Bleierner Sommer - Alain Demouzon - E-Book

Bleierner Sommer E-Book

Alain Demouzon

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Beschreibung

Pech für Inspektor Augustin Lorenzaccio, daß er ausgerechnet während eines Terroristenüberfalls am Pariser Panarabischen Kulturzentrum vorbeikommt. Fataler Reflex des Polizisten: Er greift ein ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Alain Demouzon

Bleierner Sommer

Kriminalroman

Aus dem Französischen von Heribert Becker

FISCHER Digital

Inhalt

Mein Schiff o ihr [...]12345678910111213141516171819202122

Mein Schiff o ihr Erinnerungen

Wir haben nun schon lang genug

Der Woge Bitterkeit getrunken

Das Meer durchpflügt mit unserm Bug

Von früh bis dumpf der Tag gesunken …

 

Guillaume Apollinaire

(La Chanson du Mal-Aimé)

1

Die Männer, die hinter den verchromten Hecks der Limousinen in Deckung liegen, fangen an zu feuern. Sie stecken in schweren Tweedmänteln mit Fischgrätenmuster und tragen Filzhüte mit breitem Band, ihre Kinnbacken sind fest aufeinandergepreßt, die Augen starren erregt. Sie feuern. Mit dem knallenden Geräusch einer Limonadenflasche, der man die Verschlußkappe abzieht, spucken ihre Waffen kleine Rauchwölkchen aus. Die Männer lauern in Hockstellung, sich mit einer Hand am Boden abstützend. Sie lehnen sich gegen die spiegelblanken Karosserien, auf die gekrümmten Rücken anderer Männer, an die Schulter eines Kollegen. Scheinwerfer reißen Löcher in die Nacht.

Mit kreischenden Bremsen biegt der Wagen mit den breiten Reifen um die Ecke. Hinter den dicken Scheiben die fratzenhaften Gesichter knallharter Burschen. Als sie an einer Straßenlaterne vorbeirasen, ergießt sich das Licht über Kotflügel, Türgriffe und die wie Glücksräder aufblitzenden Speichen. In einer rasch vorbeihuschenden Spiegelung flammt die schmierige Schaufensterscheibe des Hot Dog Stand auf, in einer Pfütze erlischt die Leuchtreklame des Biograph-Kinos. Mädchen mit Glockenhüten auf dem Kopf, in kurze Mäntel gewickelt, stoßen spitze, kleine Schreie aus. Eine Thompson verspritzt ihre Innereien. Vierhundert Schuß, Camembertmagazin, Kaliber 45, im Handumdrehen leer, so ein Ding.

Die in voller Fahrt getroffene Edelkarosse schlingert auf einer Zickzacklinie aus perlmuttern schimmerndem Asphalt. Die Straßenlaterne drüben ist umgeknickt. Und ihre Glühbirne zirpt noch lange in der Dunkelheit herum, ehe sie endlich erlischt. Auch Blut tropft, reichlich Blut aus den durchsiebten Leibern der verrückten Jungs, es sprudelt geradezu. Der Rinnstein ist breit, das glitzernde Geriesel geräuschlos.

Die von der Polizei schreien sich kurze Sätze zu. Einige verballern ihre letzten Patronen in den zischenden Dampf des leck geschossenen Kühlers. Auf dem gerillten Trittbrett klappt wie eine Muschel das Gehäuse für das Reserverad auf, schnappt nach Luft, rollt zur Seite und stößt einen glänzenden schwarzen Reifen aus, eine Schlange, die sich selber in den Schwanz beißt. An einem Ende des umgestürzten Schrotthaufens dreht sich noch das letzte Glücksrad. Die Hand eines jungen Burschen versucht, mit zwei vom Tod entkrampften Fingern den Griff eines kurzen Revolvers aus gewelltem Nußbaumholz, schwarzblau wie ein Mistkäferpanzer, an sich zu ziehen.

Das dunkle Blut hört jetzt auf, Pfützen zu bilden. Die Pumpen sind stehengeblieben, die Herzen schlagen nicht mehr. Das Ersatzrad wird nichts mehr zu ersetzen brauchen. Es macht sich die Straße hinab, Richtung Docks, aus dem Staub. Gleich wird das dunkle Wasser, das den Unrat der Großstadt davonträgt, es im Kielwasser eines weißen Ozeandampfers verschlucken.

Die Männer ringsum vertreten sich die Beine. Man hört ein tiefes, stilles Aufseufzen und das Surren dieses kaputten Rades, das gar nicht mehr aufhören will, sich zu drehen. Ein hohes Tier unter den Bullen bringt es schließlich mit behandschuhter Hand zum Stehen. Der Mann trägt eine schmale Fliege und schwarzweiße Golfschuhe. Neben ihm befiehlt ein irischer Leutnant mit Schirmmütze und grünem Schal, das havarierte Gefährt wieder auf seine vier Beine zu stellen. Alles, was vorhin in Deckung gehockt hat, legt Hand an. Das Todesauto kippt in seine normale Lage und kracht auf die zerbrochenen Federn seiner Blattstoßdämpfer. Man spürt einen schwachen Geruch nach verbranntem Pulver, der in den Schlaf einzudringen versucht. Eine geköpfte Frau mit Flügeln, eine kleine Statue aus glänzendem Stahl, rollt über das Pflaster. Heute abend haben die Bullen gesiegt.

Dann läßt man die Zeitungsreporter in die Arena, junge Männer in Gabardinemänteln, die aussehen, als könne sie nichts mehr erschüttern. Sie haben sich ihre Presseausweise hinters Hutband geklemmt und tragen wuchtige, kastenartige Fotoapparate vor sich her, auf denen Blitzlichtgeräte stecken, so klotzig wie Lastwagenscheinwerfer. Sie schütten kübelweise grellweißes Licht über die blutbesudelten, mit kleinen Kratern übersäten Körper, zerfetztes Fleisch. Über einen großen, blonden Jungen, der mit verdrehtem Kopf rücklings über seinem Sitz hängt und mit weit aufgerissenen Augen auf die gepolsterte Deckenverkleidung der Limousine starrt, das halbe Gesicht von den Kugeln weggerissen. Mit einer Stecknadel an das Revers seines sauberen Trenchcoats geheftet der von Blutspritzern schraffierte Abholbon einer Reinigung. Und über die anderen, die man jetzt aus dem Wagen holt, die man zerrt und schiebt, die man auf Planen bis auf den Bürgersteig schleift, unter die Spiralsäule des Frisörladens.

Nach und nach kommen auch Leute aus den umliegenden Häusern heraus, mit struwweligen Haaren und ins Leere starrenden Augen, die Hemden nachlässig hinter Hosenträger und Gürtel gestopft. Frauen mit Lockenwicklern, in Pullovern mit kleinen Knöpfen, die langsam über schweren Brüsten zugeknöpft werden. Schließlich maßlos staunende Kinder, die man anschnauzt, sich schleunigst wieder ins Bett zu scheren. Lautes Geplärre. Und in den Hauseingängen, in denen die automatische Treppenhausbeleuchtung mit sturer Regelmäßigkeit aus- und wieder angeht, nutzen die jungen Burschen die günstige Gelegenheit und langen den Mädchen unter ihre viel zu luftigen Nachtgewänder.

Derweil lassen die Killer, in Reih und Glied hinter den nebeneinandergelegten Leichen antretend, sich ablichten. Man sieht ihnen an, daß sie zufrieden sind, zwar nicht gerade stolz, aber doch voller Genugtuung über den erledigten Job und erfüllt von dem Drang, recht bald wieder in den eigenen vier Wänden zu sein und der besseren Hälfte, ob sie’s will oder nicht, ein weiteres Kind zu machen. Sie blicken steif geradeaus, ohne zu lächeln. Sie wissen nicht so recht, was sie mit ihren Händen anfangen sollen, schieben sie in die Taschen oder klemmen den Daumen hinter den Hosengürtel. Die mit den langen Schießeisen, den Schulterwaffen und Sturmgewehren, hantieren ungeschickt an ihnen herum, so als hätte man sie ihnen gerade erst in die Hand gedrückt und als wüßten sie nicht, wie man damit umgeht.

Ein Blitzlichtgewitter beleuchtet die Szenerie. In der Ferne, vom Saint-James-Hospital her, leiernder Singsang wie aus einer gestopften Trompete, der Klagegesang des immer zu spät eintreffenden Krankenwagens.

Da macht er die Augen zu. Und steht auf einmal nackt inmitten des Menschengewimmels. Unmöglich, sein Geschlechtsorgan zu verbergen. Seine Hände gehorchen nicht mehr. All das Volk aus der Unterstadt, dem seine Blöße gleichgültig ist, beunruhigt ihn nicht. Von ihm selber geht die Beklemmung aus, vor sich hat er Angst, empfindet er Scham. Die anderen, all die Leute, die ihm entgegenströmen, scheren sich nicht darum.

Er versucht davonzufliegen, nimmt im Zeitlupentempo Anlauf, schafft es nicht. Startpanne. Er merkt aber, daß er trotz allem vom Fleck gekommen ist. Die Straße ist leer. Er gleitet dahin. Allein.

Auf einmal steht sie vor ihm. Er hätte sie berühren können. Da ist dieser amerikanische Schlitten, neueres Baujahr, der die ganze Straße versperrt. Das heißt, eigentlich nur das Heck des Wagens, das mit seinen chromblitzenden Stoßstangen, seinen übertrieben großen Rücklichtern, seinem auf den Kofferraum geschraubten Zusatzgepäckträger und einem Nummernschild mit großen, aber nicht entzifferbaren Buchstaben und Zahlen den ganzen Raum ausfüllt. Und sie, sie lehnt sich gegen den Kofferraum, wobei die Hinterbacken aber kaum den zusammenklappbaren Gepäckständer berühren, dessen Gestänge sie hinter ihrem Rücken fest umklammert hält. Sie ist übrigens splitternackt und von Kopf bis Fuß von der Durchsichtigkeit geschmolzenen, von innen heraus glühenden Kupfers. Das verschwommene Vlies ihres Geschlechts läuft zum Bauchnabel hin in eine zarte Haarspitze aus. Ein kleiner Nabel, eingebettet in eine straffe Bauchdecke, deren schwellende Muskulatur zu erahnen ist. Die junge Frau hat kräftige Schultern und einen runden Kopf, der auf einem geraden Hals sitzt. Eine Flut feuerroter Haare, die aber ihr Gesicht frei lassen, umhüllt sie wie ein Glorienschein und fällt ihr tief in den Rücken hinab. Man sieht deutlich ihre klare Stirn, ihre weit auseinanderliegenden Mandelaugen, die zarte Stupsnase und den herzförmigen, leicht geöffneten Mund, in dem wie in staunender Verzückung zwei Schneidezähne schimmern. Ein Charakterkopf. Sie ist jung, schön, beängstigend, zum Greifen nahe und doch absolut unerreichbar. Sein hartes Fortpflanzungsorgan verrät ihm deutlich genug, daß er sie begehrt, aber sein Kopf weiß, daß er sie nicht bekommen wird. Er betrachtet ihre Brüste, die unter seinem Blick Gestalt annehmen, sich aus einer inneren Verschmelzung heraus entwickeln. Zwei Brüste, die sich auf der Haut runden. Das Mädchen schaut mit einem sonderbaren Blick über ihn hinweg, hinter ihn, in die Ferne. Sie sieht ihn gar nicht. Er aber starrt auf die Brüste, deren Spitzen sich ganz langsam voneinander fortbewegen … langsam … weiter … immer weiter.

Inmitten eines lauten Sirenengeheuls springt plötzlich wie ein Riß eine Tür auf. Durch sie verläßt Augustin seinen Traum.

Er wacht auf. Orangenes, kupferfarben loderndes Licht, das seine Tönung beim Durchdringen der Vorhänge erhält. Augustin fährt sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er die Müdigkeit eines arbeitsreichen Tages verscheuchen. Es ist früher Morgen. Er hat die ganze Nacht Ganoven gejagt, und sein Herz klopft noch wegen des Mädchens, das ihm soeben aus den Händen geglitten ist. Bild um Bild schwinden die Erinnerungen an seinen Traum dahin, doch die Feuerstatue bleibt zurück in der wohligen Wärme seines armen, gemarterten Kopfes. Sie wird ihn so bald nicht wieder loslassen.

2

8.32 Uhr. Ein rosiger Sommermorgen. Montag. Angenehme Temperatur. Es wird heiß werden, das steht fest. Noch ist es Zeit, die Morgenkühle nach einer feuchtwarmen Nacht zu genießen, sich an den pastellfarbenen Wolken zu ergötzen, die wie Tupfer über den schon nicht mehr sehr blauen Himmel segeln. Die Sonne klettert.

Die Putzfrau in dem großen Raum im zweiten Stock schwitzt. Die Fenster sind geschlossen, Fenster mit speziellen Kunststoffscheiben, aus Polykarbonat, die jede Kugel locker abprallen lassen, auch Handgranaten und selbst Plastikbomben zu harmlosen Knallfröschen degradieren. An den Wänden des Raums große Porträtbilder von Arabern mit um den Kopf geschlungenen Handtüchern, wehenden Nachthemden, den krummen Messern am Gürtel, schütteren Bärten, dem Falken auf der Faust, den Ringen an den Fingern und dem breiten, weißen Lächeln, das ihre dunklen Gesichter in zwei Hälften zerteilt, mit Blicken, die strahlen vor stiller Grausamkeit.

Man hat ihr gesagt, das seien Dichter. Beduinen. Aus der Wüste. Und Dichter. Wo nehmen die das bloß alles her? …

Sie schwitzt unter dem geronnenen Lachen der Fürsten der Sandwüste. Sie spult die Verlängerungsschnur des Staubsaugers auf, langsam wie eine Angel für große Fische, die auf dem fuchsroten Teppichboden mit seinen Strandgerüchen einem Schiffsheck hinterherzappeln. Sie ist noch keine dreißig. Ende der Woche fährt sie in Urlaub. Sie wird ihre Brüste der Sonne aussetzen, wird sich von Männern ansprechen lassen, wird sich die Haut mit Sonnencreme, Schutzfaktor 5, einschmieren.

Natürlich käme sie im Traum nicht auf die Idee, daß sie vorher sterben wird. Sehr bald schon. Gleich nachher wird ein Mann an sie herantreten, während sie auf einem kalten Rollwagen aus rostfreiem Stahl liegt, in der Leichenhalle. Er wird ihre weißen Brüste unter dem Licht einer fahlen Neonröhre hervorspringen lassen, wird grinsen, weil sie unter den Armen nicht rasiert ist und weil der schwere Geruch ihres Schweißes noch in den Achselhöhlen klebt, verborgenes Leben, das nicht sterben will.

Im Augenblick ist sie noch mit der Zubereitung dieses letzten Duftes beschäftigt: Sie schwitzt. Ihre orangeblau geblümte Kittelschürze bekommt unter den Schultern feuchte Flecken. Sie zieht den dickwanstigen Staubsauger, eine gefräßige Krabbe, hinter sich her. Sie geht hinüber zum Fahrstuhlschacht, drückt auf den Pfeil, der den Kopf hängen läßt. Ihr fällt ein, daß sie immer noch nicht ihre Tage hat. Sehr beunruhigend.

 

8.37 Uhr. Eine feiste, staubbedeckte Taube landet auf dem Fenstersims. Der Mann zuckt erschrocken zurück. Er hat das dunkle Etwas in seinem Fernglas erst im letzten Augenblick bemerkt, wie eine Hand, die einem direkt vor der Nase herumfuchtelt. Er hatte keine Ahnung, was es war.

Aber es ist nur eine Taube. Eine Taube mit abscheulichen violettrosa Füßen, die wie erfrorene Finger aussehen. Der Vogel blickt den Mann mit rundem Auge an. Der Mann hat Lust, den Vogel zu töten. Fast hätte seine Hand schon nach dem klobigen Griff der Waffe gezuckt, die in dem Halfter aus knirschendem Leder steckt. Der Vogel fliegt weg.

Der Mann verfolgt seine Flugbahn. Das verlauste Vieh zieht zwei Schleifen über der Straße, als wüßte es nicht wohin. Dann schießt es auf das gegenüberliegende Fenster zu, wo der Mann es in seinem Fernglas wieder ortet. Hinter dem Fenster ist ein Weibsbild in orangeblauer Schürze zu erkennen, das gerade ein Monster von Staubsauger in den Aufzug bugsiert.

Der Mann pickt hier und da noch andere weibliche Wesen auf, die auf jeder Etage dem Fahrstuhl zustreben. Sie schleppen bunte Plastikeimer mit sich herum, Besen, an denen Aufnehmer baumeln, Staubtücher, dicke Schwämme, verschiedenerlei Reinigungsmittel. Er kennt sie alle. Immerhin beobachtet er schon seit über einer Stunde ihr ameisenhaftes Hin und Her. Allzu eilig haben sie’s nicht, die Miezen. Ziemlich jung im Durchschnitt. Er hat sich diejenigen herausgefischt, die ihm schmecken würden. Eine Blondine vor allem mit straff um die Taille gespannter rosa Nylonschürze und einem mit Blümchenmuster bedruckten Höschen, von dem jedesmal, wenn sie sich gebückt hat, um den Aufnehmer auszuwringen, ein Zipfel hervorschaute. Lauter Mistbienen. Jetzt haben sie’s eilig, sich zu verdrücken.

Er sucht nach seiner Blondine, entdeckt sie aber nirgends. Vor seinen Füßen, gegen den abblätternden Heizkörper gelehnt, rauscht und knattert der Walkie-talkie.

8.38 Uhr. Der Spiegel in der Toilette ist neu. Der andere ist wohl zu Bruch gegangen. Im Waschbecken fehlt der Stöpsel für das Abflußloch, es mieft aus den Rohren. Gestank wie aus einem kranken, verfaulenden Mund. Aber den Mann, der sich in dem neuen Spiegel über dem alten Waschbecken begutachtet, stören die fauligen Gerüche wenig. Seine Haut ist tiefbraun, er trägt einen dicken Schnauzbart. Zufrieden streicht er mit einem Finger über die Borsten dieser Manneszierde, überschlägt die Zeit, die er gebraucht hat. Gerade so viel, um heute, wo die Hitze zunimmt und einem das Hemd am Hintern klebt, auf den Punkt fertig zu sein. Natürlich ist da auch die Angst. Sie steigt mit der Sonne. Die Handflächen sind feucht, und an den Lippenrändern zuckt es mitunter ein wenig. Das wabert aus den Eingeweiden hoch, zusammen mit den Ausdünstungen im Waschbecken.

Vor dem Spiegel steckt sich der noch ziemlich junge Mann eine Mütze aus marineblauer Baumwolle an seinen schwarzen Locken fest. Aus Jerseywolle, um genau zu sein. Es ist eine Art Scheitelkäppchen mit einem wulstigen Saum ringsherum, das ganz oben auf dem Schädel sitzt. Unter dieser marineblauen Jerseymütze rumoren in seinem Kopf allerlei Bilder von sengender Sonne auf weißen Steinen und das Lächeln eines dunkelhaarigen Mädchens, das auf der niedrigen Mauer einer Brunnenumrandung sitzt; das Wasser, das Licht und das Lachen des Mädchens; und der Muezzin auf dem ockerfarbenen Turm, der die Größe des einen und einzigen Gottes hinausschreit. Doch das alles geht keinen etwas an.

Am anderen Ende des Raumes hocken drei Burschen mit angezogenen Knien zusammengedrängt an der Wand. Sie haben Kindergesichter und fiebrige Augen, sehen aus wie ein Häuflein Elend. Ihre verwaschenen Jeans hat eine anonyme Hand auf dem Flohmarkt von Saint-Quen erstanden, auch die im Schottenmuster karierten Hemden und die leichten, khakifarbenen Leinenjacken. Das gilt sicher auch für ihre Wollmützen, die sie halbkugelförmig über ihre orientalischen Schädel gezogen haben, in denen schnell wechselnde Bilder umhergeistern, in dem Durcheinander ihrer Angst aufsteigende Erinnerungen.

Die automatischen Waffen lehnen fein säuberlich aufgereiht an der anderen Wand, unter dem Fenster. In dem Gegenlicht sieht man sie kaum. Sie glänzen nicht. Es sind Kriegswaffen, glanzlos, ohne besonderen Reiz. Maschinenpistolen Uzi FN-Herstal. Väterlicherseits israelischer, mütterlicherseits belgischer Herkunft, 9 mm Parabellum, 44 cm bei zusammengeklapptem Griff, Magazine für fünfundzwanzig Patronen. Passen genau unter die Kakiblusen, sie tragen eigens ein Halfter dafür. Sechshundert Schuß die Minute, ganz schön fix, die Hülsen werden nur so fliegen, Iltisköttel für die ermittelnden Bullen; es wird heißen, es seien die Juden gewesen, obwohl dieser Schießprügeltyp höchst offiziell in der ganzen Welt benutzt wird, auf Kuba zum Beispiel oder bei den Holländern, die sich auch welche bauen lassen. Um die Soße ein bißchen zu verunklaren, wird man als Faustwaffen die CZ-VZOR50, die bekanntlich eine tschechoslowakische Variante der deutschen Walther PP ist, und die Tokagypt-58 einsetzen, eine für Ägypten hergestellte ungarische Version der sowjetischen Tokarev TT33. Wer da noch durchblickt …

Der junge Mann vor dem Waschbecken schaut auf seine Armbanduhr. Ein altes Fabrikat. Ja, seine Uhr: man hat sie ihm gestern zurückgegeben, in der Schreibstube des Knasts, zusammen mit einem zahnkranken Kamm und einer Handvoll Kleingeld, Vergangenheitsrudimente, die er schon vergessen hatte und die plötzlich wieder dawaren. Er schaut auf seine Uhr, überschlägt die verbleibende Zeit. Die noch zum Leben verbleibende Zeit womöglich. In drei Tagen wird er sechsundzwanzig. Aber er weiß, vielleicht kriegt er sein Geburtstagsgeschenk schon heute verpaßt.

 

8.39 Uhr. Ein finsteres Kabuff am Ende des Korridors, ein Eckchen unter der Treppe, gerade groß genug, um ein paar Besen oder ein Moped hineinzustellen. Aber auf der Tür ist ein Schild: Umkleideraum für Wachpersonal. Da drinnen also wechseln die von der Hauspolizei ihre Kluft, immer hübsch einer nach dem anderen, denn Platz ist Mangelware. Es mieft unaussprechlich nach Leder und Haut, kaltem Tabakrauch mit Pomade und Männerschweiß, dazu der diskrete Charme gut eingefetteter Feuerwaffen.

Heute morgen ist er als erster da. Eben weil es an Platz fehlt, trabt er früher an als die anderen. So kann er’s gemächlich angehen lassen, braucht nicht Schlange zu stehen, als stünde er vor einem besetzten Lokus. Er hat seine sandfarbene Jacke, seine rosarote Hose, sein Hemd mit den aufgedruckten Palmen ausgezogen und auch die Sonnenbrille von Ray-Bans abgenommen. Er streift sich ein T-Shirt aus Baumwolle, made in USA, über, das den Schweiß aufsaugen soll, und darüber zieht er seine graue Uniformjacke mit Offizierskragen, silbernen Knöpfen und aufgesetzten Taschen an. Ja, er sieht schon ein bißchen wie eine dieser Witzfiguren von der Wach- und Schließgesellschaft aus. Nicht mal die Mütze fehlt. Nur daß er ein echter ist. Ein Killer. Als Wachmann nur verkleidet. Wolf im Schafspelz sozusagen. Wäre nicht ratsam, ihn für ein blindes Huhn zu halten. Er hat bereits eine ansehnliche Schar von Männern abgestochen, auch Frauen und Kinder und einmal einen Greis, dessen mächtiger Rauschebart ihn zwang, das Messer zweimal anzusetzen.

Er ist jetzt soweit. Über ihm, auf der Treppe, klappern die Fahrgestelle der Putzfrauen, die es eilig haben wegzukommen. Unwillkürlich blickt er nach oben, stellt sich vor, die Treppe sei aus Glas und die Miezen trügen Reifröcke mit nichts darunter. Etwas ähnliches hat er mal im Cinévog-Saint-Lazare (zwei Pornos zum Preis von einem) gesehen. Mit einem Ruck zurrt er sein Koppel fest, läßt mit der flachen Hand die Trommel seiner Korth Modell 71 herumwirbeln, kontrolliert die Sicherung, schiebt den Revolver wieder in die Pistolentasche und kriecht aus der Besenkammer.

Wie jeden Tag ist er auch heute davon überzeugt, daß es nichts zu tun geben wird. Nichts anderes jedenfalls, als in der Eingangshalle herumzulungern, die Hände auf dem Rücken verschränkt, breitbeinig, mit obligat hartem Gesichtsausdruck. Man wird ihn nach dem Weg zu diesem oder jenem Büro fragen, und ob es im Erdgeschoß Toiletten gibt. Er wird sich Mühe geben, zuvorkommend zu lächeln. In den Phasen, wo es am ruhigsten zugeht, wird er spüren, daß er so langsam in die Jahre kommt, wird ein bißchen den Erinnerungen an die alten Kampfzeiten nachhängen, wird aber auch finden, daß es sein Gutes hat, die Zeit einfach so verstreichen zu lassen, ohne allzu große Aufregungen. Es sei denn …

 

8.43 Uhr. Ihre langen, locker und weich herabfallenden Haare haben eine merkwürdige Farbe. Oder besser: nicht die Farbe, die sie haben, ist eigenartig, sondern diejenige, die sie zuweilen annehmen, das auf ihnen spielende Schimmern, die Glanzlichter. Man kann sie blond nennen, blond von einer etwas dunkleren Tönung, oder aschfarben wie Holzasche von frischgeschnittenen Bäumen, blonde Essenzen sonnenüberfluteter Waldlichtungen. Auf blond kommt man immer wieder zurück. Manchmal heißt es, sie seien hellbraun, kastanienfarben, von einer blonden, ins Rötliche spielenden Tönung wie Kupfer. Immer wieder blond, aber nie so viel, daß man rundweg sagen könnte: »Eine Blondine.« Denn es ist tatsächlich ein Stich ins Rötliche in dieser Lockenflut. Aber wiederum nicht genug, um zu sagen: »Eine Rothaarige.« Wenn man genau hinsieht im Halbdunkel dieses feuchtwarmen, halbwegs gegen den Sommer abgeschotteten Appartements, müßte man schließlich wohl orangefarben sagen. Doch auch das wäre nicht ganz zutreffend. Man kann ja unmöglich sagen: »Eine Orangefarbene.« Und außerdem sieht man sie so auch gar nicht, diese tizianfarbene Haarpracht. Wenn da etwas Orangenes ist, dann ist es intellektueller Natur.

Denn der Mann, der die Frau beobachtet, ist ein Intellektueller. Ein Intellektueller auf Abwegen. Nicht weil er, hinter einer Gardine im gegenüberliegenden Haus stehend, dieser Frau bei ihrer Toilette zusieht, sondern weil er eigentlich wohl nicht hierhin gehört. Er beobachtet, er schaut zu, er genießt die einfachen Freuden des Voyeurs. Aber er tut es auf Befehl.

Die Frau weiß, daß man ihr zusieht. Das gehört zu dem Spiel, das sie spielt. Ist nicht zu vermeiden. Sie kann sich gar nicht vorstellen, daß es anders sein könnte. Kokett drückt sie mit den Fingerspitzen die Haarkaskade über ihren nackten Schultern zurecht. Die zieharmonikaartig gestellten Fensterläden des Balkons sorgen für eine samtige Dunkelheit, ein zartes Licht, das auf der glatten Bronze ihres Körpers hell aufleuchtet. Der Blick, der sich, sie weiß nicht von wo, auf sie richtet, dringt durch den offenen Spalt zwischen den Läden, durch den ein Mann sich seitlich hindurchzwängen könnte. Sie aalt sich in diesem Blick, ihre Angst mischt sich mit Behagen. Die gold- und silberfarbene Armbanduhr an ihrem schmalen Handgelenk sagt ihr, daß es nun Zeit ist. Sie geht in ihren hochhackigen, aus einem Geflecht dünner Lederriemchen bestehenden Schuhen durch das Zimmer. Mehr hat sie im Augenblick nicht an. Nur diese Schuhe mit den dünnen Absätzen, die das Bein so vorteilhaft zur Geltung bringen, es gleichsam in die Länge ziehen, dabei dem Bauch eine zarte, anmutige Wölbung nach innen verleihen und durch das feinnervige Miteinander der Muskeln und Sehnen den Schamhügel hervortreten lassen, nur die Schuhe und die Armbanduhr mit ihren kurz aufblitzenden Glanzlichtern.

Sie schaut auf die Schuhe hinunter. Sie baut sich vor dem Doppelspiegel des Kleiderschranks auf und schlüpft in ein weißes Höschen, streift sich den BH über, beides ungemustert. Die kleinen Stoffstücke spannen sich fest um ihren Körper, lassen die Haut noch straffer erscheinen. Sie betrachtet sich lange, sieht nur noch ihr Gesicht. Schweißtröpfchen perlen wie kleine Punkte auf ihren zartrosa Lippen, säumen ihre Stirn. Langgezogen fällt eine Träne auf ihren Arm, bleibt an der Taille hängen. Aber nicht doch, Mädchen! Nimm’s nicht so schwer; ist doch nur ein Termin wie jeder andere.

Sie spürt Blicke auf ihren Hüften, wie Stecknadeln. Es piekst. Das Kleid liegt ausgebreitet auf dem Bett. Sie nimmt es wie einen Umhang, wie eine Fahne, schwenkt es über ihrem Kopf, hebt die Arme und taucht mit geschlossenen Augen in das Geraschel aus duftigem Stoff. Sie entdeckt in ihm den Geruch ihres Unterleibs, wird ruhig, arbeitet sich, den Kopf in den Nacken werfend, nach oben und taucht wieder auf. Das Kleid fällt an ihr herab, nimmt seine endgültige Gestalt an, rührt sich nicht mehr.

Der Spanner von gegenüber sieht, wie die junge Frau nun rasch eine Handtasche, ein paar Schlüssel, eine rotweiße Zigarettenschachtel zusammenrafft und fast laufend das Zimmer verläßt. Eine Tür fällt ins Schloß. Er bildet sich ein, es zu hören. Doch die breite Straße da unten mit ihrem Getöse, das unablässig heraufdringt, macht das unmöglich.

Er bleibt noch eine Weile mit starrem Blick stehen, weiß selber nicht, ob er darauf wartet, daß sie zurückkommt, ob er es hoffen oder befürchten soll, oder ob er noch da steht, um dem heimlich beobachteten Schauspiel nachzusinnen. Aber der Film ist zu Ende, er hat etwas anderes zu tun. Beinahe wäre ihm ein Seufzer entfahren. Diesem Mädchen möchte er gern mal auf der Straße begegnen, sie anlächeln, etwas Nettes sagen.

Aber dafür wird er nicht bezahlt. Er greift sich seine rotblau gestreifte Jacke, die über der Rückenlehne des Kanapees hängt, und schiebt seine muskulösen Arme hinein. Das Hemd pappt auf der Haut. Mein Gott, wird das heiß heute!

 

8.46 Uhr. Wie schwerelos gleitet der Mercedes über die leeren Avenuen in diesem Ferienmonat August. Die Bäume stehen in vollem Saft, die Blätter der Kastanien zeichnen Zierdeckchen aus Schatten und Licht auf den Boden, die auf die Karosserie der Limousine hüpfen, über die Windschutzscheibe huschen, in Fetzen auseinanderstieben, wieder aneinandergefügt auf das schon glühend heiße Wagendach springen und schließlich auf die Fahrbahn zurückfallen, wo sie sich flirrend auflösen und entschwinden.

Der Mann am Volant trällert auf arabisch – das ist seine Muttersprache – ein Lied vor sich hin. Auf hedschasarabisch, um genau zu sein. Es ist ein altes Lied, das von einem Beduinendichter stammt und in dem von Palmblättern die Rede ist, die Zierdeckchen aus Schatten und Licht auf den Boden zeichnen, die hüpfen, in Fetzen gehen, auseinanderstieben und so weiter und so fort. Und schon ist sie vorüber, die Karawane.

Zugleich aber erscheint in den Erinnerungen des Mannes eine unter mehreren Schichten von Röcken fast erstickende alte Frau, die ein Kind auf den Armen wiegt. Auch sie singt die Baumromanze. Es ist heiß, noch heißer als heute, aber das ist gut fürs Gedächtnis. Das Kind war er selber. Seither hat er seinen Weg gemacht. Als offiziell akkreditierter Diplomat der Golfemirate ist er einer der Bosse des Panarabischen Kulturzentrums, das nur einen Tritt aufs Gaspedal von hier entfernt liegt. Er biegt in Richtung Porte Dauphine ab und beobachtet im Rückspiegel den beigefarbenen Wagen, der hinter ihm herfährt. Mit einem Seitenblick bemerkt er auf dem Trottoir auch die Gestalt eines Mädchens, das im Spiegel rasch kleiner wird. Ihr Gesicht hat er nicht erkennen können, aber der hin- und herschwingende helle Rock ist noch ziemlich lange sichtbar, bis auch er schließlich aus seinem Gesichtsfeld verschwindet.

 

8.53 Uhr. Auf der Straße ist kaum Betrieb, es ist kühl und schattig wegen der hohen Häuser. Es ist allerdings auch eine recht enge Straße, mitten im sechzehnten Arrondissement, dem Viertel, wo die Botschaften liegen. Schwer, hier einen Parkplatz zu finden. Überall Parkuhren, alles andere ist für die Diplomatenschlitten reserviert. Die Häuser sind alt und grau. Balustradenbalkone, gläserne Vordächer, Rundfenster. Man tritt in breite Korridore mit Aquariumbeleuchtung und steigt staubige, mit dicken Teppichen gepolsterte Treppen hinauf. Schmiedeeiserne Gittergehäuse tragen einen mit kurzatmiger, vibrierender Langsamkeit bis zu den Etagen mit den geräumigen Wohnungsvorplätzen empor.

Das Kulturzentrum selber ist ein moderneres Gebäude. Besonders innen, wo man alles umgekrempelt hat. Das Personal ist nicht unzufrieden mit den Veränderungen. Mit der Klimaanlage vor allem und den Sicherheitsmaßnahmen.

Momentan ist es auf der Straße sehr ruhig, und allmählich trudeln die ersten Angestellten ein. Sie bewegen sich in mäßigem Tempo, ohne den Diensteifer, den man eigentlich von ihnen erwarten dürfte. In den Einfahrten schlagen Bullen mit Schirmmützen und Walkie-talkies gelangweilt die Zeit tot. Sie stehen sich dort schon immer die Beine in den Bauch. Man nimmt sie fast gar nicht mehr wahr.

Sie selber sehen den eintreffenden arabischen Tippsen nach, hin und wieder getraut sich sogar einer zu lachen, wenn sie an ihnen vorbeidefilieren. Die Mädchen gehen weiter, ohne sich umzudrehen, an ihren Popos Polypenblicke hinter sich herziehend.

Die vom Sicherheitsdienst des Hauses haben sich zu beiden Seiten des Eingangs aufgepflanzt.

In Gegenrichtung hastet die Schar der Putzfrauen. Sie sind mit der Welt zufrieden, trotz der Müdigkeit, die in den Augenhöhlen der Älteren nistet und den Jüngeren Falten um den Mund legt. Und die eine erst, die sich noch nicht ganz aus ihrem rosa Nylonkittelchen gepellt hat, und schon braust sie inmitten eines lauten Getöses von Motorlärm und Gelächter mit einem ganz in glänzendes, schwarzes Leder verpackten Motorradfreak vondannen. Als sie sich auf den Soziussitz geschwungen hat, ist keinem der umstehenden Bullen – Franzosen wie Arabern – ihr kurz aufleuchtendes, mit Blümchen bedrucktes Höschen entgangen.

Übrigens auch dem Mann mit dem Feldstecher nicht, der irgendwo da oben herumhockt. Doch das weiß keiner.

Es ist kurz vor neun, und das Thermometer arbeitet sich schon munter an die fünfundzwanzig Grad heran. Stoisch, von dem gegeneinanderdrängenden Getriebe völlig unberührt, wienert eine Putzfrau in orangeblauer Schürze hingebungsvoll ein Messingschild mit eingravierter Schrift, das in arabischer und französischer Sprache verkündet, daß es sich hier tatsächlich um das Panarabische Kulturzentrum handelt und daß selbiges von neun Uhr an der Öffentlichkeit zugänglich ist. Sie bleibt gern etwas länger als die anderen, trödelt auch gern mit einem so überflüssigen Job herum, denn das Schild ist ohnehin schon spiegelblank. Sie ist gern hier draußen, um sich die zur Arbeit anrückenden Leute anzusehen, um zu beobachten, wie sie sich dabei anstellen und was für ein Gesicht sie machen. Und auch das Publikum, das manchmal schon recht zeitig aufkreuzt. Heute aber nicht, wegen der Ferien. Und ihr geht durch den Kopf, daß das doch nicht normal sein kann, so spät seine Tage zu bekommen.

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Augustin möchte jeder seiner Gesten eine besondere Ausdruckskraft verleihen. Er probt. Er arbeitet an seinem Auftritt. Er bemüht sich um Stil.

Schon seit einer ganzen Weile beschäftigt ihn das. Es hat ihn zufällig gepackt. Aber das Leben kommt ja immer per Zufall daher, und was sich daraus ergibt, geschieht wiederum nur zufällig. Es sei denn, es verhält sich genau umgekehrt: Nichts passiert zufällig, wie von aller Welt zu hören ist. Was aber ungefähr auf dasselbe hinausläuft. Nämlich, daß der Mensch über nichts die Kontrolle hat, daß alles außerhalb seines Willens geschieht.

He, Augustin, kannst du dir selber noch folgen, vor deinem Waschbecken da, mit einer schäumenden Zahnbürste im Mund? Du denkst zuviel, Augustin! Bist schließlich nur ’n kleiner Bulle.

Stimmt. Er ist Bulle, Kripobeamter. Oberinspektor Augustin Lorenzaccio. Astigmatisch. Die Krümmungsradien der Linse und der Hornhaut sind nicht mehr in allen Meridianen gleich, was zu einem verschwommenen und verzerrten Bild führt. Augustin trägt eine Brille. Auch seine Hirnmasse hat eine Macke. Und bei der brillenfreien Morgentoilette sieht Augustin sich verschwommen und wälzt krauses Zeug in seinem Kopf. Manchmal bekommt er’s schon mit der Angst. Doch er beruhigt sich wieder. Schließlich weiß er, daß es Millionen genauso geht wie ihm.

Dann spielt er Theater. Er feilt an seinem Auftreten. Er blickt starr in die Gegend, wirft eine Münze hoch und fängt sie wieder auf, fährt sich mit einem Finger unter der Nase entlang, zupft sich am Ohrläppchen, tigert mit wiegenden Schritten im Zimmer umher, zieht den Bauch ein und streckt den Hintern raus.

Augustin Lorenzaccio ist nicht so blöde, daß er nicht weiß, daß diese Absonderlichkeiten auf seine mangelnde Anpassung an die Welt schließen lassen.

Die Welt – er meint die Außen- oder Umwelt – ist eine Bühne, auf der man’s verstehen muß, seine Rolle zu spielen. Augustin beherrscht seine eigene nicht gut. Sicher ist er deswegen zur Polizei gegangen. Nach einer blutrünstigen Lehre in der Fleischerei seines Vaters, einem unvollendeten Fernstudium der Kunstgeschichte und einem starken, aber mannhaft unterdrückten Verlangen, Kunstmaler zu werden, verdient Augustin sein tägliches Brot nun mit den öden und schnöden Verrichtungen, für die der Staat ihn bezahlt.

Von einer recht üblen Geschichte hat er eine nicht minder üble Narbe zurückbehalten. Sein aus nächster Nähe mit Blei vollgespritztes Gesicht hat für die Petit-Point-Sticker von der kosmetischen Chirurgie als Stramin herhalten müssen. Schön ist Augustin nicht mehr, aber das war er auch vorher nicht. Wann immer möglich, versteckt er sich hinter seiner Brille. An unkontrollierte Zuckungen, überfallartige stechende Schmerzen ist seine Visage gewöhnt. Seine wahre Geliebte heißt Neuralgia.

Die andere, die unechte, die aus dem weichen Fleisch mit den mürben Knochen, mit der zarten Haut, mit den Pfefferkuchenbrüsten, die schläft gerade. Wenn sie wach ist, kann man ihre Augen bewundern, die mal blau, mal grau sind oder in noch andere Farben hinüberspielen wie ein Land aus Wolken, das über einen großen See hinweggleitet. Sie heißt Véronique.

Augustin sieht Véronique an.

Mit einer Geste, die ihm schon zur Gewohnheit geworden ist, kratzt er sich an der linken Backe, dort wo die Schrotkörner ihre kleinen Löchlein in seinen Kiefer-, in seinen Backenknochen gebohrt haben. Da haben sie sich eingenistet, sitzen unverrückbar für immer fest. Anfangs war es der Juckreiz, der seinen angewinkelten Daumen in Höhe der unteren Zahnreihe auf die Backe schnellen ließ, wo die vier Finger, wie eine dicke Spinne aussehend, zu kratzen anfingen. Später löste schon der bloße Gedanke, es könnte jucken, diesen Reflex aus, ein Gedanke, der ihn schließlich fortwährend heimsuchte. So wurde nach und nach diese Geste zur festen Gewohnheit. Mittlerweile ist sie ein Bestandteil Augustins, untrennbar von ihm. Wahrscheinlich ist er der einzige, der das nicht merkt.