BLAUWALE BEI MITTERNACHT - Inka Mareila - E-Book

BLAUWALE BEI MITTERNACHT E-Book

Inka Mareila

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Beschreibung

Nach einem Schicksalsschlag ist Henri nicht länger der Alte: Zerrissen zwischen Wahn und Wirklichkeit erschafft er eine Welt, der sich seine beiden Kinder zwangsläufig fügen, die sie aber kaum zu ertragen vermögen. Der sechzehnjährige Moritz flüchtet sich schließlich in ein selbstzerstörerisches Ablenkungsmanöver: Die Blue Whale-Challenge, ein tödliches Spiel aus dem Darknet. Als sich Henri in die temperamentvolle Mexikanerin Najla verliebt, droht sein Lügenkonstrukt einzustürzen, was er um jeden Preis verhindern möchte. Für Najla, die Henris Söhne bereits ins Herz geschlossen hat, ist es längst zu spät, sich von ihrem unheimlichen Liebhaber zu trennen. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. BLAUWALE BEI MITTERNACHT – der neueste Thriller von Inka Mareila, der Autorin von BROKEN AMERICA und DIE HOFFNUNG EINES KINDES.

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INKA MAREILA

 

Blauwale bei Mitternacht

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autorin 

 

BLAUWALE BEI MITTERNACHT 

PROLOG 

HENRI 

BLAUWALE BEI MITTERNACHT 

NAJLA 

MORITZ 

NAJLA 

MORITZ 

DER NÄCHSTE TAG – NAJLA 

MORITZ 

NAJLA 

MORITZ – Viele Stunden später/kurz nach Mitternacht –  

MORITZ – DER NÄCHSTE TAG 

NAJLA 

DIENSTAGMORGEN 

DER NÄCHSTE TAG 

MORITZ 

NAJLA 

HENRI 

NAJLA 

Donnerstagabend – Valerias Aufführung 

MORITZ 

IM WALD - NAJLA 

MORITZ 

NAJLA 

MORITZ 

NAJLA 

EIN BLAUWAL BEI MITTERNACHT 

MORITZ 

NAJLA 

MORITZ 

NAJLA 

EINIGE WOCHEN SPÄTER 

EPILOG 

 

Das Buch

 

 

Nach einem Schicksalsschlag ist Henri nicht länger der Alte: Zerrissen zwischen Wahn und Wirklichkeit erschafft er eine Welt, der sich seine beiden Kinder zwangsläufig fügen, die sie aber kaum zu ertragen vermögen. Der sechzehnjährige Moritz flüchtet sich schließlich in ein selbstzerstörerisches Ablenkungsmanöver: Die Blue Whale-Challenge, ein tödliches Spiel aus dem Darknet. Als sich Henri in die temperamentvolle Mexikanerin Najla verliebt, droht sein Lügenkonstrukt einzustürzen, was er um jeden Preis verhindern möchte.

Für Najla, die Henris Söhne bereits ins Herz geschlossen hat, ist es längst zu spät, sich von ihrem unheimlichen Liebhaber zu trennen.

Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

 

BLAUWALE BEI MITTERNACHT – der neueste Thriller von Inka Mareila, der Autorin von BROKEN AMERICA und DIE HOFFNUNG EINES KINDES.

Die Autorin

 

Inka Mareila, Jahrgang 1981.

 

Inka Mareila ist eine deutsche Schriftstellerin, die ihre Karriere im Jahr 2013 mit Science-Fiction- und Horror-Romanen begann.

Ihr Debüt – neben fünf Bänden für die Zombie-Serie Violent Earth - war die dystopische SF-Trilogie Fynomenon.

Mehrfach wurde sie in den Folgejahren für den Vincent Preis nominiert: 2013 für die Kurzgeschichte Gramla, 2014 für Mordsucht GmbH und Co. KG (vier Horror-Märchen) und schließlich 2015 für den Mystery-Thriller Fleischfang – Parademonium.

2015 folgten die Romane Gladium - Schattenlicht und Gladium - Die Cyborg-Dämonin sowie das Drama Lila Floh in Lavendel - Das Rätsel des stummen Kindes. Für Phillip Schmidts SF-Serie Schattengewächse schrieb sie 2016 den Roman Tod und Spiele.

Außergewöhnliche Wege beschritt sie anschließend mit dem Kinderbuch/Spendenprojekt Die Superalma gibt es wirklich - ein Buch, gemeinsam verfasst mit neun Kindern und deren alleinerziehenden Müttern.

Nach der Veröffentlichung des modernen Märchens Milans bunte Flügel (2016) entschied sie sich für eine neue thematische Richtung; insbesondere mit ihren frühen Horror-Geschichten konnte sie sich nicht länger identifizieren. Sie trennte sich von ihrem bisherigen Verlag, um schriftstellerisch mehr Freiheiten zu haben und wagte einen Neustart.

Seither widmet sie sich vorrangig gesellschaftskritischen Texten, verfasst unerschrocken Texte zu Tabu-Themen - beispielhaft umgesetzt in ihrem Thriller Die Hoffnung eines Kindes, der ebenfalls im Apex-Verlag erschienen ist.

BLAUWALE BEI MITTERNACHT

 

 

 

 

 

 

Für meine Liebsten, die auch daran glauben,

dass Liebe stärker ist...

  PROLOG

 

  HENRI

Im Schatten der Bienenweiden sowie mächtiger Kastanienbäume, die hier Wege und Straßen säumen, bleibt die Hitze erträglich. Wir kommen gerade vom Eis essen am Mainufer – haben uns heute freigenommen, um nach langer Zeit endlich wieder ungestört unsere Zweisamkeit zu genießen. Ein entspannter Vormittag ohne Arbeit und Kinder.  

Angeregt unterhalten wir uns über unseren ältesten Sohn Moritz.  

Meine Frau Josephine ist guter Dinge, denn seine Schulnoten verbessern sich endlich. Dazu freut sie sich darauf, unseren Jüngsten gleich vom Kindergarten abzuholen.  

Sie merkt gar nicht, wie ich langsamer werde. Josie plappert einfach weiter, während sie wild gestikuliert. Ihr feuriges Temperament passt so gar nicht zu ihren nordischen Genen, überlege ich schmunzelnd. 

Verschmitzt betrachte ich ihren Po. In einer ihrer Gesäßtaschen steckt ein kleiner Wildblumen-Strauß – von mir gepflückt, nachdem wir vorhin wie frisch verliebte Jugendliche durchs hohe Gras gerollt waren. 

Schließlich bleiben wir an einer Ampel stehen. Josie lässt mich wissen, was sie heute noch alles erledigen will. Neben den üblichen Hausarbeiten möchte sie ein neues Cupcake-Rezept ausprobieren, außerdem wird es wieder Zeit, ihrer Brieffreundin aus Amsterdam eine Nachricht zu schreiben.  

Gutgelaunt blicke ich die dicht bewachsene Allee herunter. Heute ist kaum etwas los – die Frankfurter ziehen bei der Hitze Langsamkeit vor.  

Ich atme tief ein. Vögel zwitschern vergnügt, und eine angenehme Brise weht durch die satten Bäume, streift mein Gesicht. 

»Ach so, und ich hatte gestern völlig vergessen, das Verlängerungskabel zu kaufen. Ich gehe also später noch in den Elektromarkt. Und bringst du Timmy morgen zum Logopäden? Weil ich müsste um die Uhrzeit doch zum...« 

Ich weiß nicht, wieso sie plötzlich losläuft, immerhin zeigt die Ampel noch rot. Wahrscheinlich ist es pure Unaufmerksamkeit sowie die Gewissheit, dass diese Straße ausschließlich von überwiegend betagten Anwohnern genutzt wird. Dazu kommt die Ablenkung durch unser Gespräch. Und nicht zu vergessen: Auch die betäubende Erschöpfung verlangt ihren Tribut. Ich bin an diesem Tag selbst übermüdet, denn letzte Nacht war unser Jüngster viel am Weinen, hatte wieder Albträume.  

Mit den Händen in den Hosentaschen erinnere ich sie: »Schatz, auch wenn die Straße frei ist...« Sie dreht sich verwundert zu mir um. »Hm?« 

»Die Ampel«, bemerke ich lächelnd. Da schaut sie nach oben und grinst belustigt, weil ihr häufig derartig dumme Dinge passieren. Sie ist ein liebenswerter Tollpatsch.  

Just in dem Moment zucke ich zusammen. 

Wie aus dem Nichts erschreckt mich ein markerschütterndes Hupen, dazu rattert ein kräftiger Motor – seitlich nähert sich ein Ungetüm... Bremsen kreischen und Reifen quietschen, doch es ist zu spät. Meine Welt versinkt im Schatten eines LKWs, taucht mich für Sekunden in eine bedrohliche Dunkelheit.  

Ohne zu realisieren, was sich direkt vor meinen Augen abspielt, spüre ich einen entsetzlich mächtigen Stich, fühle, wie mein Leben zerreißt.

Vom Kühlergrill eines Lkws erfasst, verschwindet Josie schlagartig aus meinem Blickfeld, wird mir mit Gewalt aus dem Herzen gerissen.

Ich fasse mir an die Brust. Der Schmerz macht mich schlagartig sterbenskrank.

Beim Schlingern gerät der Koloss in Schieflage und kippt beinahe. Alles geschieht so unfassbar schnell, dennoch entgeht mir nichts, als würde die Zeit für mich anders laufen.

Josies Körper fliegt meterweit, schlägt dumpf wie der knochenlose Leib einer Puppe auf.

Es ist, als wäre nie Leben in ihr gewesen.

Da liegt sie... auf dem heißen Asphalt, über dem die Luft flimmert, und in mir pocht der kreischende Wunsch, jener Anblick wäre bloß eine Täuschung.

 

Bitte nicht, bitte nicht...

Bitte nicht!

 

Ich sehe mich um, als hätte ich das von eben nicht beobachtet. Doch es ist so. Ist wirklich so. Bei mir steht keine Josephine mehr.

Wildblumen liegen auf der Straße wie kleine Wegweiser. Grelle Farbtupfer. Und der Tod.

Der LKW ist zum Stehen gekommen. Wer aus der Fahrerkabine aussteigt und aufgebracht herumbrüllt, ist mir egal. Ich höre nur noch, wie jemand schimpft, wer hier den Lieferwagen so bescheuert vor dem Ampelübergang geparkt hat, und die Worte »Scheiß Navi!«. Der Fahrer kickt gegen den Kotflügel, schimpft weiter. Ich renne, will zu meiner Josie, doch als ich sie deutlicher erkennen kann, stoppe ich fassungslos.

Keine Fata Morgana.

Mit offenem Mund starre ich in ihr entstelltes Gesicht.

Blut und Hautfetzen, ihr Schädel ist deformiert. An ihren zerstörten Ohren hängen ihre Lieblingsohrringe – mein Geschenk zum fünfzehnten Hochzeitstag.

Ihre feingliedrige Halskette hat sich tief ins Fleisch geschnitten. Josie liebte meine Schmuckgeschenke.  

Wie eine glänzende Lackschicht hüllt ihr sämiges Blut sie ein, bedeckt ihre furchterfüllten Augen und ihr Strahlen.

 

Ihr schönes Gesicht... es wurde ihr genommen. 

Wie eine Fremde.

Nein, sie ist es wirklich... Es ist Josie. 

 

»Ich bin bei dir«, flüstere ich. »Keine Angst.« Doch bewegen kann ich mich nicht mehr – dabei wünscht sie sich, dass ich ihre Hand halte. Ich weiß es, kann ihr Verlangen spüren. Aber da ist keine Kraft in mir.

Der Anblick ist unerträglich.

Unerträglich. 

Kein Geräusch mehr.

Allein das Blut pulsiert laut in meinen Ohren. Bin betäubt und erstarrt, fühle mich wie ein Sterbender.

Ich sehe zu, wie sich ihr Arm mechanisch streckt, und auch ihr Zeigefinger, der als einziger an ihrer Hand verblieben ist und schließlich auf mich zeigt – als wäre ich der Schuldige.

 

Wo ist ihr Ehering?

Ist nicht wichtig, nicht wichtig... den kann ich nachher suchen...

 

Auch ihre Beine regen sich unnatürlich. Sie krampft.

Aus ihrem Mund schallt ein gurgelnder Laut, ein letztes brodelndes Stöhnen und ein Schrei, den nur ich hören kann.

Meine Augen fangen Feuer, sie brennen...

 

Ich verbrenne.

 

Und auf einmal, schlagartig ermattet jedes Glied ihres Körpers.  

Der Tod hat sie geküsst, und ich weiß, es ist besser so, denn ihre Erleichterung streift mich wie ein Windhauch.  

Sie nimmt Abschied.

Keine Schmerzen mehr.

 

Geschafft.

Ich liebe dich.

Ich dich auch. Ewig. Wie versprochen.

 

Menschen versammeln sich um die geliebte Mutter meiner Kinder. Erst jetzt öffnen sich meine Ohren wieder und vernehmen einen Sturm aus Stimmen. Handys schweben gleich blitzenden Drohnen über Josies Körper.  

Im Tod wird sie ein Objekt der Neugier, eine blutende Sensation, und ich frage mich, wo plötzlich all die Menschen herkommen. Wie Ameisen sind sie aus den Löchern gekrochen und versteinern mit entsetzten Gesichtern, schlagen die Hände über den aufgerissenen Mündern zusammen, schreien auf, drehen sich angewidert weg. 

Ich bin nurmehr ein verstummter Beobachter, bin kein Mensch mehr, eher ein Geist – gelähmt in einem atemlosen Schockzustand.  

Aus Josies Mund sprudelt ihr Leben. Es ergießt sich auf den schmutzigen Teer und strömt neben ihr bergab. Das kleine Rinnsal kommt meinen Schuhen näher – braune Wildledersandalen... Vor zwei Tagen war ich noch beim Schuster. Josie beurteilte mein Faible für hochwertiges Schuhwerk immer als übertriebene Verrücktheit... –, noch etwa einen halben Meter.  

Nur noch Zentimeter...

 

Jäh fallen meine Gedanken in ein tiefes Loch. Irgendwas in mir führt plötzlich ein Eigenleben, zieht sich zurück und reist in die Welt der Erinnerungen.  

Vergangene Szenen rasen an mir vorbei.

 

Josephine unter der Trauerweide in unserem Garten.

Das strahlende Glück in ihr, das uns beide warm umhüllte, damals, als sie endlich das erste Mal schwanger wurde...  

... Und die kostbaren gemeinsamen Augenblicke, als sie Moritz und Timmy gebar.

Wie wir uns am Grab ihrer Mutter hielten und beschlossen, uns ab sofort gegenseitig Mutter, Vater, Licht und Freude, ja alles zu sein.  

Ihren süßen Duft, ihre liebevollen Hände. 

Josies samtene Lippen.

Nie wieder...

 

Ist das die Strafe, die ich schon so lange befürchtet habe? Wegen der Sache mit meinem Bruder...?  

Ja, bestimmt. Es war falsch... Was ich getan habe, war so widerlich, so schmutzig.

Ich verdiene es nicht anders.  

 Das ist die Strafe.

Ich bleibe in dem schönen Teil meiner Vergangenheit, denke an unsere Hochzeit. Die Sonne von damals schien heißer.

Die Zukunft gehört uns nicht mehr, gehört jetzt den anderen.

 

Zwei Männer beugen sich zu Josie hinunter, machen einen fachmännischen Eindruck, sagen wichtige Dinge. Ihre besorgten Gesichter und hektischen Bewegungen veranlassen mich, die Luft erneut anzuhalten.

Irgendwer legt eine Decke über sie.

Meine Liebe verschwindet unter ozeanblauem Jacquardstoff.

 

Unsere Verbundenheit... sie kann doch nicht einfach verschwunden sein.

 

Und wieder sucht mein Blick nach dem Ehering. Er ist fort.

Es ist wirklich so. Sie lebt nicht mehr.

Meine Frau, mit der ich seit neunzehn glücklichen Jahren verheiratet bin, ist einfach weg, verschwunden, von einer Sekunde auf die andere.

 

Wie soll ich das meinen Kindern erklären? 

 

Das Durcheinander um Josie wird größer. Mich stupst jemand an, doch ich verstehe ihn nicht. Kräftige Hände umgreifen meine Oberarme. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.

 

Ist das real? Wirklich?  

Unmöglich... 

 

Meine Beine machen sich selbstständig, ich weiche zurück. Immer weiter. Schritt für Schritt.  

Das Entsetzen steht wie ein Berg vor mir.

Diese Bilder, diese Welt... Das alles ist zu zerreißend und unwirklich. Der Anblick zermalmt mich geradezu, macht mein Herz zu einer kraftlosen Masse.  

 

Unerträglich.  

Unerträglich... 

 

Ich drehe mich um, renne weg wie ein Feigling, weit weg von meinem Albtraum, aus dem ich keinen Ausweg finde... ihn niemals finden werde.

 

 

 

 

  BLAUWALE BEI MITTERNACHT

  NAJLA

Endlich ist es so weit!

Endlich ein Date mit einem gestandenen Mann, der all das mitzubringen scheint, was ich mir immer erhofft habe. Henri ist herzlich, lustig, fantasievoll, nur fünf Jahre älter als ich – 46 – dazu gutaussehend und hochgewachsen, mit markantem Ausdruck. Was ich bisher auf den Fotos des Dating-Portals gesehen und am Telefon von ihm gehört habe, begeistert mich.

Und seine beiden Söhne, Moritz und Timmy, freuen sich auch über unsere Bekanntschaft, wie er mir vorhin, während unseres Telefonats anvertraute; die beiden erwartet heute Abend eine sturmfreie Bude.

Ich stehe vor meinem großen Spiegel im Schlafzimmer, betrachte meine kräftigen, welligen Haare und meine vollen rotgeschminkten Lippen. Ich liebe meine haselnussbraunen Augen.

Meine Freundinnen wundern sich immer, wenn ich sage, mich würde nichts an mir stören, weil ja jede Frau an sich etwas auszusetzen hätte. Aber ich bin da ziemlich entspannt, vielleicht mehr als ich sein dürfte... Bisher hat sich noch keiner meiner Bekannten über mein Aussehen beschwert, also wird es Henri auch nicht tun. Ich muss allerdings zugeben, ins Dating-Portal Aufnahmen eingestellt zu haben, die bereits drei Jahre alt sind. Damals hatte ich noch nicht diese Narbe auf meiner Stirn, die mir mein Exfreund versehentlich verpasst hat, als er mir beim letzten WM-Sieg der deutschen Nationalmannschaft vor lauter Begeisterung seine Bierflasche an den Kopf warf.

Es ist immer noch sehr warm draußen, 27 Grad, neunzehn Uhr. Und ich bin nervös. In meinem Appartement habe ich etliche Fenster aufgerissen, lasse den angenehmen Wind durchziehen, der meine mintgrünen Gardinen zum Flattern bringt. Ich glaube fest daran, dass mein Leben sich endlich zum Positiven wendet. Fort vom Gefangensein im Alltagstrott, hin zu neuen Abenteuern. Da ist eine neue Beziehung nur eine Veränderung von vielen.

Vor knapp zwei Jahren habe ich mir endlich meinen Traum von der eigenen Boutique erfüllt – gemeinsam mit Anett, meiner zweitbesten Freundin, und unserem Kumpel Dani, der sich um den Bürokram kümmert.

Ich trage mir eine letzte Schicht Lippenstift auf, ein mattes Granatapfelrot, genauso feurig wie mein Kleid. Spaghetti-Träger, hohe Schuhe, mein volles, braunes Haar... Ich will ihn umhauen und ihm das Gefühl geben, er hätte mit mir einen Volltreffer gelandet.

Noch einen Spritzer von meinem Lieblingsparfum ›Ange ou Démon‹ von Givenchy. Eine sinnliche Mischung aus Seerose, Jasmin und Pfingstrose.

Selber fahren werde ich heute nicht, denn mein Auto wurde letzte Woche entführt. Ich weiß, wer dahinter steckt: Mein irrer Exfreund. Nicht gefährlich, aber unfassbar bescheuert. Manchmal lässt er mich für Monate in Ruhe, dann fällt ihm wieder irgendeine Intrige ein, womit er mich – zumindest vorübergehend – drangsaliert. Der Polizei habe ich seine WhatsApp-Nachricht bereits gezeigt: »Hey Honigbienchen, dein Smart steht in meiner Garage. Wenn du ihn holst, bekommst du Sekt, Speed und Sex gratis. Na?« 

Leider habe ich es nicht geschafft, Tylor den Ersatz-Autoschlüssel abzunehmen, bevor ich ihn vor knapp eineinhalb Jahren aus meiner Wohnung geworfen habe. Aber mithilfe der Polizei wird das kein Problem sein; spätestens ab morgen wird er mein Auto endlich in Ruhe lassen. Vollidiot! 

Also muss ich mir zwangsläufig ein Taxi gönnen, was bei den hohen Absätzen ohnehin die bessere Idee ist. Außerdem bin ich dermaßen aufgeregt, da würde ich mich in Frankfurts Innenstadt bestimmt verfahren.

Wer weiß, wofür Tylors Autokidnapping gut war...  

»Ariston, Heiligkreuzgasse 29, bitte.«

Der Taxifahrer fährt los. Ich wühle in meiner Handtasche, kontrolliere, ob ich auch ja nichts vergessen habe.

Sieht gut aus, alles da.

Was soll jetzt noch schiefgehen? Ich bin perfekt gerüstet, hoffe ich...

Nach einer Viertelstunde bin ich fast am Ziel. Das Ariston befindet sich an einer vielbefahrenen Straßenecke.

Der Taxifahrer sucht noch nach einer geeigneten Haltemöglichkeit, fragt mich, ob es okay ist, wenn ich ein paar Meter laufen muss, denn hier sei ja die Hölle los, alles verstopft.

»Kein Problem, lassen Sie mich einfach da vorne aussteigen.«

Dann wirft er hinterher, jeder Mann, der mich auf dem Weg zu meinem Ziel sehen dürfe, sei bestimmt sehr angetan. Dabei weist er auf einen kleinen Aufkleber an seinem Handschuhfach: zwei Comicfiguren. Ein sabbernder Pluto hechelt einer kurvigen Hundedame hinterher.

Der Taxifahrer lacht, doch ich würde ihn am liebsten im Schnellverfahren von seinem Sexismus heilen. So ein Dummbeutel! 

Aber eigentlich war es ja ein Kompliment...

Ich bezahle, und kaum bin ich ausgestiegen, werde ich noch nervöser. In jeder Glasscheibe, die ich auf dem Weg Richtung Restauranteingang finde, suche ich nach meinem Spiegelbild.

Sitzt alles? Sehe ich wirklich so gut aus, wie ich mich heute fühle? Wird Henri enttäuscht sein? 

Auf einmal halte ich inne, denn in der spiegelnden Scheibe erkenne ich einen kränklich wirkenden Mann, der mich von der gegenüberliegenden Straßenseite zu beobachten scheint. Diese gebückte Kreatur ist mehr Karikatur als Mensch, soweit ich das aus der Entfernung beurteilen kann. Als ich mich zu ihm umdrehe, duckt er sich flink und verschwindet hinter einem Auto aus meinem Sichtfeld.

»Ein Irrer«, nuschle ich vor mich hin und schaue zurück auf mein Spiegelbild.

»Du siehst verdammt gut aus, Najla Lupita Cárdenas«, lächle ich mich an und streife mir über die Hüften. Voller Ungeduld strebe ich dem Eingang entgegen.

Im Anhang von Henris neuster Email habe ich Fotos seiner Söhne gesehen. Moritz ist sechzehn, der kleine Timmy bringt es auf gerade einmal fünf Jahre. Ein Nachzügler.

Der Grund, warum Henri alleinerziehend ist, ist ein tragischer. Ein furchtbarer. Dennoch schreckt mich das nicht davon ab, mich ernsthaft für ihn zu interessieren, denn ich fühle mich ihm jetzt schon sehr nahe und sehe mich sämtlichen Herausforderungen gewachsen. Meine Wunschvorstellung, ihn und seine Kinder zu unterstützen und dazu frischen Wind in seinen Alltag zu bringen, beflügelt mich. Ich wollte schon immer eine eigene Familie, will endlich komplett sein; von einem Mann im Arm gehalten werden, während wir den Kindern beim Spielen zusehen oder einen Sonnenuntergang betrachten, will Hemden bügeln und Essen für hungrige Mäuler kochen.

Mit all diesen Hoffnungen im Hinterkopf schwebe ich so elegant wie nie Richtung Eingang, der nur noch wenige Meter entfernt ist. Die feinen Aromen einer würzigen, griechischen Küche wehen mir bereits auf dem Trottoir entgegen. Durch die Fensterfront des Aristons versuche ich, einen Einblick zu erhaschen; will ihn entdecken, bevor er mich sieht. Doch sein Gesicht taucht nirgends auf. Kein Wunder, immerhin bin ich viel zu früh, ganze fünfzehn Minuten!

Ein aufmerksamer Kellner hält mir die Tür auf, lächelt mich an, ich griene gequält zurück. Der Gefühlsmix aus Neugier, Aufregung und Furcht vernebelt mir die Sinne; ein berauschendes Gefühl, das mich jedes meiner heimlichen Probleme vergessen lässt.

Mein rassiges Aussehen lässt den Kellner korrekte Schlüsse ziehen. Offenbar bin ich heute die einzige Mexikanerin beim stadtbekannten Griechen. Er fragt: »Frau Cárdenas?«

Ich nicke, worauf er freundlich in den Saal weist. »Ihre Begleitung ist noch nicht angekommen, aber immerhin haben wir den schönsten Tisch für Sie beide reserviert. Tisch 14.«

Hier herrscht eine angenehme Temperatur, der Klimaanlage sei dank.

Der Kellner führt mich an dunklen Holzsäulen und modernem, dekorativen Mobiliar vorbei. In einer Wolke aus Aromen erlesener Weine, dem Bouquet aus Lammfleisch, Joghurtdressing, feinem Gemüse und Schaumsößchen folge ich ihm leichtfüßig in eine lauschige Fensterecke.

Ich bin schon lange nicht mehr zum Essen ausgegangen. Vor der Eröffnung meiner Boutique habe ich es sogar vermieden, unter Leuten zu sein, doch all das ist überstanden. Jetzt fehlt nur noch Henri zu meinem Glück!

  MORITZ

Die Pubertät ist ein Arschloch! Bis vor Kurzem war meine Welt noch halbwegs in Ordnung, noch einigermaßen kontrollierbar, aber inzwischen empfinde ich anders. Hab mich in Tatjana verknallt, die schöne Schwarzhaarige aus meiner Klasse. Sid und Jeremy ist das aufgefallen, die haben mich deswegen angequatscht, aber ich habe nur dämlich gegrinst. Als sie weitermachten, bin ich ausgerastet, war richtig sauer und bin mit meinem Mountainbike einfach weggefahren, nachdem ich ihnen meine Fäuste ins Gesicht geschlagen hatte. Zurück blieben malträtierte und verwunderte Gesichter.

Tja, zwei Freunde weniger. Als Nerd ist das echt ’ne Katastrophe, denn wenn das so weitergeht, muss ich mich bald ganz allein gegen die Coolios aus meiner Schule behaupten. Bestimmt werden Sids und Jeremys Eltern bald meinen Vater anrufen und sich über mein Verhalten beschweren, aber was soll’s.

So kennen mich meine Freunde nicht, so aggressiv und übellaunig, aber ich finde meine Gelassenheit einfach nicht mehr, denn die scheint von irgendwas verschluckt worden zu sein. Keine Ahnung, was mit mir passiert.

Hab mir früher nie Gedanken über mein Aussehen gemacht, aber dann kamen immer wieder solche Sprüche von meinen Mitschülern. Anfangs sagten sie Knutschlippe, Hering – weil ich ziemlich dünn bin –, und Schlacksi, all so was eben. Sie behaupten, ich sei »zart«.

Wenn ich beim Fußballspielen mitmachen möchte, muss ich mir auch immer so blöde Sprüche anhören, dabei bin ich echt gut, weil ich immer wieder überraschend zwischen den anderen auftauche. Geisterschütze nennen sie mich manchmal.

Meine Ausgrenzung passierte schleichend. Vor einigen Monaten überkam mich das erste Mal das Gefühl, nicht mehr wirklich dazuzugehören, und außerdem bin ich vor ein paar Wochen auf diese zweifelhafte Webseite im Darknet gestoßen oder vielmehr von einem Mädchen hingeführt worden.

Die ominöse Homepage heißt Blue Whale. Auf der Startseite sieht man den Geist eines gigantischen Blauwals, der im Himmel und damit über allem schwebt, als könne er alles überblicken. Dazu hört man manchmal seine eindringlichen Rufe aus einer fremden Welt.

Als ich die Seite zum ersten Mal sah, hatte ich Gänsehaut. Zum einen, weil mich der geisterhafte Wolkenwal so faszinierte, zum anderen aber auch, weil ich bald die Spielregeln jener Blue Whale-Challenge entdeckte.

Anfangs dachte ich noch, ich chatte nur mal ein bisschen mit, muss ja nichts tun, was ich nicht will. Dann habe ich mich überreden lassen, wenigstens die ersten zehn Aufgaben zu meistern. Der Reiz am Überspringen der eigenen Schatten ist groß, zudem ist es spannend nachzusehen, wie weit die anderen schon im Spiel vorangeschritten sind.

Ein Junge steht gerade vor Aufgabe 43. Wird er bald die fünfzigste Aufgabe erfüllen? Das ist nämlich die letzte, und die zu schaffen, bedeutet den Suizid. Ich hatte ihn schon mehrmals angeschrieben, aber er antwortet nicht, ist vielleicht ein krasser Eigenbrötler, der von nichts und niemandem was wissen will. Ich bin erst beiAufgabe fünf, muss ein Tier töten, damit ich die nächste Aufgabe machen »darf«, doch ich glaube, hier steig ich aus.

Meine Chatfreundin Saskia hat mir verraten, was genau man bei der letzten Aufgabe machen muss. Entweder wird verlangt, sich von einem Hochhaus zu stürzen oder sich vor einen fahrenden Zug zu werfen. Entsprechende Zeitungsartikel über den eigenen Tod werden dann folgen, diese sichern einem einen der Ehrenplätze auf der Webseite, mit Namen und Foto, dann ist man ein ewiger Teil des Blauen Wals. Eigentlich total bescheuert, aber das Spiel macht echt süchtig – irgendwie.

Außer mir sind immer noch ein paar andere User online, und jeden Monat kommen neue dazu.

Papa hat heute ein Date, da werde ich viel Zeit haben, im Blue Whale zu chatten und meine nächste Aufgabe in Ruhe zu planen. Saskia ist auch ein Teil der Community. Sie will nicht mehr leben, dabei versichere ich ihr während unserer Telefonate regelmäßig, ihr bestimmt helfen zu können, ihre Lebensfreude zu finden – immerhin bin ich auch auf der Suche danach, habe noch Hoffnung, sie zu finden... irgendwann. Selbstmord ist scheiße, aber für manche eben doch ein Ausweg, vielleicht eine Lösung, wenn gar nichts anderes mehr gegen üble Sorgen hilft. Saskia fragt mich regelmäßig, was ich eigentlich im Blue Whale mache, wenn ich so am Leben hänge – das mache keinen Sinn.

Ich glaube, sie hat lange befürchtet, ich würde die Seite bei der Polizei anzeigen, aber irgendwann gewann sie Vertrauen.

Saskia hat einen Grund für ihre Suizidgedanken. Sie ist verkrüppelt auf die Welt gekommen, sitzt im Rollstuhl, und ihre Eltern sehen sie nur als Ballast. Sie glaubt, sie hätte keinen Wert in der Hochleistungsgesellschaft. Hab ihr versucht zu verklickern, dass sie immerhin für mich einen Wert hat, mir guttut, auch wenn sie die meiste Zeit ziemlich zickig ist, und ich möchte sie gerne mal treffen – irgendwann, in der nächsten Zeit. Nachdem ich ihr das gesagt habe, hat sie mir viele Grinse-Smileys geschickt, das macht sie sonst nie.

 

Ich höre Papa Tschüss sagen, er hat meine Zimmertür nur einen spaltbreit geöffnet. Dann erinnert er mich noch: »Timmy schläft schon. Wenn er weint, lässt du ihn nicht lange warten, klar?«

»Klar.«

»Und ich habe die Kerzen heute weggelassen«, erklärt er, »falls Najla noch vorbeikommt.«

Damit meint er die Grablichter, die normalerweise jede Nacht auf unseren Fenstersimsen stehen.

Papa kommt jetzt doch zu mir, ich schalte hastig den Monitor aus.

»Geheimnisse?«, will er wissen.

»Ich chatte nur wieder mit ’ner Freundin. Die will nicht, dass du mitliest«, erkläre ich brav. Da lächelt er, möchte mir über die Haare streichen, aber ich weiche seiner Hand aus. Er seufzt: »Bis später. Und mach niemandem auf, lass alles verriegelt, klar?«

»Jap.«

Ich warte, bis er meine Tür schließt, und chatte weiter.

Saskia spinnt grade ein bisschen rum. Sie unterstellt mir, ich würde hier mit vielen Mädels chatten, dabei stimmt das gar nicht. Als ich ihr nach zähem Hin und Her klarmachen kann, wie falsch sie liegt, entschuldigt sie sich, schreibt »Sorry«, sie sei nur grade wieder »voll fertig«.

»Warum? Das Übliche?«, frage ich und vermute, ihre Eltern haben sich wieder gestritten, doch diesmal bedrückt sie etwas anderes.

»Die Verletzungen an meiner rechten Hand heilen nicht ab. Kann gefährlich werden.« 

Saskia ritzt sich, schneidet sich vor allem in die Finger, die sind nämlich immer in Bewegung. Saskia braucht diese Schmerzen, sagt sie. Dazu kann jeder sehen, was sie sich antut – und trotzdem hilft ihr keine Sau. Zu allem Überfluss leidet sie unter einer Autoimmunerkrankung. Ihr Körper greift sich selbst an, und manchmal überfluten Bakterien ihre Lymph- und Blutbahnen. Schon beide Beine mussten ihr amputiert werden – so genau weiß allerdings keiner, was mit ihr los ist. Meistens glaube ich ihr die privaten Horrorgeschichten, nur manchmal frage ich mich, ob das wirklich sein kann. Ob ein einzelner Mensch wirklich so viel Pech haben kann.

»Hast du deine Aufgabe schon hinter dir?« 

»Nein. Hab noch keine Ahnung, ob ich das schaffe. Tiere töten ist nicht so mein Ding.«

»Musst du aber schaffen, sonst darfst nicht weiter.« 

»I know.«

Von jeder erfüllten Aufgabe muss man ein Foto oder ein Video in die Blue Whale-Cloud hochladen, sonst wird man bedroht, dann würde man sterben, heißt es. So ein Quark! Aber ich lege es trotzdem nicht drauf an, disqualifiziert zu werden.

Hab für die erste Aufgabe ein totes Mädchen malen müssen, das sich vor einen Zug geworfen hat. Hab ihren Namen darunter geschrieben: Jekaterina Kusnezow. Sie starb vor drei Jahren auf irgendwelchen Gleisen in Russland. Das stand alles im Sputnik, der russischen Online-Zeitung. Jekaterina hat auch Blue Whale gezockt.

Es gibt etliche Nachahmer-Challenges im Netz oder innerhalb diverser Instant-Messaging-Dienste. Viele davon benennen sich ebenfalls nach dem Meeresgiganten, dennoch gibt es gravierende Unterschiede. Saskia hat mir gesagt, bei manchen Kopien habe man bloß fünfzig Tage Zeit. Aber bei uns läuft es anders, denn unsere Website ist die Richtige, die gibt es schon am längsten. Allein sich hier anzumelden war eine komplizierte Aufgabe für sich; ohne Saskia hätte ich das nicht gepackt.

Wenn ich daran denke, wie offiziell verkündet wurde, man habe den Verantwortlichen der Blue Whale-Challenge geschnappt, kann ich nur müde lächeln. Verbrecher finden immer einen Weg. Das Darknet ist ein Pilzgeflecht, das sich größtenteils unentdeckt in sämtliche Bereiche des Lebens erstreckt. Nachahmer von den Demons, wie Saskia und ich Darknet-Verbrecher bezeichnen, gibt es sowieso immer genug; aber unser Antoscha ist der echte Blauwal-Admin, das Original, wie er behauptet. Und niemand kriege ihn, denn seine Masche sei die Beste. Na dann...

Ich hab viel darüber gelesen, aber anstatt mich von dem Game abgestoßen zu fühlen, war ich fasziniert, wollte einfach mal checken, was da so los ist, nachdem mich Saskia auf einer Social-Media-Seite angeschrieben hatte. Der Grund für ihr Interesse war bekloppt: Sie hat behauptet, im Traum hätte ein Wal meinen Namen gerufen, außerdem hätte sie mein Gesicht gesehen. Das hab ich ihr natürlich nicht geglaubt, aber die Tussi ist so schräg drauf, dass wir in Kontakt geblieben sind. Tja, und dann war ich ganz schnell auch ein Shrimp, wie sich die Blue Whale-Mitglieder nennen. Inzwischen hat mich der Himmelswal vollends in den Bann gezogen.

Meine Neugier bereue ich nicht.

Wer ist der nächste Tote? 

Bei der zweiten Aufgabe musste ich mich fünf Minuten dabei filmen, wie ich um drei Uhr Nachts Horrorschocker anschaue. Bei der dritten Aufgabe musste ich ein Foto schießen, wie ich nach fünf Stunden nonstop Traurige-Musik-Anhören ausgesehen habe. Die vierte bestand darin, mich an vier Stellen mit einer Kippe zu verbrennen, und die fünfte... Tier abmurksen.

»Hab heute meine siebenundzwanzigste Aufgabe bestanden. Jetzt sind es nur noch dreiundzwanzig!«, prahlt Saskia.

Nur noch... Ich schüttle den Kopf und tippe hastig:

»Du kannst nicht allein raus, brauchst jemanden, der dich schiebt und so. Manche Aufgaben wirst du niemals allein schaffen.«

»Der Admin sucht mir nur Aufgaben raus, die für mich machbar sind.« 

Wie nett von ihm...

»Aber die letzte Aufgabe?«

Pause. Saskia überlegt lange und ich warte, knabbere an meinen Fingernägeln. Dann sehe ich nach links, dort spiegelt sich das Licht meines PCs in meinem Handy. Ich erkenne mein Gesicht in dem reflektierenden Display. Papa sagt immer, ich sei ein ›sehr hübscher Kerl‹. Das hat mir sonst nur meine Mum gesagt. Ich sehe das anders. Komplett anders. Schaue wieder auf den Monitor, denn Saskia verlangt: »Würdest du, falls...?« 

»Nee!«

Ich würde nie jemandem helfen, sich umzubringen.

»Aber du musst! Ohne dich packe ich das nicht!« 

Ich muss gar nichts, doch mich mit ihr darüber auseinanderzusetzen, ist mir jetzt zu blöd.

»Darüber reden wir dann, wenn’s soweit ist«, gibt sie nach. »Und was ist mit eurem Gnom?« 

Damit meint sie den lästigen Stalker, der oft durch das reiche Viertel stromert. Wir nennen ihn auch Gartenzwombie oder Freakzwerg. Der hängt manchmal in fremden Gärten hinter irgendwelchen Büschen rum und ergötzt sich am Alltag der Wohlhabenden. Da haben sich manche schon beschwert deswegen, aber der komische Typ entwischt der Polizei immer. Manchmal ist er ewig nicht zu sehen, dann taucht er wieder öfter auf, aber immer, wenn er sich entdeckt fühlt, haut er ganz schnell ab. Eben ein Bekloppter, der den Kids Angst macht.

»Der ist so hässlich, da kotzen selbst die Vögel von den Bäumen, wenn die ihn sehen«, schreibe ich Saskia noch.

Plötzlich schrecke ich hoch.

Timmy ruft nach Papa. Der Kleine kommt mir grade recht, weil meine Augen eh schon viel zu müde sind, als dass ich noch länger auf den Bildschirm starren wollte. Mein kleiner Bruder ist übrigens das Wertvollste, was mir von Mama geblieben ist.

Ich tippe »Timmy weint. Ciao und bis denne«, lasse Saskia im Blauen Wal allein, schalte den PC aus und gehe zum Knirps.

In seinem Zimmer ist es sehr schwül. Nach so heißen Tagen, wie sie derzeit herrschen, bleibt die drückende Hitze lange in den Räumen zurück, vor allem, weil mein Vater uns verbietet, die Klimaanlage einzuschalten, und das nicht ohne Grund...

Ein zäher, feuchter Schleier füllt das Zimmer. Timmy sitzt in seinem Bett und reibt sich die Augen, er ist völlig verschwitzt. Seine haselnussbraunen Haare kringeln sich über Stirn und Nacken, was ich dank seines Nachtlichtes leicht erkennen kann.

»Papa?«, jammert er.

»Papa kommt erst spät nachts wieder nach Hause. Er trifft sich mit einer Frau.«

Mit großen Augen sieht er mich an. »Mit Mama?«

»Nein, nicht mit Mama. Du weißt doch, dass das nicht geht.«

Trotzig verschränkt er die Arme vor der Brust und protestiert: »Papa sagt aber, dass es geht.«

Ich erwidere nichts. Papa sagt viele dumme Sachen, um Timmy zu beruhigen und mich zu trösten. Das Meiste davon, was Mama betrifft, ist gequirlte Scheiße.

Timmy bleibt cool. Er weint nicht, auch nicht, als ich ihm erkläre, dass Papa wahrscheinlich noch ein paar Stunden wegbleibt. Mein Bruder kann mit Begriffen wie »viele Stunden« und »bis spät in die Nacht« noch nichts anfangen. Er orientiert sich ausschließlich an meiner Gelassenheit, deshalb beruhigt er sich rasch, klammert sich an mich und sagt: »Ich hab dich lieb, Mori.«

»Ich dich auch.«

Timmy ist in meiner Welt das einzig Helle und Fröhliche. Zwar merkt man ihm seine Verängstigung durch Papas gelegentliche Anwandlungen an, trotzdem kann ich mich an Timmys sonniger Persönlichkeit festhalten. Meistens jedenfalls.

Viele Dinge versteht er noch nicht. Ich schon. Und wenn diese neue Frau merkt, was mit Papa los ist, wird sie genauso schnell verschwinden, wie die anderen Frauen vor ihr...

Ich streichle Timmy so lange über den Kopf, bis er wieder einschläft. Damit beruhige ich auch mich selbst.

Sein leises Schnarchen lässt mich schließlich entspannt durchatmen. Ich hab Timmys Bettdecke gegen ein dünnes Laken getauscht. Papa kapiert manches einfach nicht, zum Beispiel, dass ich längst weiß, was er mit solchen Nachlässigkeiten provoziert. Kinder schmelzen, wenn man sie im Hochsommer unter eine Winterdecke bettet, das kann echt gefährlich werden, und genau darauf legt Papa es an...

Während ich Timmy betrachte, lasse ich den Tag Revue passieren. Schule war langweilig, ich hab kaum aufgepasst, saß auf heißen Kohlen, weil ich es kaum abwarten konnte zu erfahren, wie es meinem Bruder heute im Kindergarten ergangen ist.

Er mag den Kindi nicht, denn Mama hat ihn an ihrem letzten Morgen dort hingebracht – und nie wieder abgeholt. Papa hatte meinen Bruder wegen Mamas Unfall einfach vergessen, er blieb für Stunden unerreichbar... irgendwann hab ich den heulenden Zwerg dann abgeholt – wie in Trance. Als ich auf dem Heimweg zusammengebrochen bin, wusste Timmy dann auch noch nicht, was passiert war – auch nicht, warum ich so verheult aussah und für die kommenden vier Tage nicht mehr sprechen wollte... oder konnte.

Als ich heute nach Hause kam, hat mir mein Vater alles brühwarm berichtet und sich dabei lautstark über das Unvermögen der Erzieherinnen aufgeregt. Aber es würde nichts nützen, ihm zu erklären, dass er auf dem Holzweg ist...

Heute war der letzte Versuch, an dem Papa Timmy in den Kindergarten stecken wollte. Wenn es wieder nicht klappt, haben die Erzieherinnen gesagt, sollte man es vorerst nicht noch einmal versuchen, weil Timmy zu sehr darunter leide.

Tja, es hat wieder nicht geklappt. Dabei hätte sich mein Vater darüber gefreut, wenn er vormittags ungestört arbeiten und den sehr aktiven Timmy in der Zeit unter professioneller Aufsicht gewusst hätte.

Timmy schreit wie am Spieß, wenn er im Kindi bleiben soll, und er sagt seltsame Sachen, wenn er weint. Auch darauf haben die Erzieherinnen meinen Vater schon angesprochen, wobei er sich jedes Mal mit zweifelhaften Aussagen aus der Affäre gezogen hat. Timmy hätte halt ’ne lebhafte Fantasie, sagt Papa dann, und er wüsste auch nicht, woher der Kleine diese Einfälle habe, könne sich dessen Verhalten ja selbst nicht erklären. 

Oh doch. Er kann.

Und er rechnet fest damit, dass Timmy – solange er sich noch nicht in der Pubertät befindet –, widerstandslos formbar und damit dem Willen meines Vaters hörig ist.

Jedenfalls werde ich Papa weiterhin decken, denn ihn zu verraten würde alles noch verschlimmern. Es geht ihm schon schlecht genug.

Leise schleiche ich aus Timmys Zimmer, gehe vom Wohnzimmer durch die Terrassentür auf die Veranda, von dort in unseren großen Garten, direkt ans Mainufer.

Vor mir funkelt das dahinfließende Wasser im Mondlicht. Ich liebe den schwarzen Fluss, seine unruhigen Spiegelungen und das Geräusch kleiner, sanfter Wellen, die gegen das Ufer platschen. Hinter mir thront unsere Stadtvilla. Sie reiht sich zwischen etliche andere Villen ein, die das Ufer säumen.

Nachdenklich betaste ich meine hohen Wangenknochen, meine feine gerade Nase, meine Strubbelhaare und meinen voluminösen Mund. Ich finde, ich sehe viel zu mädchenhaft aus, nicht wie ein richtiger Mann oder einer, der mal einer werden wird. Patrick, einer meiner Nerd-Kumpels, findet, ich spinne. Meine Komplexe seien einfach nur bescheuert. Er sagt immer, wir wachsen ja noch – eben auch in die Breite –, dann erst sehen wir wie richtige Männer aus.

Das bisschen Flaum an meinem Kinn mache ich immer schnell weg, sieht total bekloppt aus. Papa hat mir einen teuren Rasierer geschenkt, war zumindest für eine Woche ganz stolz drauf, dass ich jetzt ein ›echter Mann‹ werde. Ich finde diese Verwandlung einfach nur peinlich. Meine Stimme überschlägt sich ständig, bin dauerheiser, und auf diese ganzen Haare am Körper könnte ich gut und gerne verzichten.

Scheiß Pubertät! 

Mein Blick schweift nach oben in den Sternenhimmel. Kaum Wolken. Ein kreisrunder Mond.

Die kaltleuchtende Scheibe strahlt mir ins schweißnasse Gesicht. Wieder durchlebe ich eine Nacht, in der mich meine Emotionen und Gedanken nicht schlafen lassen. Wenn ich das nicht in den Griff bekomme, drehe ich echt bald am Rad.

Muss mich ablenken...

Ich stelle mir den Wal vor, wie er unter dem Mond durch die Nacht taucht, unter dem Licht der Sterne an Wolken vorbei. Sein durchdringender, gespenstischer Ruf hört sich in meinen Gedanken wie das weit entfernte Ächzen eines bremsenden Zuges an – der letzte Schrei, der wieder einen toten Menschen ins Jenseits trägt, verschlungen von dem aufgerissenen Maul des Meeresgiganten.

So ist es immer, wenn sich wieder jemand vor den Zug geworfen oder in den Tod gestürzt hat. Sobald die Nachricht jenes toten Blauwal-Mitglieds die Medien erreicht, lässt Blue Whale Walschreie auf der Webseite erklingen, dann wurde wieder ein wetschni geroj, ein ewiger Held geboren. Dann macht man große Augen, glotzt und seziert mit seinen gierigen Blicken das kurzzeitig auftauchende Mitglieder-Foto, das schließlich im Bauch des Wals verschwindet.

Ich versuche immer in den Fotografien jener Toten zu lesen, deren Blicke zu deuten, ob es da Ähnlichkeiten zu meinem Ausdruck gibt, um herauszufinden, ob ich eines Tages auch zu ihnen gehören werde oder ob ich stärker bin. Man sagt ja immer, verschiedene Eigenschaften und sogar Persönlichkeitsstrukturen seien von entsprechenden Gesichtszonen ablesbar. Keine Ahnung, ob das stimmt, ich glaube aber schon.

Sind diese Lebensmüden Helden? Eher nicht. Nur weitere Tote. Und ich frage mich, warum ich von diesem Spiel nicht loskomme. Vielleicht wegen dem Hintertürchen? Es beruhigt mich zu wissen, Schluss machen zu können. Und wenn, dann schaffe ich das nicht alleine, deswegen brauche ich die Community. Die sind zwar alle echt kaputt, können mich aber verstehen wie sonst keiner.

Ich möchte gerne aufholen – auf der gleichen Stufe wie Saskia sein, und wenn dann wirklich mal alles so schlimm kommen sollte, wie ich befürchte, kann ich gehen.

Als ich leise Geräusche in Richtung unserer Hecke höre, verenge ich meine Augen und starre ins Schwarze.

Alles ruhig, keine Regung im Gebüsch...

Da ist niemand, war wahrscheinlich nur ein Vogel oder so – scheißegal.

Ich befühle meine Oberarme an jenen Stellen, wo ich mich für die vierte Aufgabe mit einer Zigarette verbrannt habe. Papa hat noch nichts gemerkt.

Müde drehe ich mich um, laufe zur Hollywoodschaukel und atme tief ein.

Ich werde dem Administrator, Antoscha, schreiben, dass ich kein Tier töten kann. Er soll sich für mich eine andere Aufgabe raussuchen, aber das wird er nicht, denn es wäre gegen die Regeln.

Mit einem letzten Blick zum Mond hauche ich: »Hm... Ein Tier töten. Aber welches? Vielleicht einen Fisch?«

 

 

  NAJLA

Im Aquarium des Restaurants tummeln sich schwerfällige Welse. Ich sitze dem Bassin direkt gegenüber; mit dem beruhigenden Ausblick fällt mir das Warten etwas leichter.

Vorab bestelle ich mir ein Glas Wasser und träume davon, wie der Moment unserer ersten Begegnung aussehen könnte. Mir fallen etliche Szenen ein – tollpatschige und lustvolle, stürmische und schüchterne. Zunehmend gerate ich in Träumereien und ertappe mich, wie ich versonnen schmunzle.

Und dann trifft mich der Blitz – Bamm! –, denn ich entdecke ihn, wie er neugierig nach mir Ausschau hält, unterstützt von einem zuvorkommenden Kellner, ohne den er mich wohl nicht so schnell finden würde – hier, in diesem lauschigen und versteckten Eckchen. Sofort bin ich elektrisiert vom Anblick dieses hochgewachsenen stämmigen Hengstes, mit dem ich mir ausnahmslos alles vorstellen kann.

Zunächst erscheint mir sein Ausdruck hart und verschlossen, doch als er mich endlich erblickt, macht das breite Lächeln sein Gesicht weich und lässt ihn offenherzig wirken.

Festen Schrittes kommt er näher.

Ich fühle mich im ersten Moment wie in einer Blase, als wären wir allein. Selbst das leise Gemurmel der Gäste geht im schnellen Puls unter, der in meinen Ohren rauscht.

Henri ist groß, seine Muskeln sind deutlich unter dem weinroten Kurzarmhemd zu erkennen, dessen obere Knöpfe er lässig geöffnet hat. Nicht zu spießig, genau richtig, stelle ich insgeheim fest. Und als er mir die Hand reicht und mir tief in die Augen blickt, weht mir ein markanter Duft entgegen, der Hauch eines modernen, energetischen Herrenparfums.

»Hallo Najla, schön dass wir uns endlich treffen«, bemerkt er mit freundlich brummiger Stimme.

Was mich dabei ungemein beruhigt, ist der Eindruck, dass er selbst gleichermaßen angetan von mir scheint, denn sein Lächeln reißt nicht ab und er sucht stetigen Augenkontakt.

»Ich freue mich auch sehr«, nicke ich und schüttle ihm die kräftige Hand. Viel lieber hätte ich ihn umarmt, aber wir sind wohl beide zu nervös, um befreit zu reagieren.

Er setzt sich. Im wohligen Licht, umgeben von Zimmerpflanzen und mannshohen Dekorationen diverser Aphrodite-Repliken und Kriegerbüsten, funkeln seine Augen geheimnisvoll, lassen mich noch neugieriger werden. Mir ist, als wollte er mich herausfordern, wer von uns zuerst schwach werden und sich zu anzüglichen Bemerkungen hinreißen lässt. Als wäre es ein Spiel und die Förmlichkeiten lediglich Maskerade. »Ich bin rechtzeitig«, grinst er mit einem entspannten Blick auf seine Armbanduhr, anschließend weist er auf mein halbvolles Wasserglas. »Du wartest schon ein Weilchen, was?«

»Ich bin gerne etwas zu früh«, gebe ich ihm zu verstehen und nippe nervös an meinem Wasser. Viel lieber würde ich jetzt joggend neben ihm her rennen. Ich hasse es, wenn andere sehen können, wie meine Hände zittern.

»Du bist nervös«, schmunzelt er.

»Leider kann ich das nicht vermeiden.«

Wir lachen leise. Dieses vorsichtige Herantasten würde ich so gerne überspringen.

Gleichwohl ich schon so vieles über ihn erfahren habe, fühle ich mich überfordert, ein tiefgründiges Gespräch zu beginnen; bin weit von meiner Gelassenheit entfernt, die mir am Telefon so leicht fällt.

Wo soll ich anknüpfen?  

Reden wir von seinen Kindern, über unsere Berufe oder über irgendwelche Belanglosigkeiten, wie diesen beschaulichen Abend oder die anstehenden Sommerferien? 

Zum Glück nimmt er mir die Entscheidung ab. Er zeigt sich gelassen und souverän, scheint sich seiner Sache sicher zu sein. Ich hatte das eigentlich auch vor, doch irgendwie kommt immer etwas Unreifes in mir durch, als wollte sich das Kind in mir niemals verabschieden und ausgerechnet in den ungünstigsten Situationen auf sich aufmerksam machen.

Womöglich bin ich mehr Kind als Frau. 

»Ich freue mich wirklich, dir jetzt gegenüberzusitzen. Immerhin musste ich lange befürchten, es würde niemals dazu kommen.«

Womit er auf meine Ausreden anspielt, die ich anfangs noch austeilte. Wäre es nach ihm gegangen, hätten wir uns bereits nach zwei Wochen vertraulicher Schreibereien kennengelernt, doch ich habe es geschafft, ihn noch zu vier weiteren Wochen Email-Verkehr und häufigen Telefonaten zu überreden. Irgendwie bin ich heute noch stolz darauf, denn erst in dieser Zeit habe ich die entscheidenden Dinge über ihn erfahren, eben auch die grausame Wahrheit über seine verunglückte Frau.

»Du weißt, ich möchte vernünftig sein, um meine Chance bestmöglich zu nutzen, außerdem schwingt bei mir eben auch immer eine leise Furcht mit, wenn ich einen Mann kennenlerne.«

»Die Angst vor den Enttäuschungen, ich versteh schon«, seufzt er verständnisvoll und lächelt weiter.

»Auch das. Aber ich habe dir doch diese Sache von meiner besten Freundin erzählt.«

Da nickt er knapp und kräuselt die Lippen. »Ich dachte, das hätten wir zur Genüge geklärt und du konntest mittlerweile, zumindest deine Skepsis mir gegenüber, längst ad acta legen. Bei mir hast du nichts zu befürchten.«

Ich bleibe nachdenklich, denn diesen Satz lässt Henri stets verlauten, wenn ich ihm deutlich mache, dass eine Frau einem Mann nichts entgegenzusetzen hat, sollte dieser verbrecherische Absichten in die Tat umsetzen, doch er begreift diese leise Furcht einfach nicht. Um mich bei ihm rundum sicher zu fühlen, brauche ich mehr als Telefonate, nette Mails und ein erstes Date. Ich weiß ja, wie schief voreiliges Vertrauen gehen kann.

Meine beste Freundin wurde vergewaltigt und dabei beinahe zu Tode gewürgt, weil sie sich mit einer Internetbekanntschaft traf. Dieses Erlebnis verfolgt uns bis heute. Sie brauchte anfangs ständig meinen Beistand, was mir selbst an die Substanz ging. Debby geht jetzt seit einem Jahr zur Therapie und denkt ernsthaft darüber nach, offiziell lesbisch zu werden. Ich hielt das zunächst für eine dumme Idee, die aus einer tiefen Verletzung und großem Frust heraus entstanden ist, doch sie hält daran fest und überzeugt mich regelmäßig mit der Aussage, Frauen würden niemals so herrisch und brutal handeln – zumindest nicht, um lediglich sexuelle Befriedigung zu finden.

Henris Stimme holt mich aus meinen Gedanken zurück:

»Tja, manches sitzt tief wie ein Stachel im Fleisch. Kenn’ ich.«

Nun wirkt er versonnen. Ohne aufzusehen ordnet er sein Besteck und auch die Tischdekoration noch etwas akkurater an. Ich bleibe still. Mein Bauchgefühl sagt mir, Schweigen ist an dieser Stelle besser als näher auf seine Gründe einzugehen, die ihm die Laune verderben würden.

Plötzlich scheint er durch mich hindurchzublicken. Oder an mir vorbei? Er macht große Augen, da drehe ich mich um, sehe durchs Fenster. Auf der Terrasse lassen sich etliche Gäste das Essen schmecken, nichts Interessantes ist dort zu sehen.

»War da jemand?«, frage ich, doch Henri verneint gekünstelt lapidar: »Ich dachte nur, ich hätte ein bekanntes Gesicht gesehen.«

Die Bedienung legt uns die Speisekarten vor die Nasen und wir wählen aus.

Henri entscheidet sich für Agis Gyros in Metaxasauce, ich wähle Auberginen Imam Bayïldi. Auf Vorspeisen gelüstet es uns beiden nicht – liegt wohl an unserer satten Verliebtheit –, stattdessen empfiehlt mir Henri, gemeinsam einen Süßwein zu genießen.

»Ich kann dir den Mavrodaphne empfehlen. Lust drauf?«

Ich nicke: »Gern.«

»Ist ja klar«, zwinkert er mir zu, »dass ich dich einlade, hm?«

»Vielen Dank«, gebe ich zurück, und wieder versinken wir für Sekunden in unseren eindringlichen Blicken.

Schon eilt der Kellner heran und nimmt die Bestellungen auf. Henri scheint dieserorts offensichtlich ein häufiger Gast zu sein, denn dessen Lieblingswein hat die aufmerksame Servierkraft bereits in der Hand. Man schenkt uns ein und wir schweigen uns breit grinsend an.

Es wird angestoßen. Der feine Klang der Weinkelche verleiht diesem Moment noch einen Tick mehr Glanz.

Wir nippen an unseren Gläsern, und dann überrascht mich mein Gegenüber mit der Aussage: »Ganz egal, was jeder von uns mitbringt, Najla, glaube ich an die Kraft der Gemeinsamkeiten.«

»Sicher«, räuspere ich mich irritiert, »ohne die geht es nicht. Man braucht eine gemeinsame Basis, sehe ich auch so.«

»Dann kann ja kaum noch was schiefgehen«, säuselt er zufrieden und ergänzt: »Wir sind beide tiefgründig, aufrichtig und legen auf die selben Dinge wert: die Priorität des Familienlebens, eine gesunde Einstellung zu materiellen Dingen, gleichermaßen liegen wir auch in den Bereichen Hobbys und Weltanschauung auf einer Linie. – Du weißt, was mich an dir begeistert, Najla, mal ganz zu schweigen von dem Offensichtlichen.« Er zwinkert mir erneut zu, und ich erröte. Dann haucht er verschmitzt: »Warum so schweigsam?«

»Tja«, seufze ich verlegen, dabei könnte ich mich dafür ohrfeigen, dass sich ausgerechnet jetzt meine Schlagfertigkeit verabschiedet. Henri zeigt sich amüsiert.

»Du weißt um deine Wirkung auf Männer, was? Hast es nicht nötig, zusätzlich mit deiner Intelligenz zu punkten.«

Diesmal weiche ich seinem Blick aus, kann mir ein breites Grinsen jedoch nicht verkneifen. Mit meinen Fingern umspiele ich das Weinglas, und während ich mit einem hilflosen Spruch von seiner Anspielung ablenken möchte, verliere ich mich letztlich doch wieder in seinen stahlblauen Augen.

»Wir haben uns schon so viel erzählt, ich weiß gar nicht...«

Da halte ich inne. Er ergreift meine Hand. Ich kann meinen Satz nicht zu Ende bringen, denn er lässt mich allzu deutlich spüren, dass ihm meine Anwesenheit alles bedeutet. Noch niemals zuvor hat mir ein Mann allein mit seinen Gesten und dem Leuchten in seinen Augen so viel geschenkt – alles, was ich brauche, um mich sicher und begehrenswert zu fühlen. Nicht nur für einen flüchtigen Moment. Bei Henri geht es tiefer.

»Manchmal genügt es, einfach beisammen zu sein – ganz ohne Worte. Es erinnert an Magie, findest du nicht?«

Es ist zu schön, um wahr zu sein.  

Mit dem Glück hatte ich es bisher nicht so, mein Leben glich vielmehr einem Schlängeln durch Pechsträhnen. Hab mich wie ein Wurm im Schlamm verkrochen, der gut getarnt bleiben wollte, denn ich schäme mich bis heute für mein Versagen. Viel zu oft ist mir das Falsche passiert, und doch will ich an eine echte Chance glauben, will so gerne Vertrauen spüren – vor allem zu mir selbst.

Henris Hände sind warm, gut gepflegt. Breite, samtene Pranken. Ich sehe auf und halte mich an seiner Zuversicht fest. Offenbar hegt er keinerlei Zweifel daran, dass ich die Richtige bin, jene Heldin des Alltags, die ich bisher vorgab zu sein. Aber ich habe ihm so viel verschwiegen.

Ich kann und will ihm nichts vormachen, werde die Wahrheiten aber gut dosieren. Er muss es einfach wissen, alles...  

Es ist wie immer: Meine Nervosität zwingt mich, irgendetwas zu sagen, egal was – Hauptsache was Dummes. Dabei ahne ich, wie schnell meine Geständnisse jede Magie zunichtemachen werden.

»Henri, ich... ich... Also da sind Dinge in meinem Leben geschehen, die...«

Mit fester Stimme fällt er mir ins Wort. »Ich habe doch schon längst verstanden, dass du mir viel verschwiegen hast.«

»Ehrlich?«, staune ich und entziehe meine Hand seinem sanften Griff. »Also...«

»Na ja, du hast etliche Themen versucht zu umgehen, was dir auch gelungen ist. Denn ich bin keiner, der um Vertrauen oder Offenheit bettelt, auch nicht um Aufrichtigkeit, denn die sollte in einer ernstgemeinten Beziehung selbstverständlich sein, hm?«

Ist das ein Vorwurf?

»Wie auch immer«, wirft er hinterher. »Dein ständiges Ablenken hat mich logischerweise stutzig gemacht. Trotzdem habe ich mich davon nicht abhalten lassen, dich besser kennenzulernen.«

Ich gerate in Erklärungsnot und will diese unangenehmen Gefühle loswerden. Ich bin keine Lügnerin und ich wollte ihn niemals absichtlich täuschen. »Henri, manche Geschichten wollte ich für später aufheben. Sie sind hässlich. Ich wollte dich keinesfalls abschrecken, bevor du mich...«

»Für später?« Sein Ausdruck wird hart. »Sie mir erst anvertrauen, wenn ich mich schon verliebt habe? – Welche Bedeutung hat eine Beziehung, wenn sie keinen Sorgen standhält? Zu jedem Menschen gehört eben auch das Unschöne, denn bei den Wenigsten läuft alles glatt, oder? Das muss Mann doch aushalten können, oder nicht?«

»Doch schon, aber...«

»Ich habe keine Angst vor Unannehmlichkeiten, vielmehr verabscheue ich Falschheit und die Maskerade egozentrischer Feiglinge. Immerhin erwarte ich nicht, dass von Anfang an alles reibungslos läuft. Viel enttäuschender, als die Tatsache, dass du mir einiges verschwiegen hast, ist der Eindruck, dass du mir offenbar immer noch nicht vertraust, ja womöglich nicht mal an die wahre Liebe glaubst – an eine, die wirklich alles übersteht.«

Für einen Augenblick bin ich sprachlos.

Was für eine Frechheit! Und dennoch will ich diese Situation mit aller Kraft retten und überlege fieberhaft, wie ich das anstellen soll.

Wahre Liebe...

Doch, ich glaube daran, aber sie muss doch erst wachsen.

Energisch gebe ich ihm zu verstehen: »Ich glaube an die wahre und ewige Liebe, Henri.« Dabei versuche ich so glaubwürdig wie möglich auszusehen. Ein fester selbstbewusster Ausdruck, keine hektischen Bewegungen. 

Er lächelt.

Hält er mich für unglaubwürdig, für eine Lügnerin?  

»Du wirst genug Zeit haben, mir das zu beweisen, denn so ganz kann ich dir noch nicht glauben, dass du wirklich so gefestigt und selbstbewusst bist, wie du es gerne wärst. Immerhin befürchtest du, ich würde dich ablehnen, wenn du mir gegenüber völlig ehrlich bist, hab ich recht?«

Ich starre auf die Tischdecke, fühle mich töricht.

»Ein bisschen schon. Es ist, weil...«

Er unterbricht mich erneut: »Deine Erfahrungen mit anderen Männern haben mit mir nichts zu tun. Wenn du einen Neuanfang wagen möchtest, dann wird dir das nur gelingen, wenn du die alten Mechanismen ablegst, mit denen du bisher dein Glück in Ketten gelegt hast. – Glaubst du, ich hatte keine Probleme damit, alles Alte und eben auch Hässliche abzulegen?«

»Doch, sicher. Frauen sind aber emotio...«

Ungeduldig winkt er ab, womit er mich förmlich von meinem Wölkchen fegt. Meine Hände krallen sich an die Sitzfläche meines Stuhls, doch Henri zeigt keinerlei Rücksicht.

»Floskeln, nichts als hohle Phrasen. Willst du damit dein eigenes Unvermögen entschuldigen?«

Boah, jetzt reicht's aber! Doch er hört nicht auf.

»Najla, ich halte wirklich an einer ernsthaften Beziehung mit dir fest, wenn du das auch möchtest. Doch gib mir bitte nicht das Gefühl, vor einem Teenie zu sitzen. Wo ist denn dein Selbstvertrauen geblieben? Es ist, als hätte ich plötzlich eine ganz andere Najla vor mir, als jene, mit der ich stundenlang am Telefon plauderte.«

Am liebsten würde ich jetzt wegrennen. Schrecklich beschreibt diese Situation nicht einmal annähernd. Es ist, als säße ich vor meinem strengen Vater, einem Mann, den ich bis zu seinem Tod verachtet habe, weil er Lieblosigkeit säte und sich im Streit und der Unterdrückung Schwächerer wohlfühlte. Ein Grund, warum ich meiner Mutter selbst heute noch zu viel verzeihe, wir haben schließlich beide unter ihm gelitten – eine Prägung, die anhält. Als Einzelkind stand ich ständig unter seiner Beobachtung, keine meiner Bemühungen genügte ihm, weder meine schulischen Leistungen noch meine angestrebten Ziele. Ich war nicht das Kind, das er sich gewünscht hatte. Und meine Mutter sah zu, wie er mich seelisch erdrückte. Sie war selbst zerstört, niedergeschlagen, weil sich ihre große Liebe als Monster entpuppt hatte, welches die Ehe mit einem Herrschaftsgebiet verwechselte, in dem es galt, seine Leibeigenen zu vermeintlich Sinnvollem anzutreiben. Immerhin hatten wir niemals Geldsorgen.

Tatsächlich bin ich nahe dran, mich vom Stuhl zu erheben und Henri mitsamt seiner demütigenden Holzhammer-Psychoanalyse hinter mir zu lassen. Was mich unweigerlich daran erinnert, wie ich an all meinen vorigen, kläglichen Versuchen, glücklich zu werden, scheiterte. Sämtliche Chancen, über meine Schatten zu springen, Kritik anzunehmen und an Selbsterkenntnis zu wachsen, habe ich damit zunichte gemacht, und das nur, weil ich stets vor meinen Ängsten einknickte.

Nein, diesmal nicht!

Ich kann das aushalten!

Ja, es wird Zeit, etwas anders zu machen, die andere Seite kennenzulernen, jene der Mutigen.

Ich schaue Henri fest in die Augen.

Muss ihn von meiner Stärke überzeugen, jetzt oder nie! 

»Du hast recht. Ich mag manchmal zu einem Feigling werden, wenn mich Ängste überrollen. Aber ich weiß, was ich kann und wer ich wirklich bin. Gelegentlich einzuknicken halte ich für hinnehmbar, immerhin habe ich deutlich vor mir, wer ich noch vor einigen Jahren war. – Ich weiß, ich bin noch nicht fertig, wenn man so sagen will. Ich weiß, dass ich innerlich noch wachsen muss und mit meinen 41 Jahren manchmal recht unbeholfen rüberkomme. Aber was, verdammt nochmal, ist schlimm daran?!«

Bin etwas zu laut geworden, reiße mich rasch wieder zusammen. »Ich bin jetzt ganz ehrlich zu dir: Was ich brauche sind Verständnis und Geduld, und dann glaube mir bitte, kann alles passieren. Ich habe die Nase gestrichen voll von der Erwartungshaltung anderer. Wenn ich ein Weichei bin, na und? Wenn ich manchmal unsicher bin und zu viel hinterfrage, na und? Ändert das so viel an deiner Zuneigung, die sich durch unseren bisherigen Kontakt aufgebaut hat? Bin ich plötzlich wirklich nicht mehr dieselbe? Wenn du Perfektion oder eine Partnerin erwartest, die extra für dich gebacken wurde, dann bist du bei mir tatsächlich an der falschen Adresse, stattdessen habe ich eine große Portion Hingabe, Herzenswärme und Energie zu bieten, und eben auch echte Liebe, vorausgesetzt mein Partner hat die überhaupt verdient!«

Offenbar habe ich meine Entrüstung überzeugend genug vermittelt, denn Henri zeigt sich beschwichtigt. Dennoch reißt sein starrer Blick nicht ab, mit dem er mich zu durchleuchten scheint. Er lehnt sich vor und spricht leise:

»Ich verstehe schon, dann bist du manchmal so und manchmal so, je nachdem, was dich verunsichert. Ob das schlimm ist? Ich denke nicht.«

»So ist es. Ich arbeite schon lange daran, die Reaktionen der anderen nicht übereilt und dazu noch falsch auszuwerten, auch wenn ich mich bis heute häufig dabei ertappe, am liebsten die Gedanken meines Gegenübers lesen zu wollen, allein aus dem Wunsch heraus, ihm alles recht machen zu wollen. Und weißt du, warum das so ist?«

Er schüttelt den Kopf, worauf ich ihm nahelege:

»Weil ich bereits als kleines Mädchen regelrecht darauf programmiert wurde. Denn jede falsche Einschätzung, was die Regungen meines Vaters betraf, führte oft zu lautstarken Auseinandersetzungen, die sich teilweise über den ganzen Tag hinweg zogen. Ich habe das gehasst. Ich wollte einfach nur meinen Frieden, aber den gab es zu Hause nicht. Diese ständige Anspannung, wieder etwas falsch zu machen, seine Kommentare und Gesten falsch zu deuten, nicht gut genug zu sein, all das hat etwas mit mir gemacht. Was aber nicht heißt, ich hätte mich nicht im Griff. Nur manchmal fangen die alten Wunden zu brennen an, weil ich es einfach nicht gewöhnt bin, dass mal etwas rundum gut läuft, und voilà – schon wieder tut es das nicht, denn kaum zeige ich mal etwas Schwäche, stellst du alles in Frage, was du bisher in mir gesehen hast.«

Verdammt, ich bin wirklich ein Weichtier, muss meine Emotionen runterschlucken, sonst kullern noch die Tränchen. Doch wenn ich etwas sicher will, dann ist es das Verstecken meiner seelischen Narben. Ich habe schwache Momente, sehe mich aber als starke Frau. Und nichts anderes soll Henri von mir denken!

»Ich stelle keineswegs alles in Bezug auf dich in Frage«, korrigiert er. »Mir ist es nur wichtig, dass sich beide in einer Partnerschaft wie zu Hause fühlen. Und jetzt sind wir noch an einem Punkt, an dem wir uns viel ersparen können, wenn wir feststellen sollten, doch zu unterschiedlich zu sein. Deswegen wollte ich dir ja schnellstmöglich gegenübersitzen. Ich musste nämlich leider schon einige Male feststellen, wie leicht es manchen Damen fällt, sich zu verstellen und mit Wichtigem hinterm Berg zu halten, solange deren Gegenüber weder Mimik noch Gesten deuten kann. Und außerdem macht es auch einen Unterschied, sich in die Augen zu schauen und authentisch zu sein, wenn man sich durch den Sexappeal des anderen verunsichern lässt.« Er zwinkert schon wieder.

Ich hasse es, immer wieder hören zu müssen, wie sexy er mich oder sich selbst findet. Das ist in diesem Moment doch völlig egal.

»Was willst du?«, seufze ich. »Findest du, wir sind zu verschieden?«

»Könnte ich das jetzt schon mit Sicherheit sagen? Immerhin habe ich nicht vergessen, was du mir alles anvertraut hast. Das war ja nicht nichts, oder?«

»Nein, war es nicht.«

Zu meiner Verwunderung schlägt er plötzlich wieder erbauende Töne an.

»Von Anfang an habe ich etwas in dir gesehen, was mich fasziniert hat, was dich außerdem aus dem Dating-Portal-Pool herausstechen ließ. Und daran will ich festhalten.«

Vermutlich ist mein langes Gesicht inzwischen unattraktiver als unsere gestärkte Tischdecke in Altrosa. Meinen Frust packe ich in einen Satz, der dank dem betrübten Klang meiner Stimme an den Widerspruch eines trotzigen Teenagers erinnert. »Was genau meinst du jetzt damit?«