogels Magusfeuer schießt höher, lodernde Empörung macht sich in ihm breit. »Wie kann das sein? Der Icaral wurde von Speeren durchbohrt.«

»Er ist zum Teil Lasair«, antwortet der Dämon. »Die Vu Trin hat gesagt, er habe seine Fae-Heilkräfte genutzt, um sich von des Todes Schwelle zurückzukämpfen.«

Und somit das gesamte Magusreich zum Narren gehalten.

Silbrige Flammen lecken durch Vogels Sicht, doch rasch bringt er den Sturm in seinem Inneren wieder unter Kontrolle. »Es ist der Wille des Urvaters«, erklärt er in eisiger Gefasstheit. »Lassen wir die Prophezeiung also ihren Lauf nehmen. Schon bald wird das Heilige Magusreich im Besitz der gefährlichsten Waffe Aerdas sein, und sie wird den Dämon erbarmungslos niederstrecken.«

Der Gesandte neigt den Kopf. »Sollen wir die Jagd nach Elloren Gardner Grey verstärken, Eure Exzellenz?«

»Das wird nicht nötig sein«, winkt Vogel ab, und seine Mundwinkel rutschen ein wenig höher. »Ich weiß genau, wo sie ist. Und ich habe den perfekten Köder, um sie zu mir zu locken.«

3. Kapitel

Schattenkuppel

Wynter Eirllyn

Cyme, Amazakaraan

Reiche des Westens

 

Wynter Eirllyn steht im blutroten Fackelschein auf der dicht besetzten Agora von Cyme vor der gewaltigen Statue der Göttin und spürt, wie ihr das Grauen die Eingeweide zusammenzieht. Weit über ihr spannt sich der Kuppelschild, dessen sonst so beruhigende Runen durch die unaufhaltsam darüber wabernden Schatten nur mehr als mattes rötliches Glühen zu erahnen sind.

Ein Meer von Frauen und Mädchen blickt auf Königin Alkaia, die auf ihren Stock gestützt auf dem breiten Sockel des Monuments steht, eingerahmt von ihrer Königinwache einschließlich Wynters Freundin Freyja. Um sie herum steht ein großes Kontingent des Amaz-Militärs bereit.

Wir sitzen in der Falle, denkt Wynter, und ihre Furcht spiegelt sich im Flattern der zart getönten Rosengimpel, die auf ihren Schultern hocken.

Dann spürt sie einen weiteren Seelenverwandten nahen, schaut auf und entdeckt einen einsamen Greifvogel, der von weit oben herabgesegelt kommt. In der Schattenkuppel ist ein stecknadelkopfgroßer Wirbel zu erkennen, wo der Geflügelte ihn durchbrochen haben muss. Und … das Tier ist verstörend verändert.

Das für gewöhnlich flammend rote Gefieder des Scharlachbussards schimmert nur noch in matten Nuancen von Grau, seine Augen glänzen in einem unnatürlichen Silberton. Erschüttertes Mitgefühl durchschauert Wynter, als sie die Furcht des Vogels in seinen hektischen Flügelschlägen spürt.

Du korrumpierst und verängstigst meine Geflügelten, denkt sie an Vogel gerichtet, und die allgegenwärtige Pein in ihrem Inneren wächst weiter an. Und dann regte sich etwas für Wynter Ungewohntes in ihr. Etwas, das ihr Zalyn’or normalerweise unterdrückt, wie es bei allen Alfsigr-Elben geschieht.

Widerstand.

Der rebellische Funke befeuert Wynters nächsten Gedanken.

Schildrunen sind darauf ausgelegt, Wildtiere passieren zu lassen.

Der ergraute Bussard schwingt sich herab und landet auf dem ausgestreckten Arm der Amaz-Falknerin, die hastig das an seinem Bein befestigte Pergamentröllchen losmacht.

Als die blauhäutige Falknerin mit verengten Saphiraugen die Nachricht überfliegt, spannt sich ihr Kiefer an. »Meine Königin«, richtet sie sich mit empörter Fassungslosigkeit an die Monarchin. »Hier steht: ‚Tretet unverzüglich Eure Ländereien dem Magusreich ab. Oder die Amaz werden vom Antlitz der Aerda getilgt.‘«

Lautstarker Protest erhebt sich aus den Reihen, als die Botschaft sich auf dem Platz ausbreitet.

Königin Alkaia stützt sich stärker auf ihren Stock und hebt eine runenbesetzte grüne Hand. »Freie Frauen von Amazakaraan.« Laut schallt ihre markante Stimme über die Menge, verstärkt von der scharlachroten Rune, die dicht unter ihrem Mund in der Luft schwebt. »Die Prophezeiung der Göttin ist eingetreten.« Ihr Blick hebt sich zu der schattenbedeckten Kuppel, und ihre smaragdgrünen Augen werden schmal, als würde sie eine Gegnerin auf dem Schlachtfeld taxieren. Dann schaut sie kämpferisch wieder ihr Volk an.

»Die Magi glauben, sie könnten uns in Angst und Schrecken versetzen mit ihren Schattenkräften. Uns knebeln mit ihrer widernatürlichen Zauberei. Sie unterliegen der irrigen Annahme, die einzig wahren Töchter der Göttin ließen sich gefügig machen.« Als sie sich aufrichtet, spürt Wynter den kollektiven Willen der Frauen um sich herum aufbranden. Die Monarchin zerknüllt das Pergament in ihrer Faust. »Gesegnete Töchter. Welche von euch werden die Waffen erheben, um sich aus dieser Kuppel zu begeben und die Eindringlinge niederzustrecken, kraft des Zorns der Göttin selbst?«

Ein ohrenbetäubendes Brüllen steigt empor, als jede Amaz von dreizehn aufwärts ihre Waffen zückt und in die Höhe reckt. Die blutroten Runen darauf glühen ebenso hell wie jene des Kuppelschilds, die noch nicht unter Schatten verborgen sind.

Unvermittelt schnürt es Wynter die Kehle zu, und es ist keine herkömmliche Enge.

Es sind die Zwänge des Zalyn’or.

Aus Furcht, das Sprechen könnte ihr vollends unmöglich werden, wenn sie auch nur noch eine Sekunde wartet, breitet Wynter ihre zerschlissenen Schwingen aus und tritt vor.

Sichtlich überrascht blicken sowohl Königin Alkaia als auch Freyja sie an. Die Monarchin hebt eine Hand, um die Menge zum Schweigen zu bringen, und das Kampfgeschrei verstummt, bis nur noch das Summen sich aufladender Runenmagie in der Luft liegt.

»Ich ersuche um Erlaubnis, eine Botschaft auszusenden!«, bringt Wynter krächzend hervor, und unwillkürlich flattern ihre Flügel gegen den erdrückenden Klammergriff des Zalyn’or um ihre Stimmbänder an.

Königin Alkaias Blick wird schärfer. »Welche Botschaft wünschst du zu senden, Wynter Eirllyn?«

»Ich will meine Geflügelten um Beistand aussenden!«, stößt Wynter heiser aus, ehe sich ihr die Kehle verschließt. Eindringlich gestikuliert sie zu der schattenumwölkten Runenkuppel.

In Königin Alkaias Augen tritt ein aufmüpfiges Glitzern. »Dann schick deine Botschaft in die Welt, geflügelte Freundin der Amaz«, und in ihrem Tonfall lodert blanke Revolution. »Lass den ersten wahren Schlag in diesem Krieg von den Händen einer Zalyn’or-gebannten Icaral-Elbin erfolgen!«

Wynter geht auf ein Knie und senkt den Kopf. Als sie ihre Flügel zu ihrer vollen Spannweite auffächert, treten die Amaz zur Seite, um ihr Platz zu machen. Tief in ihrem Inneren gräbt Wynter nach dem letzten noch verbliebenen Rest ihrer Deargdul-Glut, holt tief Luft und wirft ihre silberne Aura nach außen.

Wie stärker werdender Regen füllt der Klang unzähliger Flügelschläge die Luft an, Vögel strömen aus allen Richtungen herbei, teils sogar durch die schattenverhüllte Runenkuppel. Graue Trauerwaldsänger, weiß gekrönte Busch-Ammern, Flammentangare. Eine Vielzahl von Habichten, Eulen, Adlern und Falken. In Schwärmen kreisen sie herab, ihr panisches Zwitschern und Schreien übertönt alles andere auf der Agora, während sie auf ein einziges Ziel zusteuern.

Wynter.

Staunend weichen die Amaz um sie herum zurück, als die Vögel sich in einem dichten Pulk um ihre geflügelte Gestalt versammeln.

Eine dunkle Vorahnung wächst in Wynter heran, als sie registriert, dass einige dieser Vögel aus der Agolith-Wüste stammen und ihrer sonst so schillernden Farbenpracht beraubt sind. Rotschwanzbussarde in Grauschattierungen. Kaktus-Zaunkönige und Wüstengoldspechte ohne ihren Goldschimmer. Sandfarbene Habichtsadler mit Augen, die normalerweise safrangelb leuchten, nun zinngrau und mit weißem Feuer im Blick.

Was hat man euch angetan?

Die Vögel scharen sich um sie, die vordersten drücken ihre gesenkten Köpfchen an Wynter. Ihr Empathinnen-Herz zieht sich zusammen unter der Woge von Liebe, mit der sie sie überrollen und die sie bedingungslos erwidert. Sie lässt ihre Finger in warmes Gefieder gleiten und schließt die Augen.

Der kollektive Warnschrei der Vögel trifft Wynter mit einer Wucht wie tausend Speere. Ihr Körper erbebt unter dem Ansturm.

SCHATTEN, SCHATTEN, SCHATTEN!

Geschwister meines Herzens!, entgegnet Wynter. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung sendet sie den Gedanken durch den Würgegriff des Zalyn’or hinaus.

Die Vögel werden still, ein beinahe ehrfürchtiges Schweigen breitet sich über die Agora, und dieses Schweigen ist es, das Wynter hilft, ihren Mut zu sammeln.

Geliebte Seelenverwandte, ruft sie stumm, während ein scharfer Schmerz in ihren Schädel fährt und ihr Denken zu chaotischer Leere zu zerschmettern droht. Keine Sekunde länger darf sie warten. Schwingt euch in die Lüfte und durchdringt die Schatten! Sucht Naga die Ungebrochene auf und ruft sie um Hilfe an!

Dann schnappt das Zalyn’or zu und Wynter ringt nach Luft, ihre Gedankenübertragung erlischt, doch die Vögel fliegen bereits auf, alle zugleich. Das Flattern ihrer Flügel ist wie ein Sturm, ein Brausen in Wynters Ohren, als sie sich erheben, immer höher steigen und schließlich die Runenkuppel verlassen. Für einen Moment zerfasern die Schatten, die den Schild bedecken, und begleitet vom Schlachtruf der Amaz starrt Wynter mit offenem Mund und hämmerndem Herzen auf das, was sie bewirkt hat.

Unvermittelt peitscht eine Woge des Hasses durch ihren Geist.

Sie versteift sich, mit zitternden Flügeln, und kommt sich vor wie ein aufgespießter Schmetterling unter dem Vergrößerungsglas. Die Agora ist wie ausgelöscht, an ihre Stelle tritt die Vision eines Schattenwaldes – wabernde Baumstämme und Geäst aus dunklem Rauch winden sich aus verbranntem Grund empor.