Blackout Island - Sigríður Hagalín Björnsdóttir - E-Book
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Blackout Island E-Book

Sigríður Hagalín Björnsdóttir

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Beschreibung

Was passiert, wenn ein ganzes Land plötzlich von der Außenwelt abgeschnitten ist? Die Ressourcen knapp werden? Nicht alle überleben können? Die Menschen zu Selbstversorgern werden, Eltern ihre Kinder suchen, die in Banden hungernd durchs Land irren. Milizen marodieren. Bürgerkriegsähnliche Verhältnisse herrschen.

In einem abgelegenen isländischen Fjord lebt der ehemalige Journalist Hjalti aus Reykjavik unter primitiven Bedingungen auf dem alten Hof seines Großvaters. Er versorgt die Schafe, bewirtschaftet das karge Land und lebt von dem, was er dem Boden und dem Meer abtrotzt. Gesellschaft leistet ihm neben den Schafen nur noch sein Hund. Hjalti führt einen harten Kampf ums Überleben, denn Island ist seit geraumer Zeit von der Außenwelt abgeschottet, seine Lebensgefährtin Maria und deren Kinder von ihm getrennt, ihr Schicksal ungewiss. An den langen, einsamen Abenden protokolliert er die Ereignisse, die zu dieser Situation geführt und die ehrgeizige Innenministerin Elín Olafsdottir dazu gezwungen haben, den Ausnahmezustand auszurufen.

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Seitenzahl: 302

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Sigríður Hagalín Björnsdóttir

Blackout Island

Roman

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Suhrkamp

Blackout Island

Für Gummi

No man is an Iland, intire of it selfe; every man is a peece of the Continent, a part of the maine; if a Clod bee washed away by the Sea, Europe is the lesse, as well as if a Promontorie were, as well as if a Mannor of thy friends or of thine owne were; any mans death diminishes me, because I am involved in Mankinde: And therefore never send to know for whom the bell tolls; It tolls for thee.

John Donne, 1572-1631

Prolog

Hört mir zu.

Wir sind hier. Wir leben.

Wir sind über tausend verschiedene Wege miteinander verbunden; Worte, Stimmen, Berührungen, Blutsbande, Geschichten, Lieder, Kabelstränge, Straßen, digitale Mitteilungen. Manchmal auch einfach nur, weil wir dieselbe Sonne über den Himmel wandern sehen, dasselbe Lied im Radio hören, denselben Text vor uns hin summen, gedankenverloren, während wir die Teller vom Abendessen abspülen.

So ist es, wenn man einer Gesellschaft angehört. Oder einer Nation, oder der Menschheit.

Und manchmal passiert etwas, das uns noch fester zusammenschweißt. Hochzeiten, Geburten und Todesfälle verbinden Familien; Katastrophen, Kriege und Sportwettkämpfe vereinen Nationen, bringen die Menschen dazu, im Gleichschritt zu marschieren.

Und manchmal passiert etwas, das die gesamte Menschheit vereint, unser aller Schicksal miteinander verknüpft, als wäre die Gravitation ins Schlingern geraten und die Welt für einen kurzen Moment geschrumpft, enger geworden. Später weiß jeder, wo er war, als es geschah, als die Meldung kam.

Und manchmal wird die Welt so klein, dass sie nur noch aus einem einzigen Menschen besteht. Ein einsamer Mann in einem verlassenen Fjord.

Svangi

Das Licht bricht durch das Grau, strahlt über den Bergrücken und ergießt sich wie Milch in den Fjord. Das zweite Lamm kommt heraus und fällt auf den steinigen Strand, es ist rostbraun, genau wie das erste.

Blödes Vieh, runter zum Meer zu laufen, zum Gebären, man könnte meinen, es wollte die armen Kleinen ertränken. Ich spüle mir das Blut von den Händen, während das Lamm zusammen mit seinem Geschwisterchen zum Euter wankt. Beide sind munter, obwohl die Mutter ausgemergelt ist, führen einen heldenhaften Kampf gegen die Schwerkraft, zittern auf ihren dünnen Beinchen, mühen sich ab, zur Zitze zu gelangen.

Die Hündin gähnt und legt den Kopf auf die Vorderpfoten, sie ist erschöpft von der Suche nach dem entlaufenen Schaf. Ich halte Ausschau nach Raben und Möwen und anderen ungebetenen Gästen, befürchte, sie könnten sich die Lämmer am Hof schnappen. Wir müssen zurück nach Hause.

Móra fixiert mich mit misstrauischen Schafaugen, kein Hauch von Dankbarkeit oder Gehorsam im Blick. Sie ist mein bestes Schaf, führt stets die Herde an, und die anderen folgen ihr blind. Es verheißt nichts Gutes, dass sie nicht zu Hause gebären will, sondern runter zum Strand läuft, als wollte sie mitten in der Geburt hinaus aufs Meer.

Ich klemme mir unter jeden Arm ein Lamm und mache mich auf den Rückweg. Týra läuft voraus, und die Aue folgt uns blökend, lässt es sich aber nicht nehmen, die ersten blassen Halme auszurupfen. Der Frühling kommt zeitig dieses Jahr. Vielleicht wird es ein trügerischer Frühling mit Frost bis in den Juni. Hier ist nicht viel zu holen.

Tau tropft vom welken Gras, die Straße hat sich in ein Bachbett verwandelt, hin und wieder hört man donnernde Erdrutsche an Felshängen und Klippen, wenn der Winter den Fjord aus seinen Klauen entlässt und Schneewechten und Bruchgestein ins Meer stürzen. Jedes Mal steht das Herz für einen Moment still, und der geschundene Leib zuckt zusammen – jetzt kommen sie, jetzt haben sie mich entdeckt, zur Hölle mit ihnen.

Noch nicht.

Die Rastlosigkeit hat mich schon mehrmals fjordauswärts die Hänge hinaufgetrieben, um von dort über mein kleines Königreich zu blicken, diesen kargen Grund. Ich muss mich vergewissern, dass es zwischen Felsen und Gestrüpp gut versteckt liegt, das verlassene Gehöft, in dem seit Jahrzehnten niemand mehr gelebt hat, das Haus, das einst einen anderen, optimistischeren Namen trug, aber nun Svangi, der Hungrige, heißt. Der Name wird das Schicksal nicht herausfordern, darauf vertraue ich.

Der wolkenlose Himmel wirft keinen Schatten, ich sehe nirgends Rauch, höre weder Hundegebell noch menschliche Stimmen oder Motorengeräusche. Doch ich traue der Stille nicht, ruhig Blut, husche zum Haus wie ein Fuchs in seinen Bau, wie ein Flohkrebs unter einen Stein, wie ein Geächteter mit zwei gestohlenen Lämmern. Das Tageslicht ist ein verräterischer Freund, aber ich hüte mich davor, es zu verfluchen, nach dem schwarzen, nicht enden wollenden Winter.

Ich lasse Móra und die Lämmer auf die Wiese zu den anderen Schafen, will dann ins Haus. In der Türöffnung bleibe ich stehen, schließe die Augen und atme tief ein, der Geruch im Haus ist erdig und merkwürdig tröstlich, es riecht nach Feuchtigkeit, Schafmist und nassem Hund. Früher war der Türrahmen einmal weiß gestrichen, aber jetzt ist das Holz schmutziggrau, fühlt sich glatt und geschmeidig an wie der Arm einer Frau, und ich streiche darüber, als ich ins Haus gehe. Eine Marotte, eine von tausend kleinen Angewohnheiten, die mein Dasein ausfüllen, die mich ablenken, wenigstens ein bisschen.

Acht Stufen führen hinauf zum Dachboden und in die alte Wohn- und Schlafstube, wo mein Tagebuch auf dem Schreibpult unter dem kleinen Fenster auf mich wartet. Die Seiten sind vergilbt und feucht, heute ist der 15. Mai, grob geschätzt. Wolkenlos, windstill, acht Grad. Móra hat zwei rostrote Zibbenlämmer geboren. Könnte schlimmer sein.

Ich wickele mich in die Decken, nehme die Fingerhandschuhe aus der Schublade und vermeide es, zu dem kleinen gusseisernen Ofen zu schauen. Das Wetter ist zu schön, um ihn anzuzünden, da könnte ich gleich eine Signalrakete abschießen.

Es gibt nichts zu tun außer schreiben, sich erinnern und schreiben. Früher bezeichnete ich mich immer als Dokumentar der Gegenwart und fand das ziemlich cool. Das passt gut, denn jetzt kann ich eine Chronik der zurückliegenden Ereignisse schreiben, das Verlorene beweinen, die Vergangenheit bezwingen, mir ins Gedächtnis rufen, wie die Verbindung abriss, wie das Licht schwächer wurde, wie die Dunkelheit hereinbrach.

Hjalti

Hjalti Ingólfsson weiß noch, wo er war, als er von dem Anschlag auf die Zwillingstürme in New York erfuhr. Er saß in einer überteuerten Tapas-Bar in Kopenhagen und überlegte gerade, ob er die Riesengarnelen in die Küche zurückgehen lassen sollte. Eben waren die Kellner noch geschäftig durchs Lokal geeilt, aber jetzt hatten sie sich in Luft aufgelöst. Er entschuldigte sich bei seiner Begleitung, einer dänischen Kommilitonin aus der Internationalen Politikwissenschaft, die seine Einladung auf einen Drink nach der Uni offenbar aus purem Mitleid angenommen hatte, und machte sich auf die Suche. Er landete schließlich in der Küche, wo die Mitarbeiter des Restaurants dicht gedrängt vor einem Fernseher standen und zuschauten, wie sich ein Passagierflugzeug durch einen Wolkenkratzer bohrte wie eine Messerklinge durch ein Stück Butter. Hjalti machte auf dem Absatz kehrt, verließ die Küche durch die Flügeltür, setzte sich wieder auf seinen Platz und berichtete dem Mädchen, dass alle Kellner in der Küche seien und einen Katastrophenfilm anschauen würden. Sie lachte zum ersten Mal an diesem verhangenen Nachmittag, trank ihren Weißwein aus und fragte ihn, ob sie seine Mitschrift kopieren dürfe.

Erst auf dem Nachhauseweg, als er an den Elektrogeschäften in der Vesterbrogade vorbeikam, wurde ihm klar, dass hier nicht in allen Fernsehern derselbe Film gezeigt wurde; dass die Welt zu einer kleinen Kugel zusammengepresst worden war, während er in einem dämmrigen Lokal gesessen und mit einer Gabel in ein paar matschigen Garnelen herumgestochert hatte, ohne die geringste Hoffnung, dass sich seine Begleitung jemals dazu herablassen würde, mit ihm zu schlafen; dass von nun an nichts mehr so sein würde, wie es vorher war.

~

Viel später, in einem ganz anderen Leben denkt Hjalti in einer kleinen Küche im Hlíðar-Viertel in Reykjavík darüber nach, ob dieses Ereignis dazu geführt hat, dass er beschloss, kochen zu lernen. Er nippt an seinem trockenen Sherry, schaut auf den Küchentisch, wo das eingeschweißte Fleisch in einem lauwarmen Wasserbad schwimmt. Vielleicht hat er nicht alles geschafft, was er sich vorgenommen hatte, hat keine Karriere in Internationaler Politikwissenschaft gemacht, war nie Korrespondent im Irak oder in Afghanistan, aber heute Abend wird er seine Gäste mit einem perfekten Rinderfilet Sous-vide verblüffen.

María ist noch nicht zu Hause, er weiß, dass sie seine Begeisterung für dieses Gericht nicht teilt. Das ist kein Kochen, sagt sie, das ist ein chemisches Experiment. Wenn man ein rohes Stück Fleisch in eine brutzelnde Pfanne legt und hineinsticht, um herauszufinden, ob es schon gar ist – das ist echtes Können, Risiko, wahre Kochkunst. Aber das da, sagt sie naserümpfend, ist die Kastration eines tapferen Stiers.

Hjalti schleift ein Messer, um Pilze zu hacken. Ihr Zusammenleben ist nicht so angenehm, wie er es sich vorgestellt hat.

Als die Freunde kommen, ist alles perfekt vorbereitet, das Gratin köchelt im Ofen vor sich hin, der Salat ist fertig, die Sauce Béarnaise wartet in einer Schüssel über heißem Wasser, fehlt nur noch das Fleisch, dann kann er die Köstlichkeiten auftischen.

Und auf María warten. Er lächelt entschuldigend, während er den Gästen die Mäntel abnimmt und aufhängt, sie ist noch bei der Probe, hat sich ein bisschen verspätet.

Er mixt Drinks, Gin mit teurem Tonic und Gurkenscheibe. Im Wohnzimmer stoßen sie an, schauen sich lächelnd über die braunen Kristallgläser hinweg in die Augen. In den dunkelsten Monaten des Jahres ist es wichtig, dass man Freunde trifft und gesellige Abende miteinander verbringt, über die Arbeit redet, über die Medien, Politik, Wirtschaft, ein Gruppenfoto macht, um es anschließend auf Instagram zu posten. Prost! Auf uns!

Endlich kommt María wie ein Wirbelsturm, entschuldigt sich freundlich lächelnd, begrüßt die Gäste mit Küsschen, äußert sich anerkennend über den Essensduft, hat sogar daran gedacht, Erdbeeren fürs Dessert zu kaufen, und kippt ihren Drink herunter, während die anderen die Reste schlürfen, die Eiswürfel in ihren leeren Gläsern klirren lassen. Sie lacht mit seinen Freunden, schwatzt mit deren Frauen, erzählt von der Probe, zeigt ihnen die Schwielen an ihren Fingerkuppen und legt irgendeine abgedrehte Musik auf, während alle am Tisch Platz nehmen, attraktiv, charmant, immer ein bisschen exotisch. Dann mustert sie den Tisch, wo sollen die Kinder sitzen?

Die Kinder?

Meine Kinder, erinnerst du dich an sie?

Ach, die hatte ich gar nicht mit eingeplant, sagt er. Sollen wir ihnen nicht einfach eine Pizza bestellen?

Eiskaltes Schweigen legt sich über den Tisch, María ist blass um die Nase geworden, die Gäste schauen auf ihre Teller.

Sie steht auf, holt zwei Teller, Messer, Gabeln und Gläser und stellt alles auf den Tisch, ruft dann nach den Kindern, ohne Hjalti eines Blickes zu würdigen. Elías kommt sofort, ordentlich gekleidet in einem Hemd, grüßt schüchtern und setzt sich dicht neben seine Mutter. Margrét nimmt neben Hjalti Platz und blickt herausfordernd in die Runde.

Hjalti lächelt breit und beginnt, das Fleisch zu portionieren, es müsste reichen, wenn María und er sich nur einmal nehmen. Darf ich euch die Überraschungsgäste des heutigen Abends vorstellen, das sind der junge Elías und ihre salbungsvolle Exzellenz, Margrét.

Als Margrét nach dem Gratin greift, klopft er ihr leicht auf den Handrücken, es wurde noch nicht guten Appetit gewünscht, meine Liebe, normalerweise nehmen sich die Gäste zuerst.

Margrét starrt ihn an, und María springt auf, besten Dank, ich kann meine Kinder selbst erziehen, und danach ist der Abend im Eimer. Die Gespräche beim Essen sind gezwungen, kommen nicht richtig in Gang, die Kinder haben keinen Appetit und flüchten schnell in ihre Zimmer. María kippt sich einen Rotwein nach dem anderen hinter die Binde und scheint es nicht erwarten zu können, die Gäste loszuwerden. Hjalti scharwenzelt beflissen um seine Freunde herum, lacht zu laut über ihre Witze und lässt auf dem Weg in die Küche einen Teller fallen, der auf dem Boden zerbricht.

Zum Nachtisch essen sie Marías Karamellpudding, interessant, sagt Halldór und schiebt das hellbraune Gelee auf seinem Teller hin und her. Sie trinken Calvados zum Kaffee und bedanken sich für den wundervollen Abend, nächstes Mal müsst ihr zu uns kommen, und sind weg.

María und Hjalti bleiben allein in der Küche zurück, stehen in den Trümmern des misslungenen Abends und schreien sich bis tief in die Nacht hinein an. Ihre Wortgefechte sind nie harmlos, sie stehen sich in ihrer Wut und Schlagfertigkeit in nichts nach, es fällt ihnen leicht, den anderen zu verletzen. Dieser Streit ist der schlimmste in ihrer kurzen, stürmischen Beziehung. Elías öffnet leise die Tür zum Zimmer seiner Schwester, sie streckt die Hand nach ihm aus, lässt ihn unter ihre Bettdecke schlüpfen und hält ihn im Arm, während sie mitanhören, wie ihre Mutter mit ihrem Lebensgefährten Schluss macht.

~

Nach diesem Wochenende wird María ihn verlassen. Sie weint, aber er hat das Gefühl, dass sie schon weg ist, fühlt sich einfach nur erleichtert, wenn er sie anschaut, ihr gräuliches Gesicht mit den dunklen Ringen unter den Augen, eingesunken und glasig von Schlafmangel und Frust. Ihre Stimmen sind rau und tonlos, als endlich der Montag anbricht.

Also, ich muss zur Arbeit, sagt er. Sie nickt betrübt.

Ich packe, wenn du weg bist, Hjalti. Ich nehme unsere Klamotten und Bücher, die Instrumente und die Sachen der Kinder mit, den Rest können wir später durchsehen.

Jalti. Nach fünfzehn Jahren in Island kann sie immer noch kein H am Wortanfang aussprechen, ihre Herkunft scheint immer durch, wie sehr sie sich auch bemüht. Bei ihren ausufernden Streits kommt sie immer irgendwann aus dem Konzept, und die Grammatik lässt sie im Stich. Es ist ein ungleiches Spiel, aber er kann sich nicht beherrschen, korrigiert sie wie ein kleines Kind, barsch, überheblich. Ich heiße nicht Jalti, wann kapierst du das endlich?

Sie will zu ihrer Freundin Inga, die Kinder sind schon seit Samstagmorgen bei ihr, während sie die Sache beendet, den Kadaver ihrer Liebesbeziehung obduziert und zerstückelt haben, du hast alles kaputtgemacht, ich bin nun mal so, du bekommst dieses Teil und ich jenes.

Er geht unter die Dusche und rasiert sich, blickt dem Single-Mann im Spiegel in die Augen. Als er aus dem Bad kommt, hockt María immer noch da und stiert auf den Boden, die schwarzen Haare fallen ihr ins Gesicht und auf die schmalen Schultern. Sie trägt diesen Pulli, der ihren weiblichen Formen schmeichelt, wie er früher einmal fand, ihren kleinen, weichen Brüsten, jetzt kauert sie wie ein Sack auf dem Sofa.

Sie schaut auf. Du bist ein selbstsüchtiges, egoistisches Kind!

Die Müdigkeit überkommt ihn in Wellen, er würde alles geben, um diese Diskussion zu beenden, einfach so zu tun, als wäre das alles nie passiert.

Ich hab mein Bestes gegeben.

Dein Bestes war so gut wie nichts.

~

Er geht zu Fuß zur Arbeit, denn die Vorstellung, die Autoscheiben freikratzen und sich in den kalten Wagen setzen zu müssen, schreckt ihn ab. Der Januarmorgen ist genauso hart und schwarz wie das Glatteis auf den Straßen, seine Lunge brennt in der Kälte. Er geht so schnell, wie es bei dieser Witterung möglich ist, seine Schuhsohlen schlingern über das Eis, und der Mantel taugt nichts bei dem eiskalten Wind. Er begegnet niemandem, bis auf zwei Raben, die im Schein einer Straßenlaterne miteinander plänkeln, sich abwechselnd vom Laternenpfahl stürzen, wieder hochschießen, kurz bevor sie den Boden berühren, einen großen Bogen am Himmel ziehen und erneut auf dem Pfahl landen, krächzend und lachend.

So früh sind erst wenige Kollegen auf der Arbeit, und die Nachrichtenleiterin mustert ihn forschend.

Du siehst ja topfit aus. Bist du krank?

Er wirft ihr einen genervten Blick zu, holt sich einen Kaffee, setzt sich an seinen Schreibtisch und fährt den Computer hoch. Über Nacht ist nicht viel Neues passiert, die Webseiten bringen Kommentare zu alten Meldungen.

Nach und nach trudeln die Kollegen ein, grüßen müde und machen ihre Computer und Lampen an. Die Schreibtische werden zu warmen Lichtkugeln in dem schummrigen Saal, sie biegen sich unter staubigem Weihnachtsschmuck und Stapeln von Papier.

Das Morgenmeeting ist zäh, Úlfhildur baut auf die Auslandsabteilung und die Flüchtlingskonferenz in Berlin, die Kollegen von der Inlandsabteilung sollen erste vage Hinweise verfolgen, die womöglich zu etwas Berichtenswertem führen, oder sich weiter auf die ausgelatschte Spur alter Themen begeben.

Vielleicht ruft ja noch jemand an, murmelt Hjalti in seine Kaffeetasse.

Ja, vielleicht ruft noch jemand an, wiederholt sie grinsend. Alles okay mit dir?, fragt sie ihn nach dem Meeting. Du siehst echt scheiße aus.

Hab schlecht geschlafen, sagt er. Gib mir ein paar Tassen Kaffee, dann geht’s schon wieder.

Er überlegt, Leifur anzurufen und ihm von den Ereignissen des Wochenendes zu erzählen, verschiebt es aber, hat keine Lust auf die väterliche Besorgnis seines Bruders, den moralisierenden Ton, warst du seit Weihnachten noch mal bei Mama? Hjalti holt tief Luft, verdrängt den Gedanken.

María packt jetzt bestimmt ihre Sachen, räumt ihre Kleiderschrankseite leer, spaltet ihr Leben in zwei Teile. Sie holt den Koffer aus der Abstellkammer, faltet Blusen und Hosen, das schwarze Kleid, das er ihr letztes Jahr für das Konzert geschenkt hat, das Konzertmeisterkleid. Es steht ihr gut, der Ausschnitt betont ihren schlanken, weißen Hals und ihre zarten Schlüsselbeine. Hjalti vertreibt das Bild aus seinem Kopf und konzentriert sich auf die morgendlichen Aufgaben.

~

Viel später, als das Chaos überhandgenommen hat, verfolgt ihn der Gedanke, ob er sie hätte stoppen können, sie dazu hätte bringen können, ihnen noch eine Chance zu geben, wenn er sie nur angerufen hätte, noch einmal zurück nach Hause gegangen wäre.

Er ist kein komplizierter Mann. Seine Mutter pflegte immer mit ernstem Nachdruck zu sagen: Der Hjalti, der braucht eine gute Frau, als wäre er ein Problemfall. Ein Verbrecher oder ein Depressiver. Er ist weder noch, hält sich sogar für ein ziemlich gelungenes Exemplar.

Aber er ist nicht besonders stressresistent. Er hasst Durcheinander, Geldsorgen, übel riechende Krankheiten, schlechtes Essen, benutzte Taschentücher und klebriges Plastikspielzeug auf den Badezimmerfliesen. Er will einfach nur, dass die Dinge ihre Ordnung haben, dass alle nett miteinander umgehen, dass er keine Sachen vom Boden aufheben und jeden Tag staubsaugen muss, damit man sich in der Wohnung aufhalten kann. Und er räumt durchaus ein, dass das Zusammenleben mit María und den Kindern manchmal anstrengend war.

Aber er hat sie nicht schlecht behandelt. Damit tut sie ihm einfach unrecht.

~

Er ruft nicht zu Hause an. Stattdessen geht er raus, mit Aufnahmegerät und Notizblock bewaffnet, um die Minister nach dem Regierungstreffen abzufangen. Die Stadt ist dunkel und still, und der Regierungssitz wirkt verlassen, bis auf die behäbigen Ministerkarossen, die draußen warten. Das Meeting wurde um einen Tag vorgezogen, normalerweise trifft sich die Regierung immer dienstags, aber die Presse hat Wind von der Verschiebung bekommen. Die Reporter sitzen im eiskalten Foyer, Rivalen, jeder gegen jeden, grüßen sich kurz und verharren dann gemeinsam in trotzigem Schweigen.

Endlich dringen Geräusche aus dem Saal, und die Minister strömen heraus, alle gleichzeitig. Das ist schlecht, dann gibt es weniger Interviews, denn einige sind sehr geschickt darin, sich unauffällig aus dem Staub zu machen. Er erwischt den Finanzminister draußen auf dem Bürgersteig, einen hageren Mann, der die besondere Fähigkeit besitzt, einem die Fragen im Mund umzudrehen, wenn sie nicht ganz präzise gestellt sind, und den Kulturminister, der allem Anschein nach genauso wenig über die geplanten Einschnitte im Kulturbereich weiß wie Hjalti. Daraus lassen sich keine vernünftigen Meldungen stricken.

Allmählich wird es hell. Die Umrisse des Bergmassivs Esja zeichnen sich hinter der Harpa ab, der Windharfe, Konzerthaus und Schutzmauer der Stadt vor dem arktischen Feuer. Hjalti dreht sich um und steht Elín Ólafsdóttir gegenüber.

Grüß dich! Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.

Sie geben sich Küsschen auf die Wange, sie trägt einen hellen Mantel, und ihre Augen sind noch blauer, noch stechender als bei ihrer letzten Begegnung.

Haben sie dich heute an die Front geschickt?, sagt sie neckend, ich dachte, über solche Botengänge wärst du längst hinaus.

Für ein Regierungstreffen ist sich keiner zu fein, da lässt sich meistens was bei rausholen.

Heute wohl eher nicht, oder?

Nein, ziemlich tote Hose. Oder gibt’s bei euch was Neues?

Bei uns gibt’s immer was Neues. Die Wirtschaft ist auf dem richtigen Weg, und die Gesellschaft floriert, dem Land ist es noch nie so gut gegangen. Aber darüber berichtet ihr ja nicht.

Nein, die guten Nachrichten meiden wir tunlichst. Wir sind wie kleine Teufelchen, die sich jeden Morgen vornehmen, so richtig fies zu sein. Besonders zu Politikern.

Das merkt man.

Sie zögert, beugt sich dann zu ihm und senkt die Stimme. Du könntest den Außenminister fragen, warum er nicht bei der Konferenz in Berlin ist. Warum der Ministerpräsident hingefahren ist, um über die Flüchtlingskrise zu debattieren. Das gehört eigentlich nicht in seinen Aufgabenbereich.

Sag du’s mir doch! Ist er jetzt außen vor?

Das fragst du ihn lieber selbst. Sie lächelt, schaut ihm in die Augen, war nett, dich zu sehen, wir sollten uns mal treffen und ein bisschen quatschen. Du weißt ja, wo du mich finden kannst.

Ja, er weiß, wo er sie finden kann, Elín Ólafsdóttir, Innenministerin, ehemalige Dozentin der Politikwissenschaft und unverhoffter Shootingstar auf der Kandidatenliste der Partei im Wahlbezirk Reykjavík Nord. Eine große Idealistin oder gefährlich ehrgeizig, je nachdem mit wem man spricht, trägt immer Weiß, stets elegant. Sie stöckelt auf ihren hohen Absätzen die Treppe vor dem Regierungsgebäude hinunter, der Fahrer kommt ihr entgegen und hält ihr die Tür des schwarz lackierten Jeeps auf. Sie steigt ein, lächelt Hjalti noch einmal zu und zieht ihre wohlgeformten Waden ins Auto. Ihr Stil ist nicht zufällig gewählt, die Macht steht ihr gut.

~

Hjalti kehrt zurück in die Redaktion, ein Interview mit dem gekränkten Außenminister in der Tasche, der so enttäuscht darüber war, dass er zu Hause bleiben musste, dass er es nicht für sich behalten konnte. Es knirscht im Gebälk der Regierung, und Hjalti ist der Einzige mit dieser Meldung, ein guter Scoop.

Super Titelstory, sagt Úlfhildur vergnügt. Bekommst du öfter solche Hinweise von deinen Ex-Freundinnen?

Er grinst. Sie ist nicht meine Ex-Freundin. Wir kennen uns von früher, vom Gymnasium und aus dem Studium. Elín war nie mein Typ.

Nee, ist klar, sagt Úlfhildur. Du bist doch vorsichtig, oder? Die gibt dir nur Infos, wenn sie davon profitiert. Die will hoch hinaus, die Frau.

Hjalti seufzt, darüber haben sie schon öfter gesprochen. Úlfhildur ist als Nachrichtenleiterin genau an der richtigen Stelle. Sie gehört zu den Kollegen, die immer alles besser wissen, die Ausdrucksweise der anderen korrigieren, gnadenlos, barsch, einem bei der Arbeit über die Schulter schauen. In ihrer Welt befinden sich Politik und Medien in einem ewigen Konflikt, bei dem der Politiker versucht, den Journalisten zu täuschen und zu manipulieren, der wiederum alles tut, um den Politiker zu entlarven und in die Knie zu zwingen. Hjalti ist da anderer Meinung, er mischt sich bei gesellschaftlichen Anlässen gern unter die Politiker, stößt bei Sekt und Häppchen mit ihnen an, behält manche Geheimnisse für sich und bringt andere in Umlauf. Dafür genießt er ihr Vertrauen, bekommt oft Dinge als Erster zu hören, während Leute wie Úlfhildur das Nachsehen haben und auf die Presseerklärung warten müssen.

Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich schmutzige Servietten, halbvolle Tassen mit kaltem Kaffee, aufgeschlagene Berichte und Regionalzeitungen, die außer ihr keiner liest. Sie färbt sich die Haare schon lange nicht mehr, und ein Vierteljahrhundert unerbittliche Redaktionsleitung hat zwei tiefe Falten zwischen ihre Augenbrauen gegraben. Sie funkelt ihn angriffslustig an.

Er schüttelt den Kopf. Du solltest dich mal hören. Mach dir um Elín und mich keine Gedanken. Wir sind nur alte Bekannte.

Ach, schmeiß dich doch ruhig deiner Ex-Freundin an den Hals, entgegnet Úlfhildur mit zuckersüßem Grinsen. Solange was Berichtenswertes dabei herauskommt ...

Ex-Freundin, wie passend. Hjalti stürzt aufs Klo und kotzt kaffeefarbene Galle, spritzt sich danach kaltes Wasser ins Gesicht und sieht sich in dem schlierigen Spiegel, verkniffen und mit rotunterlaufenen Augen. Eigentlich müsste er sich über seine neu gewonnene Freiheit freuen, empfindet aber nichts als abgrundtiefe Selbstverachtung. Um die vierzig, alleinstehend und festgefahren, während seine Altersgenossen die Karriereleiter hochklettern, ihre Kinder konfirmieren lassen und sich neue Jeeps kaufen. Er schaut noch einmal in den Spiegel, wenigstens hat er noch Haare. Seine Attraktivität hat noch nicht gravierend gelitten, er klopft sich auf den flachen Bauch unter dem maßgeschneiderten Hemd, Kopf hoch, Hjalti Ingólfsson!

~

Zu Hause erinnert nicht mehr viel daran, dass dort noch vor knapp vierundzwanzig Stunden eine vierköpfige Familie wohnte. Die freien Flächen im Bücherregal starren ihn traurig an, ein paar Hemden und Anzüge schaukeln einsam im Kleiderschrank. Nur noch eine Zahnbürste im Zahnputzbecher im Bad, das Kinderzimmer gähnend leer. Selbst Elías’ Bilder sind weg, und die Reste des Poster-Klebers prangen wie blaue Flecken an der Wand.

María hat die Instrumente aus dem Wohnzimmer mitgenommen, sie hatte sich bemüht, ihm die verschiedenen Namen und Klangunterschiede beizubringen, aber er hat es nie richtig verstanden, Oud, Dulcimer, Kantele, Musik aus vergangenen Zeiten und versunkenen Welten, wehmütig und betörend, ihre zartgliedrigen, starken Hände beim Trommeln, Zupfen, Streichen und Stimmen, die Augen halbgeschlossen und die Lippen konzentriert zusammengepresst. Jetzt herrscht Stille im Wohnzimmer.

Er blickt durchs Wohnzimmerfenster und kaut auf einem späten Abendessen herum, ein in Plastikfolie eingepacktes Sandwich mit Räucherlamm und italienischem Salat. Sein Spiegelbild stiert ihn aus dem öden Fenster an, wo vorher noch Friedenslilien und Pelargonien blühten. Die Pflanzen, die frierend in der trüben Dunkelheit standen und der Esja und dem tosenden Nordatlantik trotzten, hatten María an ihre Heimat erinnert.

Friedenslilien. Ausgerechnet.

Die Zeitung ist gekommen, Úlfhildur hat das Interview mit dem Außenminister wie angekündigt auf die Titelseite gesetzt. Hjalti geht in die Küche, wirft das halb gegessene Sandwich in den Mülleimer, öffnet eine Flasche Chianti und vertieft sich in die Lektüre.

~

Wir haben kein Netz, sagt Úlfhildur, als er am nächsten Tag zur Arbeit kommt, mit pochenden Schläfen von den Nachwirkungen des Rotweins. Nicht nur hier im Haus – die gesamte Datenübertragung scheint zusammengebrochen zu sein. Wir haben seit drei Uhr letzte Nacht keine Fotos oder Mails mehr bekommen.

Sie fixiert ihn. Kannst du das übernehmen?

Die Kollegen von der Morgenschicht sitzen verschlafen an den Schreibtischen und versuchen verzweifelt, funktionierende Websites auf den Computern aufzurufen. Wenigstens scheint das Telefonsystem zu funktionieren, jeder einzelne Apparat in der Redaktion klingelt, und der Lärm grenzt an körperliche Gewalt. Auf den Fernsehbildschirmen sitzen die Sprecher der Nachrichtensender wie eingefroren mit offenen Mündern da und die Wettermoderatoren zeigen steif auf Cardiff, Kiew, Los Angeles.

Hjalti hängt sich an die Strippe und beginnt einen unerfreulichen und zähen Austausch mit der Telekommunikationswelt. Die Telefonfirmen untersuchen die Störung und wollen baldmöglichst eine Pressemeldung herausgeben. Er bekommt eine gestresste Pressesprecherin bei der Behörde für Post und Telekommunikation an den Apparat, die Sache wird überprüft, zu diesem Zeitpunkt kann man noch nicht viel sagen. Hjalti lässt nicht locker, er braucht unbedingt einen Interviewpartner. Es gibt nichts Schlimmeres als keine Antworten.

Zehn Minuten später schaltet Úlfhildur das Radio ein, die Morgennachrichten laufen, der Direktor der Behörde ist in der knackenden Leitung: Es handelt sich um einen großflächigen Ausfall, aber wir wissen noch nicht, wo die Störung herrührt. Das Internet scheint größtenteils ausgefallen zu sein, die Telefonverbindungen im Inland funktionieren, aber es gibt keinen Kontakt zum Ausland. Wir vermuten, dass der Vorfall mit den Tiefseekabeln zusammenhängt.

Der Nachrichtensprecher erkundigt sich nach Satelliten, und der Direktor räuspert sich und weicht der Frage aus.

Wir halten es für wahrscheinlich, dass die Störung auf einen Stromausfall zurückzuführen ist, zum Beispiel einen Kurzschluss in einer zentralen Anlage. Unsere Technikabteilung und die Netzbetreiber setzen alles daran, das Problem zu lösen. Seekabel führen aus mehreren Ländern zu uns und werden an diversen Stellen an Land geleitet, es ist ausgeschlossen, dass sie alle gleichzeitig ausfallen. Vermutlich handelt es sich um einen Defekt hier bei uns im System.

Was könnte die Ursache dafür sein?

Der Direktor räuspert sich wieder. Es gab schon mal eine solche Störung, als ein schottischer Baggerfahrer das Kabel durchgetrennt hat. Ein anderes Mal wurde es von Ratten zerbissen. Es kann also alles Mögliche passieren. Das ist nun mal so, wenn man auf einer Insel im Nordatlantik lebt und sich bei der Kommunikation mit der Außenwelt auf die Technik verlassen muss.

Der Sprecher bedankt sich bei dem Direktor und verabschiedet ihn. Seufzend schaltet Úlfhildur das Radio aus, sie hätte mehr aus dem Mann herausgequetscht.

In der Druckerecke ertönt ein altmodisches Rattern, und das Faxgerät spuckt piepend ein Blatt Papier aus.

Aufgrund eines totalen Netzausfalls hat die Nationale Polizeidirektion im Einvernehmen mit allen Landespolizeichefs entschieden, die erste Stufe im Rahmen des Zivilschutzes auszurufen. Sie tritt bei einem Ereignis in Kraft, das bereits eingesetzt hat und zu einer Gefahr für Menschen und/oder Gebäude führen könnte. Der Zivilschutz untersucht das Ereignis in Zusammenarbeit mit den betroffenen Institutionen und führt eine fortlaufende Gefahrenbeurteilung durch. Bitte beachten Sie weitere Informationen des Zivilschutzes.

Die haben doch keine Ahnung, was da los ist, sagt Úlfhildur und starrt auf das Blatt. Die können noch nicht mal eine Mail rausschicken.

Die Leute von der Auslandsabteilung wirken beunruhigt, sie haben seit letzter Nacht weder Bild- noch Textmaterial aus dem Ausland erhalten. Es könnte zu Kriegen, Terroranschlägen und allen möglichen Katastrophen in der Welt kommen, und sie würden nichts davon erfahren. Andere Kollegen sind in fieberhaften Aktionismus verfallen, wie sonst nur bei Vulkanausbrüchen, und die normalerweise eher verschlafene Redaktion pulsiert vor angespannter Erwartung.

Sie sitzen an ihren schrillenden Telefonen und führen Gespräche mit dem Flughafen, mit den Hotels, mit den Banken, wo Ökonomen und Finanzanalysten Panik verbreiten, die Börse ist zum Erliegen gekommen, und es gibt keine Möglichkeit, die Aktienkurse an den ausländischen Märkten zu verfolgen.

Hjalti, fahr zur Behörde für Post und Telekommunikation und sprich mit dem Direktor, sagt Úlfhildur, ohne ihn anzuschauen. Besorg mir ein vernünftiges Interview.

Hjalti setzt sich in ein Taxi, froh, von der hektischen Redaktion wegzukommen. Die Fahrt ist kurz, nur bis zur Suðurlandsbraut, und er schließt währenddessen die Augen und versucht, das dumpfe Pochen aus seinem Kopf zu vertreiben.

Die Stimmung in der Behörde ist gereizt, Mitarbeiter hasten zwischen den Büros hin und her, und der Direktor lässt ihn lange auf der pilzbraunen Couchgarnitur warten, bis er endlich seine Bürotür aufstößt und ihn hereinruft, mit einem Gesichtsausdruck, als wäre Hjalti Ingólfsson der Verursacher all seiner Probleme und nicht ein Kurzschluss in einer zentralen Anlage.

Hjalti schaltet das Aufnahmegerät ein, und der Direktor wiederholt, was er schon in seinem Radiointerview gesagt hat – man arbeite an der Wiederherstellung, wisse aber noch nichts über die Ursachen. Nach dem Gespräch lehnt er sich an die Schreibtischkante und mustert Hjalti forschend. Er ist ein dynamischer Typ, glatzköpfig und bärtig, mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und markanten Falten auf der hohen Stirn.

Ihnen ist doch sicher bewusst, dass alle, die hier arbeiten, Fachleute sind?, sagt er. Ingenieure, Elektrotechniker, Programmierer. Unser Job besteht darin, technische Ursachen zu ermitteln und Probleme zu lösen. Das Ding ist nur, dass wir keine Ursachen finden. Wir haben jede einzelne Leitung und jede einzelne Steckdose überprüft, und die sind alle in Ordnung. Zumindest hier an Land.

Worauf wollen Sie hinaus?

Der Direktor schüttelt den Kopf.

Das ist vertraulich, aber Sie sollten es wissen. Das bleibt also unter uns. Offiziell gibt es drei aktive Seekabel zwischen Island und der Außenwelt. Die sind alle tot. Außerdem existiert noch das alte Cantat-Kabel, das nur in Notfällen benutzt wird, was allerdings hinfällig ist, weil es auch nicht mehr funktioniert. Abgesehen davon gibt es noch ein weiteres altes Kabel, von dem nicht viele wissen, ein amerikanisches Geheimdienstkabel aus dem Kalten Krieg. Auch tot.

Hjalti merkt, wie sein Gesicht taub wird.

Alle diese Kabel funktionieren völlig unabhängig voneinander, fährt der Direktor fort. Er geht zu der gerahmten Island-Karte, die an der Wand hängt, und bedeutet ihm, näher zu treten.

Danice führt von Jütland nach Landeyjar in Südisland. Farice führt von Schottland zum Funningsfjord auf den Färöer-Inseln und von dort weiter nach Seyðisfjörður in Ostisland. Greenland Connect führt von Neufundland über Qaqortoq in Grönland nach Landeyjar. Cantat endet auf den Westmännerinseln, und das alte Spionagekabel kommt in Reykjanes an Land. Das ist hier nicht eingezeichnet.

Der Direktor blickt zu Hjalti.

Es könnte für alles eine natürliche Erklärung geben, aber das ist nicht das Einzige. Wir haben über Satellit eine Notleitung durch Norwegen. Die Kapazität reicht noch nicht einmal für Telefonate und Banküberweisungen, aber wir müssten Kontakt zum Ausland herstellen können, selbst wenn alles andere zusammenbricht.

Er schaut wieder auf die Karte.

Die Funkstation in Gufunes müsste über Kurzwelle eine ständige Verbindung zu der Station in Ballygirreen in Irland haben, wegen des internationalen Luftverkehrs, außerdem über Radardatennetze zu Stationen in London, Norwegen, Kanada und Grönland. Alle diese Verbindungen sind letzte Nacht um drei Uhr ausgefallen.

Ich verstehe nicht ganz, was wollen Sie damit sagen?

Der Direktor wirft ihm einen finsteren Blick zu. Wir haben keinen Kontakt mehr. Und wir haben keine Ahnung, warum.

~

Auf dem Weg aus dem Gebäude piept Hjaltis Smartphone. Der Zivilschutz hat aufgrund einer schweren Störung im Telekommunikationssystem sowie Ungewissheit bezüglich der Kommunikation und der Verkehrsverbindungen ins Ausland das Krisenkoordinationszentrum in Skógarhlíð mobilisiert. Es wird darauf hingewiesen, dass der Service des isländischen Wetterdienstes weitestgehend brachliegt, weil die GPS-Ortungsvorrichtungen und Satellitenverbindungen inaktiv sind.

Eine Sekunde später ruft Úlfhildur an. Die gute Nachricht ist, dass das Internet wieder funktioniert. Und die schlechte, dass es nur aufs Inland beschränkt ist, aber jetzt können wir wenigstens Meldungen ins Netz stellen. Kannst du nach Skógarhlíð fahren?

Auf dem Weg zum Krisenkoordinationszentrum macht Hjalti einen Abstecher in die Redaktion und geht ins Büro des Chefredakteurs. Der streicht sich hinter seinem unaufgeräumten Schreibtisch mit den Händen über die Wampe und wirkt nicht sonderlich erstaunt über die Infos aus der Behörde für Post und Telekommunikation.

Weißt du schon, dass es heute Morgen keine Flüge gab? Sie können keinen Kontakt mehr zu Schiffen außerhalb der isländischen Hoheitsgewässer herstellen. Es ist, als wären die gar nicht mehr da. Alle Verbindungen sind gekappt, als hätte man eine Mauer um uns errichtet.

Hast du irgendwelche Insiderinfos?, fragt Hjalti. Der Chefredakteur ist in der politischen Szene gut vernetzt, zu gut vernetzt, wie manche meinen. Auf seinem Weg über die isländischen Chefredakteurstühle hatte er auch ein kleines Intermezzo im Innenministerium und wird gelegentlich beim Mittagessen mit Politikern und Amtsträgern gesichtet, mit denen ein Chefredakteur eigentlich nicht zu Mittag essen sollte, wie manche sagen. So ein Mittagessen kriegt man schließlich nicht umsonst. Island ist ein kleines Land.

Man nimmt an, dass es sich um eine Cyberattacke handelt, sagt der Chefredakteur. Größer und besser vorbereitet als je zuvor – da müssen viele Leute zusammenarbeiten und einige der bestgesicherten Systeme der Welt hacken, damit so was gelingt. Unfassbar.

Warum sollten sie das tun?

Er zuckt mit den Achseln. Wer weiß? Der Walfang, die Russen – es könnte ein terroristischer Anschlag oder Erpressung sein. Er zögert. Falls es tatsächlich ein Cyberangriff ist. Alle anderen Möglichkeiten sind noch absurder.

Andere Möglichkeiten? Welche denn?

Der Chefredakteur schüttelt den Kopf. Niemand weiß Genaueres. Natürlich fangen die Leute an, sich alle möglichen Sachen einzubilden, aber wir hätten doch mitkriegen müssen, wenn irgendwas passiert wäre, oder? Es reißt doch nicht einfach so der Kontakt zum Rest der Welt ab.

Der Chefredakteur hat Schweiß auf der Stirn, bemüht sich aber um ein aufmunterndes Lächeln. Jetzt mal ehrlich: Es gibt keinen Grund, durchzudrehen, wenn wir mal ein paar Stunden Stromstörungen haben. Wir müssen die Bevölkerung dazu anhalten, Ruhe zu bewahren.

Auf dem Weg nach draußen läuft Hjalti Úlfhildur in die Arme, die gedankenversunken am Kaffeeautomaten lehnt. Ihre Tasse steht leer unter der Düse.

Ich weiß wirklich nicht, was wir den Leuten sagen sollen, klagt sie. Wir wissen so wenig. Wir berichten darüber, dass alles Mögliche ausgefallen ist, aber wir haben keinen Überblick, kein Gesamtbild.

Sie nimmt einen Zuckerwürfel aus der Schale und legt ihn vor sich auf den Tisch. Es gibt keine Telefonverbindung ins Ausland. Keine Mails, kein Internet. Seit letzter Nacht sind keine Flugzeuge mehr gelandet, die Fluglotsen kriegen keine Verbindung zu den Maschinen, die zuletzt gestartet sind. Die Küstenwache hat seit vergangener Nacht keine Schiffe mehr auf dem Radar gesichtet. Noch nicht mal die Hobbyfunker kriegen Kontakt zur Außenwelt, und Radiowellen kann man nicht hacken.

Sie hat sechs Zuckerwürfel ordentlich vor sich aufgereiht und betrachtet sie mit besorgter Miene. Sechs Probleme, die es zu klären gilt, sechs Rettungsleinen, die gerissen sind, sechs ungelöste Rätsel. Die Meldung nimmt in Úlfhildurs Kopf Gestalt an, und sie gefällt ihr gar nicht.

~

Die Bevölkerung ist zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt. Die Leute kommen von der Arbeit und hasten durch die Stadt, um das Nötigste zu erledigen, die Straßen füllen sich mit Autos auf dem Weg zu Banken, Tankstellen, Supermärkten oder Kindergärten, man muss Geld abheben, den Wagen auftanken, Reis und Konserven und Trockenmilch und Windeln einkaufen und die Kinder nach Hause bringen.