Black Witch - Lichtmagie - Laurie Forest - E-Book
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Black Witch - Lichtmagie E-Book

Laurie Forest

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Beschreibung

Mit "Black Witch – Lichtmagie" öffnet Laurie Forest das faszinierende Vorgeschichtskapitel der gefeierten Black Witch-Reihe. In einer Welt, in der die Dunkelheit über Aerda droht, wird Sage Gaffney – eine seltene Lichtmagierin – zur Hüterin des weißen Stabs, einem mächtigen Artefakt, das den Schatten der Unterdrückung entschlossen trotzt. Um das Geheimnis und die Macht des Stabs vor jenen zu schützen, die ihn um jeden Preis besitzen wollen, muss Sage alles zurücklassen: ihre vertraute Heimat, ihre Familie und die strengen Zwänge ihrer gardnerianischen Herkunft. Ihr mutiger Bruch mit überlieferten Normen macht sie zur Gejagten – und zugleich zur Hoffnung, um den drohenden Untergang abzuwenden und ein neues Kapitel in Aerdas Geschichte einzuleiten. Ein fesselndes Abenteuer über Mut, Freiheit und die unerschütterliche Kraft des Lichts – ein Buch, das begleitend zur Hauptreihe oder eigenständig als Prequel gelesen werden kann.

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Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Black Witch - Reihe

Band 1: Black Witch - Prophezeiung, ISBN 978-3-910522-41-1

Band 2: Black Witch - Erkenntnis, ISBN 978-3-910522-42-8

Band 3: Black Witch - Rebellion, ISBN 978-3-910522-43-5

Band 4: Black Witch - Enthüllung, ISBN 978-3-910522-44-2

Band 5: Black Witch - Offenbarung, ISBN 978-3-910522-45-9

 

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem TitelLight Mage by Laurie Forestbei Inkyard Press

1. Auflage: 2025

First published in 2018. 2020 with revised text.Copyright © 2018 by Laurie ForestCopyright © 2020 by Laurie Forest, revised text edition.Veröffentlicht in Absprache mit Laurie Forest.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by foliant Verlag, Hegelstr.12,74199 UntergruppenbachAlle Rechte vorbehalten, einschließlich des Rechts auf Vervielfältigung im Ganzen oder in Teilen jeglicher Form.

Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Personen, Orte und Begebenheiten sind entweder der Phantasie der Autorin entsprungen oder werden fiktiv verwendet, und jede Ähnlichkeit mit realen lebenden oder toten Personen, Geschäftseinrichtungen Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.

Umschlaggestaltung © HildenDesignIllustration: © HildenDesign, Veronika Wunderer

Übersetzung: Freya RallLektorat: Dr. Clarissa CzöppanSatz: Kreativstudio foliant

ISBN 978-3-910522-56-5

www.foliantverlag.de

Für Walter - für alles.

 

Liebe*r Leser*in,

in Black Witch –Lichtmagie gibt es eine Szene mit einem sexuellen Übergriff, die auf etwas basiert, das mir selbst bei einem Blind Date widerfahren ist, als ich siebzehn war. Das Medium, das ich gewählt habe, um heute über mein Erleben zu sprechen, mögen die Zeilen eines Fantasy-Romans sein, aber die hier beschriebenen Emotionen spiegeln wider, was in mir selbst damals vorging, und dasselbe gilt für die Gewalt in der Szene.

Der Übergriff wird am Ende des 3. Kapitels im Zweiten Teil dieser Geschichte verübt. Wenn das Lesen einer solchen Szene für dich schmerzhaft sein könnte, überspringe diesen Abschnitt bitte und lass es dabei bewenden, dass ein Übergriff stattgefunden hat. Außerdem gibt es zu Beginn des folgenden Kapitels (Zweiter Teil, 4. Kapitel) ein traumatisches Gespräch über den Übergriff, in dem der Hauptfigur weder Glauben geschenkt noch Unterstützung gewährt wird. Im weiteren Verlauf der Geschichte werden sonst keine Details des Vorfalls erwähnt und es wird nur allgemein darüber gesprochen. Solltest du also diese zwei Szenen überspringen wollen, wirst du die restliche Erzählung meiner Einschätzung nach trotzdem verstehen und hoffentlich genießen.

Ich hatte nie über diesen Übergriff in meinem eigenen Leben gesprochen, bis ich mich 2016 daranmachte, diese Geschichte auszuarbeiten. Falls du dich fragst, warum ich nie darüber geredet habe: Vielleicht hilft dir Sages Geschichte, zu verstehen, wie aussichtslos sich allein die Vorstellung anfühlen kann, den Mund aufzumachen, wenn man in einem äußerst strengen Umfeld aufgewachsen ist, dessen Kultur die Ermächtigung junger Frauen nicht fördert.

Es ist mir ein Herzenswunsch, dass jeder*m Einzelnen von euch die Kraft gegeben ist, die Stimme zu erheben und Gehör zu finden – und, wenn nötig, euch aus der Unterdrückung zu lösen.

Und mit der Zeit auch der Mut, euch ihr entgegenzustellen.

 

Laurie

Inhalt

Prolog

Erster Teil

1. Stabverwindung

2. Valgard

3. Tobias

4. Stab der Macht

5. Die Legenden des Weißstabs

6. Ratsgesandte

7. Die Flucht

8. Der Weißstab

Zweiter Teil

1. Universität

2. Rivyr’el Talonir

3. Anverwundene

4. Abgrund

5. Ortungszauber

6. Za’ya

7. Smaragdalfar

8. Zalyn’or

9. Runendolch

10. Geheimnisse

11. Waldversteck

12. Alfsigr

13. Lichtmagia

14. Bannzeichen

15. Unbeschirmt

16. Ra’Ven

17. Linien

18. Feuer

19. Vu Trin

20. Prophezeiung

21. Freiheit

22. Die Wächter

23. Flucht

24. Elloren Gardner

Danksagungen der Autorin

Laurie Forest

Prolog

Sie haben Angst, mich es sehen zu lassen. Mein dämonisches Kind. Hastig hüllt die alte Vu-Trin-Heilerin Sang Loi es in eine dunkle Decke, die seine Flügel verbirgt. Beschützend drückt sie es an ihre Brust und sieht angespannt zu mir herüber. Drei schwarz uniformierte Vu Trin zu ihren Seiten beobachten mich ganz genau, die Hände griffbereit an den Runensäbeln.

Abwartend, was eine Gardnerierin mit einem Icaral machen wird.

Einem Dämonenkind. Einem der Unsäglichen.

Und nicht bloß irgendeinem – womöglich ist dieses Kind der Icaral der Prophezeiung. Vom Schicksal dazu bestimmt, in die Schlacht zu ziehen gegen die nächste Schwarze Hexe Gardneriens. In einem sind sich die Seher aller Völker einig: Irgendwo da draußen erhebt sich eine neue Schwarze Hexe, und tief in den Schatten der Welt steht auch der Aufstieg eines Icarals bevor. Eines männlichen Icarals, der eines Tages in seine Kraft finden und ihr zum Kampf entgegentreten wird.

Sein Sieg wäre Gardneriens Tod. Das Ende meiner Heimat.

Und es besteht eine nicht unerhebliche Chance, dass dieser Icaral mein Sohn ist.

»Gebt ihn mir«, verlange ich mit zittriger Stimme. Ich stütze mich auf die Ellenbogen, mein Rücken ist schweißnass von der Anstrengung der Geburt und das Haar klebt mir in wirren Strähnen am Kopf. Der Wehenschmerz hallt noch in meinem Körper nach. »Ich will ihn im Arm halten.«

Sang Loi und die anderen Soldatinnen schauen zu Chi Nam hinüber, ihrer mächtigen Runenschreiberin.

Auch ich hebe den Blick zu ihr. »Er ist ein Baby«, sage ich heiser zu der weißhaarigen Alten. »Keine Waffe. Und er ist mein Kind. Nicht eures.«

Chi Nam stützt sich schwer auf ihren Runenstab und mustert mich ernst und nachdenklich, dann nickt sie Sang Loi knapp zu. Die Heilerin schlägt die Decke etwas weiter auseinander und legt mir das warme kleine Bündel in die Arme.

Die Augen meines Sohnes glühen wie Feuer. Schwarze Flügel, dünn wie Seidenpapier, versuchen sich hinter seinem Rücken zu entfalten. Seine winzige Hand umschließt meinen Finger, und die Welt um mich herum beginnt sich zu drehen, dass mir schwindelt. Unerbittlich senkt sich die ganze Tragweite der Situation auf meine Schultern und drückt mir die Luft aus den Lungen. Bis auch der letzte Rest von allem, woran ich einmal geglaubt habe, fortgewischt ist.

Ich bin zur Schachfigur in einem Krieg geworden, der unser aller Untergang sein könnte. Und mein Kind ebenso.

Der Weißstab liegt auf dem Tisch neben meinem Bett, unschuldig wie irgendein beliebiger Stock, doch ich fühle ihn nach mir tasten. Mich anziehen. Eine regenbogenschillernde Aura birst lautlos aus ihm hervor und wirbelt um ihn herum, während in meinem Hinterkopf das Bild eines Baumes aus Sternenschein pulsiert.

Seit Monaten ruft der Weißstab nun schon ohne Unterlass nach mir. Raunt unter meinen Gedanken wie ein gemurmeltes Lied. Etwas, das mir keine Ruhe lässt und doch ungreifbar bleibt.

Ich schaue in die Augen meines Babys, und die Erkenntnis bricht über mich herein wie ein tosender Sturm. Endlich begreife ich, was der Weißstab mir schon so lange zu sagen versucht.

Erster Teil

Sechs Jahre zuvor …

1. Kapitel

Stabverwindung

Eigentlich soll ich Vaters Bücher nicht anrühren. Besonders die vom Hohen Rat der Magi nicht.

Aber je länger ich mich an diesem späten Abend unbeobachtet in der Stube aufhalte, desto größer wird die Versuchung, bis mir das Herz in der Brust rast. Vaters Rats-Chronik liegt noch mit der aufgeschlagenen Seite nach unten auf der Armlehne seines Lieblingssessels. Sie bettelt förmlich darum, dass ich einen Blick hineinwerfe.

Das goldene Licht der Lumensteinlampen schimmert auf dem goldgeprägten Siegel des Hohen Rats. Die warm glänzende Farbe tanzt förmlich vor meinen Augen, und die auf Licht ausgerichteten Affinitätslinien tief in meinem Inneren spannen sich, bis mir die Stabhand kribbelt vor Verlangen.

Donnergrollen dringt von irgendwo da draußen in der gewitterdunklen Nacht heran.

Lass dich nicht verführen von diesem Gold, schelte ich mich stumm. Gold ist eine Fae-Farbe. Eine glimmernde Versuchung der Unsäglichen.

Ich balle die Stabhand zur Faust und schließe die Augen, um die Anziehungskraft der verbotenen Farbe zurückzudrängen. Stück für Stück weicht der Goldschleier, der sich über meine Sicht gelegt hat, und schließlich spähe ich zur offenen Eisenholztür der Stube, um sicherzugehen, dass ich noch immer allein bin. Auf dem verschatteten Korridor ist niemand zu sehen.

Angespornt von unerträglicher Neugier schreite ich hastig zur Tat, ehe ich die Nerven verlieren kann. Ich nehme Vaters Rats-Chronik und durchblättere atemlos die Seiten, bis ich finde, wonach ich suche.

 

Gardnerische Magusgarde

Verzeichnis hochstufiger Elementarstreitkräfte (Magusstufen Vier und Fünf)

Feuermagie: 603 Magi

Luftmagie: 78 Magi

Wassermagie: 321 Magi

Erdmagie: 1.290 Magi

Lichtmagie: 1 Magus mit graphopoietischen Fähigkeiten

 

Die letzte Zeile springt mir förmlich entgegen.

Nur ein Lichtmagus, der so mächtig ist, dass er Runen schreiben kann.

Ich schaue auf meine für gewöhnlich leicht grünliche Stabhand hinunter, aus deren Fingerspitzen jetzt ein subtiler metallischer Gelbschimmer dringt, noch immer in Reaktion auf das Gold. Darunter mäandern zarte violette Blitze durch meine Haut, dünn wie feinstes Nähgarn.

Ich krampfe die Finger zusammen, will so schnell wie möglich diese Farben loswerden.

Früher war mein künstlerisches Schaffen ausreichend, um meine erwachende Lichtmagie in geordnete Bahnen zu lenken – Malen, Weben und Zeichnen in den erlaubten Motiven und Farben. Schwarz für unsere Unterjochung; Dunkelgrün für die Unterwerfung der Fae-Wildnis; Rot für das Blut unserer Vorfahren; und Blau, aber nur für die Darstellung der heiligen Eisenblumen. In unserer Heiligen Schrift steht geschrieben, dass alle anderen Farben der Verderbtheit der Unsäglichen anheimgefallen sind, und meine Familie befolgt die Lehren des Buchs der Urahnen aufs Wort.

Aber in letzter Zeit drängt meine Lichtmagie immer stärker aus mir heraus, wie ein farbenschillernder Wasserfall droht sie überzusprudeln und überrumpelt mich mit immer neuen erstaunlichen Fähigkeiten. Jüngst habe ich entdeckt, dass ich jetzt weit entfernte Bildausschnitte vergrößern kann, wenn ich die Affinitätslinien um meine Augen herum anspanne. Wenn ich mich sehr konzentriere, kann ich sogar im Dunkeln sehen – auch wenn dann alles leicht rötlich überhaucht wirkt.

Eine unbehagliche Frustration flackert in mir auf, schon seit Monaten staut sich das Gefühl in mir an.

Warum nur fällt es mir von Tag zu Tag schwerer, meine Lichtaffinität zu beherrschen? Und was könnte ich wohl damit anstellen, wenn ich ein Junge wäre? Wenn ich einen Zauberstab haben und Lichtbeschwörungen lernen dürfte?

Ich weiß, es ist falsch, so etwas zu denken. Ich weiß, dass der Urvater andere Pläne für mich hat, denn sonst hätte er mich zum Jungen gemacht. Im Buch steht, dass wir als Magiae dazu bestimmt sind, unsere Affinitätskräfte an unsere Söhne weiterzugeben – nicht dazu, sie selbst einzusetzen. Nur der Prophetin Galliana und der Schwarzen Hexe wurde der heilige Auftrag erteilt, Magie zu wirken, um Gardnerien vor den Unsäglichen zu bewahren. Trotzdem kann ich einfach nicht aufhören, mich zu fragen, was ich mit einem Zauberstab wohl alles anstellen könnte.

Auf dem Korridor ertönen Schritte.

Ich reiße den Kopf hoch, Angst zuckt mir durch den Leib. Hastig lege ich das dicke Buch zurück auf den Sessel, genau wie ich es vorgefunden habe, ehe ich aufspringe und flink wie ein Reh zur Tür husche. Mit pochendem Herzen luge ich hinaus.

Niemand da.

Gerade schlüpfe ich aus der Stube in den Flur, da höre ich ein Geräusch aus der Bibliothek und erstarre. Einen Atemzug später schleiche ich tief in die Schatten gedrückt zur angelehnten Bibliothekstür und erhasche durch den schmalen Spalt eine schimmernde Bewegung. Es sind die Silberstreifen der Magusstufe Vier an den Ärmeln von Vaters Ratsuniform, der flackernde Feuerschein aus dem Kamin verleiht dem dicht gestickten Garn einen luxuriösen metallischen Glanz. Den Zauberstab trägt Vater in dem Futteral an seinem Gürtel.

Beim Anblick des fein geschnitzten Schlehenholz-Griffs brandet eine Woge des Verlangens in mir auf. Unvermittelt leuchten die satten Farben in der Bibliothek noch intensiver, dann zerspringen sie in ein irisierendes Mosaik, das sich um den Zauberstab auffächert wie eine spiralförmige Blüte aus Licht.

Erschrocken schließe die Augen und atme bebend tief ein und aus, balle die Stabhand mit aller Kraft zur Faust, um die Anziehung dieses Zauberstabs abzuschütteln. Als ich wieder hinzuschauen wage, sind die Farben Urvater sei Dank wieder dort, wo sie hingehören, auch wenn sie noch immer von einer pulsierenden, prachtvollen Lebendigkeit erfüllt sind. Den Blick sorgsam fort von Vaters Zauberstab gerichtet, spitze ich die Ohren.

Mutter Eliss, meine Stiefmutter, sieht mit ernster Miene zu Vater auf. Die Falten auf ihrer blassgrünen Stirn sind noch tiefer als sonst. Angespannt frage ich mich, ob sie gleich wieder die altbekannte beunruhigte Unterhaltung über meine zunehmend unkontrollierbare Lichtaffinität führen werden.

»Sage muss verwunden werden, und zwar bald.« Vaters Tonfall ist streng, seine Stimme gesenkt und unerbittlich.

Verwunden!

Sengend durchfährt mich das Wort, und mir stockt der Atem, so desorientierend ist meine Verwirrung. Nein. Doch nicht jetzt schon. Ich bin noch nicht einmal dreizehn!

Prickelnde Schamesröte breitet sich über meine Wangen, als mir klar wird, was aller Wahrscheinlichkeit nach der Auslöser dieses Gesprächs ist. Hier geht es nicht um meine Lichtmagie – sondern ausschließlich darum, dass Mutter Eliss mich gestern draußen im Wald allein mit Rafe Gardner vorgefunden hat.

Eine Stabverwindung ist völlig unnötig, empöre ich mich im Stillen, während sich eine heiße, nackte Scham in mir windet. Rafe und ich haben nichts Unsittliches getan. Wir haben uns nur an der Gutsgrenze unterhalten – weithin sichtbar! In unterdrücktem Schuldbewusstsein verdränge ich den Gedanken an Rafes umwerfende Smaragdaugen. Sein warmes Lächeln. Und meine vor Kurzem erwachte heimliche Neugier, wie es wohl wäre, seine Hand zu halten oder seine Lippen mit meinen zu berühren, federleicht nur.

Mein Gesicht brennt vor Erniedrigung. Als Mutter Eliss uns miteinander entdeckt hat, war es, als könnte sie bis auf den Grund meiner Seele blicken und all meine zutiefst privaten Gefühle für Rafe darin lesen. Sie hat mich praktisch von ihm fortgeschleift, so forschen Schrittes, dass ich kaum mithalten konnte und ins Stolpern geriet.

Draußen donnert es, und ich zucke ebenso zusammen wie Mutter Eliss. Regen beginnt aufs Dach zu trommeln und strömt an den Bogenfenstern der Bibliothek herab, während in meinen Gedanken ein ebenso wilder Sturm der Emotionen losbricht.

»Sie ist noch so jung für eine Verwindung.« Düstere Besorgnis legt sich über Mutter Eliss’ Züge, und sie ringt die schmalen Hände mit den schwarzen Verwindungslinien darauf.

»Ihre Figur ist die eines weit älteren Mädchens«, entgegnet Vater, als hätte ich irgendeine Verfehlung begangen. »Es wird Zeit, Eliss.«

Unwillkürlich weiche ich zurück und schaue befangen auf die Rundungen hinunter, die mittlerweile so ausgeprägt sind, dass selbst meine züchtige Kleidung sie nicht mehr verbergen kann.

»Ich habe bereits einen Partner für sie gefunden«, verkündet Vater mit einem Ton der Endgültigkeit.

Einen Verwindungspartner? Bei mir schrillen alle Alarmglocken. Ich bin noch nicht ansatzweise bereit, mein Zuhause oder meine geliebten Schwestern Retta und Clover zu verlassen.

»Wer ist es?« Fragend sieht Mutter Eliss Vater an.

»Tobias Vasillis«, eröffnet Vater ihr mit gewichtiger Präzision, als hätte er damit einen besonderen Fang gemacht. »Und Clover und Retta sollen Tobias’ jüngeren Brüdern versprochen werden, zur Verwindung nach ihrem jeweils dreizehnten Geburtstag.«

Mutter Eliss holt scharf Luft. »Oh, bravo, Warren.«

Bravo? Wie kann sie das sagen? Retta ist erst sieben Jahre alt, Clover gerade sechs geworden. Warum sind unsere Eltern so versessen darauf, uns fortzuschicken?

Vater wehrt Mutter Eliss’ Lob mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Sage mit ihrer Lichtaffinität hätte in jedem Fall eine gute Partie gemacht – sie wird mit Gewissheit hochstufige Magi gebären. Und sie ist ein anständiges Mädchen, unsere Sage. Sie hat eine gute Verwindung verdient.«

Ich beruhige mich ein kleines bisschen, ermutigt von Vaters unerwartetem Lob und Mutter Eliss’ unausgesprochener Zustimmung.

Unsere Sage. Keine Außenseiterin im Nest, sondern ebenso zugehörig wie meine Schwestern und die Zwillingsbabys. Obwohl Mutter Eliss nicht meine leibliche Mutter ist, und auch nicht die meines älteren Bruders Shane. Mama ist an der Roten Grippe gestorben, als ich gerade erst fünf war, und nicht lange danach hat Vater sich mit Mutter Eliss verwunden.

Ich will sie beide unbedingt zufriedenstellen, denn ich habe Angst, fortgeschickt zu werden wie Shane, der sich mit Vater ständig gestritten hat und Mutter Eliss nicht gehorchen wollte.

Ich will ihr anständiges Mädchen sein.

Einen langen Moment bleibt Mutter Eliss stumm, dann seufzt sie und nickt, und ihre angespannte Miene wird weicher.

»Eliss«, sagt Vater, jetzt in wärmerem Tonfall, »ich weiß, wie gern du Sage hast. Sie wird verwunden, und dann nehmen wir sie wieder mit heim. Aber mit abgesicherter Zukunft.«

So schlimm wird es nicht werden, tröste ich mich. Mutter Eliss scheint zufrieden zu sein mit der Wahl, die Vater für mich getroffen hat, und nach der Verwindung darf ich gleich wieder mit nach Hause. Mit Retta und Clover.

Wieder donnert es, mein Kopf ruckt zurück unter dem ohrenbetäubenden Krachen. Aus dem bogenförmigen Korridor dringt das eilige Tapsen kleiner Füße heran, und im nächsten Augenblick klammern sich Retta und Clover an meine Röcke und schauen flehentlich zu mir auf.

Voller Angst, beim Lauschen erwischt zu werden, lege ich einen Finger an die Lippen und mache eine hektische Geste in Richtung Bibliothek, um ihnen zu bedeuten, dass sie still bleiben sollen. Sofort achten sie sorgsam darauf, keinen Laut zu machen, denn keine von uns will den Zorn unserer Eltern auf sich ziehen. Sanft, aber zügig bugsiere ich die wimmernde, wild zerzauste Clover und die großäugige, scheue Retta zurück in ihr Zimmer und unter die Bettdecke. Ich kuschle mich zwischen sie und schließe sie in die Arme, während das Unwetter über unserem Gutshof stürmt und tobt und brüllt. Retta hat die waldgrünen Augen zugekniffen und drückt sich die Hände auf die Ohren, Clover klammert sich an mich und kaut nervös an der kleinen Steppdecke, die sie praktisch immer mit sich herumträgt.

»Ich will nicht, dass du weggehst«, sagt Clover, und es liegt eine inständige Bitte in ihrer Stimme. Mir wird klar, dass sie wieder an der Wand gelauscht haben.

»Du sollst dich nicht verwinden«, fällt Retta mit ein, eng zusammengerollt presst sie sich an meine Seite. »Warum musst du verwunden werden?«

Ich drücke sie fester an mich und dränge mein eigenes Unbehagen zurück. »Ich gehe doch nicht weg, ihr Dummerchen. Das passiert erst, wenn ich viel, viel älter bin. Und wenn ich dann zu meiner anverwundenen Familie ziehe, kommt ihr auch mit.«

Mit weit aufgerissenen Augen starrt Retta mich an. »Wirklich?«

»Aber ja«, versichere ich ihr und fühle mich noch ganz warm nach Vaters und Mutter Eliss’ Lob. »Wir bleiben für immer zusammen.«

»Okay«, sagt Retta zaghaft und scheint beruhigt zu sein. Clover jedoch sieht weiterhin drein wie ein Soldat unter Belagerung. Sie umklammert meinen Arm sogar noch fester, wie um sich bereit zu machen, Widerstand zu leisten, sollte jemand versuchen, mich ihr zu entreißen. Spielerisch pikse ich sie mit dem Finger, bis sie lächeln muss, und schon bald lockert ihr Griff sich.

Ich singe den beiden ihr Lieblingslied vor, einen Zählreim über Tierkinder, und starre zu dem Mobile aus weißen Vögeln hinauf, das ich für sie genäht habe – eine Erinnerung an die heiligen Vögel des Urvaters, die über uns alle wachen und uns vor Schaden bewahren. In dem kühlen Lufthauch, der dank des Unwetters durch das Zimmer zieht, schwingt der fröhliche Vogelschwarm sanft hin und her. Mein Blick gleitet hinunter zu einem Regal, in dem die Stoffpuppen liegen, die ich für meine Schwestern gemacht habe. Kleinere aus umwickelten Wäscheklammern sitzen auf dem Schoß der größeren, und sie alle tragen gardnerisches Schwarz. In dem Regal daneben stehen reihenweise religiöse Kinderbücher.

Mutter Eliss erlaubt in unserem Haus nur religiöse Bücher, religiöse Lieder und religiöse Kunst – und die Kunst darf ausschließlich die gestatteten Farben beinhalten. Sie war immer sehr streng mit mir und meinen Schwestern, mittlerweile ist sie oft abwesend und mit der Versorgung meiner kleinen Halbbrüder beschäftigt. Aber wenn wir uns bemühen, die Regeln zu befolgen, belohnt sie uns oft mit kleinen Geschenken – Bilderbücher auf unseren Kopfkissen, und letzte Woche erst eine Blumenpresse auf dem Esstisch mit einem Zettel daran: Für meine braven Mädchen. Sie selbst spielt und singt nicht gern, aber ich weiß, dass sie Furchtbares durchgemacht hat in ihrer Zeit im Reichskrieg.

Ungebeten steigt eine verstörende Erinnerung in mir auf. Vor ein paar Tagen habe ich Mutter Eliss über die hölzerne Arbeitsplatte in der Küche gebeugt vorgefunden, wie sie schluchzend ein kleines Portrait ihrer toten Eltern in der Hand hielt.

Ich erstarrte, mein Herz zog sich zusammen vor Mitgefühl. »Kann … kann ich dir helfen, Mutter Eliss?«

Brüsk schüttelte sie den Kopf, doch das Elend quoll ihr förmlich aus allen Poren.

Im dringenden Bedürfnis, sie zu trösten, schenkte ich ihr still eine Tasse Tee ein und holte ihren Lieblingsschal, um ihn behutsam über ihre schmalen, überraschend zerbrechlichen Schultern zu breiten.

Sie hob die Hand und drückte mir sanft den Arm. »Du bist mir ein großer Trost, mein Mädchen.« Ihre Stimme war belegt, ihre Augen verbissen auf die Arbeitsfläche gerichtet. Eine einzelne Träne fiel herab und zerplatzte auf dem Holz zu einem sternförmigen Klecks.

»Sie sind böse«, sagte Mutter Eliss dann. »Die Celten. Die Icarale. Und diese Urisken auch. Das pure Böse. Meine ganze Familie haben sie getötet. Niemand wurde verschont, nicht einmal die Kinder.« Sie schaute auf und richtete einen plötzlich lodernden Blick auf mich. »Vergiss das nie, Sage. Niemals. Versprich es mir!«

Ihr Tonfall löste tiefes Unbehagen in mir aus, doch ich nickte, in der Hoffnung, dann wäre sie zufrieden mit mir. »Versprochen«, erklärte ich, eingeschüchtert von der wilden Trauer auf ihren Zügen.

»Es kommt eine neue Schwarze Hexe«, erklärte sie, und ihr Griff um mein Handgelenk wurde fester. »Alle Seher haben es vorhergesagt. Das Jüngste Gericht ist nahe, Sagellyn. Und es wird die Unsäglichen in Stücke reißen und zu Asche verbrennen.«

Ich schrak innerlich vor ihr zurück, zog schützend meine Affinitätslinien ein. Dieses Gerede von Unsäglichen und der Schattenzeit, die über uns alle kommen soll, machte mir Angst.

Unvermittelt wurde Mutter Eliss wieder still, ein scharfkantiger Gram verzerrte ihr Gesicht und sie ließ meinen Arm los, um die Hand über ihre Augen zu legen und aufs Neue in stummes Weinen zu verfallen.

Ich schließe meine Schwestern fester in die Arme, mich fröstelt beim Gedanken an Mutter Eliss’ unversöhnlichen Kummer.

»Er sucht nach dir, Sage.« Clovers Stimme klingt verzagt, noch immer hält sie ihre Steppdecke umschlungen. Retta ist mittlerweile eng an mich geschmiegt friedlich eingeschlummert, während ich in meiner Erinnerung versunken war.

»Wer sucht nach mir?«, frage ich verwundert. Der Wind rüttelt an den Fensterscheiben.

»Der Baum«, antwortet sie leise, aber überzeugt. »Ich hatte einen Traum von ihm. Er ruft deinen Namen. Es klingt wie der Wind. Sage. Sage. Saaage.«

Ein unbehagliches Prickeln kriecht über meinen Nacken. »Das ist doch Humbug.«

»Es war ein Traum und doch kein Traum«, fährt sie in einer Art Singsang fort. »Er mag dich, Sage. Schau, ich zeig’s dir.«

Clover streckt den Arm aus und nimmt ein gerahmtes Bild aus dem Regal neben dem Bett, das ich für sie gemalt habe – eine Darstellung unseres heiligen Ursprungsbaums, gekrönt von Sternenschein und inmitten eines Hains kleinerer Eisenbäume, alle mit tiefgrünem Laub und üppigen blauen Eisenblüten. Gardnerische Kinder tanzen einen Reigen um den Ursprungsbaum, Schmetterlinge und Vögel flattern umher, Wildblumen sind über die Wiese getupft.

»Dieser Baum«, sagt sie und deutet auf unseren Ursprungsbaum. »Er will dir einen Ast geben. Den Geweihten Stab der Macht.«

Ah. Sie spinnt Geschichten.

»Er hat mit dir geredet in deinem Traum? Der Große Baum?« Ihr zuliebe lasse ich mich auf ihre Behauptung ein und frage mich zugleich, ob Mutter Eliss solche Märchen über des Urvaters Stab der Macht wohl als Blasphemie betrachten würde.

»Nicht mit dem Mund«, widerspricht Clover stirnrunzelnd. »Bäume haben keinen Mund.« Sie klopft sich auf die Brust. »In meinem Herzen. Er ist lieb, Sage. Er sagt, du brauchst keine Angst zu haben.«

Das von ihr zu hören, ist unerwartet, und mein Lächeln verblasst. Ich wische meine leise Beklommenheit fort und setze eine neckische Miene auf. »Aber warum um alles in der Welt sollte er mir den sagenhaften Weißstab geben wollen?«, spiele ich weiter mit. Clover denkt sich gern Geschichten aus.

»Damit die Dämonen ihn nicht kriegen.«

Überraschung fährt mir in den Leib. »Die … was? Woher hast du denn solche Ideen?« Es blitzt.

»Aus meinem Traum«, entgegnet sie, als sollte das offensichtlich sein.

»Nun ja, es war nur ein Traum«, beruhige ich sie und muss ein Frösteln unterdrücken.

»Die Dämonen machen mir Angst.« Clover rollt sich eng zusammen und ihr Blick springt nervös hin und her, während sie sich die Decke bis über die Nase zieht. »Die haben große Hörner aus Schatten! Und glühende Augen! Und sie sind aus Feuer gemacht!«

»Du musst dich vor nichts fürchten«, erkläre ich beharrlich. »Das war nur ein böser Traum.«

Äste kratzen über die Fensterscheiben wie Krallen. Wie etwas, das hereinzukommen versucht.

»Nein«, widerspricht Clover eindringlich und mit großen Augen. Unter der Decke klingen ihre Worte leicht gedämpft. »Die sind echt. Sie kommen. Sie wollen dich holen. Sie wollen den Stab.«

»Clover, hör auf jetzt.«

»Sie wollen den Weißstab«, geht sie stur über mich hinweg. »Den Schattenstab haben sie schon, aber diesen wollen sie auch. Du darfst nicht zulassen, dass sie ihn kriegen, Sage!«

»Hör auf. Ich mein’s ernst.« Mein Herz schlägt schneller, auf einmal bin ich mir der kalten Dunkelheit außerhalb dieser Mauern überaus bewusst. Ich schaue zum Fenster und spanne die Lichtadern um meine Augen, sodass ich nach draußen sehen kann. Sofort hellt die Nacht sich auf wie unter rotem Fackelschein, und die Bäume vor dem Fenster erglimmen in den verschiedenen dunklen Rotschattierungen, die meine Lichtmagie mir einzufangen erlaubt. Angespannt mustere ich die Szenerie.

Nichts. Keine Dämonen. Keine lauernden Monster. Nur der windgeschüttelte Baum und die stürmische Nacht.

Du fantasierst, tröste ich mich und lasse meine Affinitätslinien locker. Das Rot erlischt, meine Sicht wird wieder normal. Es gibt nichts zu befürchten. Sie hatte bloß einen Albtraum.

»Hör auf mit den Geschichten und schlaf«, tadle ich Clover sanft und stecke die Decke um ihre dünne Gestalt fest. »Was machen wir, wenn wir Angst bekommen?«

Sie antwortet um einen Mundvoll Steppdecke herum. »Sprechen das Schutzgebet des Urvaters.«

»So ist es.«

Unter meiner Anleitung spricht sie das Gebet mit mir.

O Heiliger Urvater, läutere unseren Geist, läutere unsere Herzen, läutere die Aerda. Bewahre uns vor dem Schandmal der Unsäglichen.

Ich zeichne den Segensstern des Urvaters über ihrem Herzen. »So«, verkünde ich mit Nachdruck. »Beschützt.«

Die Angst in ihren Augen lässt ein klein wenig nach. Ich kuschle mich wieder an sie, schüttle meine eigene Beunruhigung ab und streiche Clover über das zerzauste Haar. Die Nähe meiner Schwestern schenkt mir Trost. Mein Zimmer ist nebenan, aber es zieht uns oft zueinander, besonders in stürmischen Nächten wie dieser.

Und wir werden für immer zusammen sein, rufe ich mir ins Gedächtnis und spüre einen Funken Erleichterung beim Gedanken an Vaters Pläne für uns alle drei. Und vielleicht ist Tobias Vasillis genauso nett wie Rafe und hat die gleichen bezaubernden Smaragdaugen. Vielleicht schnitzt er mir auch einen kleinen Vogel, wie Rafe es einmal getan hat, und erzählt mir lustige Geschichten.

Das Unwetter tobt und die Dunkelheit drängt sich um uns, doch ich halte mich an diesen tröstlichen Gedanken fest und lasse mich vom sanften Schaukeln der weißen Vögel über mir in den Schlaf wiegen.

2. Kapitel

Valgard

Vorfreude und Beklommenheit halten sich die Waage und machen mir das Atmen schwer auf meinem Platz in der Kutsche, die Wange an das sonnenwarme Fenster geschmiegt. Mutter Eliss und Vater sitzen mir gegenüber und sind in ein gedämpftes Gespräch vertieft.

Drei Wochen sind vergangen, seit sie mir gesagt haben, dass ich verwunden werden soll, und es fällt mir schwer, annehmbar stillzusitzen. Meine Beine unter dem schweren schwarzen Rock wippen wie von selbst vor nervöser Erregung, während unsere Kutsche uns Valgard, der glitzernden Hauptstadt Gardneriens, immer näher bringt.

Zu meiner Stabverwindung.

Wir erreichen die Kuppe eines Hügels, und vor uns breitet sich die Malthorin-Bucht aus, schimmernd im Sonnenschein. Ich schnappe nach Luft, als mir eine herrliche Kaskade unglaublich vielfältiger Blautöne entgegenbrandet – alles von kühlen Gletschertönen über leuchtendes Türkis bis hin zu Mitternachtsblau.

Berauscht und überwältigt atme ich unwillkürlich tief ein und sauge die Farbe in mich auf. Wirbel von Blau, die nur ich sehen kann, gleiten auf mich zu und fließen geradewegs in meine Affinitätslinien. Es fühlt sich an, als würde mich eine glorreiche Flut saphirner Energie anfüllen und singend durch meine Lichtadern strömen.

Meine Stabhand beginnt zu kribbeln und reißt mich aus meinem Farbrausch. Beim Blick nach unten entdecke ich ein blaues Glimmern an meinen Fingerspitzen. Kein akzeptables Eisenblütenblau, sondern ein strahlendes, dekadentes Türkis.

Panik fährt mir in den Leib, und mit rasendem Herzklopfen meide ich angestrengt jeden weiteren Blick auf die Bucht und verstecke rasch die Hand vor meinen Eltern. Als ich verstohlen noch einmal hinunterschaue, sehe ich alarmiert, dass das irisierende Türkis jetzt bis zu den mittleren Fingergelenken reicht. Ich schlucke schwer und spüre Schweiß auf meine Stirn treten, während ich meine Hand tiefer in den Ärmel zurückziehe und ängstlich zu Vater und Mutter Eliss hinüberspähe.

Vater fängt meinen Blick auf und mustert mich mit fragend geneigtem Kopf, dann schenkt er mir ein kurzes aufmunterndes Lächeln. »Es gibt keinen Grund, heute nervös zu sein«, sagt er. »Diese Verwindung ist wohlverdient. Wir sind wirklich stolz auf dich, Sagellyn.«

Mutter Eliss pflichtet seinem Lob mit einem zufriedenen Nicken bei. »Genau das verdienst du, Sage. Mit einem mächtigen, wohlgebildeten jungen Magus verwunden zu werden, und dann auch noch aus einer so angesehenen Familie. Ich freue mich so sehr für dich, mein Kind.«

»Danke, Mutter Eliss. Danke, Vater«, bringe ich heraus, während ich wieder und wieder verzweifelt meine Stabhand balle, um diese verbotene Farbe loszuwerden und das warme, stets herbeigesehnte Wohlwollen der beiden nicht zu verlieren.

Vater und Mutter Eliss nicken mir zu, dann lächeln sie einander an, und mein Herz schwillt an vor Freude und Zugehörigkeit.

Unauffällig betrachte ich noch einmal meine Hand, die Finger gekrümmt, damit die beiden die Spitzen nicht sehen können. Endlich haben sie wieder ihren gewohnten grünlichen Hautton angenommen. Erleichtert lasse ich den Atem entweichen und gelobe mir, es fortan besser zu machen. Die beste Magia – und Tochter – zu sein, die ich nur sein kann.

 

Das Kaleidoskop von Farben und ungewohnten Bildern ist berauschend, und ich erlaube mir, im Überfluss unserer heiligen Nuancen zu versinken. Die Gestaltung jedes Banners, jedes Buntglasfensters, jedes Pflastermosaiks auf den Plätzen ist ausnahmslos im gesegneten Schwarz, Dunkelgrün, Rot und Blau gehalten – und das geweihte Blau wird einzig zur Darstellung der heiligen Eisenblüte verwendet.

Es ist alles so perfekt und unverfänglich und wunderschön.

Blutrote Glaslaternen reihen sich am Vordach einer Möbelwerkstatt und verströmen einen satten Rubinschimmer. Blühende smaragdgrüne Rankpflanzen ergießen sich aus üppigen Dachgärten. An einem Marktstand werden tiefrote Rosensträuße feilgeboten. Ich spanne die Affinitätslinien um meine Augen an und hole das Bild einer der Blüten so nah heran, dass es ist, als müsste ich nur die Hand ausstrecken, um sie zu nehmen.

Als die Kutsche ein Stück weiterrollt, gleitet meine Sicht ab, und plötzlich füllt ein überraschender Anblick meine Wahrnehmung aus.

Ein junger Schlangenelb.

Seine Ohren enden in geschwungenen Spitzen, und seine silbernen Augen liegen in einem Gesicht, das von leuchtend grünen Reptilienschuppen bedeckt ist. Das feine sechseckige Muster der Schuppen, sorgfältig in schwarzer Tinte ausgeführt, fängt augenblicklich meine Lichtmagie ein und raubt mir den Atem.

Wunderschön …

»Warren«, sagt Mutter Eliss zu Vater, und sie klingt aufgewühlt. »Es ist ein Schlangenelb auf freiem Fuß in der Stadt.«

Ihre scharfe Stimme reißt mich aus meiner unangebrachten Träumerei. Hastig lasse ich meine Lichtadern los, sodass das Konterfei des Schlangenelben zurückschnellt, bis ich es in Normalgröße dort sehe, wo es sich befindet: auf einem Aushang, der an den Stützpfosten eines Obststands genagelt ist.

Eine Fahndungsmeldung nach einem flüchtigen Schlangenelben namens Ra’Ven Za’Nor.

Du dummes Ding, geißle ich mich innerlich. Du kannst dich doch nicht ausgerechnet vom Schuppenmuster eines Schlangenelben hypnotisieren lassen.

Mutter Eliss hat uns alles über diese reptilienhaften Elben gelehrt – gefährliche Kriminelle, die von den Alfsigr-Elben unterirdisch gefangen gehalten werden.

Düster sieht Vater Mutter Eliss an. »Ein entflohener Gefangener der Alfsigr. Spross der Farce eines Königshauses der Schlangenelben.« Mit besänftigendem Ernst fährt er fort. »Sorge dich nicht, Eliss. Seine Tage sind gezählt. Die Magusgarde durchsucht bereits die Stadt nach ihm.«

Ruckend fährt die Kutsche wieder an, und der irritierende Aushang verschwindet aus meinem Sichtfeld, doch jetzt huscht mein Blick nervös umher. Ich ziehe die Lichtadern um meine Augen zusammen und helle die Schatten dunkler Gassen und Nischen in meiner Sicht auf, halte Ausschau nach dem untergetauchten Schlangenelben. Doch es ist nirgends etwas Beunruhigendes zu entdecken.

Wir rollen am Geschäft eines Spielzeugmachers vorbei, vor dem mehrere Kübel von Nachbildungen des mächtigen Weißstabs der Legende zum Verkauf stehen, aus hellem Holz mit spiralförmig gewundenem Griff. Vom Vordach hängen geflügelte Icaralfiguren an Schnüren herab, und ein kleiner Junge versucht gerade, einen der Dämonen mit einem der Spielzeug-Weißstäbe zu erwischen.

Zauberstäbe. Obwohl es nur Spielzeuge sind, strebt meine Lichtmagie beharrlich darauf zu.

Zwei junge Frauen spazieren mit untergehakten Armen fröhlich lachend ins Bild. Meine Augen weiten sich, die Zauberstäbe sind vergessen. Über die schwarze Kleidung der ersten Frau zieht sich eine verschnörkelte Stickerei in schockierendem Gold, doch die Gewänder der zweiten sind sogar noch unerhörter: Ihre schwarze Tunika und der lange Rock sind mit glitzernden lila Edelsteinen gesäumt.

Lila!

Meine Lichtmagie macht einen hungrigen Satz auf die Farbe zu. Auf der Stelle überwältigt, ignoriere ich alle geheiligten Regeln und sauge den Anblick in mich auf. Das Lila strömt auf mich ein, taucht die gesamte Szenerie in einen herrlichen Violettschimmer.

Wie kann sie Lila tragen?, staune ich und bade in dem luxuriösen Farbton. Sie ist Gardnerierin.

»Sieh dir nur dieses Spektakel an!«, zischt Mutter Eliss mit beißender Herablassung. Wie ein Hammer zerschlagen ihre Worte meine sündhafte Verzückung. »Sie haben vergessen, wofür unsere Tracht steht.«

Widerstrebend wende ich den Blick ab und fühle eine mürrische Frustration durch meine Linien brennen, als ich mich des plötzlichen, inbrünstigen Verlangens erwehren muss, selbst so prachtvolle Kleider mit violett funkelndem Besatz mein Eigen zu nennen. Alles in mir ist auf die streng verbotene Fae-Farbe ausgerichtet. Manchmal glimmt sogar dann ein beunruhigendes Lila durch die Lichtadern dicht unter meiner Haut, wenn die Farbe nirgends zu sehen ist. Mutter Eliss hat dazu schon oft den Rat unseres Priesters gesucht, tief besorgt um meine Reinheit als Magia.

Vater beäugt die junge Frau für einen Moment. »Das kommt davon, wenn man sie zu spät verwindet. Wenn man seinen Töchtern die Zügel schießen lässt.« Mit finsterer Miene wendet er sich ab und schnaubt angewidert. »Kaum besser als eine Issani-Hure.«

Beim Klang dieses Worts versteife ich mich und spanne meine versteckte Stabhand an. Ich weiß, es ist wichtig, keine Hure zu sein – ein schmutziges, vages Konzept, das ich nicht ganz verstehe. Doch immerhin ist gewiss, dass ich davor sicher sein werde, sobald ich verwunden bin. Trotzdem erfüllt mich die Vorstellung, ein lila verziertes Kleid zu tragen, mit einer nahezu unbezwingbaren Sehnsucht.

Kurz darauf biegt unsere Kutsche rechts ab, und vor uns öffnet sich ein weiter Platz, der freie Sicht auf die enorme Kathedrale von Valgard bietet. Schon bald klebe ich wieder am Fenster, gefesselt vom kunstvoll gearbeiteten Mosaik des Pflasters aus schwarzem und grünem Gestein. In der Mitte thront ein riesiges weißes Marmorstandbild unserer letzten Schwarzen Hexe, Carnissa Gardner, wie sie den hoch erhobenen Zauberstab auf einen Icaral-Dämon richtet, der tot zu ihren Füßen liegt.

Wie gebannt starre ich sie an. Ihr Antlitz. Sie ist das absolute Ebenbild meiner Nachbarin Elloren Gardner, der Enkelin der Schwarzen Hexe höchstpersönlich. Auch wenn Elloren erst elf Jahre alt ist, sind die strengen Konturen ihres Gesichts bereits die ihrer mächtigen Großmutter.

Vor der Kathedrale kommt unsere Kutsche zum Stehen. Riesige Säulen aus gewaltigen Eisenholzstämmen schwingen sich zum Himmel empor. Ihr ineinander verschlungenes Geäst verjüngt sich zu einer schmalen Spitze, auf der eine silberne Aerdkugel ruht – als würde ein titanischer Wald sich recken, um die Welt zu umfangen. Kribbelige Nervosität steigt in mir auf, als ich auf die meisterhaft geschnitzten Türflügel schaue.

Irgendwo da drinnen ist Tobias Vasillis. Mein zukünftiger Anverwundener.

Ich steige aus der Kutsche, angefüllt von bebender Aufregung, und folge Vater und Mutter Eliss die Treppe hinauf, wobei ich sorgfältig meine lila verfärbte Hand verborgen halte.

 

Auf den vordersten Bänken der Kathedrale sitzt eine Reihe gardnerischer Jungfrauen. Einige wenden die Köpfe nach uns, als Vater, Mutter Eliss und ich durch den langen Mittelgang nach vorn schreiten. Hohe Eisenholzbäume sind zu allen Seiten in die Wände eingelassen und stützen mit ihrem ineinander verflochtenen dunklen Geäst die ferne Gewölbedecke. Es ist, als wäre ich inmitten eines majestätischen Waldes.

Ich schnappe nach Luft, als meine Aufmerksamkeit zu den Buntglasfenstern wandert. Jedes stellt eine andere Szene aus dem Buch der Urahnen dar. Meine Schritte verlangsamen sich – einen Moment lang vergesse ich meine Nervosität, bin abgelenkt von der atemberaubenden Handwerkskunst. Und während die Bilder ausschließlich in unseren geweihten Farben dargestellt sind, werden die durch das Glas fallenden Sonnenstrahlen innerhalb der Kathedrale zurückgeworfen und überlagern sich zu einem Kaleidoskop weiterer Nuancen, das den riesigen Raum mit einem breiten Spektrum verbotener Gold-, Orange- … und Lilatöne erfüllt.

Lila. Oh, dieses Lila.

Die glühende, leuchtende Schönheit ist fast zu ergreifend, um sie zu ertragen, und meine Sicht auf den gesamten Innenraum der Kathedrale nimmt einen Violettschimmer an.

Nicht hinsehen, ermahne ich mich und kämpfe gegen meine Lichtaffinität an. Das ist die Wildnis, die diesen geweihten Ort zu besudeln versucht. Die dich zu besudeln versucht.

Mutter Eliss zieht leicht an meinem Arm und durchbricht den dekadenten Bann der Farbe. Mit hämmerndem Herzen balle ich die Stabhand und beeile mich, mit den forschen Schritten meiner Stiefmutter mitzuhalten – und den verführerischen Fae-Farben zu entfliehen. Rasch verblasst der unselige Violettschimmer vor meinen Augen.

An der Stirnseite der Kathedrale, auf der rechten Seite des Altarraums, steht eine Schar Erwachsener versammelt. Mit feierlichen Mienen unterhalten sie sich in gedämpftem Ton. Einige von ihnen drehen sich um, als wir näher kommen, und mehrere Männer lösen sich aus der Menge, um Vater zu begrüßen und ihm die Hand zu reichen.

Alle hier sind ebenso schlicht gekleidet wie wir – rein schwarz, ohne jegliche Verzierungen, bis auf die silbernen Aerdkugel-Anhänger um unsere Hälse und die silbernen Magusstufen-Streifen auf den Ärmeln einiger Männer, dazu hier und da eine Anstecknadel mit dem Siegel des Hohen Rats. Jede der anwesenden Familien gehört den Styvianern an, der strengsten Glaubensrichtung unserer Religion, die sich kompromisslos buchstabengetreu sämtlichen Regeln des Buchs der Urahnen unterwirft.

Die einzig wahren Gardnerier. Die einzig wahren Ersten Kinder, sagt Mutter Eliss gern.

Ein dünner Priester mit distanzierter Miene nimmt uns in Empfang, die Brust seines dunklen Priestergewands ist mit dem weißen Vogel des Urvaters bestickt. Er weist meine Eltern zu den Bänken zur Rechten des Mittelgangs, wo sich nun auch die anderen Erwachsenen niederlassen. Dann bugsiert er mich auf die jungen Gardnerierinnen zu, die in ordentlichen Reihen auf der linken Seite sitzen.

Aufregung sprudelt in mir empor. Ich habe noch nie so viele Mädchen in meinem Alter auf einem Fleck gesehen, und dann auch noch von meiner eigenen Konfession – alle streng gehorsam, sodass wir ohne Tadel miteinander verkehren können. Erwartungsvoll suche ich die Reihen ab und frage mich, welche von ihnen Gwynnifer Croft sein mag. Unsere Väter sitzen beide im Hohen Rat, und für die Dauer unseres Aufenthalts in Valgard werde ich bei Gwynnifers Familie einquartiert, während meine Eltern bei der Familie meines Zukünftigen wohnen werden.

Eins der Mädchen schaut über die Schulter zu mir, dann noch eins. Kurz raschelt ein Flüstern durch die Reihen, ehe sich angespanntes Schweigen senkt und die überraschten Blicke sich fast ausnahmslos in unfreundliches Starren verwandeln.

Ein Mädchen im Zentrum der Gruppe bricht in Tränen aus, und die Umsitzenden beugen sich zu ihr, um sie zu trösten. Gertenschlank und liebreizend ist die Weinende, mit leuchtend grünen Augen, edler Nase und vollen Lippen, die Haare eine Kaskade glänzender schwarzer Locken. Ihre Lider sind gerötet, als würde sie schon seit einiger Zeit immer wieder weinen, und ihr geradezu greifbares Elend bildet das Zentrum der Aufmerksamkeit auf dieser Seite des Raums. Doch das ist es nicht, was mich zurückschrecken lässt.

Sie starrt mich mit einem so glühenden Hass an, dass mich heillose Verwirrung überfällt. Verstört folge ich unbehaglich der Anweisung des Priesters, mich ans andere Ende der ersten Reihe zu setzen.

Das stupsnasige Mädchen neben mir rückt demonstrativ von mir ab, als ich mich niederlasse, dann zerrt sie noch brüsk ihren Rock zur Seite, sodass nicht einmal ihre Kleider mit mir in Berührung kommen. Ihre arrogante Haltung passt nicht zu ihrem hübschen Gesicht mit der hohen, gewölbten Stirn, hell und glatt wie eine Eierschale. Ihr glattes schwarzes Haar ist zu einem schlichten Knoten eingedreht. Jetzt rümpft sie die Nase und sieht kurz auf mich herab, dann dreht sie theatralisch den Kopf weg, als würde mein Anblick ihr in den Augen brennen.

Gedemütigt sinke ich in mich zusammen. Wenn ich nur wüsste, warum sie mich alle so verabscheuen.

Ein weißhaariger Priester spricht in routinierter Eintönigkeit zu unseren Eltern von der Wichtigkeit jungfräulicher Reinheit. Die Erwachsenen nicken dazu alle feierlich, ohne der Unruhe auf dieser Seite des Gangs Beachtung zu schenken.

Ein scharfer Stoß gegen mein Hinterteil erschreckt mich, und als ich den Kopf wende, funkelt die Stupsnasige mich schadenfroh an. Dann dreht sie sich wieder erbittert weg.

Ich schaue auf die Bank hinunter und entdecke einen kleinen Zettel, der halb unter den Stoff meines Rocks geschoben ist. Mit klopfendem Herzen nehme ich ihn und wage einen Seitenblick zu den Erwachsenen, um sicherzugehen, dass sie noch immer in die Ausführungen des Priesters vertieft sind, ehe ich das Papier diskret entfalte.

Ein einziges Wort steht darauf, hastig hingekritzelt, und bei seinem Anblick schrecke ich innerlich zusammen.

Slat’ern.

Es ist ein Wort aus der Ursprache, aber ich weiß, was es bedeutet. Ein unmoralisches Mädchen. Eine, die schmutzig und vulgär ist, die Männer in Versuchung führt.

Eine Hure.

3. Kapitel

Tobias

Ich schließe die Finger um die gemeine Botschaft und spüre brennende Tränen aufsteigen, während ich ein Stoßgebet gen Himmel sende, dass die bösartige Weinende nicht Gwynnifer Croft sein möge. Auf keinen Fall will ich bei einem Mädchen wohnen müssen, das mich aus unerklärlichen Gründen hasst.

Die Stupsnasige beäugt mich verächtlich von der Seite, ihr Gesicht verzerrt sich wütend. Dann lehnt sie sich zu mir und zischt: »Du hast kein Recht, dich mit Tobias zu verwinden. Er gehört Draven.«

Mir verkrampft sich der Magen, als das furchtbare Puzzle sich zusammenfügt und die Erkenntnis wie ein Mühlstein auf mich niederdrückt. Ich rutsche noch tiefer in die Bankreihe, beklage innerlich, wie unfair das alles ist, und kämpfe mit den Tränen. Nichts davon ist mein Werk, begehre ich stumm gegen diese Mädchen auf. Tobias wurde von unseren Eltern und den Priestern und dem Urvater für mich erwählt.

Nach ein paar Momenten meines Unglücks beginnen die Härchen in meinem Nacken zu kribbeln, als würde eine unsichtbare Hand darüberstreichen, und mich überkommt das unbehagliche Gefühl, dass jemand mich still und aufmerksam beobachtet.

Ich wende den Kopf, und mein Blick bleibt an einem schmächtigen Mädchen in der Mitte der Bank hinter mir hängen. Sie hat blassgrüne Eulenaugen und ihr schwarzes Haar ist wild zerzaust. Ihr zartes Gesicht wirkt äußerst aufgeweckt – mit der kleinen, spitzen Nase hat sie etwas von einer Füchsin. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen hier liegt in ihrem Starren keine Feindseligkeit, nur eine konzentrierte Intensität, die mich aus dem Konzept bringt.

Die große Eisenholztür links vom Altarraum schrammt über den Boden, als sie sich öffnet, und kollektiv richten wir uns auf und recken die Hälse, um zu sehen, wer da hereinkommt. Nur Draven verharrt zusammengesunken auf ihrem Platz, ihr Schluchzen hallt von den aufstrebenden Wänden der Kathedrale wider.

Ein junger Priester führt unsere Zukünftigen herein.

Plötzlich hellwach verfolgen wir in atemloser Stille, wie die jungen Männer sich verlegen durch die Tür schieben und direkt vor uns entlanggeschickt werden. Es hat etwas von Zuchthengsten auf dem Pferdemarkt, die Silberstreifen auf ihren Ärmeln zeigen ihre jeweilige Magusstufe an. Forschend betrachte ich jedes Gesicht, mein Herzschlag flattert in meiner Brust.

Welcher ist Tobias?

Sie sind alle etwa dreizehn oder vierzehn Jahre alt, genau wie wir – bis auf einen, der deutlich jünger aussieht, eher wie acht oder neun. Aber er muss mindestens dreizehn sein, wenn er verwunden wird, rede ich mir perplex ein. Ein dünner Junge ist er, mit Segelohren wie die Henkel einer Suppentasse, und nervös huscht sein Blick zu uns. Er vibriert förmlich vor aufgestauter Energie.

Bitte lass das nicht Tobias sein, bete ich stumm. Ich male mir meine Enttäuschung aus, sollte dieser kindliche Bursche sich als Tobias erweisen. Ich will nicht mit einem kleinen Jungen verwunden werden.

Aber nein, beruhige ich mich, das kann nicht Tobias sein. Wegen so eines dünnen kleinen Kindes würde Draven sich nicht die Augen ausweinen.

Auch einige andere der Jugendlichen lugen im Vorbeigehen scheu und unsicher in unsere Richtung. Einer jedoch scheint ganz und gar nicht unsicher zu sein. Mir stockt der Atem, als er hereinmarschiert. Souverän schwenkt sein umwerfender Blick zügig über uns alle, und Wärme breitet sich in mir aus.

Er ist größer als die anderen, hat schon jetzt breite Schultern und schreitet selbstbewusst einher, statt verlegen zu schlurfen wie die anderen. Er sieht sogar noch besser aus als Rafe Gardner, mit einem verwegenen Lächeln auf den Lippen und einem mutwilligen Funkeln in den Augen. Vier Silberstreifen zieren seine Tunika.

Eine hungrige Hoffnung erwacht in mir. Bitte, lieber Urvater. Bitte lass das Tobias sein.

Rechts vom Altar ist eine Stuhlreihe aufgestellt, die jungen Männer werden einzeln zu ihren Plätzen gebracht. Der Selbstbewusste macht es sich bequem und bedenkt den stämmigen Halbwüchsigen neben sich mit einem selbstzufriedenen Grinsen. Es wirkt, als würde die Kathedrale ihm gehören, und in seinem Blick auf die Priester liegt nicht der kleinste Hauch von Unterwürfigkeit.

Sofort schlägt er mich in seinen Bann, ich bin hingerissen von seiner unerhört selbstsicheren Art.

Oh, bitte lass es ihn sein, bete ich, während unvermittelt ein Verlangen in mir erblüht, von dessen Existenz ich nie eine Ahnung hatte: das Verlangen, mich aus den engen Grenzen meiner Welt hinauszubegeben. Mit diesem jungen Mann könnte ich so viel Freiheit genießen – so süß, dass ich sie schon beinahe schmecken kann. Plötzlich habe ich eine Vision: ich in Kleidern mit lila funkelndem Edelsteinbesatz, in seinen Armen auf der Tanzfläche, wie wir lachend und strahlend durch einen Ballsaal wirbeln.

Der hochgewachsene junge Priester tritt zum Altar und lächelt uns pflichtschuldig an. Er hat ein scharf geschnittenes Gesicht mit strengen, wachsamen Augen und einer eleganten Adlernase.

»Lasst uns beten, Magi«, hebt er an und leitet dann den vertrauten Segenswunsch an. »‚O Heiliger Urvater‘«, intoniert er, und wir fallen alle mit ein – selbst Draven, wenn auch mit zittriger, brechender Stimme, die von ihrer Tragödie kündet.

Läutere unseren Geist, läutere unsere Herzen, läutere die Aerda. Bewahre uns vor dem Schandmal der Unsäglichen.

Wieder lächelt der Priester, kerzengerade überblickt er mit zufriedener Miene den Raum. »Wir sind heute hier versammelt«, trägt er souverän vor, »um die heiligste aller Zeremonien zu begehen. Jene fürs Leben aneinander zu binden, die der Urvater zusammengebracht hat.« Er hält inne, sein zufriedenes Lächeln ist unverändert. Doch als er sich uns Jungfrauen zuwendet, wird er ernst, beinahe missbilligend, als hätte er vor, uns zu tadeln. »Die Stabverwindung ist ebenso bindend wie heilig. Ein geweihter Zauber, um euch auf dem Pfad der Rechtschaffenheit zu leiten.« Wieder macht er eine Pause und lässt seinen mahnenden Blick über uns schweifen, ehe er mit gewichtiger Miene das Wort an die versammelten Eltern richtet. »Lasst uns beginnen.«

Er schaut auf seine Unterlagen hinab. »Ich rufe Magia Stylla Gosslin und Magus Brin Paskal«, verkündet er in knappem, präzisem Ton und sieht sich erwartungsvoll im Saal um. »Bitte tretet zum Altar, Magi.«

Die Stupsnasige neben mir erhebt sich, und bei der unerwarteten Bewegung erschrecke ich und spüre mein Herz schneller klopfen. Einen langen Moment steht Stylla da wie erstarrt, und ich lese ein gewaltiges Widerstreben an ihrer steifen Haltung ab. Als der hochgewachsene Priester sie ungeduldig nach vorn winkt, zwingt sie sich, auf den Altar zuzugehen, doch ihre Augen sind aufgerissen wie die eines gehetzten Tiers. Ihr Verwindungspartner, ein stämmiger Bursche mit kindlichem Gesicht, geht ebenfalls zögerlich nach vorn und stellt sich zu Stylla an den Altar. Unschlüssig schaut er zur Gemeinde, als wäre er überall lieber als hier, während ein älterer Priester seine und Styllas Eltern in den Altarraum geleitet und hinter ihren Kindern platziert.

Styllas Lippen sind zu einer zitternden Grimasse verzerrt, wiederholt huscht ihr Blick zu ihrer Mutter und ihrem Vater. In ihren Augen steht ein inständiges Flehen, dem ihre Eltern mit einem bestimmten Kopfschütteln begegnen, und ich bin verwirrt, wie unglücklich dieses hochmütige Mädchen auf einmal wirkt.

Der hochgewachsene Priester redet leise auf das junge Paar ein, doch der Anspannung dort vorn vermag er nichts entgegenzusetzen. Styllas und Brins Mienen künden von größtem Unbehagen, als der Geistliche schließlich schweigend ihre Hände übereinanderlegt. Styllas Arme sind steif, ihr Kopf zurückgezogen, als könnte sie sich jeden Moment von Brin losreißen und die Flucht ergreifen.

Mein schleichendes Unwohlsein angesichts der offenkundigen Bedrängnis der beiden schwillt an, als der Priester einen sepiafarbenen Zauberstab hervorholt und über die steif ineinanderliegenden Hände des jungen Paars hebt. Er schließt die Augen und intoniert in der Ursprache den Verwindungszauber. Es sind fremdartige, berückende Laute – nichts Hartes oder Scharfes daran.

Das Paar zuckt zusammen, und ich schnappe ebenso wie die anderen jungen Leute nach Luft, als aus der Spitze des Zauberstabs schlangenhafte schwarze Linien hervorgleiten. In komplizierten Schlaufen und Schnörkeln winden sie sich um die Hände der beiden wie dünne Ranken. Mit angstvollen Mienen scheinen Stylla und Brin plötzlich zurückweichen zu wollen, sehen aus, als versuchten sie, ihre Hände voneinander zu lösen, doch ohne Erfolg. Abrupt ziehen die Linien sich zusammen, und wieder zucken beide, während das Verwindungsmuster sich dauerhaft in ihre Haut einschreibt. Stylla beginnt leise zu weinen.

Ich lasse den unbewusst angehaltenen Atem entweichen und schaue zu Vater und Mutter Eliss hinüber, besorgt ob Styllas offenkundigen Unglücks. Mutter Eliss fängt meinen Blick auf und sieht mich bestärkend an, anscheinend ungerührt von Styllas Misere. Der Priester öffnet die Augen, lässt den Zauberstab sinken und schenkt dem Paar vor ihm ein zufriedenes Lächeln.

Stylla reißt schützend ihre Hände an sich und beäugt ihren frisch Anverwundenen mit anklagender Miene. Ihre Eltern treten zu ihr, die Mutter drückt ihr einen Kuss auf den Kopf und der Vater tauscht ein nachsichtiges Lächeln mit dem Priester. Dann werden die Verwundenen und ihre Eltern gemeinsam zu neuen Plätzen auf der Erwachsenenseite der Kathedrale geleitet.

Ein Paar nach dem anderen wird aufgerufen, und alle ergeben sie sich still in die Zeremonie. Manche schüchtern. Manche unfassbar nervös. Ein Paar sieht sich in kurzer Desorientiertheit blinzelnd an, dann können beide ein verlegenes breites Grinsen nicht unterdrücken, als hätten sie an Ort und Stelle entschieden, vollkommen ineinander vernarrt zu sein.

Meine Aufregung wächst ins Unermessliche.

Ich umklammere die Kante der hölzernen Bank unter mir, will unbedingt wissen, wer Tobias ist. Es bleiben nur noch vier Kandidaten: ein rundlicher Bursche mit zerwühltem Haar und unordentlicher Kleidung, der mit finsterer Miene und flammend roten Wangen ins Leere starrt; ein großer, schlaksiger Kerl mit dicken Brillengläsern, der blinzelnd in die Gemeinde schaut, als hätte er sich im Raum geirrt; der zapplige kleine Junge … und der mächtige, selbstbewusste junge Mann. Er trommelt müßig mit den Fingern auf der hölzernen Armlehne seines Stuhls, und die verlockende Amüsiertheit auf seinem Gesicht löst eine spannungsvolle Wärme tief in mir aus.

»Magia Gwynnifer Croft und Magus Geoffrey Sykes«, ruft der Priester.

Gwynnifer Croft. Das Mädchen, bei dem ich wohnen soll.

Mit neu erwachtem Interesse sehe ich mich in der Kathedrale um. Das zerzauste Mädchen mit den Eulenaugen erhebt sich und begibt sich zum Altar. Ihr Gehen ist vielmehr ein Gleiten, mit seltsam getragener Haltung schreitet sie dahin, als hätte sie in ihrem Körper ein zerbrechliches Refugium erschaffen. Hier und da ertönt spöttisches Gekicher, doch sie geht erhobenen Hauptes weiter.

Das ist also Gwynnifer.

Und dann sehe ich ihn – den Spielzeug-Weißstab an Gwynnifers Gürtel. Meine Lichtaffinität erwacht zum Leben, prismatische Glanzpunkte funkeln an den Rändern meiner Wahrnehmung.

»Oh, sieh nur, sie hat ihr Spielzeug mitgebracht«, flüstert eins der unverwundenen Mädchen hinter mir höhnisch und löst eine neuerliche Welle des Kicherns aus. Ich sinke tiefer in die Bank, peinlich berührt von meinem Wunsch, mit Gwynnifers Zauberstab zu spielen, und zutiefst irritiert von der Gemeinheit, mit der einige der anderen ihr begegnen.

Der kleine Junge – Geoffrey – stürmt zum Altar, als wäre es ein Wettrennen, bleibt an einer Stufe hängen und stürzt vornüber auf die erhöhte Plattform. Ein Großteil der jungen Frauen und nicht wenige von den Jungs, einschließlich des schönen, selbstsicheren jungen Mannes, brechen in schadenfrohes Gelächter aus.

Flink wie ein Hase springt der Kleine wieder auf, sieht sich kurz stirnrunzelnd nach den Spottenden um und macht sich dann unverdrossen wieder auf den Weg zum Altar. Entschlossen nimmt er Gwynnifer bei den Händen, während die Eltern der beiden sich hinter ihnen aufstellen. Wieder vernehme ich höhnisches Kichern von den jungen Leuten und bemerke, dass auch Geoffrey einen Spielzeug-Weißstab am Gürtel trägt. Gwynnifers Gesicht wirkt ruhig wie ein stiller See, auch wenn die beiden zusammen einen etwas lächerlichen Eindruck machen – sie haben nicht nur beide Zauberstab-Attrappen, sondern Gwynnifer überragt Geoffrey auch noch um mehr als einen Kopf.

Der Priester beäugt die lachenden Jugendlichen mit offenkundiger Missbilligung, und rasch erstirbt das Gelächter. Während Geoffrey trotzig die Schultern strafft, wirft der schöne Selbstbewusste dem stämmigen Burschen neben sich ein sarkastisches Grinsen zu.

Der Priester hebt den Zauberstab und spricht die Beschwörung. Die Verwindungslinien umschlingen die Hände des Paars und sinken rasch in ihre Haut. Gwynnifer starrt in gleichmütiger Seelenruhe darauf hinunter, während Geoffrey sie breit grinsend und überglücklich ansieht. Beide Elternpaare eilen zu den jungen Verwundenen und beglückwünschen sie mit viel Aufhebens, ehe sie alle aus dem Altarraum geleitet werden. Während Gwynnifer auf die andere Seite des Gangs bugsiert wird, richtet sie ihre Eulenaugen direkt auf mich, und ich weiche innerlich zurück vor ihrem durchdringenden Starren.

»Magia Draven Peltin und Magus Granthyn Emory.«