BROKEN AMERICA - DIE TRILOGIE - Inka Mareila - E-Book

BROKEN AMERICA - DIE TRILOGIE E-Book

Inka Mareila

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Beschreibung

In einer Welt, in der ein noch nie dagewesener Irrsinn regiert, fügen sich auf kuriosem Wege die Leben von Hannah, Bill sowie jene der Geschwister Ella und Ted wie Puzzleteile zusammen. Ihre Schicksale weisen rätselhafte Verstrickungen auf... Gleichzeitig fahndet der Geheimdienst nach einem mysteriösen Manuskript, dessen Autor unauffindbar bleibt. In seinem Schriftstück prophezeite Tom Madox Ward bereits vor Jahren eine düstere Zukunft mit verblüffenden Parallelen zur gegenwärtigen Realität, die sich erst seit dem Amtseintritt des neuen amerikanischen Präsidenten sukzessiv offenbaren. Noch ahnt keiner der vermeintlichen Helden, welche Rolle er übernehmen muss, um das Geheimnis zu lüften und ein damit verknüpftes Unheil aufzuhalten - denn nichts ist so, wie es den Anschein hat... Mit Broken America – Die Trilogie präsentiert Erfolgs-Autorin Inka Mareila einen Blick auf die Vereinigten Staaten der Gegenwart, der einem perspektivisch gebrochenen, vielfach zersprungenen Spiegel gleicht, den zu durchschreiten der Leser vielleicht nicht wagt... Die drei in diesem Band zusammengefassten Romane sind Literatur auf der Höhe der Zeit – und zweifellos darüber hinaus.

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INKA MAREILA

BROKEN AMERICA

DIE TRILOGIE

Drei Romane in einem Band

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autorin 

 

BROKEN AMERICA: DIE TRILOGIE 

BROKEN AMERICA 1: ZWISCHEN DEN FRONTEN 

BROKEN AMERICA 2: GESPLITTERTES LEBEN 

BROKEN AMERICA 3: SPIEGELWELT 

 

Das Buch

In einer Welt, in der ein noch nie dagewesener Irrsinn regiert, fügen sich auf kuriosem Wege die Leben von Hannah, Bill sowie jene der Geschwister Ella und Ted wie Puzzleteile zusammen. Ihre Schicksale weisen rätselhafte Verstrickungen auf...

Gleichzeitig fahndet der Geheimdienst nach einem mysteriösen Manuskript, dessen Autor unauffindbar bleibt. In seinem Schriftstück prophezeite Tom Madox Ward bereits vor Jahren eine düstere Zukunft mit verblüffenden Parallelen zur gegenwärtigen Realität, die sich erst seit dem Amtseintritt des neuen amerikanischen Präsidenten sukzessiv offenbaren.

Noch ahnt keiner der vermeintlichen Helden, welche Rolle er übernehmen muss, um das Geheimnis zu lüften und ein damit verknüpftes Unheil aufzuhalten - denn nichts ist so, wie es den Anschein hat...

Mit Broken America – Die Trilogie präsentiert Erfolgs-Autorin Inka Mareila einen Blick auf die Vereinigten Staaten der Gegenwart, der einem perspektivisch gebrochenen, vielfach zersprungenen Spiegel gleicht, den zu durchschreiten der Leser vielleicht nicht wagt... Die drei in diesem Band zusammengefassten Romane sind Literatur auf der Höhe der Zeit – und zweifellos darüber hinaus.

Die Autorin

Inka Mareila, Jahrgang 1981.

Inka Mareila ist eine deutsche Schriftstellerin, die ihre Karriere im Jahr 2013 mit Science-Fiction- und Horror-Romanen begann.

Ihr Debüt – neben fünf Bänden für die Zombie-Serie Violent Earth - war die dystopische SF-Trilogie Fynomenon.

Mehrfach wurde sie in den Folgejahren für den Vincent Preis nominiert: 2013 für die Kurzgeschichte Gramla, 2014 für Mordsucht GmbH und Co. KG (vier Horror-Märchen) und schließlich 2015 für den Mystery-Thriller Fleischfang – Parademonium.

2015 folgten die Romane Gladium - Schattenlicht und Gladium - Die Cyborg-Dämonin sowie das Drama Lila Floh in Lavendel - Das Rätsel des stummen Kindes. Für Phillip Schmidts SF-Serie Schattengewächse schrieb sie 2016 den Roman Tod und Spiele.

Außergewöhnliche Wege beschritt sie anschließend mit dem Kinderbuch/Spendenprojekt Die Superalma gibt es wirklich - ein Buch, gemeinsam verfasst mit neun Kindern und deren alleinerziehenden Müttern.

Nach der Veröffentlichung des modernen Märchens Milans bunte Flügel (2016) entschied sie sich für eine neue thematische Richtung; insbesondere mit ihren frühen Horror-Geschichten konnte sie sich nicht länger identifizieren. Sie trennte sich von ihrem bisherigen Verlag, um schriftstellerisch mehr Freiheiten zu haben und wagte einen Neustart.

Seither widmet sie sich vorrangig gesellschaftskritischen Texten, verfasst unerschrocken Texte zu Tabu-Themen - beispielhaft umgesetzt in ihrem aktuellen Thriller Der Feind, der im Apex-Verlag erscheint.

BROKEN AMERICA: DIE TRILOGIE

  BROKEN AMERICA 1: ZWISCHEN DEN FRONTEN

 

 

 

Prolog: Henry und Tammy

 

Wir waren zwei Soldaten, verliebt in die Seele des anderen und im Patriotismus vereint. Tammy war meine Göttin; stark, wunderhübsch, zärtlich und dennoch voller Gewalt. Sie kämpfte wie ich für das Richtige, für unser Land, für unser Volk. Doch dann kam der Tag, der alles veränderte, der unsere Grenzen verschwimmen ließ, weil uns die Regierung verriet. Es war der Tag, an dem ich mich das erste Mal fragte, wofür ich eigentlich noch stand, wenn ich mich weiterhin dem System und seinen Befehlen ergab. Und Tammy ging es gleich.

Einander zu lieben war im Soldaten-Alltag eine kräftezehrende Herausforderung, ja es war eine echte Last, dem anderen häufig so fern sein zu müssen. Tammy war anfangs in einem anderen Kader als ich stationiert, erst nach drei Jahren kamen wir in die gleiche Eliteeinheit. Wir brauchten uns, wie die Luft zum Atmen. Sie motivierte mich und ich sie.

Wir hatten uns in der Ausbildung kennengelernt. Ich war sofort Feuer und Flamme gewesen, hatte das Gefühl, meine Seelenverwandte gefunden zu haben, weil sie tief in meinem Innern eine Seite ansprach, von der ich bis dahin nicht ahnte, sie zu besitzen. Zudem verkörperte Tammy alles, was ich unter einer starken Frau verstand. Ich war ihr hoffnungslos verfallen, ja ich war süchtig nach ihrem durchtrainierten Körper, ihren langen dunkelblonden Haaren, die sie meist zu einem Zopf gebunden hatte, und nach ihren strahlenden, grünen Augen. Diese Frau hatte Macht über mich, weil sie mich geradezu magisch anzog und sie ihre Anziehungskraft wie ein verzauberndes Gift einsetzte. Und sie ließ sich niemals erschüttern. Bis zu diesem Tag...

Es war, als wäre die Welt plötzlich eine andere, als drehte sie sich falsch herum. Es war noch schlimmer als damals, als das Kalifat ausgerufen wurde und alle dachten, jetzt würde es losgehen - die Apokalypse, der Atomkrieg, das unbeherrschbare Chaos -, doch stattdessen zog sich der Anfang vom Ende noch eine Weile hin. Eingeläutet wurde der Beginn der gesellschaftlichen Zerstörung erst durch die Präsidentschaftswahlen im Herbst.

Tammy und ich hatten beide keine Familie mehr, wir hatten nur noch uns - und unseren Stolz auf unser Land. Doch als dieser Stolz erlosch, fehlte uns der Sinn hinter unserer einstigen Berufung. Deshalb trafen wir eine Entscheidung.

Es war bereits tiefe Nacht, als wir uns aus unseren Zimmern schlichen und auf dem Dach eines Gebäudeblocks trafen. Der Mond schien hell, er stand wie ein Tor vor uns - ein Tor zu einer besseren Welt. Nur dort oben schien Licht, alles andere präsentierte die Gier der ewigen Nacht, die uns verschlingen würde, wenn wir ihr nicht rechtzeitig entkamen.

Ich hatte schon so viel gesehen, zu viel. Abgerissene Gliedmaße, erhängte Kameraden, die sich durch den Tod von ihrem Albträumen erlöst hatten, zersplitterte Kinderkörper, zerfetzt von Granaten oder irren Schießwütigen, die ihre Waffe erst sinken ließen, wenn ihre Opfer bis zur Unkenntlichkeit zerstört waren.

Solche Bilder bleiben ewig, verblassen nie, dabei ist es längst kein Geheimnis mehr, was Soldaten nach ihren Einsätzen noch mit sich herumschleppen. Sie nehmen alles mit, denn kein derart extremes Bild wird ohne Emotionen aufgenommen. Diese Bilder bleiben für immer. Sie machen aus starken Muskelmännern hagere, zerbrechliche Nervenbündel. Sie zwingen Helden dazu, wie Kinder zu schreien, und lassen sie in einsamen Stunden verzweifeln.

Ich hatte bereits nach meinem ersten Einsatz begonnen, sämtliche Actionfilme zu verachten. Nichts, was dort gezeigt wird, reicht auch nur annähernd an die Realität heran. Kein Mann strotzt auch nur entfernt derart vor innerer Stärke, wie Stallone, Schwarzenegger oder Van Damme in ihren typischen Rollen. Was bis dato aus den Fernsehern flimmerte, war pure, stinkende Fantasyscheiße.

Tammy und ich waren in diesen grundlegenden Ansichten immer der gleichen Meinung. Ich liebte sie, weil sie meine bessere Hälfte war, weil sie meine Gedanken ergänzte, meine Hoffnungsbilder mit Farben füllte und mein Herz zum Glühen brachte. Das wärmte mich, egal wo ich war. Egal ob in Afghanistan, im Irak oder sonst wo. Ich hatte sie die ganze Zeit in mir gehabt.

Krieg macht, dass man mit jedem Schuss, den man auf einen Fremden abfeuert, einen Teil von sich selbst vernichtet. Unwiederbringlich. Unheilbar. Zum Schluss fühlt man sich wie eine Hülle, so leer wie man sich nur fühlen kann.

Tammy ließ mich wieder mehr spüren. Sie zeigte mir, dass ich noch ein Herz hatte. Doch als der Tag kam, der uns deutlich machte, dass wir nicht länger für eine eindeutige und gute Sache kämpften, starb etwas in Tammys Augen. Danach schien unser Glück verschwunden zu sein. Keiner konnte dem anderen mehr die Sonne ins Herz zaubern, keiner konnte den anderen mehr mit seinem Lachen anstecken - wenn er denn mal lachte. Es war die Fähigkeit, Freude zu empfinden, die gänzlich aus uns verpufft war, weil wir keinen anderen Lebenssinn fanden als das, was Vergangenheit war.

Und plötzlich sahen wir uns nur noch als die Spielfiguren eines Wahnsinnigen, eines ganzen wahnsinnig gewordenen Landes, ja einer verrückt gewordenen Welt. Für meine Kameraden empfand ich plötzlich Mitleid, da war kein Stolz mehr. Nirgendwo in mir. Und weil Tammy und ich einen Entschluss gefasst hatten, trafen wir uns also in dieser Nacht.

Heute.

Jetzt.

 

»Inzwischen bin ich froh darüber, dass ich keine Kinder bekommen kann. Selbst wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich keine gewollt. Nicht in dieser dunklen Zeit.«

Ich nicke bloß und halte ihre Hand. Wir lassen unsere Füße über den Rand des Flachdaches baumeln. Der frische Herbstwind lässt Tammy frösteln, die lediglich in einem Unterhemd neben mir sitzt. Wenigstens trägt sie dazu ihre Soldatenhose und die schwarzen Stiefel - so wie ich. Denn ich kann sie nicht wärmen, kann meinen Arm nicht um sie legen, weil ich vor Angst wie versteinert bin. Das Einzige, was ich in diesen Minuten zu tun vermag, ist, ihr eine Herbstaster ins geflochtene Haar zu stecken, die ich aus der Vase der Sekretärin stibitzt habe. 

Tammy lächelt. Im Licht des Mondes erinnern ihre sanften Konturen an Porzellan. Ein silberner Schimmer liegt auf ihre Haut. Tammy schwitzt kalten Schweiß. Ich weiß, dass sie sich fürchtet. Auch ich spüre Todesangst.

Sie legt mir ihre Waffe in die Hand und spricht: »Lass und nicht mehr warten. Lass uns gehen. Gemeinsam... für immer.« 

Eine Träne kullert ihr über die Wange.

Ich küsse sie. Zuerst auf den Mund, dann auf die Wange. Ich schmecke das Salz ihrer Tränen. Erst danach nicke ich. Wir haben uns bereits vor  Stunden alles gesagt. Es war nicht viel, denn es gibt nichts Wichtiges mehr. Für uns zählt nur noch eine leise Hoffnung, die sich wahrscheinlich nie erfüllen wird, und doch ist sie das Einzige, woran wir noch glauben können.

Vereint im Jenseits - fern einer Welt, in der wir weder Frieden noch Glück finden können. 

Ich gebe ihr meine Waffe. Wir lächeln uns an.

»Willst du stehen, mein Engel?«

»Nein. Ich lege mich hin.«

Tammy legt sich auf den Boden und ich knie mich breitbeinig über sie. Neben mir geht es steil hinab, ich knie direkt am Rand des Gebäudes. Mir ist schwindelig vor Furcht und ich bemühe mich, nicht umzukippen.

»Setz dich auf mich«, fordert Tammy, und sie lächelt, als sie mich auf sich spürt. In einer anderen Situation, zu einer anderen Zeit wäre ich erregt gewesen, doch jetzt macht es mich noch trauriger. Nie wieder werde ich ihr näher sein als in diesem Augenblick. Ich schlucke meine Tränen, bin ganz leise.

Jeder richtet seine Waffe auf den Schädel des anderen.

»Ich liebe dich, Tam«, flüstere ich.

»Und ich liebe dich, Henry McCollister.«

Wir zählen gemeinsam von drei rückwärts.

Drei... 

Zwei... 

Eins... 

Dann drücken wir ab.

Ein Knall gellt durch die Luft, flutet die Nacht und überschwemmt die Kasernendächer wie eine mächtige Welle. Dann fliege ich. Ich kippe... und falle lange...  

Ich sehe den Himmel über mir, entferne mich von meinem Herzen, meinem Engel. Als hätte ich einen Film vor Augen, sehe ich sie vor mir, wie ihre seidigen Haare gierig das Blut aufsaugen, das aus ihrer Stirn sickert.

Mein Herz geht für immer. - Tammy. 

Ich habe keine Schmerzen, nicht einmal dann, als ich auf dem Boden aufschlage und der Mond sich verfinstert, bis alles um mich schwarz wird. Das Tor zur Ewigkeit hat sich verschlossen. Ich weiß, ich werde nicht sterben. Ich weiß es einfach. Ich will schreien, doch stattdessen holt mich die Ohnmacht. Sie macht mich stumm, und der Herbstwind berührt mein schweißnasses Gesicht, bis ich nichts mehr spüre.

Gar nichts.

 

 

ZWISCHEN DEN FRONTEN - BAND 1 

 

Hannah & Ella

 

Als Hannah, meine Nanny, aus dem Fenster spähte und plötzlich hektisch wurde, begriff ist zunächst nicht, weshalb ihre Fassung von ihr abbröckelte, wie der Putz von einem bebenden Gebäude. Hannah riss die Augen auf, fuchtelte wild herum und schrie bloß: »Bunker, Bunker!« 

Sie sprach ein gebrochenes Englisch, aber sie musste ohnehin nicht viel sagen, damit ich wusste, was sie meinte, denn wir verstanden uns auch ohne Worte. Nachdem sie mich einmal vor einer Vergewaltigung beschützt hatte, indem sie unserem Gärtner einen Spaten in den Rücken rammte, wurde sie zu meiner besten Freundin. Auch jetzt schien sie mich beschützen zu wollen...

Hannah packte mich, riss mich mit sich, und ohne zu wissen, worum es ging, erinnerte ich sie schreiend an meinen Bruder. An Teddy. Ted war erst sieben Jahre alt, und er würde gleich aus dem Klavierunterricht nach Hause kommen. Er würde nicht wissen, wo wir waren, und Angst haben.

Doch Hannah schlug mir auf den Mund und fauchte Begriffe, die mich verstummen ließen, während ich ihr hinterherrannte, weil ich spürte, dass ich keine andere Wahl hatte. Weil da etwas auf uns zukam, wovor wir uns schützen mussten.

Der Bunker im Keller des riesigen Anwesens meiner steinreichen, durch ihre Abwesenheit glänzenden Eltern, war über einen Durchgang in der Rückwand eines Schranks zu erreichen. Hannah zerrte mich vor sich und zwang mich, durch die Luke in den Schacht zu steigen, der über etliche Treppenstufen hinab zum Schutzraum führte.

Wir hörten ein Trampeln. Männer brüllten herum. Ich verstand kein einziges Wort. Sie krakeelten wild durcheinander, wie wütende Gorillas. Ich konnte kaum abschätzen, um wie viele es sich handelte.

Türen wurden aufgebrochen. Die Fremden waren so laut, dass mich das Gefühl von blanker Panik beherrschte. Ständig fragte ich mich, ob ich gleich sterben müsste. Ich war erst siebzehn, da wartete doch noch mein ganzes Leben auf mich!

Hannah hatte mich noch nie zuvor so grob angepackt, ständig tat sie mir weh, schubste mich, damit ich schneller lief, und zerrte mich schließlich in einen Raum, der kaum größer war als unser teuer möbliertes Kaminzimmer.

Als Tochter eines reichen Unternehmers und seiner erfolgreichen Gattin, einer angesehenen Anwältin, genoss ich bisher die Vorzüge eines privilegierten Lebens, dessen einzige Nachteile Einsamkeit und Langeweile hießen, jedenfalls dachte ich das, bis plötzlich die Todesangst Einzug hielt. In diesem Moment glaubte ich, die Mafia wäre in unser Haus eingedrungen. Keine Ahnung, wie ich auf diesen Gedanken kam. Vielleicht hatte ich bis dato einfach zu viele Thriller gelesen.

Im Schutzraum befanden sich Regale voller haltbarer Lebensmittel, Decken, Batterien und Medikamenten, außerdem gab es eine angrenzende Nasszelle, ein Gemeinschaftsschlafzimmer, eine Küchenzeile und einen Funkraum. Dad hatte Hannah einmal angeordnet, Teddy und mich hier herumzuführen, damit uns dieser Raum im Ernstfall nicht fremd war. Ich hasste diesen Bunker schon damals. Er erschien mir wie ein Grab, so auch heute.

Seine dicken Wände verhinderten nicht, dass wir über uns die Männer hörten. Und immer wieder knallte es. Keine Ahnung, ob es nur aufgetretene Türen waren oder die Schüsse aus Gewehren. Keine Ahnung! Ich weiß nur noch, wie ich am ganzen Körper zitterte und anfing zu weinen. Erst da drückte mich Hannah schützend an sich.

Wir kauerten uns in eine Ecke und lauschten dem Lärmen der Eindringlinge. Es erschien mir wie eine Ewigkeit. Ständig tauchte Teddy vor meinem inneren Auge auf, wie er zur Haustür reinkam und in einem Flur stand, in dem alles durcheinander lag, weil dort eine Horde wildgewordener Vandalen randaliert hatte... in dem es so aussah, als hätte ein Tornado gewütet. Und wenn Teddy nach mir rufen würde, könnte ich ihm nicht antworten, dann würde er anfangen zu weinen und vielleicht zu Mrs. Daphne, unserer Nachbarin, gehen, die ihm aber auch nicht erklären könnte, was passiert war.

Vielleicht sprengen sie unser Haus in die Luft? Oder vielleicht dringen sie zu uns vor und bringen uns um?, dachte ich voller Sorge.

Irgendwann wimmerte ich: »Was ist hier los? Hannah... bitte sag mir, was hier los ist!«

Sie erklärte die Katastrophe mit vier Worten: »Ich bin illegal hier, Ella.« Dann küsste sie meine Haare und weinte auch.

Ich liebte Hannah. Sie war mir Mutter und beste Freundin, die einzige Freundin. Seit vier Jahren schon. Als ich dreizehn Jahre alt war, stellte sie sich meiner Mutter vor, die unbedingt eine neue Nanny für Teddy und mich brauchte, da die vorherige aufgrund einer schweren Erkrankung überraschend gekündigt hatte.

Mum hatte Hannah schließlich eingestellt, nachdem sie den Gärtner mit herabgelassener Hose neben mir liegen sah - bewusstlos und mit einer Fleischwunde unter seinen Schulterblättern, die ihre furchtlose Angestellte ihm zugefügt hatte. Meine Nanny sollte sich innerhalb einer Woche beweisen, und das hatte sie geschafft. Laut Hannah wusste Mum von Anfang an, dass sie illegal im Land lebte, doch ich fand das erst heraus, als das Sondereinsatzkommando unser Haus stürmte. Oder war es doch die Mafia?

Ich war Hannah nicht böse, wie sollte ich auch?! Schließlich konnte sie ja nichts dafür, dass einige Politiker dieses Landes durchdrehten und elf Millionen Migranten aus dem Land sortieren wollten. Ich hätte niemals gedacht, dass dieser Ernst so nahe und uns unmittelbar berühren könnte, doch die Realität knallt manchmal wie eine Ohrfeige.

Minutenlang lauschten wir, horchten beinahe atemlos den Geräuschen über unseren Köpfen; dem Hin- und Hergepolter und den tiefen, dumpfen Stimmen.

Allmählich beruhigten wir uns. Über uns wurde es leiser. Ich wagte erst wieder zu sprechen, als ich vermutete, dass sie das Haus verlassen hatten.

»Was sollen wir jetzt tun, Hannah?«, fragte ich ängstlich, doch sie schüttelte bloß den Kopf.

»Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte sie und starrte in die Luft. Ihre braunen Augen erschienen beinahe schwarz in dem schummrigen Licht einer Taschenlampe, die vor unseren Füßen lag. Ihre Schürze roch nach dem Schweinebraten im Blätterteig von heute Mittag. Ich sog die Aromen in mich ein, die einen Teil meines Verstandes in wohlige Gefühle hüllten.

Derweil versuchte ich, mir einen Plan auszudenken, aber auf die Schnelle fiel mir keiner ein.

Hannah konnte nicht bleiben, sie musste fliehen, um nicht in einem der grausigen Internierungslager zu landen. Von dort, das ahnte ich, würde sie nicht mehr entkommen, müsste Drecksarbeit verrichten und würde wahrscheinlich auch an einer der vielen Epidemien sterben, die ständig in den Lagern grassierten. Ich wollte sie auf keinen Fall verlieren, ich hatte doch nur sie - und Teddy.

Selbst Schuld, hatte mein Dad immer gesagt. Ich sei selbst für meine Einsamkeit verantwortlich, wenn ich mich derart hinter Büchern, Fantasien und meinem Interesse am Weltall und den Prophezeiungen von Nostradamus, Irlmaier und Baba Wanga verkroch. Ich verschlang den Lesestoff regelrecht. Mein Zimmer erinnerte an eine beengte Bibliothek. Und ich war stolz darauf.

Vielleicht war ich aber auch deshalb so seltsam und verschüchtert, also ein unbeliebter Irgendjemand, der sich am liebsten in seiner Bücher-Scheinwelt verkroch, weil der Gärtner es schon ein paar Mal geschafft hatte, mich zu... mich zu... Egal. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich  sehr gut darin war, unausstehlich zu sein, um in Ruhe gelassen zu werden. Nur Hannah und Teddy ließ ich an mich heran. Sonst niemanden. Meiner Mum war das immer egal gewesen. Sie zeigte kaum Interesse an Teddy und mir. Oft genug hatte ich mich gefragt, weshalb meine Eltern überhaupt Kinder in die Welt gesetzt hatten. Selbst nachdem die Sache mit dem Gärtner ans Licht kam, war meiner Mutter egal gewesen, welch psychische Belastungen ich durchlitt.

Wo beginnt das eigene Leben, wenn man sich verloren hat?

Ich sollte es bald herausfinden...

Hannah ging es in mancherlei Hinsicht genauso wie mir. Seit jeher führte sie ebenfalls ein verstecktes und eingeschränktes Leben, immer in der Angst, die Wahrheit könnte auffliegen. Und so kam es ja dann auch. Die Wahrheit flog auf und das Leben machte eine scharfe Wendung.

Sie versuchte mich zu beruhigen, doch nichts nützte. Richtig schlimm wurde es, als ich von oben Teddys helle, durchdringende Stimme hörte. Wie er meinen Namen rief, voller Hoffnung, dass ich ihm sicher gleich antworten würde, doch Hannah hielt mir den Mund zu.

»Die sind noch da«, fauchte sie mich an, wonach ich sie für paranoid hielt.

Aber Hannah hatte recht. Die Fremden waren noch da! Teddy schrie plötzlich schrill auf, wieder rumpelte es über unseren Köpfen. Die anschließende Stille war für mich keine Sekunde länger zu ertragen. Ich entriss mich aus Hannahs umklammerndem Griff und steuerte die Treppe an. Hannah rannte mir nach, doch ich war schneller. Ich eilte die Treppenstufen hinauf und schrie währenddessen ununterbrochen nach Teddy.

Auf einmal donnerte ein mächtiger Knall durch das Gebäude, ein Schlag, der mich auf den schmalen Stufen umwarf und in Hannahs Arme katapultierte. Wir fielen beide, kugelten abwärts, zurück in ein bebendes Zimmer, das sich allmählich mit Staub füllte. Starke Schmerzen durchzogen meinen Körper. Ich hatte mir die Wirbelsäule, sämtliche Rippen und Knochen geprellt, und Hannah ging es nicht anders.

Nachdem wir auf dem Boden aufgeschlagen waren, husteten wir eine Luft aus unseren Lungen, die zu dicht geworden war. Das Licht der Taschenlampe durchstach die Rauchschwaden wie ein seichtes Schwert, und erst am Geruch konnte ich feststellen, dass es sich bloß um viel Steinstaub, aber nicht um Qualm handelte - noch nicht.

Ich konnte nicht fassen, was eben geschehen war!

Hatten die Eindringlinge unser Haus gesprengt, weil sie meinen Eltern einen Verrat an der Regierung unterstellten?

Oder hatte sich Hannah geirrt und es war doch eine kriminelle Bande gewesen, weil mein Vater gelegentlich gefährliche Spielchen trieb. Ich dachte an seine ›Freunde‹ aus dem großen Casino in der Stadtmitte. Ich dachte an seine Kokainsucht, ohne die er sein Arbeitspensum niemals hätte erfüllen können. Mein Vater, ein geschniegelter Unternehmer... Er war doch vielmehr ein Verbrecher. Mir schwante Übles.

Teddy... Mir kam sein Gesicht in den Sinn, sein furchterfülltes, kleines Gesicht. Er war noch so klein, so zierlich...

Als ich mich erheben wollte, um zur Taschenlampe zu laufen, schrie ich vor Schmerzen. Mein rechter Knöchel und mein Knie konnten meinen Körper kaum mehr tragen. Mein rechtes Bein glich einer geborstenen Stelze. Hannah rappelte sich auf und kam mir zu Hilfe. Sie holte Verbandsmaterial aus einem Regalfach und bastelte mir aus den Führungsstreben einer kleinen Schublade eine Schiene, mit der sie mein Knie stabilisierte. Es hätte meine Kniescheibe erwischt, meinte sie. Die Schmerzen machten mich beinahe ohnmächtig, doch der Wille, bei Teddy zu sein, hielt mich bei Bewusstsein. Hannah begann anschließend, Steine wegzuschieben und murmelte nervös vor sich hin: »Wir müssen hier raus... Sofort!«

Über meine Nase und meinen Mund hatte sie, wie bei sich selbst, ein nasses Dreieckstuch gebunden, das es uns erlaubte zu atmen. Umfangen von den wabernden Staubwolken wähnte ich mich in einem Albtraum. Ich konnte nicht begreifen, was hier stattfand, dass alles wirklich real sein sollte, dass sich mein Leben so plötzlich und so heftig ändern konnte. Es war einfach unbegreiflich.

»Das dürfen die nicht!«, schrie ich Hannah an. »Die dürfen doch nicht einfach unser Haus in die Luft jagen! Die dürfen mir Teddy nicht wegnehmen!«

»Es tut mir leid«, antwortete Hannah bloß. Sie war kreidebleich und gab sich selbst die Schuld für unsere Lage.

Ich konnte mich nicht beruhigen, das wollte ich auch gar nicht. Ich wäre so gerne bei Teddy gewesen, doch ich befand mich an einem Wendepunkt, der mich zwang, meine Situation zu akzeptieren, mit allem, was damit zusammenhing: Die Trennung von meinem Bruder und mein eigener Tod, der sicher nicht mehr lange auf sich warten ließ. Und wo sich meine Eltern derzeit aufhielten, würde ich sicher auch nicht mehr herausfinden können.

Hannah musste bald aufgeben. Die Brocken, die uns den Weg in die Freiheit versperrten, waren zu schwer. Wir ergaben uns unserem Schicksal und hofften dennoch auf ein Wunder.

Je weiter die Zeit voranschritt und Minuten wie Stunden zäh an uns vorübergingen, begann ich mich damit abzufinden, hier sterben zu müssen. Erst jetzt realisierte ich, dass ich mein bisher erlebtes, freudloses Dasein ohnehin nicht fortführen wollte. Ich hatte mich aufgegeben, so wie sich mein Land seinem Schicksal gefügt hatte.

 

 

 

Tom

 

 

»Es tut mir leid, ich kann nichts mehr für dich tun. Du weißt ja, die Zeiten sind hart. Für jeden, Tom, für jeden. Ich werde außer dir noch andere entlassen müssen. Import und Export kollabieren, wenn die Handelspolitik keine Kehrtwende einschlägt.«

Ich starrte entgeistert in die alte Visage meines blassen Vorgesetzten, der nervös über seinen Vollbart strich und sich die dritte Zigarette anzündete.

Ich fand keine guten Argumente mehr.

»A-aber...«

Der Abteilungsleiter, der für mich ab sofort ein Feind und kein Freund mehr war, sog gierig an seinem Glimmstängel, starrte aus dem verdreckten Fabrikfenster auf ein kärgliches Grasland und erklärte: »Tom, ich mag dich. Wirklich. Ich hätte dir gerne etwas anderes gesagt, aber ich kann doch nichts dafür. Ich bekomme meine Befehle von ganz oben... von ganz oben, verstehst du? Du wirst was anderes finden.«

Er besaß nicht einmal den Schneid, mir bei diesem Gespräch in die Augen zu sehen.

»Ach ja?! Und was stellst du dir darunter vor?! Soll ich mich einfach auf die Straße stellen und warten, bis mir jemand einen Job anbietet?! Fünfzehn Jahre arbeite ich jetzt schon hier, und von heute auf morgen soll ich einfach gehen, werde einfach zusammen mit Leuten aussortiert, die nicht mal ein halbes Jahr für euch Ärsche malocht haben? Ist das... gerecht?! Ach was... gerecht... gerecht ist doch heute gar nichts mehr. - Du Arschloch!«

Er wandte sich mir zu und setzte erneut eine Unschuldsmiene auf: »Tom, ich...«

»Du hättest ein gutes Wort für mich einlegen können! Du hättest etwas machen können! - Wenn Du gewollt hättest!«

»Nein, hätte ich nicht! Mir sind die Hände gebunden! Finde dich damit ab!«

Ich war außer mir. Am liebsten hätte ich auf ihn eingetreten und ihm mit meinen bebenden Fäusten die Nase zu Brei geschlagen, aber was hätte das geändert? NICHTS! Im selben Moment, als ich entschied, mich zu beherrschen, schien jede Kraft aus mir zu weichen. Ich fühlte mich plötzlich schwach, leer und hilflos. Ratlos.

Christine und ich hatten schon genug Sorgen. Sie war hochschwanger, und als ob das nicht schon beschissen genug wäre, verlief ihre Schwangerschaft äußerst problematisch. Sollte sie von meiner Entlassung erfahren, würden sich bei ihr bestimmt wieder vorzeitige Wehen ankündigen - dann müssten wir wieder ins Krankenhaus, schon zum achten Mal! Nur um dann erneut heimgeschickt zu werden, weil ja scheinbar alles okay war. Nichts war okay.

Schon seit Monaten trank ich zu viel, auch während der Arbeit. Und offenbar hatte mich einer meiner Kollegen verpfiffen. Vielleicht hatte er das getan, um sich seinen eigenen Arsch zu retten, weil ja neuerdings etliche Jobs auf der Kippe standen. Jeder war sich selbst der Nächste.

Ich wagte es nicht, zu Christine zurückzufahren. Als Arbeitsloser konnte ich ihr nicht unter die Augen treten, denn Christine war eine extrem aggressive Frau.

Ja... Ich gehörte zu den Losern, die sich von ihren Frauen verprügeln ließen, übernachtete sogar im Auto, wenn meine Gattin mal wieder nicht zu bremsen war und in ihrer Wut alles kurz und klein schlug. Christine schrie dazu immer hysterisch und hämmerte mit ihren Fäusten auf mich ein.

Ich war mit blauen Flecken übersät. Trotzdem hoffte ich wie ein höriger Köter, dass sich durch das Neugeborene alles verbessern würde. Das Gegenteil schien mich zu erwarten.

Vorgestern stieß sie mich, als ich die Treppe in den ersten Stock hinunterging. Ich konnte mich gerade noch halten, doch wieder verfestigte sich in mir die Vermutung, dass sich die Dimension ihrer Angriffe weiterhin stetig vergrößern würde - trotz Baby.

Sie war ein Biest, und ich begriff meine Abhängigkeit in keinster Weise.

In den letzten drei Jahren hatte ich mich stark verändert, war von einem tiefgründigen und politisch engagierten Menschen zu einem oberflächlichen, Interessenlosen Idioten geworden, und das nur, weil sich mein Leben seither ausschließlich um Christine drehte.

Meine Untertänigkeit ihr gegenüber hing wohl mit meiner miesen Kindheit zusammen, in der mein Selbstbewusstsein völlig zerstört worden war. Ich hätte schon längst wieder einen Psychologen aufgesucht, wenn ich das Geld dazu gehabt hätte, denn meine Selbstachtung war inzwischen auf ein Minimum geschrumpft. Mein Stolz war praktisch nicht mehr vorhanden, während ich meinen Charakter mit Alkohol aufweichte.

Ich ließ das Werksgelände hinter mir, auf dem ich fünfzehn Jahre das Beste gegeben hatte, was ich konnte. Staplerfahren, Lagerkontrolle, Warenkoordination, Schichtdienst bei jedem Wetter. - fünfzehn Jahre... als wäre das nichts, als wäre es bloß ein dummer Scherz gewesen, dem ich meine Kräfte geopfert hatte, was die Abteilungsleiter offenbar belächelten. Für die Ärsche in Anzügen hatte ich meine Gesundheit geopfert, und so wurde es mir gedankt: Mit einem Arschtritt in eine sorgenvolle Zukunft.

Nach einem Staplerunfall vor einigen Jahren begannen meine Probleme mit der Hüfte. Ich humpelte seither und sah so verbraucht aus, wie ein räudiger, alter Straßenköter. Dabei war ich grade erst fünfzig Jahre alt geworden. Ich fühlte mich viel älter.

Verdammt, ich wollte kein Kind großziehen, hatte genug mit mir selbst zu tun. Shit happens! Meine Spermien schienen, im Gegensatz zu mir, noch brauchbar zu sein.

Als ich mit meinem Pick up vom Werksgelände rollte, spürte ich einen Widerstand in mir. Einerseits spielte ich mit dem Gedanken, in einer Bar meinen Frust runterzuspülen, andererseits schien mir das plötzlich so gewöhnlich zu sein, so klischeehaft. Woher dieses zwiespältige Gefühl kam und was es bedeutete, blieb mir verborgen. Dumm war allerdings, dass ich keine Kumpels mehr hatte, an die ich mich wenden konnte, denn in meiner Hörigkeit Christine gegenüber, hatte ich inzwischen sämtliche, gute Freunde vergrault.

In der wohl schwersten Stunde meines Lebens, in der jeder Hoffnungsschimmer erloschen schien, erwachte ein eigentümlicher Kampfgeist in mir. Er entstand aus einer unsagbar großen Wut. Innerlich bäumte ich mich gegen den Eindruck auf, dass alles aussichtslos sei. Trotzdem stellte ich meinen Lebenssinn infrage. Sehr zwiespältig... Typisch für mich!

Letztlich fand ich keine Lösung, zumindest keine, die auf die Schnelle funktionieren würde.

Ich entschied mich, nach einem kleinen Drink zu Christine zu fahren und so zu tun, als ob alles in bester Ordnung wäre. Irgendetwas würde mir schon einfallen, und wenn nicht, blieb mir immer noch der Strick.

Das seltsame Gefühlschaos ließ mich sogar für eine Weile in dem Glauben, es täte mir gut, erst einmal nicht arbeiten zu müssen. Ich könnte mich endlich etwas entspannen, müsste nicht länger mit diesen Schmerzen in der Hüfte irgendwie den anstrengenden Arbeitstag überstehen. Eine kleine Weile mal nicht funktionieren müssen, was für ein verlockender Gedanke.

Doch schnell wurde mir klar, dass ich zu Hause niemals Entspannung finden könnte. Christine würde nicht einfach zusehen, wie ich auf dem Sofa herumlungerte und es mir gutgehen ließ. Sie würde mich mit ihrer herrischen Art schnell aus dem Haus treiben und mich erst wieder hereinlassen, wenn ich einen neuen Job gefunden hätte.

Ich steuerte mein Auto auf meine Stammkneipe zu, die sich am Ende der Tasker Street befand. Eines der hässlichsten Pflaster in Philadelphia, meiner Meinung nach. Die Oberleitungen zogen sich wie Spinnennetze über die schmalen Reihenhäuser mit ihren schiefen Terrassen, auf denen im Sommer die Leute saßen, oft den ganzen Tag lang auf die Straße starrten und darauf warteten, dass in ihrem Leben endlich etwas Interessantes geschah.

Bald erreichte ich meine Lieblingskneipe, begrüßte den Wirt wie immer mit »Hey CJ, das Übliche, bitte!« und trank mir Mut an, inhalierte den Geruch dieser schmierigen Spelunke, die selbst tagsüber so finster wirkte, als wäre es draußen bereits stockdunkel.

Der Tresen, aus einem Holz, das beinahe schwarz erschien, war wie ein alter Kumpel für mich. Ich mochte seinen Geruch und die Geschichten, die ich zu erkennen glaubte, wenn ich mir seine unzähligen Macken, die eingeritzten Liebesschwüre und etliche, eingedrückte Glasringe besah.

Auch meine Geschichte - jedenfalls einen kleinen Teil davon - hatte ich in diesem Holz verewigt. Ich drehte gerne meine Flasche, während ich spürte, wie mich der Alkohol betäubte. Wie immer versank ich in einer Welt, in der mich Christines Anfeindungen sowie meine Schmerzen und sämtliche negative Erinnerungen nicht berühren konnten.

Meine Flaschenkreise erkannte ich auf Anhieb. Auch heute würde sich mein Flaschenboden wieder etwas tiefer in die Holzfasern graben, während ich mir überlegte, wie ich meinem bisherigen Dasein entkommen könnte. Ich wollte raus, weg von Christine, endlich frei sein. Aber sie... sie war so unglaublich schön und faszinierend. Und wenn sie mal gute Laune hatte, wähnte ich mich glücklich. Ich hatte oft das Gefühl, die Schläge zu verdienen, und ich ahnte auch woher das kam, doch daran zu denken, vermied ich konsequent.

In meiner Hörigkeit ließ ich alles mit mir machen. Außerdem war ich neun Jahre älter als sie und hatte mir eingeredet, dass ich so eine junge, attraktive Frau wie Christine nie wieder bekommen würde. Ihre Gewaltausbrüche spielte ich herunter.

Heute trank ich bloß drei Bier und begab mich danach sofort auf den Heimweg. Bisher war ich noch nie mit Alkohol im Blut erwischt worden, obwohl ich es beinahe täglich provozierte, den Bullen in die Arme zu fahren. Wenigstens dahingehend hatte ich Glück!

Ich fuhr an den typischen, winzigen Klinker-Reihenhäusern vorbei, in deren Vorgärten Müll lag oder manchmal auch Wäscheleinen aufgespannt waren. Ich stoppte und stieg schweren Herzens aus, humpelte auf unsere Haustür zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und trat leise ein. Christine hantierte in der Küche.

Drei Kinder, die sie von drei verschiedenen Männern hatte, waren ihr allesamt vom Jugendamt weggenommen worden. Nur der vierzehnjährige Charles lebte noch bei uns - ihr viertes Kind von Vater Nummer drei, das sie behalten durfte, weil sie ihre Drogensucht letztlich doch in den Griff bekommen hatte. Nun ja, ihre Streitsucht war nicht viel besser.

Schon allein anhand der Geräusche konnte ich ihre schlechte Laune deuten. Offenbar wusch sie gerade ab, knallte dabei aber die Töpfe und Teller derart grob aufeinander, dass nicht mehr viel Kraft fehlte, um etwas zu zerbrechen. Ängstlich wie ein Kind hängte ich meine Jeansjacke an die Garderobe, da lugte sie auch schon neugierig um die Ecke.

»Hallo Darling«, sagte ich, wie immer in der Hoffnung, dass sie meine Liebesbeteuerungen besänftigen könnten - und wie immer erfolglos.

»Du warst schon wieder saufen! Mach mir doch nichts vor, du Versager!« - Willkommen in meiner Welt. 

Kein Problem, das konnte ich aushalten. Es tat zwar jedes Mal weh, aber ich konnte derartige Beleidigungen ja einfach zu den vielen anderen in mein imaginäres Gedankenregal stellen, in das ich alles einsortierte, was ich nicht die ganze Zeit vor Augen haben wollte, wie ihre kränkenden Verurteilungen zum Beispiel.

Christine polterte weiter.

Ein Teller ging zu Bruch, dann ein zweiter. Und ein dritter. Bei jedem Schlag zuckte ich zusammen und hoffte, dass sie heute kein Geschirr nach mir werfen würde. Einmal hatte sie mich damit am Jochbein getroffen. Die Narbe trug ich seither mit mir herum.

Ich schaute zu Boden, auf das zerbrochene Geschirr. Mein Blick wanderte von einer größeren Porzellanscherbe zu ihrem prallen Babybauch.

In sieben Wochen sollte es kommen...

Inzwischen hasste ich Christines eisernen Blick, diese durchdringend graublauen Stahlaugen, womit sie mich durchstieß und verhöhnte. Dazu kam dieser Gesichtsausdruck, in dem außer Lieblosigkeit auch Arroganz und Hass lagen - immer. Sie hatte das Lächeln schon lange verlernt.

Ich begann, ihre negativen Eigenschaften widerzuspiegeln. Und da war Hass. Ganz tief in mir drin.

Plötzlich, während sie mich wieder mit »Nichtsnutz« und »Versager« beschimpfte, spürte ich Mordlust in mir aufkeimen. Vielleicht lag es daran, dass ich heute einen äußerst beschissenen Tag hinter mir und zu wenig beruhigenden Alkohol in mir hatte. Ich konnte für gewöhnlich keiner Fliege etwas zu Leide tun, war schon immer ein guter Kerl gewesen, aber Christine brachte mich neuerdings dazu, die Vorstellung ihres toten Körpers inmitten einer Blutlache als besänftigend zu empfinden. Jedes Mal, wenn dieses Schreckensbild vor meinem inneren Auge aufleuchtete, spürte ich eine Ruhe in mir, wie ich sie bis dato nicht kannte.

»Du Arsch! Da liegen Scherben! Willst du, dass Charles da reintritt, wenn er nachher aus der Schule kommt? Mach das weg, und zwar sofort! Mach alles weg!«

Wie in Trance gehorchte ich, holte die Kehrschaufel und den kleinen Besen aus der Abstellkammer und sammelte die Scherben auf. Sie warf unterdessen mehrere Tassen auf den Boden. Ich kniff meine Augen zusammen, jedes Mal, wenn wieder ein Stück des teuren Porzellans zersprang. Ich zählte mit. Es waren schon sechs kaputte Tassen.

Wie lange soll ich das noch aushalten?, fragte ich mich.

Jetzt zerbrach eine Salatschüssel. Sie schrie hysterisch: »Mach schneller, du Hund! Du Schwein, mach schneller! Du kommst ja gar nicht hinterher! Versager!«

Ich beeilte mich. Wut stieg in mir hoch, doch nur ein wenig. Sie warf nichts mehr auf den Boden. Sie lachte jetzt. Höhnisch, dämonisch...

Kein Problem. Daran war ich gewöhnt. Sie würde sich schon wieder einkriegen, redete ich mir ein, während ich mich auf jede Stunde freute, die sie nach der Entbindung im Krankenhaus verbringen würde. Dann hätte ich wenigstens für eine kleine Weile meine Ruhe und könnte Kraft schöpfen.

Christine lehnte sich gegen die Arbeitsplatte, sah mir mit spöttischem Blick zu und zündete sich eine Zigarette an. Derweil tauchten merkwürdige Ideen in meinem Kopf auf, die zunehmend aufdringlicher wurden: Charles würde sie bestimmt nicht vermissen. Ich könnte endlich frei sein, wenn sie nicht mehr wäre.

Insgeheim erschrak ich über die neue Richtung meiner Gedanken, bemühte mich deshalb, wieder zu klarem Verstand zu kommen. Dabei fand ich lediglich eine zermürbende Leere in meinem Innern.

Als ich die fünfte Schippe Scherben in den Mülleimer kippte, griff ich nach jener größeren Scherbe, die ich vorhin schon entdeckt hatte, und blickte mich um. Christine ging ins Wohnzimmer...  

Die Scherbe schob ich in meine Hosentasche und zog mein Hemd darüber, da ein Teil des Porzellans herausragte. Ich folgte Christine. Sie setzte sich aufs Sofa, starrte in den kalten Kamin, in dem schon lange kein gemütliches Feuer mehr gebrannt hatte, und sog gierig an ihrem Glimmstängel. Mit verengten Augen verfolgte sie mich, als ich mich schließlich mit einem etwas größeren Abstand neben ihr niederließ. Dann sagte ich es einfach, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, wie sie es auffassen könnte.

»Ich habe seit heute keinen Job mehr.«

»WAS?!«, keifte sie mich fassungslos an.

Leise fügte ich hinzu: »Die haben mich gefeuert. A-aber nicht nur mich, Baby. Meine komplette Abteilung wurde geschlossen. Kein Wunder, bei den wirtschaftlichen Verhältnissen...«

»Willst du mich verarschen?! Ey, Tom, wenn das ein Scherz ist, dann Gnade dir Gott!«

Ich schüttelte bloß den Kopf, senkte ihn und murmelte: »Nein, Honey, das ist kein Scherz. Leider.«

Sie atmete schneller, ihre Stirn verkrampfte sich, ihre Augenbrauen rückten tiefer. Ihr Blick wirkte noch böser. Sie riss den Mund auf und schrie, schlug mir auf den Mund und wollte anschließend den Zigarettenstummel auf meinen zusammengepressten Lippen ausdrücken. Ich wehrte mich, allerdings viel zu zögerlich. Sie boxte auf mich ein.

Plötzlich, es war ein Reflex, schlug ich zurück, fester als sie!

Das war das erste Mal, dass ich mich wehrte! Ich erwischte ihr Gesicht, sie strauchelte. Christine knallte rückwärts mit dem Kopf gegen die Kante vom Couchtisch, fiel zu Boden und blieb liegen.

Panik!

Mein Herz hämmerte in meinem Schädel.

Geräuschlosigkeit.

Ich hörte nur, wie mein Blut durch meinen Schädel pumpte. Panik... Panik... War sie tot?

Nein!

Christine lebte, sie stöhnte. Kaum war sie wieder bei Bewusstsein, murmelte sie Schimpfwörter, dabei konnte sie kaum die Augen offenhalten. Ich half ihr auf, wobei mir mit einem Schaudern bewusst wurde, dass ich sie gerne tot gesehen hätte...

Aber das Baby, es war völlig unschuldig.

Trotzdem war es mir egal. Ich wollte kein Kind.

Gerade in dem Moment, als ich ihr auf die Beine geholfen hatte und sie sich wütend in meine Arme krallte, öffnete Charles die Haustür - wie immer mit Kopfhörern auf seinem kahlrasierten Schädel (er schämte sich seiner rötlichen Haare), aus dem die laute Hard-Rock Musik bis zu uns vordrang. Er nahm den Kopfhörer ab, starrte uns an und fragte: »Was ist mit Mum?«

Ich stammelte, und noch bevor ich mir eine Lüge ausdenken konnte, griff sich Christine an den Bauch und ächzte mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Oh, wie ich ihr die Schmerzen gönnte!

Charles war alarmiert und eilte zu uns. Besorgt stützte er seine Mutter, während ich mir Mühe gab, ihm Mitleid vorzuspielen und so zu tun, als läge mir ihr Wohl ebenfalls am Herzen. Da erst begriff ich, dass ich so gut wie nichts mehr für sie übrig hatte. Meine Liebe war abgestorben. - Tot.

Wir halfen ihr aus der Wohnung bis zur Einfahrt und bugsierten sie ins Auto.

»Geh wieder rein, ich mach das schon!«, befahl ich Charles, der lautstark protestierte: »Aber ich will mit!«

Vehement dirigierte ich ihn zurück ins Haus und brüllte: »Ich habe gesagt, ich mach das! Du bleibst hier, basta!«

Wie versteinert und mit ungläubigem Gesichtsausdruck, denn so kannte er mich nicht, blieb Charles unter dem Türrahmen stehen und sah mir hinterher, wie ich mit Christine wegfuhr. Schon begann ich zu grübeln, ob ich sie wirklich zum Krankenhaus bringen sollte. Ich überlegte hin und her... Tod oder lebendig. Wie würde sie mir besser gefallen? 

Christines Schmerzen hielten an. Durch ihr Stöhnen holte sie mich aus meiner Gedankenwelt zurück.

Dass aus ihrem Hinterkopf eine kleine rote Bahn rann und in ihrem Kragen versickere, bekam sie gar nicht mit. Ich fuhr auf der Broad Street langsam geradeaus. Viel langsamer als ich durfte. Hinter mir hupten bald ungeduldige Fahrer. Indes war ich mir immer noch nicht sicher, ob meine Frau das Weiterleben wirklich verdient hatte. Und ob ich Gott spielen durfte...

Dann sah ich Kinder, die am Straßenrand spielten. Sah ihre lachenden Gesichter. Dabei traf ich meine Entscheidung...

Ich fuhr zum Krankenhaus.

Fünfzehn Minuten später kam ich am Thomas Jefferson Universitätsklinikum an und trug sie in die Notaufnahme. Mein Arm unter ihrem Schoß war inzwischen feucht, es roch nach Blut und ein wenig nach Eiweiß. Mir wurde schlecht. Zum Glück bemerkten die Schwestern schnell, dass keine Zeit vergeudet werden durfte. Ich brauchte niemandem zu erklären, was geschehen war. Christines dicker Bauch machte sie zu einem Notfall mit oberster Priorität, während ich hoffte, dass das Kind nicht mehr lebte. Ich war zerrissen wie noch nie, schwankte in meinen Empfindungen, als besäße ich keine Persönlichkeit, sondern bloß einen schwammigen Charakter, der jedem Druck nachgab.

Womöglich hatte ich noch nie einen stabilen Charakter besessen.

Ich saß lange im Flur, während Christine behandelt wurde. Schließlich wusste ich nur noch eines: Mit dieser Frau, die mich ›mit Hass liebte‹, wollte ich keinen Tag länger zusammenleben. Ich musste mich von ihr trennen, um kein Mörder zu werden. Andererseits würde sie meine Trennung nicht dulden. Womöglich würde sie mir dann nach dem Leben trachten. Auf Rache sinnen...

Vielleicht wird doch alles gut werden, wenn erst das Baby da ist, tauchte wieder der Gedanke in meinem Kopf auf. Aber nein, das wird niemals passieren. 

Oder vielleicht doch?

Nach einer Stunde kam mir ein Arzt auf dem Flur entgegen. »Mr. Ward?«

»Ja, der bin ich«, antwortete ich ihm selbstsicherer als ich eigentlich war, reichte ihm ebenfalls die Hand und hörte ihm aufmerksam zu.

»Ihrer Frau geht es wieder besser, Sie können zu ihr. Wir haben uns entschieden, das Kind noch nicht zu holen, schließlich wird ihm jeder weitere Tag im Mutterleib guttun. Die Lunge braucht noch Zeit.«

»Alles klar«, nickte ich verwirrt.

»Mr. Ward, ich wollte außerdem von Ihnen in Erfahrung bringen, wie die Verletzung am Hinterkopf Ihrer Frau zustande gekommen ist.«

»Oh, na ja...«, antwortete ich fahrig. »Ihr wurde schwindelig, da ist sie gestürzt... mit dem Kopf gegen den Sofatisch geknallt. Danach bekam sie diese Schmerzen...«

»Aha. Nun ja, Mr. Ward, aus der Sicht Ihrer Frau verhielt sich das etwas anders. Sie sagte uns, Sie hätten sie gestoßen.«

»Nein... nein, das habe ich nicht. Ich wollte sie festhalten. Wissen Sie, Christine war vor einigen Jahren crackabhängig, seither hat sie Probleme, die Tatsachen...«

Der Arzt unterbrach mich: »Erfinden Sie bitte keine Ausreden, Mr. Ward. - Wir konnten keine weiteren Verletzungen oder Blutergüsse feststellen, die auf eine Misshandlung hindeuten würden, außerdem kann ich Ihnen zugutehalten, dass die Krankenakte Ihrer Frau Ihre Information zum Suchtverhalten bestätigt, allerdings hat mich Ihre Gattin mit ihrer Darstellung bezüglich der Wunde am Hinterkopf überzeugt, verstehen Sie?«

Ich stimmte schuldbewusst zu, wusste jedoch nicht so recht, was ich dazu noch anmerken sollte, während er mich scharf taxierte. Sein Blick fühlte sich wie eine Warnung an und wie eine letzte Chance...

Als sich der Arzt von mir abwandte, nachdem er mir mit skeptischem Ausdruck und nur sehr leise die Zimmernummer mitgeteilt hatte, ging ich zu meiner Frau.

Als ich sie dort liegen sah, so friedlich und harmlos, erschien sie mir wieder wie ein Engel. Wie immer, wenn sie schlief.

Ich kam näher, und da spürte ich sie wieder, die Porzellanscherbe in meiner Hosentasche. Sie rieb unangenehm an meinem Oberschenkel. Wieder überkamen mich seltsame Emotionen, die mich drängten und mir Bilder in den Kopf pflanzten, die ich tief in meinem Innern nicht sehen wollte. Ich verbot mir, die Scherbe in die Hand zu nehmen, weil ich befürchtete, dass ich mich dann nicht länger beherrschen könnte. Andererseits wünschte ich mir endlich eine Befreiung von ihr. Und diese Befreiung könnte nur ich selbst herbeiführen, niemand sonst...

Gerade als ich nach der Scherbe greifen wollte, hörte ich draußen Männer rufen. Neugierig guckte ich aus dem Fenster. Auf dem Parkplatz der Klinik brach ein Tumult los.

Ich verstand sofort, was los war, denn die Razzien, um die Immigranten ausfindig zu machen, waren angekündigt worden. Trotzdem hatte ich niemals damit gerechnet, konnte es mir lange einfach nicht vorstellen, dass sie ihre unmenschlichen Maßnahmen derart rigoros umsetzen würden, vor allem wollte ich nicht wahrhaben, dass es so plötzlich losging. Die neuen Gesetze wurden in einem erschreckend rasanten Tempo umgesetzt.