Monsieur Abel und der Fall Raguenaud - Alain Demouzon - E-Book

Monsieur Abel und der Fall Raguenaud E-Book

Alain Demouzon

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Beschreibung

Demouzons Detektiv-Helden – hier Monsieur Abel, der unversehens Zeuge einer Entführung wird – beschränken sich nicht darauf, Verbrechen wie ein Puzzle zu rekonstruieren; immer geraten sie selbst mitten hinein ins bedrohliche Geschehen. Ort der Handlung: Eine Kleinstadt in der grande banlieue von Paris mit Honoratioren, Polizeikommissariat, dem Café Raguenaud, einer Zuckerfabrik, nordafrikanischen Arbeitern und unterschwelligem Fremdenhaß. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 248

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Alain Demouzon

Monsieur Abel und der Fall Raguenaud

Kriminalroman

Aus dem Französischen von Siegrid Toth

FISCHER Digital

Inhalt

Grau war die Stadt, [...]Wenn man es recht [...]Man fand Lilis Leiche [...]

Grau war die Stadt,

nicht anders sein Leben …

 

Stéphane Goldmann

Wenn man es recht bedenkt, sind die Chancen, daß zwei Menschen einander begegnen, ausgesprochen gering. Fast gleich Null, sieht man einmal ab von den üblichen sozialen Kontakten in Schule und Beruf, in der Nachbarschaft und bei bestimmten Freizeitbeschäftigungen. Was übrig bleibt, riecht nach Katastrophe …

Und der Tag, an dem Monsieur Abel Lili traf, war wirklich ein Katastrophentag.

Es hatte geregnet … Das war nicht außergewöhnlich: Es regnete seit drei Tagen, vielleicht länger.

Die Avenue du Général-de-Gaulle sah trotzdem kein bißchen sauberer aus als sonst mit ihren rußbraunen Bäumen und ihren gesichtslosen Häusern hinter Vorgärten mit zerfressenen Gitterstäben. Es wurde schon dunkel, und der Wind, der den Tag über Häuser und Menschen durchgerüttelt hatte, hatte sich in einer letzten wirbelnden Drehung davongemacht. Der Regen fiel einfach weiter und hüllte den Vorort in seine dichten grauen Schleier.

 

Es regnete immer noch. Monsieur Abel hatte es konstatiert, als er einen vorsichtigen Fuß auf die ausgetretene Seitentreppe des Justizpalasts setzte. Folglich hatte er die Leinwandkuppel seines schwarzen Regenschirms entfaltet und den Kragen seines Alpaka-Überziehers hochgeschlagen. Später würde er sich daran erinnern, daß er Angst um seine Hosenbeine gehabt hatte und um die zu dünn gewordenen Sohlen seiner Schnürstiefel, die er bei schlechtem Wetter anzuziehen pflegte.

Monsieur Abel hatte soeben seinen Prozeß verloren. Es war nicht der erste in seinem Leben, natürlich nicht, aber dieser hier würde ihn teuer zu stehen kommen. Das Geld, das man ihm schuldete, würde er nie wiedersehen, und die Kosten hatte er obendrein. Wirklich eine Katastrophe! Vielleicht würde er die Bergerie verkaufen müssen …

Als er in die Avenue du Général-de-Gaulle einbog, regnete es nicht mehr. Zumindest schien es ihm so. Vielleicht hatte der Regen nach und nach aufgehört, ohne daß er es bemerkte. Wer achtet schon auf solche Kleinigkeiten nach einem verlorenen Prozeß, in dem es um mehrere Millionen Francs ging, und das in der Revision?

Sicher ist, daß Monsieur Abel den Eindruck hatte, es regnete nicht mehr, als er in die Avenue du Général-de-Gaulle einbog. Alles andere ist ziemlich unsicher. Er erinnert sich nicht, Passanten getroffen zu haben, und nicht, von einem vorbeifahrenden Wagen bespritzt worden zu sein. (Der Bürgersteig war überschwemmt, und er ging auf der Straße, weit entfernt von dem überfließenden Rinnstein. Er erinnert sich an das frühlingshafte Gurgeln des fließenden Wassers.) Ein Schrei – so glaubt er – war nicht zu hören.

Doch als er Lili sah, war sie halbnackt, und zwei Männer bearbeiteten ihren Körper. Später plazierte er die Szene auf die Höhe der Nr. 22 b, dort wo ein Briefkasten einseitig an einem verrosteten Eisendraht hängt und ein Hydrant an der Seite steht, neben einem Abwasserschild mit der Aufschrift »Pont-à-Mousson«. Er erinnert sich deutlich an eine der nackten Brüste des Mädchens – vielleicht an zwei? – und an ihr hartes, verkrampftes Gesicht, und wie sie sich auf die Lippen biß.

Er hatte zunächst an eine unschickliche Szene geglaubt, an eine abgemachte Dreiecksgeschichte. Angesichts der Roheit der Männer und der Art und Weise, wie das Mädchen sich wehrte, verbissen, schweigend – fast zeitlupenhaft –, aber an eine Vergewaltigung, bei der das erschöpfte Opfer nicht mehr die Kraft aufbrachte zu schreien, geschweige denn sich zu verteidigen.

In diesem Augenblick war das Auto angekommen und hatte die Hosenbeine von Monsieur Abel bespritzt, und er hatte nur noch an seine Wut gedacht. Als er wieder aufblickte, zerrten sie das Mädchen gerade weg, am Rumpf und an den Beinen gepackt wie eine der Sabinerinnen von … (Er hatte den Namen des Malers vergessen, erinnerte sich aber genau an die Bewegung und das Gesicht der Gefangenen mit dem Ausdruck einer zweideutigen Hilflosigkeit, so als würde sie ihrem Raub im Grunde zustimmen.)

Er hatte sich nicht wirklich dazwischenstellen wollen, es war mehr eine einfache, instinktive Geste. Ein Mann hatte ihn geschlagen, nach seinem Gesicht gezielt und seine Schulter getroffen. Er war in den Dreck gefallen, genau auf die Kante des Bürgersteigs, und seine Sicht der Dinge hatte sich getrübt. Trotzdem hörte er die Worte des Mädchens: »Sagen Sie Raguenaud Bescheid … von Lili …« Der Rest war untergegangen im Schlagen der Türen und im wütenden Aufheulen des Motors.

Später war Monsieur Abel wieder aufgestanden. Er hatte seinen Schirm aufgesammelt, der einige Meter weit mitgerissen worden und Gott sei Dank heil geblieben war. Mit seinem Taschentuch hatte er sich Gesicht und Hände abgewischt und die gröbsten Flecken von seiner Kleidung entfernt. Und dann beschloß er – da er gerade seinen Prozeß verloren hatte und ihm alle mutmaßlich mit Gesetz und Recht befaßten Menschen gleichermaßen verhaßt waren –, nach mehr als einem halben Jahrhundert bürgerlicher Knechtschaft mit den Spielregeln zu brechen.

Er würde die Polizei nicht benachrichtigen.

 

 

 

Freitag, 7. September, 19.30 Uhr

Es gab nur drei Raguenauds im Telefonbuch. Einer wohnte am anderen Ende der Stadt, in der Nähe der Zuckerfabrik, die beiden anderen im Zentrum. Er beschloß, zum nächsten zu gehen, fing aber dann doch mit dem Raguenaud in der Rue des Martels an, einfach weil ihm der Name besser gefiel als der des Boulevard des Otages – obgleich dieser Name wie ein Wink des Schicksals wirkte[*]. Einige hundert Schritte zwischen beiden. Wenn man durch die Gäßchen ging, jedenfalls. Es war jetzt wirklich dunkel, und es regnete wirklich nicht mehr. Er zog sich dennoch warm an, abgetragene Sachen, um die man nicht mehr fürchten mußte. Er spürte keinen Hunger, und es war ihm gleich, wie spät es war, er würde sich ganz allein auf die Suche machen, und das Herz klopfte ihm bei dem Gedanken, die Katastrophe seines verlorenen Prozesses so schön vergessen zu können.

Man sah ihn durch die Stadt gehen. Mit großen Schritten und starrem Blick ließ er die Straßen hinter sich, die er zu durchqueren hatte. Er betrat das Café du Théâtre und bestellte einen Cognac. Man bediente ihn leicht erstaunt. Man kannte ihn hier. Er war reich und führte ein geregeltes Leben. Um diese Zeit hatte er noch nie etwas zu trinken bestellt, an einem Abend noch dazu, an dem das Theater geschlossen war. Man hielt ihm die Tür auf, als er ging, respektvoll und ganz leicht beunruhigt.

Die Rue des Martels bewahrte noch die Erinnerung an die Kesselflicker und Klempner einer verschwundenen Zeit. Es war eine mehr breite als lange Straße – fast ein Platz –, wo sich die Läden und Werkstätten der alten Klempner und Schlosser der Stadt drängten. Diese Läden lagen zumeist ebenerdig, waren tagsüber offen, nachts durch hölzerne zweiflüglige Tore geschlossen, mit einem vergessenen Ladenschild darüber, das mehr aus Nachlässigkeit als aus Respekt vor der Vergangenheit noch an seinem Platz hing.

Raguenaud war Schlosser, wie viele hier, und Monsieur Abel dachte, daß er ihn eigentlich kennen müßte, irgendwie. Er stieg eine Holztreppe hinauf, an der sich der Putz in kleinen bröckelnden Staubfontänen löste. Die nackte Glühbirne der automatischen Treppenhausbeleuchtung verbreitete ein kaltes Licht, das müde Gesichter besonders unbarmherzig ausleuchtete. Monsieur Abel konnte das feststellen, als er an dem Spiegel einer Reklametafel vorbeikam. Er suchte seine Züge zu straffen, innerlich zu festigen. Er klopfte an die Tür, und die Tür bewegte sich. Ein matter Lichtstreifen fiel durch den Spalt, und einen Augenblick lang wagte Monsieur Abel keinen Laut.

Er horchte.

Irgendwo lief ein Fernseher, nah und gedämpft, verzerrt, unverständlich, ohne daß man hätte sagen können, ob die Geräusche aus dieser oder der nächsten Wohnung kamen. Monsieur Abel sah noch einmal nach dem mit Reißzwecken befestigten Schild auf der Tür: Raguenaud, Schlosser, bevor er ein zweites Mal klopfte, stärker diesmal, und gleichzeitig mit den Fingerspitzen die Tür festhielt. Eine Stimme brüllte etwas, genauso unverständlich wie der Fernseher, und nach einer fast unmerklichen Bewegung, öffnete sich die Tür. Monsieur Abel senkte seinen Blick auf ein kleines Mädchen im durchsichtigen rosa Nylonnachthemd. Es hatte seine Unterhose anbehalten, die ihm sehr hoch über die Taille hinausreichte, und trug blau und grün gestreifte Hausschuhe. (Das waren die Einzelheiten, die er sich merkte. Obwohl er auch ganz andere Dinge hätte bemerken können: die Augen der Kleinen, den Farbton ihrer Haare, ein Schmuckstück, das sie vielleicht am Handgelenk trug oder am Hals. Später, als er Zeit hatte nachzudenken, wie die Dinge sich zugetragen hatten – oder wie sie sich hätten zutragen können –, staunte er darüber, was er sich gemerkt hatte. Vielleicht hätte er schneller verstanden, wenn er besser beobachtet hätte. Von diesem kleinen Mädchen jedenfalls blieb ihm nur die Kleidung im Kopf.) Er fragte, ob ihr Vater da sei. Sie antwortete nicht. Keine Kopfbewegung, kein Aufleuchten des Blicks ließ erkennen, daß sie verstanden hatte. Mit der gleichen lautlosen Bewegung, mit der sie gekommen war, verschwand sie wieder.

Monsieur Abel betrachtete, gleichsam ohne Neugier, zerstreut, was er von der Wohnung sehen konnte. Nichts von Bedeutung. Verblaßte Tapeten an den Wänden und ein altes Bild, beige oder gelb, mit kleinen Blumen wahrscheinlich. Ein Barometer mit einem Hirschkopf darüber, vermutlich aus Plastik. Ein Heizkörper der Zentralheizung, zwischen zwei Vorhängen, im Halbdunkel.

»Monsieur?… Was wollen Sie?« fragte eine Stimme.

»Sie sind Madame Raguenaud?«

»Ja.«

Das Gesicht der Frau war verkrampft, mißtrauisch.

»Ich bin Monsieur Abel … Ich hätte gern Ihren Mann gesprochen … wenn möglich. Es ist mir sehr peinlich, daß ich Sie um diese Zeit stören muß … Die Tür ging auf, als ich geklopft habe … beim ersten Mal …«

Das Gesicht verschloß sich stärker, verströmte plötzlich eine geschäftsmäßige Herzlichkeit.

»Sie kommen wegen einer Arbeit? … Mein Mann ist noch nicht zurück.«

Monsieur Abel verzog den Mund. Er wippte leicht von einem Fuß auf den anderen, entschloß sich dann aber doch zu fragen:

»Kennen Sie eine junge Frau, die Lili heißt?«

»Nein. Warum?«

»Ich sollte etwas ausrichten, von ihr … Aber es ist möglich, daß Sie sie nicht kennen … Es gibt noch mehr Raguenauds in der Stadt und …«

»Wer ist das, diese Frau?«

Ihre Stimme hatte sich verändert, und sie kniff die Augen argwöhnisch zusammen.

»Das weiß ich selbst nicht!« gestand Monsieur Abel. »Ich habe sie nur sehr kurz gesehen … Sie hat mir aufgetragen, Monsieur Raguenaud Bescheid zu geben, sonst nichts … Ich bin gar nicht sicher, daß Sie gemeint waren …«

»Sie hat einen Unfall gehabt?«

»Ja, irgendwie.«

»Und wie soll sie heißen?«

»Lili.«

»Und sie wollte, daß man meinen Mann benachrichtigt?«

Die Stimme zischte fast, die Augen waren zu zwei Schlitzen verengt, hinter denen ein böses Licht leuchtete.

Monsieur Abel begriff die Ursache dieses auflodernden Zornes, als ihm bewußt wurde, wie beunruhigend dieser altmodische Vorname – Lili – für eine Frau sein mußte, deren Ehemann den ganzen Tag abwesend war und abends zu spät nach Hause kam. Seine Erinnerung zeichnete die Kurve einer Brust nach, rund und zweifellos fest, etwas angedrückt an den Körper durch die gewölbte Bewegung der Verteidigung. Er versuchte, sich an andere Einzelheiten zu erinnern. Der Warzenhof war beige, eher dunkel, und die Haut weiß, etwas zu grell im bräunlichen Licht dieser regenverschleierten Dämmerung. Aber das war es eigentlich nicht, was er suchte: eher der Umriß eines Gesichts, die Welle einer Frisur – braun, glaubte er, beinahe schwarz, sogar – die Röte einer Wange oder das Funkeln eines Blicks. War dieses Mädchen hübsch? Er hätte es nicht mit Sicherheit sagen können. Aber er nahm es an, im Vertrauen auf den ersten Eindruck, den er von ihr gehabt hatte, weil sie jung war und er alt.

»Ihren Mann? stammelte er. Nein … nicht Ihren Mann … sie hat gesagt: ›Geben Sie Raguenaud Bescheid‹ … das war alles.«

Das kleine Mädchen im rosa Nachthemd war zurückgekommen. Sie riß weite ängstliche Augen auf, während sie sich gleichzeitig mit unschöner Heftigkeit am Knöchel kratzte. Zeit zu verschwinden, fand Monsieur Abel. Er entschuldigte sich und wurde rot dabei. (Ja, natürlich, diese »Lili« war vielleicht die Geliebte Raguenauds. Er war reichlich spät darauf gekommen, und sein stümperhaftes Vorgehen, so ganz ohne Feingefühl, beschämte ihn.) Er versprach wiederzukommen … es sei denn, es stellte sich inzwischen heraus, daß ein anderer Raguenaud das Fräulein kenne.

Sein Rückzug ähnelte einer Flucht, und mit Erleichterung fand er sich auf der Straße wieder.

Dennoch konnte er nicht sogleich einen klaren Gedanken fassen, die schwarzen Schatten der feuchten Nacht in dieser Straße mit dem verdächtigen Gehabe einer Sackgasse, irritierten ihn. Die verquälte Kontur einer Laterne, deren Träger lose und verbogen wie ein vom Blitz getroffener Arm herunterhing, das blecherne Lampengehäuse am Ende mit den geborstenen Scheiben, wirkte auf ihn wie ein Erhängter, der den Kopf zur Seite knickte, und verursachte ihm körperliches Unbehagen. Er massierte sich die Augenlider, um das Bild zu verscheuchen.

Rasch ging er zur Präfektur zurück und trat in die Brasserie des Lyonnais ein. Man servierte ihm den Cognac mit der respektvollen Liebenswürdigkeit, die seinem Ansehen und Status als Stammgast zukam. Er trank, ohne von seiner Umgebung Notiz zu nehmen. Alles, woran er denken konnte, war die Frau, die so ungezwungen eifersüchtig geworden war und von der er nur das Gesicht gesehen hatte, oder vielleicht noch weniger: eine Maske ohne eigene Physiognomie, nur von wenigen einfachen Emotionen belebt: von Mißtrauen, Argwohn, Wut …

 

Der Alkohol brannte ihm im Magen, blies ihm einen leichten Dunst ins Hirn, unübertreffliches Gegengift gegen das feuchte Grau der Straßen. Er zahlte, legte ein großzügiges Trinkgeld auf den Tisch und ging wieder in die Nacht hinaus, ohne den Kragen seines Überziehers hochzuschlagen, den riesigen schwarzen Regenschirm zerknittert unter seinem Arm wie eine Zeitung, die man zu lange durchgeblättert hat. Er grüßte mit ironischem Blick das Standbild Jean-Emile Botharels, an der Ecke der Rue Weygand und des Cours Saint-Marcel, und tauchte in die Rue des Otages ein. Die Linden mit ihren durchwühlten Zweigen weinten Regentropfen ab und seufzten zärtlich, während ihre parallelepipedischen Locken sich von Stamm zu Stamm umeinanderschlangen. Mit fließendem Zischeln, seine Scheinwerfer hoch in den graugrünen Blättern, fuhr ein Auto vorbei. Monsieur Abel genoß diese Eindrücke, die er poetisch fand, während er unbekümmert durch den Matsch des Bürgersteigs marschierte. Vor dem Haus Nr. 17 blieb er stehen.

Er sah ein Gebäude in schwarz und weiß, mit hohem spitzem Dach, das für diese Gegend ungewöhnlich war. Der kleine Vorgarten war vernachlässigt, ohne direkt ungepflegt zu wirken, wie es für diese gutbürgerlichen Häuser typisch ist. Ein leichter Blumenduft lag über dem schweren Geruch von nassem Laub – oder besser »hinter«, wie die bukettreiche Erinnerung an zu starken Alkohol. Die Fenster waren dunkel und die Läden offen. Auf einem stumpfen Kupferschild, das von den Unbilden der Witterung rissig geworden war, entzifferte Monsieur Abel im Licht seines Feuerzeugs (obwohl er durchaus nicht rauchte, hatte er in den Tiefen seiner Taschen immer eines dieser blanken, ovalen Metallgehäuse, deren baumwollenes Gekröse sich mit einer hartnäckig riechenden, bläulichen Flüssigkeit vollsaugt): Philippe Raguenaud, Buchhalter.

Über der Tafel befand sich eine runde Klingel, die in einen schwach geäderten Marmorblock eingelassen war. Monsieur Abel drückte seinen Finger dreimal hintereinander darauf, fast frevlerisch kurz. Der Ton der Klingel hallte mit erstaunlicher Deutlichkeit durch das scheinbar leere Haus. Monsieur Abel glaubte eine Bewegung im ersten Stock zu sehen – einen Vorhang, einen Schatten hinter dem Fenster, ein rasch wieder gelöschtes Licht? –, und er meinte sogar, leichte Geräusche wahrzunehmen, zögernd, unentschieden, wie klingende Fragezeichen. Er läutete von neuem, noch dreimal, und das Oberlicht über der Tür erhellte sich. Ein Riegel wurde laut zurückgeschoben, und eine Männerstimme fragte:

»Was ist los?«

»Monsieur Raguenaud, bitte.«

»Worum geht es?«

Der Mann stand in der Türöffnung, und Monsieur Abel konnte das Muster seines Morgenmantels betrachten: schwarze Vögel mit weit geöffneten Schnäbeln, deren Gefieder überging in die Arabesken von Zweigen, auf denen sie hockten. Ein Himmel aus roter Seide.

»Verzeihen Sie die Störung zu so später Stunde, aber man hat mir eine Botschaft aufgetragen für einen gewissen Raguenaud … Es ist möglich, daß es gar nicht Sie betrifft, und es wäre mir natürlich unangenehm, wenn ich Sie um Ihren Schlaf gebracht hätte …«

»Ich habe nicht geschlafen. Worum handelt es sich?«

»Kennen Sie eine junge Frau mit Namen Lili?«

»Nein.«

»Eine junge Frau. Etwa dreißig, vielleicht weniger. Eine Brünette, schien es mir, vorhin, auf der Avenue du Général-de-Gaulle …«

»Nein.«

»Dann bin ich wohl falsch hier … Es gibt verschiedene Raguenauds in der Stadt … und wie ich schon fürchtete, es ist möglich, daß …«

Der Morgenmantel verschwand. Die Tür fiel ins Schloß, ein Schlüssel wurde zweimal umgedreht, und das Oberlicht erlosch. Monsieur Abel glaubte, das Gleiten von Hausschuhen auf spiegelblank gewachsten Stufen zu hören, und erinnerte sich vage an ein abgespanntes, welkes Gesicht, einen Vollmond mit breiten Kinnbacken und schlaffen Augenlidern. Leicht verärgert ging er zurück, Richtung Stadtmitte.

An der Ecke der Place Sadi-Carnot und der Rue Piédelièvre döste unter einer großen Straßenlaterne ein bis zur Undurchsichtigkeit beschlagenes Taxi. Er ließ sich zu dem dritten Raguenaud fahren und durchquerte die Stadt – die noch schwärzer, noch verschlafener dalag –, während hinter seinen halbgeschlossenen Augenlidern die Lichter der Boulevards vorbeizogen.

Dieser Raguenaud führte eine Bar, und sein Name prangte in schattigen Lettern über der ganzen Länge der Fassade. Zwischen alleinstehenden Häusern, an die sich Bretterhütten lehnten, konnte man schon einzelne bebaute Felder des nahe gelegenen offenen Landes erkennen. Die Luft war kräftiger und brachte in Schwaden den scharfen Geruch von Fäulnis und zertretenem Gras mit sich. Die Eisenbahn war in der Nähe, und die schimmernden Schienen hatten einen Graben des Schweigens gezogen, den bald die reißende Flucht des 22-Uhr-17-Expreß durchdringen würde. Weiter entfernt, an der Stadtgrenze, erzitterte die Zuckerraffinerie in Licht und Rauch, unersättlich die Rüben verschlingend, die zerbeulte und verkrustete Lastwagen lärmend heranfuhren.

Monsieur Abel bat den Taxifahrer zu warten. Aber der fuhr wortlos weg. Die Erdklumpen, die von den Rübenlastern herabgefallen waren, klebten an den Schuhen. Trippelnd überquerte Monsieur Abel die Straße, den Regenschirm fest unter den Arm geklemmt und die Hosenbeine in Kniehöhe zwischen zwei verkrampften Fingern einer jeden Hand hochgezogen. Er rannte gegen die gelbe Fensterscheibe, und diese Ungeschicklichkeit verwirrte ihn. Doch als er die Tür aufstieß, stellte er fest, daß er keine Zeugen gehabt hatte. Der Saal des Cafés war leer.

Er ließ die Hosenbeine wieder fallen und ging zur Theke. Der Boden war mit dunkelroten, abgetretenen Fliesen ausgelegt, und zwei Glühbirnen in matten Milchglastulpen erhellten vier karamelfarbene Wände, an denen Reklamebilder für Weine und verschiedene Anisapéritifs hingen. Ein langer, schmaler Spiegel lief hinter dem Tresen entlang und reflektierte die Flaschen und Gestelle aus Holz und gedrehtem Metall. Monsieur Abel erblickte sein Gesicht durch den deformierenden Filter einer Gläserreihe hindurch und erkannte sich kaum. Er glaubte, eine Erscheinung zu sehen, und fuhr zusammen. Um sich zu beruhigen, klopfte er mit spitzen Nägeln auf die Theke und fragte übertrieben, ob da jemand sei.

Keine Antwort. Ein Glockenspiel verkündete mit einem einzelnen Ton, daß es 22 Uhr 15 sei, und das Dröhnen eines mit Zuckerrüben beladenen Zehntonners erschütterte in diesem Augenblick die Fensterscheiben.

Monsieur Abel ging zu einer Glastür in der Mitte hinter dem Schanktisch, die zu einem Büro oder einem Privatzimmer zu führen schien. Er klopfte an die Tür, gerade als er vage das Geschaukel eines Körpers erkannte. Jemand kam. Er trat einen Schritt zurück und wartete. Der Körper schaukelte noch immer, verschwommen hinter dem Kathedralglas, scheinbar ohne näher zu kommen. Monsieur Abel klopfte wieder, wartete, seufzte, dann öffnete er die Tür.

Der Mann hing am ehemaligen Befestigungshaken einer Hängelampe, mitten in der Küche. Er hatte den Tisch in eine Ecke zurückgeschoben (einen Tisch im Stil Henri II, glaubte Monsieur Abel, der mit einem rot-weiß karierten Wachstuch bedeckt war). Kaum ein Meter von den Füßen des Leichnams entfernt war ein blaßgrün furnierter Stuhl umgestoßen. Ein starker Luftzug, der den Geruch nasser Blätter von einem Gemüsegarten durch das offenstehende Fenster hereintrug, bewegte den Erhängten. Der Mann hatte ein Hemd aus braunblauem Flanell an, eine ziegelrote Hose und schwarze Mokassins. (Einer der Schuhe war auf den Boden gefallen und enthüllte so einen Socken, der ein Loch an den Zehen hatte, ein Detail, das Monsieur Abel grausamer und obszöner erschien als die gequälte Haltung des Unglücklichen …) Monsieur Abel ging einige Male um den Leichnam herum, betrachtete ihn von allen Seiten, wie er es bei einer Plastik im verlassenen Saal eines Museums gemacht hätte. Er erinnerte sich gerührt an die Laterne in der Rue des Martels, und das war die einzig interessante Regung, die er in diesen Augenblicken verspürte, abgesehen von dem obligaten, Übelkeit erregenden Ekel, der diesem widerlichen Schauspiel sowieso eigen war.

Er dachte daran, das Fenster zu schließen, entschied dann aber, daß es auf Kälte oder Feuchtigkeit jetzt nicht mehr ankam. Er ging also, ohne etwas berührt zu haben. Der Saal war immer noch verlassen und die Straße ebenfalls, glaubte er. Aber er hörte Stimmen in der Nacht, Lachen und das Geräusch von Schritten. Als er sich umdrehte, bemerkte er den roten Punkt einer Zigarette, dann erschien eine Gruppe von Arbeitern der Zuckerfabrik in dem Lichtfleck vor dem Café Raguenaud. In diesem Moment zerriß der 22-Uhr-17-Expreß mit einem langgezogenen Heulen die Nacht.

Er hatte Verspätung, stellte Monsieur Abel fest.

 

 

 

Freitag, 22 Uhr 21

Der Zug lief um 22 Uhr 21 in den Bahnhof ein. Keiner der Reisenden fand die Verspätung bemerkenswert. Einzig der für die Sicherheit verantwortliche Beamte – dieser Mann mit der weißen Mütze, der das Abfahrtssignal für die Züge gibt und den Nichteingeweihte ungebührlicherweise »Bahnhofsvorsteher« nennen – empfand leichte Ungeduld. Vorwurfsvoll schaute er jedem der Reisenden scharf ins Gesicht, als seien ihre Nachlässigkeit oder ihre Müdigkeit die wahren Ursachen dieser Widerwärtigkeit, und reckte, sobald er konnte, seine Kelle. Als die beiden roten Lichter des rückwärtigen Gepäckwagens in der Nacht verschwunden waren, fiel er mit den letzten Nachzüglern in Schritt, wobei er unfreundlich die wenigen Stammfahrgäste grüßte, die ihn kannten.

Die einzig interessante Figur – die er bemerkte – war die eines jungen Mädchens mit dem Auftreten einer Schülerin. Aber ihr Gesicht, das er nur flüchtig erblickte, als sie sich nach der Treppe zur Unterführung wandte, enthüllte ihm ein Frätzchen, das beträchtlich älter war, als ihre blonden Zöpfe glauben machen wollten. Sie trug einen schmalen Koffer aus Schottenstoff, wie man sie für Reisen von wenigen Tagen benutzt, und eine Handtasche am Schulterriemen. Hübsche Beine hatte sie, schön geschwungen unter einem etwas zu kurzen Regenmantel, und so etwas Aufreizendes in ihrem Schritt. Er sah, wie sie dem Kontrolleur eine einfache Karte für die Hinfahrt reichte, und folgte ihr mit den Augen bis zum Eingang des Hôtel de la Gare, wo sie ohne Zögern verschwand. Hinter den Scheiben mit den vergoldeten Türgriffen sah er ein letztes Mal die blonden Zöpfe hüpfen, ohne sich auch nur einen Moment lang über diese altmodische Frisur aufzuhalten. Da hatte er schon anderes gesehen, bei diesen Nachtreisenden!

Die Geschäftsführerin beobachtete sehr wohl, wie die Kleine an die Rezeption trat; dennoch tat sie so, als sähe sie sie nicht. Das Hotel war voll, und zu dieser Stunde kamen selbstverständlich nur Leute, die Scherereien machten. Solche, die einen im ganzen Bezirk herumtelefonieren lassen, um ihnen ein Zimmer zu besorgen. Ein hübsches Mädchen. Auch das noch! Kommt daher, als wäre sie gerade der Schule entsprungen und könnte mit ihrer Ungezwungenheit die Welt erobern. Das reichte wirklich, um einem die Stimmung zu verderben … wenn das noch nötig gewesen wäre!

Aber die junge Frau wartete nicht, bis die Empfangsdame ihre Seite aus einem Touristenführer zu Ende gelesen hatte, sie wartete nicht, bis die gute Laune zurückgekehrt war oder man ihr – wie aus Mitleid – einen geringschätzigen Blick zuwarf. Sie stellte ihre Handtasche auf die Theke, mit einer entschiedenen Bewegung, die einen zum Wahnsinn treiben konnte, und forderte:

»Ich habe ein Zimmer reserviert, auf den Namen Mademoiselle Larrieu.«

Die Empfangsdame nahm ihr großes Buch, nahm sich die Zeit festzustellen, was sie schon wußte, und knurrte:

»Nummer vierzehn … im Zweiten.«

»Das ist ja noch mal gutgegangen«, lächelte das Mädchen. (Die Geschäftsführerin sah nur ihre Frisur: zwei Zöpfe bis zu den Schultern. Blödsinnig!)

»Wie bitte?«

»Ich meine die dreizehn … das wäre schlimm, die dreizehn!

»Es gibt kein Zimmer mit der Nummer dreizehn«, brummelte die Geschäftsführerin. Sie überlegte, wie sie noch unangenehmer werden könnte.

»Haben Sie zu Abend gegessen?« fragte sie und freute sich schon auf ihre Bemerkung, daß die Küche schon längst geschlossen sei und man nach zehn auch keinen Imbiß mehr serviere (eine gute Idee, das, um die Gäste zu ärgern, die mit dem 22 Uhr 17 ankamen!).

»Ja, danke«, antwortete das Mädchen, worauf sich das Gesicht der Geschäftsführerin noch ein wenig mehr zusammenzog und sie sich nun mit großer Schnelligkeit daran machte, etwas anderes zu finden.

Ein wenig Zeit gewann sie bei der Aushändigung des Schlüssels an diesen unwillkommenen Gast, aber die andere verschwand ohne weiteren Aufenthalt in Richtung Aufzug. Leider war der auch in Ordnung, und die Geschäftsführerin fühlte, daß sie die Partie verloren hatte. Ohne zu lesen, blätterte sie wieder ihre Zeitschrift durch und dachte mit Bedauern an die Zeit zurück, als der obligatorische Anmeldezettel es ihr erlaubt hatte, eine passionierte und tüchtige Hilfskraft der Polizei zu sein. Sie hätte – wenn es diese gesegnete Zeit noch geben würde – sich die Kennkarte zeigen lassen können. Und damit hätte sie, ohne es zu ahnen, besser als mit jedem anderen Mittel, ihren bezopften Gast in die Klemme bringen können.

Denn in den offiziellen Papieren der jungen Frau stand in fett mit Schreibmaschine eingetippten Buchstaben ihr wirklicher Name: Elisabeth Raguenaud.

 

 

 

Samstag, 8. September, 9 Uhr

Monsieur Abel hätte wahrhaftig einen Cognac brauchen können, nachdem er von seinem Besuch bei dem Raguenaud vom anderen Ende der Stadt zurückgekommen war. Er hatte sich Auge in Auge mit einer Leiche befunden (wenn man das überhaupt sagen kann, da der andere ihn, um ehrlich zu sein, höchstens von oben her abgeschätzt hatte, durch die glasigen Kugeln seiner aus den Höhlen vorgequollenen Augen hindurch), ein Umstand, der in weitestem Sinne die Einnahme eines alkoholischen Getränks rechtfertigte. Nicht genug damit, hatte er zu Fuß heimkehren müssen, wobei er seine Hosenbeine endgültig ruinierte und seine chronische Sinusitis wieder weckte. Aber er hatte dann doch die kräftige Luft der Vororte als ausreichende Medizin für seine Gefühle betrachtet und sich sofort nach seiner Rückkehr hingelegt, nicht ohne sein Bett zuvor mit einer Wärmflasche voll kochendem Wassers angenehm temperiert zu haben. Er hatte wie ein Murmeltier geschlafen, zusammengerollt in der Wärme seiner Decken, und er hatte von ganz anderen Dingen als seinem verlorenen Prozeß geträumt und der abenteuerlichen Wendung, die sein Leben plötzlich genommen hatte.

Henriette war wie üblich um acht Uhr gekommen, und wie üblich weckte ihn der Duft des heißen Kaffees. Nachdem Henriette die doppelten Vorhänge aufgezogen hatte, über einem Regenvormittag, den die Verzierungen der eingestaubten Spitzenstickerei noch fahler machten, hatte sie das Tablett, das sie kurz auf dem Nachttisch abgesetzt hatte, Monsieur Abel gereicht, der es sich auf die Knie klemmte. Sie wußte, wie der Prozeß ausgegangen war, natürlich, fragte also nicht nach Neuigkeiten, sondern begnügte sich mit der Erklärung: »Armer Monsieur … wenn das keine Schande ist!« Dann verschwand sie.

Doch Monsieur Abel pfiff auf seinen Prozeß. Um seine Leidenschaften anzustacheln, hatte er Besseres gefunden als ruinöse Rechtsverdrehungen. Und während er sein Butterbrot in den schwarzen Kaffee tauchte, genoß er die neuen Freuden der Illegalität, wie es sich gehört.

 

Elisabeth Raguenaud zögerte lange, ehe sie sich für die Dusche entschied. Sie hatte schlecht geschlafen in diesem lauten Hotel und war früh aufgestanden. Sie hatte auf das Frühstück gewartet, während sie grübelnd vor dem Fenster stand, und hatte dann, nachdem der Hunger wieder vergangen war, entschieden, sich erst fertigzumachen, wobei sie zwischen den Freuden der Dusche oder eines Bads schwankte. Schließlich wählte sie die Dusche, die brutaler, beißender und immer ein bißchen kalt war. Als das Frühstück schließlich eintraf, überhörte sie das Klopfen.

Das Zimmermädchen stellte das Tablett auf dem Wandtisch ab, nachdem sie mit lauter Stimme verkündet hatte, daß serviert sei. Die Antwort der Bewohnerin des Zimmers Nr. 14 konnte sie nicht hören, so wie sie nicht sicher war, daß man sie gehört hatte. So konnte sie – später – auch nicht behaupten, die letzte gewesen zu sein, die sie lebend gesehen hatte.

 

Françoise stellte den Toaster auf den Tisch und steckte den Stecker in die Steckdose. Ihr Vater hatte sein für schlechte Tage typisches Gesicht, und da er mit gespannter Aufmerksamkeit den Schaumwindungen in seiner großen Kaffeetasse nachsann, etwas stumpfsinnig, um ehrlich zu sein, röstete sie erst einmal zwei Brotscheiben, ehe sie fragte:

»Was nicht in Ordnung, Doktor?«

Der Angeredete hob langsam den Kopf, wobei er instinktiv lächelte, noch ehe sein Blick wieder ganz klar geworden war.

Françoise bemerkte, wie sehr ihr Vater in diesen letzten Monaten gealtert war. Sicher, seine Haare waren kaum weißer geworden, aber sein Gesicht war eingesunken, unter den Augen und unter dem Kinn vor allem, und hatte einen traurigen Ausdruck angenommen, selbst wenn er lachte.

»Mir geht es sehr gut«, sagte er und entfaltete die Serviette auf seinen Knien. »Und dir?«

Françoise kam näher und küßte ihren Vater auf die Stirn. Obwohl einer Regung der Zärtlichkeit entsprungen, nahm sie sich diese Geste selber übel. Ein Kuß auf die Stirn … wie bei einem Greis!

»Du siehst so sorgenvoll aus.«

Der Doktor machte eine gereizte Bewegung.

»Ach was, … das liegt nur an dieser Autopsie … Du weißt, daß ich mich einfach nicht daran gewöhnen kann … Weniger wegen der Fummelei, die damit verbunden ist, als wegen der Gefühle, die ich mir nicht abgewöhnen kann. Für einen Mediziner bin ich zu sentimental. Ich sollte nichts anderes als einen Leichnam vor mir sehen, eine Sache, die es zum Wohle der Justiz aufzuschneiden gilt. Leider muß ich immer daran denken, daß da auf meinem Marmortisch ein ganzes Leben liegt, so viel verschleuderte Liebe, einstmals ein kleines Kind in den Armen seiner Mutter … Heute finde ich den Tod noch unerträglicher als früher, und ich sollte mich wirklich aus dem Verzeichnis der Gerichtsärzte streichen lassen … Dummerweise sind die Herren vom Gericht gewöhnt an mich … und ich an sie! Die meisten sind meine Freunde, wie du weißt. Sie würden es kaum verstehen, wenn ich kneife … Und wenn man bedenkt, daß ich mich damals widerwillig einschreiben ließ, für ein paar Sous, um mein Anfangsgehalt als Arzt ein bißchen aufzustocken! Du warst noch ganz klein damals. Wir waren gerade angekommen …«