Blaues Blut - Ralf Kramp - E-Book

Blaues Blut E-Book

Kramp Ralf

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Beschreibung

Herbie und Julius rütteln am Stammbaum des Eifeler Landadels Von Anfang an hat Herbie Feldmann ein mulmiges Gefühl, als sein Kumpel Köbes ihn mit einer Ladung Luxus-Küchenmaschinen zweifelhafter Herkunft auf den Hillesheimer Flohmarkt schickt. Als die Polizei auftaucht, kann er sich gerade noch aus der Affäre ziehen und lernt dabei ein Trödler-Ehepaar kennen, das ihm einen Job der besonderen Art anbietet: Im Hellenthaler Land soll er helfen, eine mittelalterliche Burg leerzuräumen. Während er beginnt, Kisten und Kartons zu packen, geben sich Antikhändler, Heimatkundler und Erbschleicher die schmiedeeiserne Klinke in die Hand. Zu Herbies Überraschung ist jedoch Vico von Fahrenfels, der letzte Spross des alten Eifeler Adelsgeschlechts, noch gar nicht verblichen. Einsam und gebrochen trauert er seiner Frau hinterher, die bei einem tragischen Unglück ihr Leben verlor. Doch dieser Autounfall, so ist sich der Graf sicher, war gar keiner. Und ehe sich's Herbie versieht, ist er bei flackerndem Kerzenschein auf Mördersuche im alten Gemäuer.

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Die »Herbie Feldmann«-Krimis:

Spinner

Rabenschwarz

Der neunte Tod

Malerische Morde

Hart an der Grenze

Totentänzer

Abendlied

Aus finsterem Himmel

Mord mit Eifelblick

Ein Grab für zwei

Blaues Blut

Außerdem gehören Herbie und Julius zu den Hauptdarstellern des Gemeinschafts-Romans Acht Leichen zum Dessert, der von den acht Autoren des Krimi-Camps verfasst wurde.

Darüber hinaus vom Autor bei KBV erschienen:

Tief unterm Laub

Still und starr

… denn sterben muss David!

Kurz vor Schluss (Kriminalgeschichten)

Ein Viertelpfund Mord (Kriminalgeschichten)

Ein kaltes Haus

Nacht zusammen (Kriminalgeschichten)

Stimmen im Wald

Voll ins Schwarze (Kriminalgeschichten)

Starker Abgang (Kriminalgeschichten)

Mord und Totlach (Kriminalgeschichten)

Totholz

Schuss mit lustig (Kriminalgeschichten)

Ihr Mord, Mylord (Kriminalgeschichten)

So tot wie nie (Kriminalgeschichten)

Kurz und kopflos (Kriminalgeschichten)

Noch ein Mord, Mylord (Kriminalgeschichten)

Ralf Kramp, geb. 1963 in Euskirchen, lebt in einem alten Bauernhaus in der Eifel. Für sein Debüt Tief unterm Laub erhielt er 1996 den Förderpreis des Eifel-Literatur-Festivals. Seither erschienen zahlreiche Kriminalromane und Kurzgeschichten. In Hillesheim in der Eifel unterhält er zusammen mit seiner Frau Monika das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-Archiv« (30.000 Bände), dem »Café Sherlock«, einem Krimi-Antiquariat und der »Buchhandlung Lesezeichen«. Im Jahr 2023 wurde er mit dem Ehren-Glauser für »herausragendes Engagement für die deutschsprachige Krimiszene« ausgezeichnet. www.ralfkramp.de · www.kriminalhaus.de

Ralf Kramp

Blaues Blut

Ein Herbie-Feldmann-Krimi

2023 © KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von

© rebel - stock.adobe.com

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-611-0

E-Book-ISBN 978-3-95441-621-9

Für Zlata und Guidound ihre wunderbare Burg.

Inhalt

November

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Epilog

Danke

Zwei Augen, aus denen mein Glück gelacht,

Sie sind erblindet in ewiger Nacht.

Zwei liebe Augen, die mir gefunkelt,

Sie sind für immer vom Tod umdunkelt.

Nun wandre ich durch eine lichtlose Welt –

Nur von den zwei Augen ward sie erhellt.

(Oscar Blumenthal, Schmerzgedichte)

»Gramprophet!«, rief ich voll Zweifel,

»ob Du Vogel oder Teufel!

Bei dem ew’gen Himmel droben,

bei dem Gott, den ich verehr’ –

Künde mir, ob ich Lenoren, die hienieden ich verloren,

Wieder find’ an Edens Toren –

sie, die thront im Engelsheer –

Jene Sel’ge, die Lenoren nennt der Engel heilig Heer!«

Sprach der Rabe: »Nimmermehr!«

(Edgar Allan Poe, Der Rabe)

November

Gab es das? Ein Glücksgefühl, das sich einfach nicht mehr steigern ließ? Wenn ja, wenn das wirklich so war, dann hatte sie jetzt diese Stufe der maximalen Glückseligkeit erreicht. Heute, an diesem verregneten Herbsttag, war es unerwartet über sie gekommen.

Sie fühlte sich berauscht und fuhr durch den dunklen Abend. Das Laub umwirbelte den Wagen wie Konfetti, der Sprühregen hätte angesichts ihrer Stimmung aus einer Champagnerflasche kommen können. Sie hatte am Morgen beim Shoppen in Euskirchen ein T-Shirt gefunden, auf das in bunten Buchstaben der Spruch Ich könnte kotzen vor Glück! aufgedruckt war. Sie hatte es gleich anbehalten, und im Nachhinein erschien es ihr wie ein Omen. Es sagte auf gewöhnliche Art genau das aus, was sie seit dem Nachmittag empfand. Tatsächlich war ihr so, als wäre dies der schönste Tag ihres bisherigen Lebens.

Der Wagen ging in die Kurve. Seit sie die Autobahn bei Nettersheim verlassen hatte, schien er den Weg über die ansteigenden Straßen und zwischen den höher werdenden Eifelhügeln von allein zu finden. Sie war immer an kleine Fahrzeuge gewöhnt gewesen, an halbe Schrottkarren aus dritter oder vierter Hand, und sie hätte nie gedacht, dass sie sich so schnell an einen nagelneuen, bulligen SUV wie diesen hier gewöhnen würde. Überhaupt waren ihr all die zahllosen Dinge der letzten Monate, die ihr bisher fremd und ungewohnt vorgekommen waren, schon beinahe in Fleisch und Blut übergegangen. An alles wollte sie sich aber nicht gewöhnen. Nicht jeder Verführung würde sie nachgeben, nein. Es gab genügend Dinge, die sie sich zu ändern vorgenommen hatte.

Das Schild wies linkerhand in Richtung Unterpreth, sie setzte den Blinker und bog ab. Von Kilometer zu Kilometer war der Radioempfang immer schlechter geworden, aber es lohnte sich nicht mehr, den Sender zu wechseln. Der Regen nahm zu. Fette Tropfen trommelten auf die Windschutzscheibe. In ein paar Minuten würde sie zu Hause sein. Zu Hause – das klang warm und gemütlich. Es würde ihr noch einiges an Arbeit abfordern, bis es das wirklich war, aber sie würde es schaffen. Seit heute hatte sie einen Grund mehr. Den besten Grund, den man sich vorstellen konnte.

Ihre SMS, die sie ihm vorhin von unterwegs geschickt hatte, war eine Wiederholung dessen gewesen, was sie am Morgen gesagt hatte. Das kürzeste Wort. Sie hatte es gleich drei Mal geschrieben: Ja! Ja! Ja! Und dazwischen ein paar fröhliche Emojis. Er hatte ihr geantwortet, dass er sich unglaublich auf ihre Heimkehr freue – allerdings ohne Emojis. Die benutzte er nie, da war er dann doch ein wenig altmodisch. Alle Befürchtungen waren zerstreut. Sie verstanden sich immer noch. Ohne viele Worte und ohne ausschweifende Erklärungen. Sie wünschte, sie wären an diesem ganz besonderen Abend allein, aber er konnte diese Leute, die bei ihm waren, unmöglich wegschicken, das war ihr klar.

Sie überquerte den Bach, und der Weg wurde holpriger. Sie sang laut den Song aus dem Radio mit: »Oh, I hope you’re happy …« Der Scheibenwischer hielt den Takt nicht.

Irgendwann ging es links die Serpentinen hinauf. Der Wagen legte sich trotz seiner Größe mit leichtfüßiger Eleganz in die schmalen Haarnadelkurven. Sie zwang sich, das Tempo zu drosseln, auch wenn sie es nicht erwarten konnte, endlich anzukommen. Wenn ihr auf dieser einspurigen Strecke jemand entgegenkam, war es so gut wie unmöglich auszuweichen.

Sie tastete in den Vertiefungen der Mittelkonsole nach der Fernbedienung für das Haupttor, fand sie jedoch nicht. Vermutlich hatte sie selbst das Teil am Vorabend mit in den anderen Wagen genommen, als sie zu den Fischteichen gefahren war.

Auf dem Handy, das in der Halterung am Armaturenbrett klemmte, drückte sie eine der Schnellwahltasten. Es kam keine Verbindung zustande. Wie ärgerlich. Wahrscheinlich befand er sich in einem Raum des Gebäudes, in dem sein Handy keinen Empfang hatte. Davon gab es genug.

Sollte sie die Festnetznummer anrufen? Vielleicht war Frau Kratz noch im Haus, die hörte das Telefon, egal in welchem entlegenen Winkel sie sich befand.

Ach was. Sie beschleunigte den Wagen wieder. So schlimm würde es schon nicht werden. Wenn sie jetzt nass wurde, war das ihre eigene Schuld. Der Schirm lag im Heck des Wagens, das hatte sie beim Einladen der Einkaufstüten gesehen. Sie würde so nahe wie möglich an den Pfeiler mit der Sprechanlage heranfahren, auch wenn das selten gelang. Vielleicht konnte sie sogar den Klingelknopf drücken, ohne aussteigen zu müssen.

In diesem Moment forderte die Computerstimme seiner Mailbox sie auf, eine Nachricht zu hinterlassen.

»Ich bin’s, mein Schatz«, sagte sie, um die Gelegenheit nicht zu verschenken. »Es sind nur noch ein paar Meter, dann bin ich da. Wenn du das noch rechtzeitig hörst, drück schnell den Toröffner. Wenn nicht, leg mir doch bitte ein paar Handtücher zurecht, denn …«

Zwei grelle Lichter explodierten direkt vor ihr in der halbdunklen Schwarzweißkulisse aus wehenden Sträuchern und wild tanzenden Ästen, durch die der SUV sein Scheinwerferlicht schickte. Der Wagen kam ins Schlingern, die Reifen verloren auf dem nassen Herbstlaub den Halt. Rechts streifte sie ein Gebüsch, dessen Äste gegen die Windschutzscheibe peitschten. Ihr entfuhr ein hoher, kurzer Schrei. Instinktiv trat ihr rechter Fuß das Bremspedal so fest durch, wie es ging. »Zur Seite! Verdammte Scheiße, fahr da weg!«, schrie sie. »Setz zurück, du Idiot!«

Doch da vorne setzte niemand zurück, sondern schien im Gegenteil direkt auf sie zuzukommen. Zum Zurücksetzen war es bereits zu spät. Für sie genauso wie für den anderen.

Der SUV geriet mit den rechten Rädern auf die ansteigende Böschung, kam augenblicklich in Schieflage. Sie riss in einer fatalen, völlig falschen Reaktion das Steuer herum, und nur wenige Bruchteile von Sekunden darauf brach der Wagen zur Linken durch die Leitplanke, schoss zwischen den Bäumen hindurch den steilen Abhang runter, stieß wieder und wieder gegen Stämme und Äste, schaukelte hin und her wie ein Boot in den Fluten eines zu Tal donnernden Gebirgsbachs.

Als die Front des Wagens mit einem monströsen Knall gegen einen massiven Baumstamm krachte, zerbarst die Finsternis, der Wagen wurde herumgerissen, überschlug sich, rutschte weiter hinab und blieb schließlich auf dem unteren Stück der Zufahrtsstraße liegen. Dem Kreischen des sich verformenden Metalls folgte mit einem Mal … Stille. Eine Stille, in der nur die Natur sich ein leises Flüstern erlaubte. Regen, der von Blatt zu Blatt tropfte, Äste, die sich irgendwo weit oben knarrend hin und her wiegten, Sträucher, an denen der Wind mit tausend Fingern rupfte.

Sie hing im Sicherheitsgurt und versuchte zu atmen, aber es gelang ihr nicht. Der Schmerz verdrängte jede andere Empfindung. Sie war nicht imstande, sich zu bewegen.

Sie schrie nicht, sie konzentrierte sich auf das Atmen, das ihr schwerfiel.

Und dann hörte sie die Schritte, die eilig näherkamen. Stolpernd, strauchelnd, den Hang hinunter. Jemand lief durch das Laub auf sie zu, atmete hektisch und keuchend. Jemand hielt direkt vor ihrem zersprungenen Seitenfenster inne und bückte sich zu ihr herab.

Sie wollte etwas sagen, um Hilfe bitten, aber ihre Lunge versagte den Dienst. Sie brachte keinen Laut hervor.

Die Person, von der sie nur finstere, regenverwaschene Schemen erkennen konnte, tat nichts. Nichts, um sie zu trösten, und auch nichts, um ihr zu helfen. Nur ein Schnaufen war zu hören. Keine Hand wurde nach ihr ausgestreckt, kein beruhigendes Wort wurde gesprochen.

Da begriff sie, dass es jemand war, der sie sterben sehen wollte. Und sie begriff, dass der schönste Tag ihres Lebens gleichzeitig ihr letzter war.

I hope, you’re happy, but don’t be happier …

1. Kapitel

Herbie betrachtete das Gerät von allen Seiten und runzelte skeptisch die Stirn. »Ther – mo – ma – gic«, entzifferte er halblaut die stylische Schrift auf der stylischen Küchenmaschine, die da vor ihm auf dem fleckigen, alten Wohnzimmertisch stand. »Ist das so was Ähnliches wie ein Thermomix?«

Sein Freund Köbes wedelte bedeutungsvoll mit der Gebrauchsanweisung. »Oh ja! Und nach allem, was ich mithilfe des Online-Übersetzungsprogramms herausgefunden habe, handelt es sich sogar um eine Weiterentwicklung dieses Wundergeräts.« Er blätterte einige Seiten hin und her. »Es gibt noch gar keine deutsche Fassung hier drin. Chinesisch, Englisch und so ein paar andere Sprachen, die ich nicht zuordnen kann.«

»Noch keine deutsche Fassung?«

»Ist noch gar nicht auf dem deutschen Markt. Brandheiß, brandneu! Guck mal hier, chop up heißt doch kleinschnippeln, oder?«

Herbie zog ratlos die Stirn kraus.

»Und preserve heißt einkochen, das weiß ich. Mit dem Ding kann man sogar einkochen!«

Im Hintergrund rumpelte irgendeine martialisch klingende Filmmusik aus den Lautsprechern. Ein Kriegsfilm oder ein Science-Fiction-Blockbuster. Das Leben seines Freundes war mit einem nicht enden wollenden Soundtrack unterlegt. In den Regalen stapelten sich mehrere hundert Schallplatten und CDs.

»Kannst du mitnehmen!«, sagte Köbes jovial. »Schenk ich dir!«

Jetzt wurde Herbie erst recht skeptisch. »Wie bitte?«

»Ja wirklich, schenke ich dir!«

Herbie wusste nicht, was er sagen sollte. Eigentlich war er nur hier, weil der Auspuff seines alten Kombis so lose unter dem Wagen baumelte wie ein Meisenknödel an der Regenrinne. Und jetzt überraschte ihn Köbes mit einem derart großzügigen Geschenk!

Sein Blick wanderte durch das Wohnzimmer und blieb an einer großen, massigen Männergestalt hängen, die mit verschränkten Armen neben dem Flachbildschirm an der Wand lehnte.

Julius streckte den Bauch vor, zog die Augenbrauen in die Höhe und rümpfte spöttisch die Nase. Dass man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen sollte, weißt du ja ganz gut, und wohl auch, wohin man beim geschenkten Barsch nicht guckt. Aber wenn du mich fragst, gibt es mindestens einen Haken an der Sache.

Köbes hatte Herbies fragenden Blick bemerkt, der anscheinend ins Leere gerichtet war, aber er wusste genau, bei wem Herbie in solchen Fällen Hilfe suchte. Seit seiner Jugend litt Herbie unter der Vorstellung, an seiner Seite gebe es einen ständigen Begleiter. Einen großen, fetten Kerl mit Bart, der auf den Namen Julius hörte, und den nur er sehen und hören konnte.

»Und was sagt Julius dazu?«

Haken! Julius grunzte. Denk an meine Worte. Mindestens einer.

»Er freut sich für mich«, log Herbie.

Köbes lachte. »Der dicke Kerl hat einen Riecher für ein gutes Geschäft.«

Julius schnaufte abfällig.

Jeder, der Herbie kannte, wusste von seiner Macke namens Julius. Mitunter nahm man ihn deswegen nicht für voll, aber so wie er selbst sich im Laufe der Jahre mit der Tatsache eingerichtet hatte, dass er diesen allgegenwärtigen Begleiter hatte, hatten es die anderen auch getan. Herbie bekam man eben nur im Doppelpack.

Köbes umwickelte die klobige Küchenmaschine wieder mit der Kunststoffhülle und schob sie in die Kartonage mit den bunten asiatischen Schriftzeichen zurück.

Was willst du überhaupt mit so einem Ding anfangen? Julius kam zu ihnen herübergebummelt und legte das bärtige Kinn auf die Brust. Für die Fertigpizza kann man es wahrscheinlich ebenso wenig benutzen wie für Tütensuppen. Und was anderes habe ich dich noch nie zubereiten sehen.

»Ich könnte endlich mal ein paar neue Rezepte ausprobieren«, sinnierte Herbie und betrachtete die Bilder auf der Packung. Da wurde mit kunstvoll gezwirbelten Gemüsestreifen hantiert, und es waren köstlich gefüllte Auflaufformen und cremige Suppen abgebildet.

»Wie gesagt«, seufzte Köbes, erhob sich und klopfte ihm auf die Schulter. »Schenke ich dir.« Er ging zum Plattenspieler, wo sich der Tonarm inzwischen wieder in die Ruheposition begeben hatte. Er legte eine neue Schallplatte auf: Der Pate las Herbie auf der Hülle. »Kostet übrigens neu so um die tausendvierhundert.«

»Nicht dein Ernst!«, rief Herbie.

»Offizieller Preis laut einer chinesischen Website. Kein Wunder. Das Ding kann ja auch echt alles! Pürieren, Einkochen, Frittieren … Nur Fensterputzen kannst du damit nicht. Obwohl …« Er nahm wieder die Gebrauchsanweisung zur Hand und blätterte darin.

»Das ist aber verdammt großzügig, Köbes«, murmelte Herbie unsicher.

»Ja, nicht wahr?« Und während die ikonischen Trompetentöne des berühmten Mafia-Epos’ durch den Raum strichen, blickte Köbes aus dem Fenster, kniff die Augen ein wenig zu, spitzte die Lippen und sagte schließlich nachdenklich: »Eine Hand wäscht allerdings die andere, weißt du?«

Julius klatschte in die Hände. Haken Nummer eins!

»Was meinst du?«

»Du kannst auch was für mich tun.«

Herbie sog die Luft ein. Was konnte er tun, was einen Gegenwert von eintausendvierhundert Euro darstellte?

Plus Auspuffreparatur! Julius schien wieder einmal seine Gedanken lesen zu können.

»Wir helfen uns doch immer, oder?«

»Das schon, ja.«

Köbes winkte Herbie mit einer Handbewegung zu sich herüber. Der Blick aus dem Fenster fiel auf den erbarmungswürdig unaufgeräumten Hof des alten Bauerngehöfts. Hier, am Rande des Örtchens Zingsheim, lebte Köbes inmitten einer unüberschaubaren Ansammlung von Autos in verschiedenen Stadien des Verfalls. Manche halb ausgeschlachtet, manche nur noch als Gerippe vorhanden. Berge von Altreifen und Stapel von rostfleckigen Kofferraumdeckeln – es schien nur schwer vorstellbar, dass bei irgendeinem Fahrzeug oder Ersatzteil jemals die Wiedereingliederung in den Straßenverkehr gelingen würde.

»Da hinten, im Schuppen, kannst du den Wagen sehen?«

Herbie strengte sich an und erahnte das Heck eines dunkelgrünen Vans. War das ein Dresdner Kennzeichen? »Was ist mit dem?«

»Da drin war das Thermoding.«

»Aha, verstehe.«

Die Kunstpause, die Köbes machte, alarmierte Herbie. Nicht zu Unrecht, wie sich herausstellte.

»Da sind noch mehr davon drin.«

»Noch mehr?«

Eine weitere Pause steigerte die Dramatik der Situation. Untermalt von der Filmmusik biss sich Köbes auf die Lippen, senkte die Augenlider, atmete tief durch und machte eine vage Handbewegung.

»Ich schätze, so knapp fünfzig Stück.«

»Fünfzig …«

»Hatte noch keine Zeit, sie genau zu zählen.«

Herbie brauchte einen Moment, bis die Information ihren Weg über das Nervensystem in die zuständige Stelle seines Gehirns gefunden hatte.

Julius war wie immer schneller. Seine Mundwinkel wurden vom Anflug eines amüsierten Lächelns umspielt. Ich beginne zu ahnen, mit welcher Art Haken du es hier zu tun hast, alter Kumpel. Das ist weder ein kleiner Angelhaken noch ein harmloser Garderobenhaken, das ist eher so ein großer, gefährlich spitzer Fleischerhaken, an den man getrost ein halbes Schwein hängen kann.

»Wie um alles in der Welt kommst du an fünfzig schweineteure Küchenmaschinen aus Fernost?«

»Haste gestern Morgen vielleicht im Radio von dieser Verfolgungsjagd vorletzte Nacht gehört?«

»Ja, habe ich. Die Typen, die den Bankautomaten in Blankenheim gesprengt haben und dann mit dem Auto vor der Polizei nach Holland abgehauen sind, meinst du die?«

Köbes nickte stumm.

Bankautomaten sind ja im Moment schwer in Mode, wie es scheint. Fast jeder in der Eifel ist schon mal gesprengt worden. Wer weiß, was als Nächstes kommt. Kaugummiautomaten vielleicht, oder die mit den Kondomen.

»Es soll eine Schießerei gegeben haben, wurde gesagt. Und was hast du damit zu tun?«

»Das Auto, weißt du … Das Fluchtauto haben sie von mir.«

Die Filmmusik klang in diesem Moment besonders dramatisch.

Die Sprengung des Geldautomaten sei erfolglos verlaufen, wusste Köbes zu berichten. Dafür aber laut. Und auch zu einem ungünstigen Zeitpunkt, denn ein Streifenwagen sei ganz unerwartet genau in dem Moment von einer Ruhestörung in Dahlem zurückgekommen, als die beiden Osteuropäer sich ans Einpacken des Geldes machen wollten.

»Köbes, ich sehe noch nicht, wo die Thermodinger ins Spiel kommen.«

»Die Sache ist die: Die Burschen haben den Van offenbar kurz vorher als Fluchtfahrzeug an der Autobahnraststätte Frechen geklaut, nachdem sie den Fahrer auf der Toilette bewusstlos geschlagen haben. Den Fahrer, der polizeilich gesucht wurde, nur mal so am Rande.«

»Polizeilich gesucht? Wegen was?«

»Hehlerei. Wurde jedenfalls so bei Radio Euskirchen gemeldet.«

Herbie sah seinen Kumpel ungläubig an. Köbes zuckte mit den Schultern und bedeutete ihm mit einer beiläufigen Handbewegung, ihm zu folgen. Während sie den Hof überquerten, fuhr er mit seiner Erzählung fort: »Dass die beiden Kanaillen von da an eine Fuhre High-Tech-Geräte zweifelhafter Herkunft durch die Gegend kutschierten, wussten die wahrscheinlich selbst nicht mal. Sonst hätten die mir wohl kaum den Van und die Ladung so einfach überlassen.«

»Überlassen?«

»Ja, die haben es in Tondorf irgendwie geschafft, die Bullen abzuhängen, und da war dann wohl wieder ein schneller Fahrzeugwechsel angesagt.«

»Und da kommen die ausgerechnet zu dir?« Herbie konnte es nicht glauben.

»Klar, warum nicht. Die haben offenbar die ganzen Autos auf dem Platz gesehen.«

Julius kicherte. Von denen kein einziges so aussieht, als könnte man auch nur fünf Meter damit zurücklegen, geschweige denn ins Ausland fliehen.

»Jedenfalls standen sie plötzlich vor mir, zückten ’ne Knarre und wollten den Schlüssel von dem schwarzen BMW«, erklärte Köbes mit einem erneuten Schulterzucken. »Und jetzt steht der Van hier, und der BMW ist mit den zwei Typen ab nach Holland.«

»Klingt alles ziemlich bizarr.« Herbie ging um den Wagen herum und betrachtete ihn von allen Seiten. »Dresdner Kennzeichen. Hm. Die Karre ist ein wichtiges Beweisstück.«

»Ich weiß«, sagte Köbes gequält. »Und das macht es ja so kompliziert.«

»Wieso kompliziert?«

»Der BMW gehört einem, der nicht so richtig gut erklären kann, wo er ihn herhat.«

Tusch! Haken Nummer zwei!

Herbie begann zu begreifen. »Also kannst du die Polizei nicht rufen, weil …«

»Ganz genau!«

»Oh Mann, Köbes, was ist das wieder für ein krummes Ding?«

»Ich kann doch nichts dafür! Eigentlich sollte ich bei dem BMW nur die Zylinderkopfdichtung wechseln. Aber jetzt ist der Wagen weg, und der Typ, dem er gehört, ist total sauer. Aber wenn die Bullen rauskriegen, dass das sein Wagen ist, ist er nicht nur sauer, dann macht er mich auch noch kalt!«

»Hm, kompliziert.«

»Sag ich ja!« Von irgendwoher hatte Köbes einen öligen Lappen geholt und ging zur Seitentür des Vans. »Und deshalb müssen wir den Wagen an eine Stelle fahren, an der er garantiert gefunden wird. Da sollen sich die Bullen dann bedienen, sollen Fingerabdrücke und Speichelspuren und Hautschuppen und all so was sammeln und das ganze Ding auf links krempeln. Aber vorher …« Er betätigte den Griff, und die Tür rollte in ihrer Führung zur Seite und gab den Blick auf den Inhalt des Laderaums frei. Der ganze Wagen war randvoll mit Kartons gefüllt, auf deren Seiten dasselbe Bild einer Küchenmaschine und derselbe chinesische Buchstabensalat abgedruckt war. »Vorher zweigen wir mal schön unseren Anteil ab.«

»Unseren Anteil?« Herbie merkte, dass seine Stimme ganz schrill wurde.

»Findest du nicht, dass dein Leben manchmal ein bisschen langweilig ist, Herbert Feldmann?«

2. Kapitel

An jedem zweiten Sonntag des Monats gab es traditionell in Hillesheim einen Flohmarkt auf dem Viehmarktplatz. Bis in die Siebziger hinein waren die große, alte Halle und die davor liegende Freifläche ein Magnet für Viehhändler aus der näheren und weiteren Umgebung gewesen. Man reiste von überallher an, die Rinder im Anhänger oder an der Kette, das Geld in dicken Bündeln in die Brieftasche gestopft. Es war eine große Veranstaltung, bei der das Marktstädtchen regelmäßig aus allen Nähten platzte. Heute waren die alten Pappeln gefällt, die Halle war modernisiert und das gesamte Gelände mit großem Aufwand zum ganzjährig nutzbaren Veranstaltungsareal umgebaut worden.

Herbie hatte den Flohmarkt schon oft besucht. Immerhin lag er nur drei Straßenecken von seiner kleinen Etagenwohnung entfernt. Sein halber Haushalt am Graf-Mirbach-Platz stammte von hier und aus dem reichhaltigen Sortiment, das ihm der Sperrmüll so bot. Er hatte kein Problem damit, von gebrauchtem Geschirr zu essen oder Hemden aus zweiter Hand zu tragen. Angesichts der Tatsache, dass seine Tante Hettie aus Bad Münstereifel in ihrer Funktion als Vormund dazu bestimmt war, sein Erbe zu verwalten, blieb ihm ohnehin nichts anderes übrig. Seine Miete war gesichert, er verdiente sich ab und an mit Aushilfsjobs ein wenig dazu, und an große Sprünge hatte er sich zeit seines Lebens erst gar nicht gewöhnt.

»Ich halte dein Geld zusammen, Herbert«, knurrte seine Tante stets, wenn er wieder einmal einen erfolglosen Versuch startete, ihr eine kleine Sonderausschüttung abzuschwatzen. »Für den Tag, an dem ich einmal nicht mehr bin.«

Sie war alt, seine Tante, sehr alt, und ihm kam immer wieder der Verdacht, ihr Ableben sei in stets gleichbleibend unerreichbarer Ferne, weil sie einzig die Aussicht darauf, dass er irgendwann schließlich doch in den Genuss des Geldes kommen könnte, am Leben erhielt.

Julius zitierte in diesem Zusammenhang gerne seine abgewandelte Form einer alten Spruchweisheit: Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber deine Tante noch später.

Herbie trug also Jeans mit unmodernem Schnitt, Hemden mit leicht zerschlissenen Kragenspitzen, erhitzte seine Dosenravioli in Töpfen mit schartigen Teflonböden, las Bücher aus der Ramschkiste und war im Großen und Ganzen nicht unzufrieden. Dass sein Leben langweilig war, fand er eigentlich nicht.

Noch nie hatte er einen eigenen Stand auf dem Flohmarkt aufgebaut. Mit einer von Köbes’ Sackkarren hatte er an diesem Novembermorgen in aller Frühe die Ware hierhertransportiert. Heute war, so hatte er erfahren, der letzte Markttermin des Jahres. Es war herbstlich kühl, und der Himmel war wolkenverhangen.

Herbie hatte Glück gehabt. Die Stellflächen waren an diesem Tag nicht ganz ausgebucht, er durfte daher auch ohne Voranmeldung seinen provisorischen Verkaufstisch aufbauen. Dem Organisator, der mit seiner Umhängetasche von Stand zu Stand ging, Listen abhakte und wenn nötig auch mal mit weit gespreizten Schritten Maß nahm, zahlte er zwanzig Euro und gab sich Mühe, seinen Namen und die Adresse auf dem Formular, das er ausfüllen musste, möglichst unleserlich zu hinterlassen.

Dann errichtete er eine kleine Pyramide aus Thermomagic-Kartons auf seinem wackeligen Tapeziertisch und wartete mit in die Seiten gestemmten Händen darauf, dass jemand sich dafür interessierte.

»Jetzt geht es los, Julius. Ich habe ein verdammt gutes Gefühl. Wir werden hier ganz schnell mit ganz wenig Aufwand ein hübsches Sümmchen verdienen!« Er blickte sich auf dem Platz um. Es herrschte eine entspannte Stimmung. Das Wetter schien stabil zu bleiben, und der Duft, der bereits zu dieser frühen Stunde von der Pommesbude herüberwehte, half ihm bei der Entscheidung, in was er schon in Kürze seine Einnahmen investieren würde.

Julius hatte wie immer ein paar gute Tipps parat: Du solltest auf jeden Fall eins von den Dingern auspacken und ein bisschen Show machen. Möhren raspeln, Gurken hobeln, eine Quiche Lorraine zaubern, oder Coquilles Saint-Jacques mit karamellisiertem Chicorée oder so was.

»Ich habe weder Gurken noch Möhren noch Coqu… Dingens«, knurrte Herbie.

Dann wenigstens ein Wildkräutersüppchen. Das Zeug findest du da vorne bei den Parktaschen in jeder Ritze.

»Vor allen Dingen habe ich keinen Strom.«

Ja, nicht mal ein Auto mit Zigarettenanzünder.

Sein Auto fehlte ihm in der Tat. Das stand bei Köbes und wartete auf eine Auspuffbehandlung der Extraklasse. Andere Stände hatten Strom – woher auch immer. Nebenan blubberte eine Kaffeemaschine, gegenüber drehte sich ein Plattenspieler, und an der nächsten Ecke führte jemand gerade eine Disco-Lichtanlage vor.

Den dunkelgrünen Dresdner Van hatten Köbes und er in der Nacht auf einen Waldweg in der Nähe des Autobahnendes bei Blankenheim gefahren und dort so abgestellt, dass er erst auf den zweiten Blick entdeckt werden würde. Dieser Platz schien ihnen gleichermaßen weit genug von Zingsheim als auch von Hillesheim entfernt zu sein. Sie hatten sich dabei in Lackieranzüge gehüllt und Gummihandschuhe übergezogen, um keine Spuren zurückzulassen. Dann hatte Köbes seinen Freund mit fünfzehn ostasiatischen High-Tech-Küchengeräten nach Hillesheim gefahren. Mit weiteren fünfzehn Stück stand er selbst zu diesem Zeitpunkt auf dem Parkplatz am Euskirchener HIT-Markt, wo er ebenfalls sein Glück als Propagandist versuchte – eine Taktik zur Minimierung des Risikos, wie er betont hatte. Der Rest der Ware war in Zingsheim zwischen Autoschrott versteckt.

Was ihr da tut, du und dein Freund, der Autoschänder, ist durch und durch kriminell, wenn du mich fragst. Julius betrachtete mit gerümpfter Nase das Gerät, das Herbie aus der Pappschachtel befreite.

»Das ist ein großes Wort. Kriminell sind doch wohl eher die Typen, die den Lieferwagen gestohlen haben, oder die, denen er vorher gehört hat. Kriminell ist auch der Kerl, dessen BMW sie sich mit Waffengewalt angeeignet haben.« Herbie steckte die Laschen verschiedener Plastikteile in Ösen, die offensichtlich dafür vorgesehen waren. Passen wollte das alles aber irgendwie ganz und gar nicht.

Du bist im Begriff, Diebesgut zu verkaufen. Wie nennst du das? Legal?

»Ich habe es ja nicht gestohlen.« Julius ging ihm mit seinem Moralgeschwätz auf die Nerven. Er drehte die Bedienungsanleitung hin und her. Las man das vielleicht von rechts nach links? »Kriminell sind vor allen Dingen die Typen, die diese Anleitung fabriziert haben.«

»Was soll’n das Ding kosten?« Bei der halblaut geraunzten Frage schwangen gleich mehrere Statements mit: Erstens ist es sowieso zu teuer. Zweitens tue ich dir einen Gefallen, wenn ich dir eins von den Dingern abkaufe. Drittens nimmst du heute Abend sowieso den ganzen Rotz wieder mit nach Hause. Die kleine Frau war um die sechzig, hatte üppiges, verdächtig schwarzes Haar, eine gepiercte linke Augenbraue und steckte in einem über alle Maßen hässlichen, pinkfarbenen Jogginganzug.

Auf diese Frage war Herbie vorbereitet. »Neu kostet das Gerät normalerweise tausendvierhundert.«

Im Gesicht der Frau regte sich nichts. Gar nichts. Die Information drang offensichtlich überhaupt nicht zu ihr durch, sondern verlor sich irgendwo zwischen den Ohren und dem Gehirn. Sie starrte ihn nur an.

»Also so offiziell. Der Apparat ist fabrikneu. Ein Testlauf für den deutschen Markt. Man kann damit alles Mögliche machen: Chop up, fry, preserve … also einkochen …«

»Und was kostet das?«

»Cooking! Kochen kann man auch damit! Wie gesagt, neu eigentlich eintausendvierhundert Euro. Im Geschäft. Demnächst. So ganz offiziell.«

Sie zuckte nicht mit den Wimpern und verzog keine Miene.

»Klar, dass ich hier einen Sonderpreis mache«, versuchte sich Herbei an so etwas wie einer Verkaufsstrategie. »Wir sind ja hier nicht im Fachgeschäft.«

Das Gesicht der Frau war eine Mauer. Eine runzlige, graubraune Bruchsteinmauer. »Ja, und was kostet das?«

»Vierhundert«, hustete Herbie eine Summe aus, die ihm akzeptabel erschien.

Es dauerte eine Weile, bevor sich in dem Gesicht jenseits des Verkaufstischs endlich etwas tat. Die Augen verengten sich, um die Mundwinkel zuckte es, und dann platzte ein lautes, brüllendes Lachen aus ihr heraus. Heiser und dröhnend, wie ein Motorradauspuff beim Kaltstart.

Nervös blickte sich Herbie nach rechts und links um. Alle Menschen im Umkreis von hundert Metern starrten zu ihnen herüber.

»Das ist ein Preisvorschlag«, rief er schnell. »Wie gesagt, neu kostet das Ding tausendvierhundert, und …«

»Du bist auf dem Flohmarkt, du Heini!«, röhrte die Alte. »Der Eifel-Waldi im Fernsehen fängt wenigstens immer mit achtzig Euro an!«

»Aber man kann damit choppen, kochen, preserve … also einmachen, und …«

»Für ’nen Fuffi nehm ich das Ding mit.«

»Fünf… Also bitte, wir mögen zwar auf dem Flohmarkt sein, und man kann hier durchaus ein bisschen verhandeln, aber das Ding hier ist immerhin nagelneu. Zweihundert!«

»Ha, dann träum weiter, du Pfeife!« Sie wandte sich mit einem heiser rasselnden Lachen ab und ging ihrer Wege.

Julius grunzte amüsiert. Ich sage es ja immer: Der Eifel-Waldi macht die Preise kaputt!

Eine Weile lang geschah nichts. Herbie überlegte, ob er sich irgendwo an eine Stromquelle dranhängen konnte. Ohne Vorführung würde es schwer werden. Ringsumher herrschte geschäftiges Treiben. Winterklamotten wurden anprobiert, Bücherkisten durchwühlt, Porzellan begutachtet.

Er seufzte tief und vergrub die Hände in den Taschen seines Parkas.

»Entschuldigung, könnten Sie uns wohl mal kurz helfen«, kam eine Stimme von links. Es klang ein wenig verzweifelt.

Herbie hatte das ältere Pärchen vom Nachbarstand bisher kaum wahrgenommen. Er war untersetzt und steckte in einer graugrünen Cordweste. Über den Goldrand seiner zierlichen Lesebrille warf er Herbie einen flehentlichen Blick zu. Er hatte einen eisgrauen Walross-Schnauzbart und eine wie poliert glänzende Stirnglatze. »Meinem Urselchen geht es heute nicht so gut«, sagte er und wedelte der molligen Frau an seiner Seite mit einem karierten Taschentuch Luft zu. »Der Kreislauf.«

»Ach Gerhardchen, es geht doch schon wieder«, seufzte sie und flatterte mit den getuschten Wimpern. »Ich trinke eine Cola, und dann kommt der Kreislauf wieder in Schwung.«

»Ach ja, ich mache mir eben immer zu viele Sorgen«, erklärte ihr Mann mit einem schiefen Lächeln. »Letzte Woche ist sie von einer der letzten Wespen gestochen worden. Und am Dienstag waren plötzlich ihre linken Zehen taub. Ich denke dann immer gleich das Schlimmste.« Er wandte sich zu Herbie um. »Ich werde sie mal besser zum Auto bringen. Das steht da vorne. Wir waren heute Morgen ein bisschen spät dran und kamen nicht mehr zwischen den Ständen durch. Könnten Sie wohl in der Zwischenzeit einen Blick auf unseren Stand werfen?«

Der arme Mann ahnt ja nicht, dass er sich gerade mit einem skrupellosen Ganoven einlässt. Julius spitzte spöttisch die Lippen.

»Aber selbstverständlich.« Herbie nickte beflissen. »Ich könnte an der Imbissbude eine Cola holen.«

Der Mann wehrte das mit einer Handbewegung ab und half seiner Frau aus dem Klappstuhl hoch. An ihren Handgelenken klimperten zahlreiche Armreifen, um ihren kurzen, dicken Hals schwangen mehrere Korallenketten. Der Schweiß hatte ihr die kurzen, kastanienbraunen Löckchen auf die Stirn geklebt. Herbie trat näher heran und machte einen unbeholfenen Versuch, ihr unter den Arm zu fassen.

»Das geht schon, junger Mann«, sagte ihr Gatte. »Ich bin gleich wieder zurück.«

Die Frau schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Das ist wirklich sehr, sehr nett von Ihnen, mein Junge.«

Langsam setzten sie sich in Bewegung. Der Mann rief ihm über die Schulter zu: »Nehmen Sie sich eine Tasse Tee aus der Thermoskanne!«

Herbie ließ den Blick über den Stand schweifen, der in jeder Hinsicht exakt das Gegenteil von seinem eigenen darstellte. Alles in der Auslage glitzerte und glänzte, alles war alt und sah überaus kostbar aus. Zierliche Figuren aus Porzellan standen neben messingfarbenen Zuckerzangen, Perlenketten waren neben goldglänzenden Broschen auf dem mit weinrotem Samt bedeckten Tisch drapiert. Mehrere alte Kupferstiche und historische Landkarten wurden kunstvoll gerahmt auf kleinen, hölzernen Stellagen präsentiert. Die Auslage wirkte edel und ausgesucht. Auf einem kleinen Schild las er: Antiquitäten Moll, Hellenthal – Schmuck, Kuriosa, Militaria – Ankauf und Wohnungsauflösungen. Er hob eine kleine Glaskaraffe hoch. Das Material war hauchdünn und mit filigranen Goldornamenten geschmückt.

Gib schon zu, dass es dich in den Fingern juckt, du Strauchdieb. Greif zu, nimm dir, was dir nicht gehört! Los, die Gelegenheit ist günstig!

»Du redest dummes Zeug, Julius.« Herbie sah noch einmal zu den beiden Alten hinüber, die langsam auf einen rostigen, türkisfarbenen Transporter zuwackelten. Der Mann leitete seine Frau fürsorglich, indem er sie beim Ellenbogen fasste. »Ich bin doch kein Dieb.«

Und dann sah er das Polizeifahrzeug.

Es stand in der Nähe der Elektrozapfstellen. Die Scheiben waren heruntergelassen, und soweit er das erkennen konnte, saß niemand darin. Panisch ließ er den Blick hin und her über den Platz springen.

Als er schließlich die junge Frau und den großgewachsenen Mann in der blau-schwarzen Uniform entdeckte, hatten sie schon fast seinen Tapeziertisch mit den Thermomagic-Kartons erreicht.

Instinktiv ging Herbie hinter dem Verkaufstisch des alten Pärchens in die Knie.

Na, das hat ja nicht lange gedauert. Julius beugte sich breit grinsend zu ihm herunter. Eine bemerkenswert kurze Hehlerkarriere, möchte ich sagen.

»Ach Quatsch«, zischte Herbie. »Die sind zufällig hier. Selbst wenn die den Van schon gefunden haben, wie sollen sie denn so schnell darauf kommen, dass ein paar von den Apparaten hier auf dem Flohmarkt stehen?«

Na, was meinst du wohl? Dein feiner Freund wird dich verpfiffen haben.

In diesem Moment vibrierte Herbies Handy, Köbes schickte eine SMS: »Schon 1 verkauft! 50 €. Lockangebot!« Dahinter grinsten drei gelbe Smileys.

»Wem gehört denn der Stand hier?« Die Stimme der Polizistin war deutlich zu hören.

Herbie tat so, als wäre er unter der Verkaufstheke gerade sehr intensiv mit dem Sortieren des Verpackungsmaterials beschäftigt. Er glättete Zeitungspapier und faltete Plastiktüten und spähte währenddessen angestrengt durch einen kleinen Spalt zwischen Tischgestänge und Samttuch zu seinem eigenen Stand hinüber, wo die Polizeibeamten jetzt interessiert das Thermomagic-Angebot begutachteten. Die junge Frau wendete einen der Kartons in ihren Händen. »Ja klar, die Dinger können alles«, erklärte sie ihrem Kollegen. »Garantiert hat die Ellen Freude daran. Die sagt, man kann sehr gut Eierlikör damit machen.«

»Auch frittieren? Ellen frittiert alles Mögliche.«

Oh ja, und auch choppen und preserven kann man damit. Julius amüsierte sich prächtig. Wie gerne würde ich mit denen jetzt ein kleines, freundliches Verkaufsgespräch führen.

Plötzlich kam die Stimme des Polizeibeamten von oben, und Herbie fuhr zusammen. »Hallo Sie, können Sie mir sagen, wem der Stand nebenan gehört?«

Herbie schoss das Blut in den Kopf. Er raschelte nervös mit dem Verpackungsmaterial und stammelte: »Stand? Nebenan? Äh, das ist so ein großer Dicker … So ein aufgeblasener Typ mit Bart, im Tweedjackett.«

He, mach dich nicht über mich lustig, Freundchen!

»Und wo ist der?« Der Polizist sah sich suchend um.

»Toilette«, stieß Herbie hervor, ohne aufzublicken. In seinen Schenkeln breitete sich ein Kribbeln aus. Wenn er sich nicht bald aufrichtete, würden ihm die Beine einschlafen.

»Der ist zur Toilette«, rief der Polizist seiner Kollegin zu. Und dann wandte er sich wieder an Herbie. »Sie, hallo, Sie da unten, was kosten die Dinger denn? Haben Sie da zufällig eine Ahnung?«

»Fang mal mit achtzig Euro an!«, rief die Polizistin lachend.

»Achtzig ist okay«, ächzte Herbie. Seine Füße brannten mittlerweile wie Feuer.

»Echt, achtzig? Die kosten doch neu sicher …« Ein Hauch von Skepsis schwang plötzlich in der Stimme mit. »Sind Sie sich sicher? Achtzig?«

»Ja, ganz sicher.« Herbie biss die Zähne zusammen.

»Ist der Mann denn schon lange auf der Toilette? Sagen Sie mal, was machen Sie denn die ganze Zeit da unten?«

»Ist alles auf Chinesisch und Englisch«, rief die Kollegin. »Frag mal nach der Bedienungsanleitung!«

»Ist da auch eine deutsche Bedienungsanleitung bei? He, können Sie mich mal ansehen, bitte!«

»Sechzig«, schnaufte Herbie. »Nehmen Sie das Teil für sechzig, weil keine deutsche … Fünfzig! Für fünfzig können Sie es haben!«

»Würden Sie bitte mal aufstehen!«

In diesem Augenblick knasterte der Lautsprecher des Polizeifunkgeräts. »Polizeiobermeister Gressmann, ich höre.«

Eine stark verzerrte Stimme meldete einen Verkehrsunfall am Kreisel in Walsdorf.

»Geht klar, sind in fünf Minuten da!«, rief der Polizist, und an seine Kollegin gewandt: »Wir kommen gleich noch mal her. In Walsdorf hat es gescheppert.«

Während sie sich mit schnellen Schritten entfernten, schoss Herbie in die Höhe, und im selben Moment, in dem das Blut wieder durch seine Beine zirkulierte, wurde ihm schwindelig.

»Danke, mein Junge, danke dir!«, rief der Mann, der sich jetzt wieder von hinten näherte. »Fein, dass du aufgepasst hast.« Er klopfte ihm mit jovialer Geste auf die Schulter. »Wir werden langsam alt, weißt du. In letzter Zeit haben wir uns ein bisschen übernommen.«

Herbie lächelte säuerlich. »Nicht der Rede wert. Ich helfe gern. Hoffentlich geht es Ihrer Frau bald besser.«

Der Alte reckte ihm die Rechte entgegen. »Ich bin der Onkel Moll. Onkel und Tante Moll, so nennt man meine Ursel und mich überall. Wir haben dich hier noch nie gesehen.«

Und man wird ihn hier so schnell auch nicht wiedersehen.

»Ich bin noch nicht lange im Geschäft«, sagte Herbie säuerlich und überlegte, wie er möglichst schnell mit seinen Kartons verschwinden konnte, bevor die Polizisten zurückkehrten. Er deutete vage auf die Auslage der Molls. »An solche kostbaren Sachen traue ich mich noch nicht ran.«

Onkel Moll blickte zu der Karton-Pyramide hinüber. »Hm, ach so, Neuware. Ja, da macht man heute ’ne schnelle Mark mit.« Das klang ein wenig geringschätzig.

Die Frau im pinkfarbenen Jogginganzug hatte unterdessen wieder Position vor Herbies Stand bezogen. »So, pass mal auf, Muchacho, ich hab mir das jetzt noch mal überlegt. Also mein letztes Angebot sind zwanzig Euro.«

Herbie seufzte ergeben und trottete zu ihr hinüber. »Okay, dann habe ich wenigstens die Standgebühr wieder raus.« Er reichte ihr einen der Kartons.

»Der kann doch auch Eierlikör, oder?«

»Aber sicher.«

Wenige Minuten später stiefelte die Kundin mit dem Schnäppchen des Jahrhunderts davon.

Und als Herbie den einzelnen Schein in sein Portemonnaie schob, hörte er plötzlich die Stimme von Onkel Moll hinter sich: »Sag mal, Junge, hast du in den nächsten Tagen vielleicht ein bisschen Zeit, der Tante Moll und mir zu helfen? Wir haben da nämlich einen größeren Auftrag, bei dem wir noch einen brauchen könnten, der mal mit anpackt. Gibt fünfzehn Euro die Stunde.« Er reichte ihm eine Visitenkarte mit einer Hellenthaler Firmenadresse.

Herbie betrachtete sie und nickte zaghaft. »Zeit hätte ich schon.«

»Ja, fein. Also kommenden Donnerstag?«

Und an allen anderen Tagen bis 2050 auch.

3. Kapitel

Um wie vereinbart um zehn Uhr bei den Molls zu sein, hatte Herbie am Vorabend den Zeiger seines Weckers nur mit Mühe auf die ungewohnte Position gedreht bekommen. Irgendwas klemmte zwischen Mitternacht und elf Uhr in der Mechanik.

Es waren nur knapp vierzig Kilometer Luftlinie von Hillesheim nach Hellenthal, und mit dem Auto legte man diese Strecke locker in einer Dreiviertelstunde zurück. Wer allerdings nicht im Besitz eines fahrbaren Untersatzes, sondern den öffentlichen Verkehrsmitteln ausgeliefert war, der machte die schmerzhafte Erfahrung, dass diese nun mal keinen direkten Weg kannten. Man passierte Dörfer und überquerte Flüsse, deren Namen man nie zuvor gehört hatte.

Herbies Wagen befand sich noch immer bei Köbes, denn er hatte sich noch nicht dazu durchringen können, seinem Freund die Pleite mit den Küchengeräten zu beichten. Die Kartons stapelten sich zurzeit auf dem Treppenabsatz vor seiner Wohnung, und seine Vermieter, das alte Ehepaar Schnichels, hatte ihm mit Nachdruck zu verstehen gegeben, dass das kein Dauerzustand werden dürfe. Er hatte ihnen eines der Geräte geschenkt, um sie zu besänftigen.

Köbes hatte mit seinen Verkäufen offenbar mehr Glück gehabt. Wenn es stimmte, was er ihm geschrieben hatte, war er am Sonntag innerhalb weniger Stunden acht Küchenmaschinen losgeworden. Herbie hatte zurückgeschrieben: Toll, und auf die Frage Und du? hatte er dann nicht mehr geantwortet. Auch nicht auf Wie viele?, auf Du etwa mehr? oder auf Sag doch mal. Sollte Köbes doch denken, er wäre mit dem ganzen Geld auf die Malediven abgehauen. Er hätte sich niemals auf dieses krumme Ding einlassen dürfen.

Du hättest dich niemals auf dieses krumme Ding einlassen dürfen, sagte ihm auch Julius mindestens dreimal am Tag. Sein Begleiter liebte solche verfahrenen Situationen, aus denen es für Herbie keinen Ausweg mehr zu geben schien.

Eingeklemmt zwischen krakeelenden Schulkindern zockelte er jetzt noch vor Tagesanbruch im überfüllten Bus durch die Eifellandschaft, deren Konturen sich erst nach und nach aus der Finsternis des Herbstmorgens schälten.