DIE WUNDER JENER ZEIT - Inka Mareila - E-Book

DIE WUNDER JENER ZEIT E-Book

Inka Mareila

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Beschreibung

Nicolas Renouard bangt um das Leben seiner zehnjährigen Tochter. Um sie zu retten, begibt er sich auf eine abenteuerliche Reise voller Geheimnisse, die in der Scheune eines alten Erfinders beginnt. Je tiefer Nicolas vordringt, umso mehr verschmelzen bizarre Fantasien mit blutigen Wahrheiten. Wird Nicolas sein Ziel erreichen – einen Ort, den bis dahin kein Mensch betreten durfte? Und wird er einen Weg finden, seine Tochter zu retten?   Mit DIE WUNDER JENER ZEIT legt Erfolgs-Autorin Inka Mareila (Blauwale bei Mitternacht, Die Hoffnung eines Kindes) ihren neuesten Roman vor, der vor Fantasie und Fantasy geradezu übersprudelt.

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INKA MAREILA

 

DIE WUNDER JENER ZEIT

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autorin 

 

DIE WUNDER JENER ZEIT 

BUCH EINS: DAS FLÜSTERNDE SCHLOSS 

BUCH ZWEI: BLUTROTE POESIE 

BUCH DREI: SCHWARZ-ROTE SEELEN 

BUCH VIER: SCHWARZ-ROTE NACHT 

EPILOG 

 

Das Buch

 

 

Nicolas Renouard bangt um das Leben seiner zehnjährigen Tochter. Um sie zu retten begibt er sich auf eine abenteuerliche Reise voller Geheimnisse, die in der Scheune eines alten Erfinders beginnt. Je tiefer Nicolas vordringt, umso mehr verschmelzen bizarre Fantasien mit blutigen Wahrheiten.

Wird Nicolas sein Ziel erreichen – einen Ort, den bis dahin kein Mensch betreten durfte? Und wird er einen Weg finden, seine Tochter zu retten?

 

Mit Die Wunder jener Zeit legt Erfolgs-Autorin Inka Mareila (Blauwale bei Mitternacht, Die Hoffnung eines Kindes) ihren neuesten Roman vor, der vor Fantasie und Fantasy geradezu übersprudelt.

Die Autorin

 

Inka Mareila, Jahrgang 1981.

 

Inka Mareila ist eine deutsche Schriftstellerin, die ihre Karriere im Jahr 2013 mit Science-Fiction- und Horror-Romanen begann.

Ihr Debüt – neben fünf Bänden für die Zombie-Serie Violent Earth - war die dystopische SF-Trilogie Fynomenon.

Mehrfach wurde sie in den Folgejahren für den Vincent Preis nominiert: 2013 für die Kurzgeschichte Gramla, 2014 für Mordsucht GmbH und Co. KG (vier Horror-Märchen) und schließlich 2015 für den Mystery-Thriller Fleischfang – Parademonium.

2015 folgten die Romane Gladium - Schattenlicht und Gladium - Die Cyborg-Dämonin sowie das Drama Lila Floh in Lavendel - Das Rätsel des stummen Kindes. Für Phillip Schmidts SF-Serie Schattengewächse schrieb sie 2016 den Roman Tod und Spiele.

Außergewöhnliche Wege beschritt sie anschließend mit dem Kinderbuch/Spendenprojekt Die Superalma gibt es wirklich - ein Buch, gemeinsam verfasst mit neun Kindern und deren alleinerziehenden Müttern.

Nach der Veröffentlichung des modernen Märchens Milans bunte Flügel (2016) entschied sie sich für eine neue thematische Richtung; insbesondere mit ihren frühen Horror-Geschichten konnte sie sich nicht länger identifizieren. Sie trennte sich von ihrem bisherigen Verlag, um schriftstellerisch mehr Freiheiten zu haben und wagte einen Neustart.

Seither widmet sie sich vorrangig gesellschaftskritischen Texten, verfasst unerschrocken Texte zu Tabu-Themen - beispielhaft umgesetzt in ihrem aktuellen Thriller Der Feind, der im Apex-Verlag erscheint.

DIE WUNDER JENER ZEIT

 

  

 

 

 

 

 

  BUCH EINS: DAS FLÜSTERNDE SCHLOSS

 

 

Roter Staub vermischt sich mit corditgeschwängerter Luft, schwebt unter grauen Wolken und hüllt das Leben in ein fahles, krankes Licht. Es ist der Geist der Angst.

Er bewacht seine Opfer zuverlässig, sodass auch ja keines entrinnt, wenn sich der Tod, gleich einem Schatten, über die panischen Gesichter legt und ihnen das Wunder der Lebenskraft entreißt. Tote Augen starren fremd.

 

 

Prolog

 

 

Weit oben, in der Spitze des Schlunden-Obelisks, stritten sich edle Herrschaften in goldglänzenden Roben.

Unter der Kuppel des Turms bewegten sich hektische Schatten über einen gläsernen Boden – die Silhouetten zweier Männer. Ein Streit zwischen ihnen war im Gange. Ihre Mithörer hielten sich mit ihrer Einmischung noch zurück... 

»...Nur eine weitere erdichtete Vision auf deinem Weg in den vollkommenen Größenwahn!«

»Ich hasse deinen Neid!«

»Neid?! Glaubst du, meine Gegenrede rührt allein von Missgunst her? Wäre ich eines Herrschers würdig, wenn ich meine Weisheit außer Acht ließe? Deine Annahme, ich würde dir kein herausragendes Talent gönnen, bestätigt bloß, wie verblendet du bist! Du wirst vom Irrsinn getrieben und verzehrt!«

»Dummes Gerede! Selbst wenn du meinen Träumen nicht glauben willst: Was sagst du zu den geschriebenen Worten?«

»Fehlinterpretation, nichts weiter. Frage die anderen... hinter dir. Sie denken ebenso wie ich! Du stehst allein da. Akzeptiere unsere Entscheidung. Neun gegen einen.«

»Halsstarriges Herrscherpack!«

»Du selbst gehörst dazu!«

»In euren Augen mag ich stur sein, aber auch wenn ich ein Herrscher Medikantens bin, habe ich nichts mit euch gemein! Ich vertraue dem Buch, und ich weiß, was mir im Schlaf anvertraut wurde! Es existiert wahrhaftig eine Welt auf der anderen Seite des Schlosses. Finsterwelt kann keine Legende sein! Wir haben es schon immer geahnt, aber endlich können wir das Ausmaß des Ganzen begreifen. Es macht Sinn. Unsere Geheimnisse besitzen ab heute eine nachvollziehbare Bedeutung! Die Wahrheit zu verstehen, ist das Eine, aber allein durch euer Handeln zeigt ihr, ob ihr sie anerkennt.

Wie lange wollt ihr noch hier warten und überlegen? Ist jetzt nicht die Zeit, die Rotlinge zu warnen? Wann wollt ihr um Hilfe rufen? Glaubt ihr, dass ihr im Tod lauter seid als im Leben? Idiotie! Ihr macht mich wütend! Eure Haltung gleicht einem Schlaf, den ihr gierig pflegt, nur um euer Verdrängen zu entschuldigen, nein, um eure eigene Blindheit überhaupt ertragen zu können! Widerlich!«

Die breite Treppe führte die zehn Herrscher Medikantens in einer Spirale den Turm hinunter.

 

Tausende Fenster boten Einblick in die große Palasthalle, in der sich DAMITI präsentierte: der gläserne Mond, ein Planet im Mittelpunkt dieser Welt.

In der Energie seines strahlenden Kerns berieten sich die Herrscher. Sie schritten bereits seit Tagen auf und ab, wirbelten den rostigen Staub im Treppenturm auf, weil sie, von Zwietracht getrieben, nach einer Lösung suchten. Lediglich einer von ihnen begriff, wie ernst ihre Lage war, gleichwohl die Zeichen des Endes lediglich zu erahnen waren.

Ihre Kapuzen verdeckten ihre verhärmten Gesichter, und in ihren Köpfen pochten die aufrüttelnden Worte des rebellierenden Herrschers. Mittels weniger Hinweise deutete dieser Geheimnisse, die seit Jahrhunderten verborgen gewesen waren. Der Herr der Schlüssel verzweifelte, weil sich seine vermeintlichen Freunde nicht überzeugen ließen, dass er die Rätsel gelöst hatte. Mit Nachdruck und voller Sorge warnte er:

»Der Tod eines verkannten Propheten wird die Angst vor dem Krieg durch hysterisches Gelächter ersetzen! Die Flerser werden es dem Himmelsschlüssel übelnehmen, wenn er sie vor seinem eigenen Tod nicht warnt, was die Zerstörung ihres Dorfes unweigerlich nach sich ziehen wird. Und das, obwohl sie ihm ohnehin nicht ein einziges Mal glauben wollten. Ihr seid ebenso stumpfsinnig wie sie! Denn er, der Himmelsschlüssel, ist ein Wahnsinniger in ihren Augen. Sein Eifer jagt ihnen Angst ein! Sein Tod ist jedoch der wahrhaftige Beginn des Endes.«

»Wahnsinnig bist allein du! Du wirst von uns Herr der Himmel genannt, weil es deine Aufgabe ist, die Himmelskuppel zu beobachten. Und von vielen wirst du als Herr der Schlüssel bezeichnet, weil dein Körper aus Schlüsseln gebildet wurde! Du bist also der Himmelsschlüssel, ja du hast von dir selbst geträumt! Denn wie könntest du dir selbst – aus einer Welt, die es nur in Geschichten gibt –, Mitteilungen zusenden?!«

»Du willst es einfach nicht verstehen! Der wahre Name des Mittlers ist mir unbekannt. Er nennt sich nur deshalb Himmelsschlüssel, weil er damit zum Ausdruck bringt, dass er allein zu mir eine außergewöhnliche Verbindung wünscht und ihr auf mich hören sollt! Ich bin sein Sprachrohr, somit sind wir wie Brüder: im Geiste verbunden durch unsere Prophetie! Ich bin hier in GLÜHENDROT der Schlüssel und der Bewahrer des Himmels, ihm hingegen wohnt ebendiese Aufgabe in seiner Welt inne!«

»Du widerst mich an! Ich zähle mich nicht länger zu deinen Freunden! Deine Selbstverliebtheit ist in Wahrheit der Spross, der den Himmel über unserer Welt zum Einsturz bringen wird. Kehre um von deiner Rebellion! Kümmere dich um deine dir anvertraute Aufgabe, für die du geboren wurdest. Hoffe, dass sich dein Verstand erholt!«

»Hört mir zu – ihr alle! Wenn ihr mir nicht glauben wollt, dann bekennt euch wenigstens zu dem einzigen Buch!«

Die anderen schwiegen konsequent.

Es war immer derselbe, der dem Herrn des Himmels antwortete.

»Das Geschriebene ist mehrdeutig, kaum einer von uns kann die nebulösen Worte entziffern. Wie kannst du es dir anmaßen zu behaupten, du hättest selbst in die Zukunft geblickt? Dein Gerede ist der Beweis dafür, dass du nicht länger hierher gehörst. Du bist eine Gefahr für diese Welt.«

»Wohin soll ich gehen, Janosh Babbits? In einen Ruhwigbunker? Und ihr? Seid auch ihr der Meinung, dass ich mich schon zu lange unbequem verhalten habe und damit überflüssig geworden bin? Oh nein! So leicht werde ich es euch nicht machen! Die Quelle meines Wissens rührt nicht allein von dem heiligen Buch her, das seine Wahrheiten im Nebel präsentiert und nur wenigen Einsicht schenkt. Mein Informant besteht aus Fleisch und Blut. Er ist ein Mensch aus Finsterwelt! Weil ich von der Wahrheit überzeugt bin, lasse ich mich nicht länger von eurer Arglosigkeit einfangen. Die nahe Zukunft wird beweisen, dass ich Recht habe. Dann aber, meine lieben Ratsmitglieder, wird es für euch bereits zu spät sein!«

Coucous Rätsel

 

 

Der Krieg und seine Ursache beschäftigten einen alten Mann, der unentwegt darüber philosophierte. Aber er war sowieso noch nie eine Person leichtfertiger Einfälle gewesen... Stattdessen studierte er so allerlei Verborgenes. Zudem vermochte er es nicht, sein Sinnieren im Stillen zu vollziehen. Coucou war gerne laut, denn er befürchtete, die Leute könnten zu wenig über das Richtige nachdenken. Dem wollte er vorbeugen, indem er sein Gedankengut überall herumposaunte, ganz gleich, wo er sich befand. Und nebenbei verrichtete er Alltägliches... 

 

Die rundliche Elodie wusste, was er wollte und wandte sich um – hin zu dem Regal, in dem die Brote lagen.

Auf den alten Regalbrettern vor den sandgelben Wänden hatte sich eine dicke Mehlschicht gebildet. Coucou mochte das, denn durch die Schleier aus Mehl, die sämig durch die Luft waberten und den Brotduft noch intensivierten, wähnte er sich in einem Traum. Darüber ärgerte sich Elodie, da Coucou den reibungslosen Ablauf in ihrem Bäckerstübchen bremste.

Coucou verfiel in zeitraubende Plauderei:

»Spürst du, wie die Welt atmet? Sie tut es anders als früher«, sprach er drängend, wobei er Elodie mit seinen nebelgrauen Augen zu bannen versuchte. Sie ignorierte sein Gefasel. Immerhin warteten hinter Coucou etliche Kunden, welchen der Magen knurrte. Doch er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und untermalte seine Rede mit theatralischen Gesten.

»Ihre Lungen pumpen schwer und laut. Tief saugt sie den Staub ein, den der Krieg aufwirbelt hat. Dieser verseucht ihre mächtigen Lungen. Sie kaut knirschend darauf herum und ekelt sich vor dem Geschmack.«

Hinter Coucou ertönten Beschimpfungen wie »Spinner«, »Idiot« und »wahnsinniger Tunichtgut«.

Coucou jedoch blendete ihre Schmähungen aus und fuhr fort.

»Überall liegt der Tod in der Luft. – Woher kam er auf einmal? Das fragt sich auch die Welt. Und während sie denkt, sammelt sie ihren Speichel, das Unangenehme, und dann speit sie alles aus. Überall spuckt sie den Dreck hin, selbst in die kleinen Dörfer. Sogar Flers ist nicht verschont geblieben. Der Gestank ihres Speichels hüllt unser Dorf in erschreckende Ahnungen und verdrängt Erinnerungen an das alte Leben, an den Frieden. Und dann fragen wir uns, wie lange wir noch bleiben dürfen, hier... auf der alten Erde.«

»Es reicht, Coucou. Nimm dein Brot«, reagierte Elodie gelangweilt und streckte ihm einen krossen Laib entgegen, den sie in Zeitungspapier eingeschlagen hatte. Coucou nahm das Paket an sich und zeigte sich plötzlich entrüstet, als er die anderen Brote im Regal betrachtete.

»Sieh hin!« Er zeigte auf die duftenden Laibe. »Sogar die Baguettes sehen traurig aus. Sie sind längst nicht mehr so herrlich wie früher.«

Elodie verdrehte die Augen und spottete:

»Es sind nun mal gewöhnliche Weißbrote. Wenn du ein richtiges Baguette möchtest, dann laufe in den Wald, husch-husch! Vielleicht findest du eines, das sich auf einen Baum gerettet hat. Oder womöglich fangen die Deutschen bald an, mit Hefe und Weizen zu schießen, dann kannst du dir deine fröhlichen Brote selbst backen!«

Einige der Kunden lachten hämisch, aber Coucou rief übertrieben: »Das ist ein weiteres Zeichen, Elodie!«

Die Bäckerin winkte entnervt ab: »Ach was! Ich genieße lieber ein gewöhnliches Brot als dicke Luft herunterzuwürgen. Wenn du regelmäßig bei mir eingekauft hättest, wäre dir nicht entgangen, dass sich auch hier einiges verändern musste. Geh jetzt! Au revoir, Coucou.«

»Au revoir, Elodie. Möge dich der Staub verschonen, der doch in Wahrheit der Geist der Angst ist, nicht wahr? Kannst du gut schlafen?«

»Geh endlich weiter!«, rief ein Herr mit Schnauzbart aus der grummelnden Menschenschlange.

Elodie winkte Coucou heraus und meinte nur: »Das ist sicher keine gute Zeit, um erholsamen Schlaf zu finden, aber wir werden bestimmt bald wieder schöne Tage erleben. Die Hoffnung, Coucou, sie hält uns lebendig.«

»Sagst du das selbst dann noch, wenn der Himmel über dir zusammenbricht?!«

Coucou war versehentlich etwas zu laut geworden, da drängte ihn bereits sein Hintermann zur Seite.

»Du kannst jetzt gehen!«, raunte der Unbekannte wütend und schubste den Alten nach hinten.

Coucou, der Zausel mit Fliegermütze, verließ traurig den Laden und stapfte mit schmutziger Hose vorbei an finster dreinblickenden Gestalten, die sich anstellen mussten, um satt zu werden.

Coucous Kleidung war ihm viel zu groß. Er war hager geworden und erschien sehr gebrechlich. In seiner gesamten Erscheinung erinnerte er an eine Piloten-Karikatur mit schmalen, bläulichen Lippen. Seine enge Mütze, worüber er eine Fliegerbrille gespannt hatte, drückte seine Wangen nach vorn, sodass ein rascher Blick täuschen konnte. In Wahrheit nämlich, war er im Gesicht bis auf die Knochen abgemagert, dabei zeichneten sich auf seinen Wangen violette Flecken ab. Und mit seinen tiefen Augenringen wirkte er zudem recht kränklich. Sogar der kleine Brotlaib unter seinem Arm schien ihm eine Last zu sein. 

Coucou bemerkte das Gewimmel der Menschen auf dem Marktplatz und sah vom Boden auf. Ein schmächtiger Zeitungsjunge scharte eine Menschentraube um sich und stieg grölend auf eine Holzkiste, um den Überblick zu behalten: »15. September 1916! Extrablatt! Die alliierte Monastir-Offensive hat begonnen! Ein griechisches Armeekorps begibt sich bei Kavala unter deutschen Schutz! Extrablatt! Die siebte Isonzoschlacht ist im Gange! Somme-Schlacht! Schlacht um Verdun! Erster Einsatz von TANKS durch die Briten an der Somme, bei Flers – Courcelette! Extrablatt!«

Das interessierte Coucou nicht, der in Schlangenlinien an den Schaufenstern vorbeizog. Er war sehr schwach, deshalb eierte er wie ein Betrunkener ataktisch durch die Gassen, ignorierte die Soldaten, ihre Waffen und den Zigarettenrauch, wollte nicht hinsehen, wenn sie auf den Boden spien oder Frauenkörper optisch sezierten und dabei überheblich auf ihrem Kautabak herumkauten.

Hätte er vom heraneilenden Herrn Krieg gewusst, hätte er die Zeit zuvor bewusster genossen. Doch eigentlich war es ja keine Überraschung gewesen. Er hatte nur angenommen, dass es noch nicht so bald geschehen würde... 

Sein Blick senkte sich wieder zum Dreck der Straße hin.

Ohne aufzusehen winkte er jedem Schatten zum Gruß, der vor seinen Füßen auftauchte. Das verstörte die Passanten umso mehr, die den »Verrückten« für hochgradig unberechenbar hielten und glaubten, ihn zu kennen... 

Freunde hatte Coucou nicht. Sämtliche Urteile über ihn beruhten lediglich auf Oberflächlichkeiten. Er war verschroben, eben unangepasst, weshalb sich niemand ernsthaft mit ihm auseinandersetzen wollte. Dabei war seine verdreckte Fliegermütze zu seinem Markenzeichen geworden.

 

Flers war nur ein winziges Dorf, eigentlich beschaulich, doch es hatte sich verändert. Auch hier war der Krieg spürbar und prägte das Stadtbild. Olivgrüne Jeeps, Männer mit Waffen, die Atmosphäre der Angst... Coucou wollte nicht hinsehen.

 

Ein kleines Mädchen, sie war zehn Jahre jung, zeigte sich fasziniert von dem alten Mann, der stets grimmig auf den Boden starrte, außer, wenn er sprach. Denn wenn Coucou erzählte, wurde sein Blick lebendig.

Allein dieses Mädchen verstand jedes seiner Worte ganz genau. Ihr Name war Lilou Renouard. Sie war die einzige Tochter des Dorfpolizisten, Nicolas Renouard. Ihre Mutter war am Kindbettfieber verstorben, seither lebte Lilou mit ihrem Vater unweit des Hofes, in dem Coucou hauste.

Für gewöhnlich war Coucou tagsüber nur selten anzutreffen, eben nur, wenn er Dringlichkeiten erledigen musste, sich Lebensmittel oder Werkzeug besorgte oder wenn ihn die Einsamkeit in die Öffentlichkeit trieb. Dabei trug er sein Geheimnis stets mit sich. Dieses war schützenswert, doch gleichsam eine große Last.

 

Coucou besaß ein kleines Stück Land, auf dem ein schiefes Bauernhaus stand. In den ehemaligen Stallungen hortete er allerlei Schrott, Bilder von Soldaten oder Plakate der Luftwaffe sowie etliche undefinierbare Utensilien.

Er selbst nannte sich einen Erfinder – als einen verrückten Handwerker, der es vermochte, Unsinn sichtbar zu machen, bezeichneten ihn die Dorfbewohner. Zudem war er häufig in der kleinen Arztpraxis in der Stadtmitte anzutreffen. Dann hatten sich entweder Metallspänen tief unter seine Haut oder die Fingernägel gegraben oder er brauchte Hilfe beim Abhusten.

Ruß belastete seine Lunge, und oft fragten sich die Leute, was er denn so Schädliches in seiner Werkstatt, einer Scheune, trieb. Keiner hätte erahnen können, welche Ideen er bereits in die Tat umgesetzt hatte.

Lilou stand oft an seinem Zaun und beobachtete den Mann, wie er etliche Male von seiner Scheune zu den maroden Ställen humpelte, etwas von hier nach dort trug, eine Sache schleppte und schleifte, dabei meist Selbstgespräche führte und Lilou erst bemerkte, wenn sie ihn zum dritten Mal laut grüßte.

Die blondgelockte Zehnjährige war fasziniert, gleichwohl ihr Vater ihr verboten hatte, sich mit diesem Eigenbrötler zu unterhalten, denn dessen Verhalten erschien Nicolas bedrohlich; ein schlechter Einfluss für seine Tochter. Lilou gehorchte nur bedingt. Oftmals war Coucous Anziehungskraft schlicht größer als die Angst, übers Knie gelegt zu werden.

Auch heute war wieder so ein Tag, an dem die Sonne heiß vom Himmel stach und die Soldaten sowie deren olivgrünen Fahrzeuge in warmes Licht tauchte. Rauchsäulen stiegen hinter einer Hügelkette auf. Schüsse und Männergebrüll wurden hergetragen, wenn der Wind ungünstig stand. Flers erlebte derzeit die Ruhe vor dem Sturm.

Hohe Gräser wiegten im Wind, Grillen zirpten. Eine trügerische Idylle.

Selbst der Wald in nächster Nähe, der Lilou an grauen Tagen immer so unheimlich vorgekommen war, rundete dank dem wolkenlosen Himmel die geradezu perfekte Landschaftsszenerie ab, durch welche sich das Mädchen leichtfüßig bewegte. Bald stand sie vor Coucous Gartenzaun und spähte zwischen Sonnenblumen hindurch, die ebenso gelb wie ihr Kleid waren.

»Dein Salat welkt bald, Coucou! Du musst ihn ernten. Soll ich dir helfen?«, fragte sie, während der Alte bereits zum siebten Mal an Lilou vorbeilief, ohne sie zu bemerken. Man konnte es ihm nicht verdenken, denn ihr Gesicht fügte sich perfekt in die Reihe Sonnenblumen ein, die den Gartenzaun säumten.

»Was?!«, fragte er krächzend und starrte suchend um sich. »Wer ist da?!«

Lilou erkannte zu ihrer Verwunderung, dass er äußerst ängstlich dreinblickte.

»Ich bin es: Lilou! Hier, zwischen den Sonnenblumen! – Coucou, hier bin ich!«

Er griff nach seiner Fliegerbrille und riss diese mitsamt der Mütze herunter, um besser hören und sehen zu können. Danach drehte er sich um sich selbst. Lilou erkannte seine spärlichen grauen Locken, die wie bei einem Mönch nurmehr kreisförmig unter einer Halbglatze wucherten. Lilou kicherte amüsiert und rief abermals:

»Hier, Coucou!«

Sein Gesicht erhellte sich augenblicklich, als er ihre hektisch winkende Hand erkannte.

Lilous blonde Haare leuchteten im Sonnenlicht. Das Mädchen strahlte mit den Blumen um die Wette.

Sie hatte sich zwei Zöpfe gebunden, doch etliche Strähnen, die sich gelöst hatten, kitzelten ihre Wangen und die weiche Stirn. Sie strich sich diese hinter die Ohren und starrte den Alten keck an.

Coucou blinzelte abwesend und erfreute sich an Lilous rehbraunen, großen Augen. »Ah, meine bezaubernde Lilou. Wie geht es dir?«

Der rauchige Klang seiner Stimme erinnerte das Mädchen an einen Schornstein, aus dem sich zähe Töne mühsam nach oben quälten. Selbst beim Atmen fiepte und pfiff es aus seinen verrußten Bronchien.

Sie wollte gerade antworten, doch er kam ihr zuvor.

»Ich hab heute leider keine Zeit. Mach es gut und lass dich nicht in den Sumpf der... Ach egal!«

Seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber wurde abrupt von etwas in seiner Hand abgelenkt. Sie konnte es nicht erkennen. Coucou schimpfte leise: »Mistding... vermaledeites Schrottgerümpel!«

Während er fluchte, zerrte er weiter an jenem kleinen Gebilde herum, das seltsame Melodien klimperte.

»Was hast du da, Coucou?«

Darauf wollte er nicht eingehen, stattdessen verlangte er stammelnd seine Ruhe:

»I-ist besser, wenn du gehst. Du... du bekommst Ärger, wenn du dich hier aufhältst! Erst vor zwei Tagen sprach mich dein Vater an. Nicolas sagte, ich solle dich gefälligst heimschicken, wenn du wieder an meinem Zaun stehen und mir Löcher in den Bauch fragen würdest.«

Er lächelte verlegen.

Lilou deutete seinen Blick richtig. Sie wusste, dass er für gewöhnlich gerne seine Kunstwerke präsentierte und ihre Gesellschaft durchaus genoss, auch wenn ihre Neugier unersättlich war.

»Ich musste nur ein Brot und Eier besorgen. Hab ich schon erledigt – siehst du?«

Stolz hob sie ihren Korb in die Luft und hielt das weiße Leintuch hoch, mit dem sie den Inhalt bedeckt hatte. »Ich musste heute nicht lange warten, ehe ich an die Reihe kam. Also habe ich noch Zeit. Außerdem ist es von hier aus nicht mehr weit, bis nach Hause.«

»Ach Kind«, seufzte Coucou und blickte betrübt auf das kleine Ding in seiner Hand. Das Klimpern dieses Konstrukts wurde leiser. Es erinnerte an etwas Zauberhaftes.

Lilou reckte ihren Kopf weit über die Sonnenblumen. Sie bettelte: »Bitte, Coucou, darf ich mal sehen, was du da in deinen Händen hältst? Nur ganz kurz!«

»Ist nichts für dich, Kind. Geh nach Hause, ich bitte dich. Ich habe noch allerhand zu tun!«

»Bitte! Coucou, nur ein einziges Mal! Ich verspreche dir, dass ich danach sofort gehe, ja?«

Coucou zwinkerte gedankenverloren in den Himmel und rückte seufzend Mütze und Fliegerbrille zurecht. 

»Heute ist ein schöner Tag. Die Sonne scheint und nichts erinnert an den Krieg, solange man die weißen Wolken betrachtet, wie sie sanft an der Sonne vorbeiziehen. Vögel zwitschern, Mücken spritzen wie wilde Blitze herum, schlagen in mein Gesicht ein, als wären es kleine Nadeln... oder Geschosse.«

Er zeigte auf eine dicke Hummel, die geradewegs auf Lilou zuflog. Das Mädchen hatte dafür jedoch nichts übrig. Sie verharrte erwartungsvoll an ihrem Platz und fixierte den Alten mit ihren herrlichen Augen.

»Bitte, Coucou. Nur ganz kurz, ja?«

»Na, ich will mal nicht so sein«, grinste er verschmitzt. Sofort ließ Lilou ihren Korb auf den weichen Grasteppich fallen und rannte um den Zaun herum, sauste durch das Gartentor und schließlich den Hang zu ihm herauf. Sie war ganz außer Atem, als sie nochmals ihre Frage stellte:

»Was hast du da in der Hand, Coucou?«

»Schau es dir an, meine Liebe.«

Lilou machte große Augen, als sie das kleine Ding beäugte. Es machte zwar keinen spektakulären Anschein, trotzdem ging eine subtile Anziehung davon aus. Coucou fragte leise: »Was glaubst du, was das ist? – Na?«

Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen und verengte ihre Augen. Nachdenklich wippte sie auf den Zehenspitzen.

»Hmm... ein Knoten aus Metall? Ein Eisenknoten?«

Sie presste ihre Lippen aufeinander und schaute ihn so charmant an, dass Coucou ihr liebevoll über die rosige Wange strich. Das tat er so langsam, dass sie glaubte, er würde dabei ihre Sommersprossen zählen. Ungeduldig schob sie seine Hand beiseite. »Sag schon: Was ist es denn?«

Seine rauchige Stimme wurde leise und sanft, wobei er das Mädchen durchdringend taxierte.

»So sieht es vielleicht aus, aber das ist nur das Ergebnis eines ersten Blicks. In Wahrheit, meine kleine Lilou, besteht dieser Metallknoten aus zwei Ast-Enden eines ganz bestimmten Baumes. Diese Bäume nennen sich Die Lebensklugen. Dieser Knoten hier wird Wahreisiheik-Noten genannt und ist etwas sehr Besonderes. Ich will sogar behaupten, dass noch kein anderer Mensch, außer uns beiden, etwas Derartiges je gesehen hat.«

Ihr Blick wanderte nervös, als könne sie sich nicht entscheiden, ob es interessanter wäre, Coucous Ausdruck zu deuten oder das Unbekannte zu mustern.

»Ist das wahr? Von einem Baum? Aber der Knoten ist doch aus Metall...«

»Jaaa, da hast du recht! Verrückt, nicht?«

Coucou grinste breit, was seine etlichen Zahnlücken und schiefe, gelb-braune Zähne zum Vorschein brachte, dabei besah er sich sein kleines Schmuckstück. Lilou wollte ihm nicht so recht glauben.

»Was kann man damit machen? Und wieso macht es diese Geräusche?«

Er stellte eine Gegenfrage: »Wahreisiheik-Noten... Welche Wörter stecken in seinem Namen?«

»Not? Noten und Knoten? Noten deutet bestimmt auf seine Fähigkeit hin, Melodien zu spielen. Und Knoten ist einfach: Er sieht ja wie ein Metallknoten aus.«

»Sehr gut, meine Liebe. Aber was noch wichtiger ist: Die Silben des Begriffes Wahreisiheik weisen auf die Worte Weisheit und Wahrheit hin. Dieser Knoten spielt also die Noten der Weisheit und der Wahrheit. Jene Melodien stammen nicht von dieser Welt... Solange die beiden Drähte miteinander verbunden oder nicht weit voneinander entfernt sind, kannst du die leisen Klänge fast ununterbrochen hören. Der Knoten macht nur selten eine Pause. Seine Melodien erinnern an ein gläsernes Windspiel. Es hört sich an, als würden federleichte Tropfen aus Glas gegeneinander fallen. Hab ich recht?«

»Ja, genau so hört es sich an!«

Lilou war ganz verzaubert. Die feinen Töne nahmen ihr jede Beklemmung, selbst die Furcht vor den Soldaten war plötzlich wie fortgeblasen.

»Woher hast du den Wahreisiheik-Noten?«

»Das kann ich dir leider nicht sagen.«

Lilou hakte entrüstet nach: »Warum?«

»Du darfst es nicht wissen.«

Das hübsche Mädchen stapfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. »Aber warum denn?!«

»Nun, meine kleine Freundin, es gibt Dinge, die nicht gut wären, wenn du sie wüsstest. Nicht deshalb, weil du das Wissen nicht ertragen könntest, wohl aber deswegen, weil aus diesem Wissen Neugier entstehen würde. Und diese Offenheit würde eine Gefahr herbeilocken. Eine, die dich verschlingen könnte! – HAPS!«

Coucou schnappte mit seiner Hand nach Lilous Nase. Die Kleine kicherte erschrocken.

»Aber ich werde es niemandem verraten!«, versprach sie drängelnd.

»Mag sein. Es ändert jedoch nichts an meiner Entscheidung, dich zu beschützen.«

Plötzlich wunderte sich der Alte. Er schien etwas zu spüren und starrte verträumt auf den glänzenden Knoten.

»Seltsam«, flüsterte er leise.

»Was meinst du?«, wollte Lilou wissen. Coucou sah sie daraufhin nur verwundert an. Seine Augen wurden auf einmal immer größer.

Das Mädchen imitierte indes, ohne es zu merken, sein verwundertes Gesicht und wagte es nicht mehr, ihre Frage zu wiederholen. 

»Sollte es möglich sein, dass...«, stammelte er jetzt und starrte dabei unentwegt in Lilous Augen. Sie war wie gelähmt, konnte Coucous Faszination spüren.

»A-aber... was ist denn?«, fragte sie zaghaft.

»Ach... aber nicht doch... Also sollte es wirklich... Ich vermute...«

Der Alte brachte keinen vernünftigen Satz mehr zustande, und da fiel sein Blick wieder zurück auf das Metallgebilde.

Er flüsterte abwesend: »Es ist sehr warm geworden, Lilou.«

Sie glaubte, er meinte das Wetter und runzelte irritiert die Stirn. Noch ehe sie etwas entgegnen konnte, hörte sie, wie sich die Klänge aus dem Knoten beschleunigten. Sofort verbreiteten sie eine gespenstische Unruhe.

»Warum tut es jetzt so komisch?«

Coucou war nicht mehr in der Lage, ihre Frage zu beantworten... 

»AH!«, schrie er plötzlich und ließ den Knoten fallen, der vor seinen Füßen sogar kurzzeitig zu glühen begann – allerdings in einem seltsam bläulichen Licht... was Lilou entging, die ihren alten Freund gebannt beobachtete. Der wedelte mit seinen Händen und hopste wild im Kreis.

Lilou hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu verbergen. Derweil schimpfte ihr grauhaariger Freund: »Heiß-heiß! Auuuutsch! Ah, so heiß! Vermaledeites Gebimsel! So ein verfluchter, dampfender, stinkender Mist!«

Augenblicklich war die Musik des Wahreisiheik-Notens verstummt.

Coucou griff gleichzeitig mit Lilou nach unten, aber nicht, um das kleine Kunstwerk wieder aufzuheben, sondern um das Mädchen zu stoppen. Er befürchtete, sie könnte sich daran verbrennen.

Coucou packte sie am Arm, doch da hielt sie das Ding bereits zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war offensichtlich wieder erkaltet.

Mit Entsetzen beobachtete er, wie sie den Wahreisiheik-Noten in ihre Hand legte und das Gebilde still beäugte. 

»Aber es ist ja gar nicht heiß, Coucou. Schau mal!«

Sie hielt es ihm unter die Nase. Der Alte stammelte: »Ab-aber... a-a-aber...«

Und dann beobachteten sie beide, wie sich der Knoten plötzlich löste!

»Coucou! Sieh doch!«

»Unmöglich!«, staunte er entgeistert, wobei er Lilous fragenden Blicken auswich.

»Was ist denn los mit dir, Coucou? – Coucou?«

»Bitte geh jetzt! Ich muss... Ich hab noch so viel vor. Du kannst diesen Knoten behalten. Aber zeig ihn nicht deinem Vater! Sag ihm auf keinen Fall, dass du bei mir warst, ja?!«

»In Ordnung.«

»Versprich es!«

»Ich verspreche es, Coucou.«

»Jetzt geh! – GEH!«

Lilou erschrak. Tränen füllten ihre Augen. Plötzlich ging etwas Bedrohliches von Coucou aus.

 

Er musste jetzt allein sein, wollte sie vertreiben. Am Besten wäre es, so glaubte er, wenn sie niemals wieder zu ihm zurückkäme.

Coucou war verwirrt, gleichzeitig offenbarten sich ihm Wahrheiten. Für ihn fügten sich, just in diesem Moment, eine Vielzahl von Erkenntnissen zusammen; Rätsel einer vergangenen Zeit. Er zog sich eilig in seine Scheune zurück und murmelte dabei unentwegt: »Ich brauche Zeit... Zeit. Jetzt noch nicht, Coucou. Warte noch ein bisschen. Mach es später... Klar, logisch: Es muss sein, aber... aaaber!«

Fahrig gestikulierte er herum, dann schloss er sein Scheunentor. Lilou indes rannte bereits mit ihrem Körbchen davon. In ihrer Hand klimperte das geteilte Gebilde. Es waren liebliche Melodien, und diese beruhigten das Mädchen umgehend wieder.

Lilou wollte noch nicht nach Hause. Sie setzte sich nach wenigen Metern bei einem kleinen Bach auf einen Stein und beobachtete das glänzende Eisen.

»Woher kommt diese Musik?«, fragte sie sich flüsternd und hielt die beiden Metallschlaufen ganz nahe an ihre Ohren.

Augenblicklich vergaß sie die Zeit. Diese Geräusche waren fremd, viel zu zart, als dass sie von etwas Irdischem herrühren konnten. Und als sie so verträumt lauschte, glaubte sie plötzlich, Stimmen zu hören.

Die Zitterpappel, unter der sie saß, wurde mit einem Mal von heftigen Böen erfasst, raschelte laut und übertönte das gläserne Klimpern. Stattdessen hörte sie nun ihren Namen, als würden ihr die Stimmen des Windes Worte entgegenwehen: LILOU!... LILOU!... LILOU! 

Eine Atmosphäre holte sie ein, die an die Stimmung eines bedrohlichen Traumes erinnerte. Sie fühlte sich mit einem Mal so fremd, als würde sie hier nicht hergehören. Wie ein Fremdkörper, eine verhasste Fliege in der Suppe... 

Lilou erschauderte. Selbst die Sonnenstrahlen vermochten sie nicht länger zu wärmen. Eilends rannte sie quer über die Wiese davon, Richtung Dorfmitte. Dabei vergaß sie ihren Korb. Ihre Angst machte sie kopflos, und in ihrer Hand hielt sie noch immer die klirrenden Wahreisiheik-Noten-Teile, während sie beständig von unheimlichen Stimmen verfolgt wurde.

Lilou rannte in ihr Verderben.

 

 

 

Ich oder du

 

 

Kannst du es seh’n, 

das blonde Kind,

wie es weinend flieht wie der Wind?

 

 

So wie du.

Denn auch du bangst um deine Seele,

und fliehst geschwind.

 

 

Ein grünes Meer, 

nur eine Wiese.

Dort jagt euch ein Herrscher,

ein wütender Riese. 

 

 

Der Große heißt Kriegesfluch. 

Er will euch jetzt. 

Er brüllt: »Sinnlose Flucht!« 

 

 

Raues Gras eure Haut zerfetzt,

ihr eure Füße blutig hetzt. 

Und er schreit:

»Nicht schnell genug bist du, 

Lilou!«

 

 

Erleichterung für deine Seele? 

 

 

Ein lauter Schlag erfüllt die Luft 

packt das Mädchen, wirft es nieder. 

Und während ein Fremder um Hilfe ruft, 

schließt sie bereits ihre Lider. 

 

 

Von glühendrotem Staub bedeckt 

schläft sie in tiefer Ruh’. 

Der Tod nach ihr die Krallen reckt,

die Ärmste heißt Lilou, 

 

 

bist zum Glück nicht du! 

 

 

Die Furcht eines Vaters

 

 

Nicolas Renouard war ein stattlicher Kerl, noch dazu faszinierte er durch seine Verwegenheit, ja er besaß den wilden Charme eines Cowboys. Man sah den Vierzigjährigen selten ohne seinen Dreitagebart. Allein die zu tief sitzende Brille mit den lächerlichen kleinen Gläsern verlieh ihm den Anschein eines Intellektuellen.

Nicolas war nicht nur groß und kräftig, sondern erinnerte mit seiner gelebten Vernunft an einen Fels in der Brandung, war gleichermaßen unerschütterlich. Noch ahnte er nicht, dass der Krieg nur das kleinere Übel für ihn darstellen sollte.

Der Schatten eines größeren Mirakels kroch näher, blieb noch unbemerkt von dem Mann, der für Flers’ Sicherheit verantwortlich war. Nicolas war leitender Dorfpolizist. Er und seine Kollegen hatten bisher nie viel zu tun gehabt; hier war es lange ruhig gewesen. Bis zu dem Tag, an dem der Krieg nicht mehr zu leugnen war.

 

»Nur ein kleines Fenster... Dunkel ist es hier drin, trotz des Wetters. Gut so, Sarah. Ist gut so. Auf diese Art sehen wir nur einen Bruchteil dessen, was ohnehin nur den Schaumkranz des Verachtenswerten präsentiert. – Es sind Monster. Sogar den Dorfbrunnen missbrauchen sie für ihren Unrat, und nicht selten uriniert dort einer der Soldaten hinein. Und jene neuen Metallkrieger, diese TANKS mit diesen riesigen Rohren, rauben mir den Frieden. Sogar den Soldaten sind sie unheimlich! Normalerweise fürchte ich mich vor gar nichts, aber diese Dinger sind doch ein Symbol dafür, wie viel die Menschen in den Tod investieren. Nicht nur Geld, Sarah, nein... Ihre gesamte Fantasie setzen sie dafür ein. Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre, welche sie damit verbringen, sich zu überlegen, wie sie am effektivsten Leben vernichten. Mit Angst Eindruck schinden. Pfui Teufel! So weit ist es also schon gekommen...«

Sarah, die zierliche Sekretärin, starrte verbittert auf Nicolas’ Rücken, musterte dessen wilde Frisur: ein Mix aus dunkelbraunen Wellen und starr abstehenden Strähnen. Er verdeckte mit seinem breiten Oberkörper das Fenster vollständig und schaute dabei abwechselnd hinaus und dann wieder auf den Boden.

So kannte sie ihn nicht. Nicolas war eigentlich immer ein fröhlicher, lustiger Mann gewesen. Oft unterstrich er mit seinen Segelohren gelegentliche Späße, wobei jedoch seine übereilte Schlagfertigkeit des Öfteren für Tritte in Fettnäpfchen sorgte. Dennoch war er sehr beliebt im Ort, zählte zu den Hilfsbereiten. Seine Stimmung allerdings beugte sich allmählich vor dem finsteren Herrn Krieg.

»Ist so lange her, dass Frieden war. Kommt mir schon so ewig vergangen vor. Ihnen auch, Sarah?«

Sie nickte leicht, aber er sah es nicht. Er erwartete ohnehin keine Antwort.

 

Plötzlich vibrierte der Boden. Die Fensterscheibe klirrte, ebenso zwei Trinkgläser, die gegen einen Wasserkrug hämmerten. Nicolas hielt sich am Fensterrahmen fest und berührte mit seiner Nasenspitze beinahe die Scheibe, hinter der sich die Hitze staute.

»Schon wieder«, seufzte er bloß und beobachtete das Ungetüm, das den Staub hinter sich aufwirbelte, als hätte es eine Armee aus Geistern erweckt – ein unruhiges Gefolge, das alles einhüllte, woran es vorbeizog. Panzer waren die neuesten Instrumente der hochrangigen Befehlshaber. Die Soldaten nannten sie TANKS.

»Die fahren Richtung Coucou. Das Areal vor seinem Hof ist der Ausgangspunkt weiterer Angriffe, nehme ich an. Er besitzt das letzte Anwesen am Dorfrand. Verstehen Sie, was ich meine? Haben Sie schon die Zeitung gelesen, Sarah?«

Nicolas wandte sich von der Szenerie draußen ab und beobachtete die blasse Sarah, die abwesend Löcher in die Luft starrte.

»Sarah? Haben Sie mich verstanden?«

Sie zuckte wie aus einer Trance erwacht. Endlich verneinte sie kopfschüttelnd, worauf Nicolas meinte: »Es ist immer noch wichtig, die Zeitung zu lesen, Sarah. Scheuen Sie sich nicht davor. Wir müssen der Angst in die Augen blicken, um zu erkennen, woher sie kommt. Nur so verliert sie den Schrecken. – Was macht die Angst sonst mit uns?«

Kaum hörbar, gleich einem verschüchterten Kind flüsterte Sarah: »Sie lähmt.«

»Richtig! Sie lähmt. Aber wenn ich meine Furcht kenne, kann ich sie besiegen.«

Nicolas schritt zur Anrichte, füllte dort zwei Gläser mit Wasser, nahm beide mit sich und reichte Sarah eines. Sie lehnte dankend ab.

Nicolas betrachtete sie mit besorgtem Blick, während er ihr Glas abstellte. Daraufhin gönnte er sich einen großen Schluck.

Es war bereits halb zwölf. Sarah hatte den ganzen Morgen weder etwas gegessen noch getrunken.

»Sie haben wirklich keinen Durst?«, fragte er fürsorglich. Sarah schüttelte traurig den Kopf.

»Was bedrückt Sie, meine Liebe?«

»Es ist nichts, Monsieur Renouard. Nur eine leichte Magenverstimmung.«

Mit misstrauischem Blick leerte er sein Glas. Wahrscheinlich hatte sie wieder Probleme mit ihrem Gatten, vermutete Nicolas. Die Leute erzählten sich so allerhand über Sarahs Ehe, trotzdem verwarf er seine Spekulationen, schließlich hatte er Wichtigeres zu tun.

Nach einem lauten Seufzer setzte sich Nicolas an den Schreibtisch. Der kleine Raum war nur eines von vielen dunklen Bürozimmern in dem herrschaftlichen Gebäude, das wie ein Mahnmal vor dem großen Marktplatz thronte. Ein kantiger Klotz, klobig, und wie Nicolas zu sagen pflegte »schlicht hässlich«. Der fuhr mit einem Monolog fort: »Ha, die Deutschen... Deren Offensive aufzuhalten wird kein leichtes Unterfangen. Die Briten stellen überwiegend unerfahrene Divisionen als Hauptkräfte zur Verfügung. Und die wollen den deutschen Frontbogen auflösen? Wohl kaum, oder was glauben Sie, Sarah? Ach, sagen Sie nichts, wir werden schon sehen, wie...«

Plötzlich erschütterte ein lauter Knall das Gebäude. Nicolas rutschte beinahe die Brille von der Nase. Er hörte panische Schreie. Auch Sarah war aufgestanden, und jetzt spähten beide durchs Fenster. Sie beobachteten eine mächtige, braun-gelbe Staubwolke, die sich am Zipfel des Dorfes auftürmte, zu einem Riesen wurde, der schließlich gespenstisch Richtung Marktplatz waberte. 

Lautlos kroch die Wolke an Schaufenstern vorbei, hüllte Passanten ein, die schreiend davonrannten. 

Sofort eilte Nicolas durch den langen Flur hinaus.

Schon stand er auf der Außentreppe im Freien. Er rannte die Stufen gänzlich hinunter und beobachtete das unwirkliche Szenario.

»Krieg!«, kreischten einige Leute, doch Nicolas zweifelte: Die Situation erschien ihm seltsam. Es fielen weder Schüsse noch folgte ein weiterer Knall. Und nachdem sich die Panischen zurückgezogen hatten, beruhigte sich die Lage wieder, als wäre nichts geschehen... Auch die mächtige Wolke fiel gänzlich in sich zusammen, woraufhin eine bedrückende Stille den Mittelpunkt des Dorfes beherrschte.

 

Auf einmal war weit entferntes Rufen zu vernehmen. Jenes Gebrüll erinnerte an Befehle, so vermutete Nicolas, Worte mit Sinn, keine Schmerzens- oder Panikrufe, und in diesem Moment trieb ihn etwas an. Ihm erschien es, als würde jemand hinter ihm stehen, ihm verraten, dass er direkt etwas mit dieser Sache zu tun hatte. Und dass er sich beeilen musste... 

Von seiner Intuition alarmiert preschte Nicolas geradeaus auf die Gasse zu, welche zum Dorfrand führte, genau dorthin, wo die Wolke entstanden war. Dem Wind entgegen.

Bald schon erkannte er Menschen, die ebenfalls in seine Richtung eilten.

Und dann weiteten sich seinen Augen: Am Ende der Gasse, wo sich das Dorf den freien Feldern öffnete, stoppte er, um die Lage zu erfassen. Menschen hetzten um einen Kasten herum, einen sogenannten TANK. Das Rohr dieses Panzers erinnerte beinahe an eine starre Blüte, so spreizten sich die Metallfetzen davon ab. Unweit davor bückte sich eine Menschentraube über etwas, das am Boden lag. Immer wieder rannte jemand von dort weg, suchte augenscheinlich nach Hilfe – nach irgendjemandem.

Nicolas fühlte er sich wie ein Teil einer traurigen Fantasie. Als wäre er nicht wirklich hier, als wäre die Situation völlig irreal. Die Stimmen der Menschen verschwammen.

In diesem Augenblick trat einer seiner Kollegen aus dem Menschenkreis heraus.

Kopfschüttelnd sah er zu Boden, rieb sich die Stirn und dann erblickte er Nicolas. Sie sahen sich an, zwei Freunde, Kollegen seit vielen Jahren. Nicolas war erstarrt.

Henry, sein rundlicher Freund mit den treuen Augen, wagte kaum weiterzugehen, machte nur zögerliche Schritte. Kurz vor Nicolas stoppte er und ließ ihn wissen: »Es ist Lilou. Es tut mir so leid, Nicolas, aber...«

Ein stechender Schmerz durchfuhr Nicolas’ Herz. 

Er hetzte zu ihr hin, stieß die Menschen grob von sich weg.

Da lag sie. Noch bleicher als der Aschestaub.

Ein Metallsplitter in der Größe eines Rabenflügels hatte sich tief in ihre Brust gebohrt. Lilous hübsches Gesicht war von roten Sprenkeln übersät und ihr gelbes Kleid saugte sich mit Blut voll.

Nicolas ließ sich auf die Knie fallen und strich seiner Tochter zitternd über die blonden Haare. Dann schrie er laut, als wollte er die Schuldigen vertreiben.

Lilou regte sich nicht.

Henry war Nicolas hinterher geeilt: »Es war eine Munitionsgranate. Die ist im Geschütz explodiert. Ein Unfall – genau da, als Lilou hinter der Kurve hervorkam. Es tut mir so leid...«

Die Menschentraube löste sich auf. Verschämte Soldaten beobachteten den Schrecken eines Vaters. Der brüllte: »Das ist der Krieg! Seht hin, ihr Mörder! – Nur ein Schicksal von so vielen! – Ich habe doch schon meine Frau verloren. Wie soll ich leben, ohne meine Tochter? – Ihr habt keine Antwort...«, weinte er schließlich. »Ihr redet nicht. Nein. Ihr schießt.«

Etwa dreißig Leute, Soldaten und Einheimische, standen herum. Ein neugieriger Kopf mit Helm ragte aus einem weiteren Panzer, der in einiger Entfernung stand. Die meisten zeigten sich betroffen, wenige wischten sich verstohlen eine Träne davon. 

»Jeder von euch hat Glück gehabt, was? Nur meine kleine Lilou war zur falschen Zeit am falschen Ort. Ein unschuldiges Kind! – Warum meine Lilou?!«

Henry umarmte seinen Freund, der in sich zusammensank.

»Ich will nicht mehr!«, weinte er in Lilous Hals.

In seinem Leid blieb ihm verborgen, welche Klänge durch die Luft schwebten – die Töne eines eigentümlichen Metallgebildes... Sie waren nicht von dieser Welt. Und unhörbar saugte die Lunge eines kleinen Mädchens Luft in sich ein.

Da zuckte plötzlich ein leichter Ruck durch Lilous Körper.

In seinem Schock registrierte Nicolas zunächst nichts. Doch nun keuchte Lilou, hustete, wollte ihre Augen öffnen, was ihr aber nur für Sekunden gelang.

»SIE LEBT!«, verstand Nicolas endlich. »EIN ARZT! WIR BRAUCHEN EINEN ARZT!«

Sofort hetzten Hilfsbereite heran, doch da rannte Nicolas bereits mit Lilou ins Dorf zurück, geradeswegs zu dem notdürftig aufgebauten Lazarett. Das Krankenhaus wäre noch weiter weg gewesen und war außerdem schon überfüllt genug.

Nicolas schob sich durch den Zelteingang und schrie unaufhörlich nach einem Arzt. Henry stand seinem Freund bei.

 

Lilous Gesicht erinnerte Nicolas an seine Frau. Alles an ihr hatte ihn stets an sie erinnert – an Clara. Sie hatte auch diese herrlichen blonden Locken gehabt und dieses kindliche Gesicht mit den großen Kulleraugen. Selbst als Erwachsene hatte Clara niemals diese Erscheinung verloren, hatte dazu wild und verspielt gewirkt.