Blick ins Verderben - Dieter Heymann - E-Book

Blick ins Verderben E-Book

Dieter Heymann

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Beschreibung

Kriminalsekretär Martin Voß landet im Jahr 1934 nach einer sommerlichen Fahrradfahrt zufällig auf einem Schützenfest im Rheiner Stadtteil Schotthock. Dadurch wird er Zeuge, wie Karl-Heinz Homann den Vogel abschießt und neuer König der Schützengilde Schotthock 1888 wird. Doch was auf den ersten Blick nach harmonischer Brauchtumspflege aussieht, entpuppt sich schnell als Katastrophe für das Schützenwesen des gesamten Viertels, denn einige Wochen später wird auf dem Ortskaiserschießen aller Schotthocker Vereine eine Frau auf bestialische Weise ermordet. Zahlte das Opfer den Preis für ihren ausschweifenden Lebenswandel oder liegen die Gründe für ihren gewaltsamen Tod in ihrer undurchsichtigen Vergangenheit? Voß und sein junger Kollege Beckmann müssen sich zudem gezwungenermaßen an den Aktionen zur ´Niederschlagung des Röhm-Putsches´ beteiligen und sind über das brutale Vorgehen der SS bestürzt, die auch vor der Exekution des örtlichen SA-Führers nicht zurückschreckt. Wird es den Kriminalbeamten gelingen, den verzwickten Mordfall zu lösen und gleichzeitig die Freilassung des angesehenen Ratsherren Fritz Kagelmann aus den Klauen der SS zu erreichen?

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Das Buch

Kriminalsekretär Martin Voß landet im Jahr 1934 nach einer sommerlichen Fahrradfahrt durch Zufall auf einem Schützenfest im Rheiner Stadtteil Schotthock. Dadurch wird er Zeuge, wie Karl-Heinz Homann den Vogel abschießt und neuer König der Schützengilde Schotthock 1888 wird. Doch was auf den ersten Blick nach harmonischer Brauchtumspflege aussieht, entpuppt sich schnell als Katastrophe für das Schützenwesen des gesamten Viertels, denn einige Wochen später wird auf dem Ortskaiserschießen aller Schotthocker Vereine eine Frau auf bestialische Weise ermordet. Zahlte das Opfer den Preis für ihren ausschweifenden Lebenswandel oder liegen die Gründe für ihren gewaltsamen Tod in ihrer undurchsichtigen Vergangenheit? Voß und sein junger Kollege Beckmann müssen sich zudem gezwungenermaßen an den Aktionen zur ´Niederschlagung des Röhm-Putsches´ beteiligen und sind über das brutale Vorgehen der SS bestürzt, die auch vor der Exekution des örtlichen SA-Führers nicht zurückschreckt. Wird es den beiden Kriminalbeamten gelingen, den verzwickten Mordfall zu lösen und gleichzeitig die Freilassung des angesehenen Bevergerner Ratsherren Fritz Kagelmann aus den Klauen der SS zu erreichen?

Der Autor

Dieter Heymann wurde 1968 in Spelle (Kreis Emsland) geboren und wuchs in Rheine auf, wo er auch heute mit seiner Partnerin lebt. Nach dem Abitur kam er in die öffentliche Verwaltung, in der noch immer tätig ist. Neben Schwimmen und Radfahren liest er gerne Spannendes und engagiert sich als Vereinsvorsitzender in der Vorstandsarbeit seines Schützenvereins.

„Blick ins Verderben“ ist der zweite Kriminalroman des Autors und schließt an das Buch „Tod eines SA-Mannes“ an.

Weitere Informationen gibt es auf der Facebook-Seite „Dieter Heymann (Autor)“.

Für Debbie

Inhaltsverzeichnis

Auszug aus dem Tagebuch: 22.8.1922

Auszug aus dem Tagebuch: 11.10.1922

Auszug aus dem Tagebuch: 5.2.1923

Auszug aus dem Tagebuch: 13.3.1923

Auszug aus dem Tagebuch: 31.3.1923

Auszug aus dem Tagebuch: 27.4.1923

Auszug aus dem Tagebuch: 17.9.1923

Auszug aus dem Tagebuch: 4.11.1923

Auszug aus dem Tagebuch: 23.11.1923

Auszug aus dem Tagebuch

22.8.1922

Heute ist mein Geburtstag! Schon beim Aufstehen spüre ich diese nervöse Spannung. Ich gehe schnell ins Bad, um mich herzurichten und wecke danach Helmut. Er schaut einfach süß aus, wenn er sich den Schlaf aus den Augen reibt und ihm dabei die Haare in alle Himmelsrichtungen stehen. Wie sehr freue ich mich, dass er an meinen Jubeltag gedacht hat und mein erster Gratulant ist! Zusammen gehen wir nach unten zu Mutter in die Küche. Dort erwartet uns ein reichlich gedeckter Frühstückstisch, sogar eine Kerze hat Mutter für mich angezündet. Sie umarmt mich herzlich, gratuliert mir auch in Vaters Namen zum Geburtstag und überreicht mir ein in Zeitungspapier eingewickeltes Geschenk. Was mag da nur drin sein? Ich darf mein Geschenk erst nach dem Frühstück auspacken, wie mir Mutter aufträgt. Helmut und ich beeilen uns mit dem Essen, denn er ist genauso gespannt wie ich, was das Päckchen enthält. Ich liebe meine Eltern, was wäre ich nur ohne sie? Sie haben immer zu mir gehalten, selbst als ich Schande über unsere Familie gebracht hatte. Was mussten sie sich nicht alles von den Kunden anhören, als ich meine Schwangerschaft nicht mehr verbergen konnte! Freunde und Nachbarn lästerten über mich und wechselten die Straßenseite, wenn sie meinen Eltern begegneten. Das Spazieren durch die Gassen unserer Stadt muss geradezu ein Spießrutenlaufen für sie gewesen sein. Die Leute rümpften damals ihre Nasen und zerrissen sich ihre Mäuler über mich. Aber irgendwann werde ich es ihnen schon noch zeigen!

Endlich ist es so weit: Mutter erlaubt mir, mein Geburtstagsgeschenk aus dem Zeitungspapier auszuwickeln. Ich finde ein wunderschönes, in schwarzes Leder eingebundenes Tagebuch vor. Auch Helmuts Augen strahlen. Ich nehme mir vor, in Zukunft jeden Tag meines Lebens festzuhalten. Doch jetzt muss Helmut zur Schule und ich in die Backstube, wo Vater mich bestimmt schon sehnlichst erwartet.

3.10.1922

Die Polen werden immer frecher! Gestern hatte Vater eine schlimme Auseinandersetzung mit Karol. Der weigerte sich, die schweren Körbe mit den Broten von der Backstube in den Verkaufsraum zu tragen. Mit hämischer Stimme kündigte er Vater an, die Bäckerei würde sowieso bald ihm gehören und er erteile dann die Befehle. In Situationen wie dieser merke ich, wie alt Vater inzwischen geworden ist. Die Veränderungen der Verhältnisse nach dem Friedensvertrag machen ihm zu schaffen! Über fünfzig Jahre hat er in seiner Bäckerei gearbeitet, hat den Betrieb nach dem Tod Großvaters übernommen und viele junge Gesellen ausgebildet. Doch nach dem verlorenen Krieg hat sich alles geändert, auf einmal leben wir in einem fremden Land und gehören einer Bevölkerungsminderheit an. Viele Deutsche sind schon ins Reich ausgewandert, weil ihnen ihr Land oder Besitz genommen wurde. Doch die frei gewordenen Häuser werden sofort von den Polen übernommen, die zu tausenden in die Stadt strömen. Welche Zukunft haben wir mit unserer Bäckerei noch in dieser Stadt?

8.10.1922

Das Undenkbare geschieht tatsächlich: Ein Beamter des Rathauses kam heute zu uns und hat sich unser Haus angesehen. Er meinte, die Wohnung über der Bäckerei sei für vier Personen viel zu groß und wir müssen in naher Zukunft eine polnische Familie bei uns aufnehmen. Dabei ist es doch unser Haus, das Großvater erbaut hat! Der Mann teilt uns mit, schon in den nächsten Tagen werde ein Ehepaar mit drei kleinen Kindern einziehen. Das bedeutet für uns, es wird zukünftig sehr eng werden! Ich werde mit Helmut vorläufig wohl auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen müssen; ich mag gar nicht an das morgendliche Schlangestehen vor dem Bad denken.

Vater ist mit den Nerven völlig am Ende. Er wird es schwer haben, sich mit dem zu erwartenden Rummel im Haus abzufinden. Es geht unter den Deutschen das Gerücht um, die polnische Regierung werde in nächster Zeit Fabriken, Mühlen und Bauernhöfe zwangsenteignen. Beträfe uns das mit unserem Geschäft auch? Werden die Preise für das Mehl für uns zukünftig ins Unermessliche steigen, nur weil wir keine Polen sind? Hoffentlich verzweifelt Vater nicht an der Situation, er sitzt abends in der Stube und sagt kein Wort mehr. Auch Mutter kann ihn nicht trösten, die Stimmung ist sehr bedrückend.

1

Es war ein herrlicher Sommertag im Juni 1934. August Wissing musterte die Anwesenden kritisch. Auf den ersten Blick schienen sich alle an die strenge Kleiderordnung gehalten zu haben: Grüne Schirmmütze, weißes Hemd und ebensolche Hose, dazu grüne Schützenjacke mit farblich passendem Binder. Wissing legte großen Wert darauf, dass sich seine Schützenbrüder ordnungsgemäß kleideten, denn schließlich trug die einheitliche Kleidung zum guten Ansehen seines Vereins bei. Im letzten Jahr hatte er einige der jüngeren Mitglieder aus diesem Grund ermahnen und zurück nach Hause schicken müssen, damit sich der Verein ordentlich gekleidet beim großen Umzug durch den Schotthock präsentierte. Undiszipliniertes Verhalten fiel letztendlich auf ihn, den Vorsitzenden, zurück. Heute hatte er jedoch nichts am Aussehen seiner Schützen auszusetzen, wie er befriedigt feststellte.

Jetzt mussten sich alle noch in der vorgesehenen Reihung aufstellten, wofür er zu sorgen hatte: Ganz vorn die Offiziere, die Hüte mit Federbüschen trugen; der Oberst in rot-weißen und die beiden Adjutanten in grün-weißen Farben. Dann kam das Blasorchester Schotthock, deren Musikanten mit schwarzen Hosen, weißen Hemden und grünen Westen ebenfalls einheitlich gekleidet waren. Es folgten die Fahnenoffiziere, die Hüte mit blau-weißen Federbüschen trugen und die Vereinsfahne beim Umzug mitzuführen hatten. Dahinter gab es eine kleine Lücke, in der sich später das Königspaar des letzten Jahres mit ihrem Hofstaat einreihen würde, sobald es von zu Hause abgeholt worden war. Hinter den Majestäten waren die Mitglieder des Vorstandes zu finden und den Abschluss des Zuges bildeten die übrigen Schützen.

Der Vorsitzende war stolz auf seinen Verein. Von 83 Mitgliedern war heute die überwältigende Mehrheit zum Antreten vor dem Vereinslokal Schotthocker Hof erschienen, nur ganz wenige fehlten. Von hier würden sie durch ihren Stadtteil zum Haus des noch amtierenden Vereinskönigs marschieren, um diesen zusammen mit seiner Königin samt Ehrendamen und Ehrenherren zum Festplatz zu geleiten. Natürlich würde der König seinen Kameraden noch einige Gläser Korn einschenken, bevor sie sich auf den Rückweg zum Schotthocker Hof machten. Dort würden sie in den Gartenanlagen des Lokals mit dem Schießen auf einen Holzvogel ihren neuen Schützenkönig ermitteln.

*

Die Schützengilde Schotthock 1888 hatte, wie alle Schützenvereine in Rheine, schwere Zeiten hinter sich. In den ersten beiden Jahren des Weltkrieges hatten sie ihre Tradition noch pflegen und zumindest mit den wenigen verbliebenen Mitgliedern, die nicht zum Kriegsdienst eingezogen worden waren, im bescheidenen Rahmen ihr jährliches Fest feiern können. Doch bald schon kamen erste erschreckende Meldungen von verwundeten oder gefallenen Mitgliedern ihrer Vereinigung, die allen die Lust auf das Feiern nahmen. Immer mehr Männer wurden an die Front geschickt; zum Schluss blieben nur noch die wenigen Älteren übrig. Die Bewohner des Schotthocks hatten in diesen Jahren mit Hunger, Kälte und kriegsbedingten persönlichen Schicksalsschlägen zu kämpfen; niemandem stand mehr der Sinn nach Brauchtum und Schützenwesen.

Nach den Wirren des Krieges mit all seinen schlimmen Folgen für die Menschen dauerte es bis zum Jahr 1920, bis sich ein größtenteils neu gewählter Vorstand wieder mit den Planungen für ein Schützenfest befasste. Auch danach gab es mit den finanziell schweren Zeiten der Inflation 1923 und der großen Weltwirtschaftskrise und der damit einhergehenden Massenarbeitslosigkeit vor wenigen Jahren große Hürden zu überwinden. Doch immerhin war es gelungen, das Schützenfest seit 1920 in jedem Jahr stattfinden zu lassen.

Im letzten Jahr war jedoch etwas passiert, was mit sämtlichen alten Traditionen, den Ideen des Schützenwesens und den Statuten des Vereins brach: Auf Geheiß der neuen nationalsozialistischen Regierung hatten alle Schützenvereine im Deutschen Reich ihre jüdischen Mitglieder vom Vereinsleben ausschließen müssen. Bei der Schützengilde Schotthock 1888 waren es drei engagierte Schützenbrüder gewesen, denen August Wissing schweren Herzens die Nachricht von ihrem Zwangsaustritt zu überbringen hatte.

Etwas Ähnliches hatte es in seiner zweiundzwanzigjährigen Zeit als Vorsitzender noch nie gegeben und er schämte sich noch heute seiner Worte beim Aussprechen der Vereinsausschlüsse. Doch was wäre die Alternative gewesen, wenn er gegen diese Vorgabe protestiert hätte? Hätten die inzwischen ausschließlich mit Nationalsozialisten besetzten Behörden ihn zu einem Rücktritt von seinem Posten als Vorsitzender gedrängt, wäre ihnen die Ausrichtung ihres Schützenfestes verboten worden oder hätten sie gar ihren ganzen Verein auflösen müssen?

Schockierend war für ihn gewesen, dass es mehr Befürworter als Gegner dieser Verfügung gab. So hatte sich der Vorstand letztlich nach nur kurzer Diskussion mehrheitlich der Anordnung gefügt und den Willen der Nazis umgesetzt. Seitdem fühlte er sich nicht mehr wohl in seiner Haut und er erwog ernsthaft, sein Amt bei der nächsten Wahl zur Verfügung zu stellen.

*

Das Schützenwesen gab es schon sehr lange in Deutschland: Die ersten Vereine wurden bereits im Mittelalter gegründet und waren von den Städten als Bürgerwehren ins Leben gerufen worden. Um die Handhabung von Bogen und Armbrust zu üben, wurden Schützenhäuser und Schießbahnen erbaut. Damit die erlernten Fähigkeiten auch zur Schau gestellt werden konnten, fanden damals jährliche Schützenfeste statt, bei denen der beste Schütze ermittelt wurde. Dieses Brauchtum hatte in abgewandelter Form bis in die heutige Zeit überlebt.

Die preußische Provinz Westfalen galt schon lange als eine der Hochburgen dieser Tradition. Alleine im Schotthock gab es drei Schützenvereine, die alljährlich ihr Brauchtumsfest ausrichteten und einige Wochen später gar zu einem gemeinsamen Ortsschützenfest zusammenkamen, um aus den drei jeweiligen Vereinskönigen den besten Schützen des ganzen Stadtteils, den Ortskaiser, auszumachen. Die Ausrichtung dieses Festes wechselte jährlich zwischen den drei Vereinigungen und oblag dieses Jahr der Schützengilde. Schon in drei Wochen würden sie sich an gleicher Stelle mit den anderen beiden Vereinen des Schotthocks treffen, um mit dem Ortskaiserschießen die Schützenfestsaison 1934 abzuschließen. Über ganz Rheine, zu dem der Stadtteil Schotthock gehörte, verteilten sich viele weitere Schützenvereine. Der Älteste von ihnen stammte aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg und war im Jahr 1616 gegründet worden.

*

Viele Angehörige der Mitglieder waren heute zum Bestaunen des Schützenumzuges gekommen. Die Ehefrauen und Kinder der Schützen würden später auch als Zuschauer beim Schießwettbewerb dabei sein und eifrig mitfiebern.

Inzwischen war die Zeit für den Abmarsch gekommen. August Wissing beriet sich kurz mit Oberst Josef Ahaus, der anschließend mit lauter Stimme zum Antreten aufrief:

„Schützengilde Schotthock – Antreten!“

Als sich nach einigen Minuten alle ordnungsgemäß, mit dem Gesicht dem Oberst zugewandt, aufgestellt hatten, begrüßte der die Schützen zum diesjährigen Schützenfest. Anschließend übergab er das Wort an den Vorsitzenden, der ebenfalls einige Grußworte sprach und allen Schützen eine sichere Hand, ein gutes Auge und viel Glück beim Schießwettbewerb wünschte.

Damit reihte sich August Wissing wieder in den Zug ein, während Oberst Josef Ahaus wieder das Wort übernahm und mit der in vielen Jahren erworbener Routine seine Kommandos gab:

„Schützengilde Schotthock – Stillgestanden! Für den Abmarsch zum König – links um! Im Gleichschritt – Marsch!“

Die Musik begann zu spielen und der Zug setzte sich in Bewegung. Ahaus musste sich nun beeilen, um zu seiner Position an der Spitze des Zuges zu gelangen.

Vor allem den Kindern gefiel das Schauspiel sichtlich. Schnell hatten diese ihren eigenen Umzug ins Leben gerufen und marschierten am Straßenrand munter mit.

*

Die Schützenfeste gehörten alljährlich zu den gesellschaftlichen Höhepunkten der ganzen Stadt. Rheine war eine Kleinstadt im Norden des Münsterlandes mit rund 30000 Einwohnern, die vor allem für ihre Textilindustrie bekannt war. Die Stadt war aber nach dem Bau des Rangierbahnhofs mit dem dazugehörigen Bahnbetriebswerk auch Heimat vieler Eisenbahner geworden und konnte auf eine mehr als tausendjährige Geschichte zurückblicken.

Nach der Verleihung der Stadtrechte im Jahr 1327 hatte die Bevölkerung Rheines vor allem in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges zu leiden. Mit dem Anschluss an das Eisenbahnnetz in der Mitte des vorigen Jahrhunderts begann die Industrialisierung in der Region. Erste Textilwerke wurden erbaut und bestimmten fortan die wirtschaftliche Entwicklung. Das Stadtbild wurde durch die Ems geprägt, die Rheine durchfloss.

Der Stadtteil Schotthock lag im Norden Rheines und war vor sieben Jahren zusammen mit einigen anderen umliegenden Dörfern eingemeindet worden. Um die Jahrhundertwende erlebte Rheines größter Stadtteil mit dem Bau einer Spinnerei und kurz darauf einer Weberei einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Für die Arbeiter und deren Familien wurde dadurch im großen Rahmen neuer Wohnraum benötigt. Abhilfe sollten von den Werksbesitzern in unmittelbarer Nähe zu den Fabriken erbaute, und der Belegschaft zur Verfügung gestellte Häuser bringen. Eine Werkssiedlung wurde auf ehemals landwirtschaftlich genutzten Flächen errichtet, die im Volksmund interessanterweise den Namen „Kuba“ erhielt, benannt nach dem gegen Ende des letzten Jahrhunderts auf der karibischen Insel tobenden Unabhängigkeitskrieg. Wollten die Bewohner damit ihren Stolz über die Selbstständigkeit des Häuserkomplexes zum Ausdruck bringen?

*

Mit dem „Radetzkymarsch“ war der Zug inzwischen vor dem Haus des noch amtierenden Königs angekommen. Josef Ahaus scherte aus dem Zug aus und positionierte sich vor dem Gebäude, um gut sichtbar für alle weitere Befehle zu erteilen:

„Abteilung – Halt! Rechts um!“

Und kurz darauf:

„Rührt euch!“

Nach diesen Worten drehte er sich um, trat vor die Tür des Mehrfamilienhauses und klopfte an, um sich davon zu überzeugen, dass das Königspaar und ihr Hofstaat zum Ausholen bereitstanden. Nach der freundlichen Begrüßung durch die Majestäten und der Zusicherung, alle Beteiligten hätten ihre persönlichen Vorbereitungen abgeschlossen, ging er zurück und kommandierte:

„Schützengilde Schotthock – Stillgestanden! Zum Ausholen des Königspaares die Augen geradeaus!“

Seine Schützenbrüder nahmen wieder Haltung an. Bevor er sich erneut der Haustür zuwandte, gab er dem Dirigenten des Blasorchesters ein Zeichen. Der erhob daraufhin sofort seinen Taktstock.

Zu den Tönen eines Präsentiermarsches führte Ahaus das Königspaar samt Ehrengeleit galant an die Reihen der strammstehenden Schützen vorbei, um ihnen anschließend ihren Ehrenplatz zwischen Vereinsfahne und Vorstand zuzuweisen.

Nachdem Ahaus das Kommando „Rührt euch“ gegeben hatte, begab sich das Königspaar mit seinem Hofstaat noch einmal kurz in das Gebäude. Kurz darauf erschienen sie mit mehreren Flaschen Korn samt Gläsern in ihren Händen. Sofort verteilten sie sich unter den Schützenbrüdern, die dankbar die angebotene Spirituose entgegennahmen.

Als später alle auf das Wohl des Königspaares getrunken und sich die spontan gebildeten Gesprächsrunden wieder aufgelöst hatten, reihten sich die Mitglieder erneut auf. Josef Ahaus nahm wieder seinen Platz vor den Augen seiner Schützenbrüder ein und gab die Kommandos für den Abmarsch:

„Schützengilde Schotthock - Stillgestanden! Für den Abmarsch zum Festgelände - Links um! Im Gleichschritt – Marsch!“

Zu den Klängen von „Preußens Gloria“ begaben sich die Schützenbrüder auf den Rückweg zum „Schotthocker Hof“. Während des Marsches sammelten sich immer mehr Frauen und Kinder an, die ihren Ehemännern und Vätern zum Festplatz folgten.

Mit Erschrecken erkannte der Vorsitzende unterwegs seinen früheren Schützenbruder Elias Blumberg, der sich den vorbeiziehenden Umzug am Straßenrand stehend mit traurigem Blick anschaute. August Wissing hatte auf einmal ein schlechtes Gewissen und wollte eigentlich nicht in seine Richtung schauen, denn Blumberg war einer jener drei jüdischen Mitglieder gewesen, die sie aufgrund ihres Glaubens vom Vereinsleben ausgeschlossen hatten.

Verstohlen schielte er zu Blumberg hinüber. Es war dem früheren Vereinskollegen anzusehen, wie gerne er sich jetzt in den Umzug einreihen würde. Plötzlich trafen sich ihre Blicke. Wissing versuchte, den anklagenden Augen Blumbergs auszuweichen, indem er hastig wieder nach vorn schaute, aber es war ihm anzusehen, wie schuldig er sich in diesem Augenblick fühlte.

Als der Schützenumzug das Vereinslokal erreichte, führten die Offiziere ihre Mitglieder um das Gebäude herum und durch ein breites Tor hindurch in einen großen, parkähnlichen Garten, der mit aufgestellten Birkenzweigen, an denen grüne und weiße Papierrosen hingen, festlich geschmückt war. Ganz hinten auf dem Gelände war ein langes Metallrohr zu erkennen, welches auf etwa einem halben Meter Höhe zwischen zwei U-förmigen Eisenträgern befestigt war und augenblicklich mit dem anderen Ende auf dem Boden lag. Dort war ein trichterförmiger Kugelfang aufgesetzt. In etwa zehn Metern Abstand davor war an einem großen Kastanienbaum ein Holzgestell angebracht, das später als Gewehrauflage dienen würde. Auf einem Tisch direkt daneben lag ein, vom parat stehenden Schießwart sorgsam gehütetes, Kleinkalibergewehr mit entsprechender Munition. In der Nähe des Gebäudes waren für die Besucher Tische und Bänke aufgestellt; außerdem standen ein großer Holzkohlegrill und eine breite Theke bereit, auf der ein großes Fass Bier und viele Gläser zu erkennen waren. Als alle Marschierenden das Areal betreten hatten, ließ Josef Ahaus den Zug stoppen und stellte sich wieder gut sichtbar auf.

„Wir wollen jetzt in einer Trauerminute unserer verstorbenen und im Krieg gefallenen Mitglieder gedenken.“

Er nannte die Namen der drei im vergangenen Schützenjahr Dahingeschiedenen und gab dem Dirigenten ein kurzes Zeichen. Alle nahmen ihre Schützenmützen ab und blickten, jeder mit seinen ganz persönlichen Erinnerungen an die früheren Kameraden beschäftigt, stumm vor sich hin, während das Blasorchester ein Trauerlied spielte.

Nachdem die letzten Töne verklungen waren, kündigte der Oberst an:

„Wie in jedem Jahr werden auch dieses Mal unsere Jungschützen den Vogel aufhängen und die Vogelstange hochhieven. Ich bitte um einen Applaus für unsere kräftigen jungen Männer!“

Unter dem Beifall des Zuges traten vier etwa Achtzehnjährige vor. Einer von ihnen hielt einen in schwarz-weißen Farben bemalten Holzvogel in Form eines Adlers in seinen Händen. Zusammen gingen sie zu der am Boden liegenden Metallstange, in deren Kugelfang sie den Holzvogel mittels einer senkrecht nach oben zeigenden langen Schraube mit zugehöriger Mutter befestigen. Anschließend hoben sie das Rohr vorsichtig an, brachten es mit einiger Anstrengung in eine senkrechte Position und sicherten es mit einem Bolzen, der durch beide U-Eisen samt der innen liegenden Vogelstange geführt wurde. Als das Quartett zurück zu ihren Positionen im Zug ging, ernteten sie für ihre Bemühungen nochmals einen herzlichen Applaus.

Der Oberst bedankte sich bei den vier Jungschützen und bat den noch amtierenden König, die ersten drei Schüsse auf den Vogel abzugeben. Der trat in Begleitung seiner beiden Ehrenherren zum Schießstand, nahm das Gewehr vom Schießwart entgegen, lud es und zielte. Unter dem Trommelwirbel des Blasorchesters gab er nacheinander seine drei Pflichtschüsse ab und atmete erleichtert auf, als er den Schießstand verlassen konnte und der Vogel nach wie vor in seiner Halterung hing.

Josef Ahaus gab bekannt:

„Jetzt sind alle Schützenbrüder herzlich dazu eingeladen, sich am Königsschießen zu beteiligen. Ich wünsche allen Schützen viel Glück!“

*

Elias Blumberg hatte sich in der Vergangenheit im Kreise seiner Schützenbrüder immer sehr wohl gefühlt. Als gebürtiger Schotthocker zählten für ihn Werte wie Gemeinschaft und Zusammenhalt. Er hatte das Zusammensein mit seinen Freunden stets genossen. Ob jung oder alt, arm oder reich, im Schützenverein spielte das keine Rolle, für alle galten die gleichen Rechte.

Zu seinem Leidwesen hatte er bei seinen Kameraden allerdings bereits vor längerer Zeit antijüdische Tendenzen feststellen müssen. Auch in seinem Schützenverein formierte sich eine ständig wachsende Anzahl von Männern, die sich den aggressiven und ausgrenzenden Parolen der Nationalsozialisten anschlossen. Als diese mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler plötzlich in der Regierungsverantwortung standen, begegneten ihm einige seiner Vereinskollegen plötzlich mit offen zur Schau getragenem Hass auf alles, was mit seiner Religion zu tun hatte.

Irgendwann im letzten Jahr hatte August Wissing, der Vorsitzende, vor seiner Haustür gestanden. Er hatte diesen Besuch erwartet, denn von der Verfügung zum Ausschluss der Juden aus den Vereinen hatte er bereits gehört. Nie würde er den unruhigen Blick des Vereinsführers vergessen, der ihm beim Überbringen der niederschmetternden Nachricht nicht einmal in die Augen sehen konnte. Dabei wäre Blumberg in der Vergangenheit fast einmal Schützenkönig geworden. Es war damals lediglich Pech gewesen, dass der in der Reihe unmittelbar vor ihm stehende Vereinskamerad den Holzvogel abschoss. Er als nächster Schütze hatte sich schon genau ausgemalt, wohin er zu zielen hatte...

Dreiundzwanzig Jahre war er Mitglied der Schützengilde Schotthock 1888 gewesen, im nächsten Jahr wäre er für seine fünfundzwanzigjährige Mitgliedschaft mit der silbernen Vereinsnadel geehrt worden.

Als er den fröhlichen Schützenumzug an sich vorbeiziehen sah, musste er wehmütig daran denken, was ihm die Nazis alles genommen hatten. Es waren nicht nur gesellige Stunden im Kreise seiner Freunde, die für immer verloren schienen. Es war vielmehr die Demütigung, wie ein Aussätziger behandelt zu werden, die ihn schmerzte. Der Schützenverein war für ihn seit seiner Jugend etwas Selbstverständliches gewesen; etwas, was ein Teil seines Lebens war. Die Ehrennadel seines Vereines hätte er mit großem Stolz am Revers getragen ...

Viele seiner früheren Kameraden hatten ihn während des Umzuges erkannt und tuschelten offensichtlich leise über ihn. Auch August Wissing schaute ihm, während er an ihm vorbeimarschierte, kurz in die Augen und wandte seinen Kopf dann schnell wieder ab. Blumberg konnte erkennen, dass der Vorsitzende sich durch seine bloße Anwesenheit nicht wohl in seiner Haut fühlte.

„Hoffentlich frisst dich dein schlechtes Gewissen irgendwann auf“, verwünschte er den Mann mit verbitterter Miene.

*

Zu den Schützenbrüdern, die in diesem Jahr unbedingt den Vogel abschießen und damit Schützenkönig werden wollten, zählte Karl-Heinz Homann. Er hatte sich in den letzten Jahren immer dann vom Schießen zurückgezogen, wenn der Adler instabil wurde und von der Stange zu fallen drohte. Das war daran zu erkennen, dass der Vogel nach einem Treffer zu wackeln begann und sich auf dem Befestigungsbolzen um einige Grad um seinen Mittelpunkt drehte. Meistens reichte dann ein gezielter Schuss auf Kopf, Schwanz oder einer der beiden Flügel, um das Objekt der Begierde durch die Hebelwirkung zu Fall zu bringen.

Für seine Ambitionen gab es einen Grund: Er hatte die Zusage einer Frau bekommen, im Falle seiner Regentschaft als seine Schützenkönigin zu fungieren. Er hatte sein Glück kaum fassen können, denn es war nicht irgendwer, die ihm diese Zusicherung gegeben hatte, sondern es war Anna gewesen. Die kannte er schon seit vielen Jahren. Sie war vor langer Zeit in den Schotthock gezogen und besuchte seitdem, anfangs in Begleitung ihrer Arbeitskolleginnen, in jedem Jahr das Schützenfest. Außerdem traf er sie beim Brotkauf regelmäßig in der Bäckerei Heuwes, bei der sie beschäftigt war.

Als sie sich vor einigen Wochen zufällig über den Weg gelaufen waren, waren sie zwangsläufig auf das bevorstehende Fest zu sprechen gekommen und sie hatte ihn nach möglichen Kandidaten für den Königsthron gefragt. Als er ihr keine Namen nennen konnte, hatte sie ihm mit kesser Stimme vorgeschlagen: „Mach´ du es doch, ich würde dir bestimmt eine gute Königin sein!“

Ihm war fast das Herz stehen geblieben, so überrascht war er von ihrem Angebot gewesen. Natürlich hatte er schnell eingewilligt, denn für Anna hatte er sich schon immer heimlich interessiert.

Beim Einmarsch auf den Festplatz hatte er unauffällig nach ihr Ausschau gehalten und sie auch gleich entdeckt. Sie trug ein auffälliges marineblaues Kleid, das gut zu ihren langen schwarzen Haaren passte und winkte ihm lächelnd zu. Sie sah einfach hinreißend aus, eben ganz wie eine Königin!

Er würde sich heute alle Mühe geben, sie nicht zu enttäuschen. Jetzt brauchte er nur noch das notwendige Glück, beim Schießwettbewerb zur richtigen Zeit an der Reihe zu sein. Insgeheim hegte er die Hoffnung, mit seinem Königsschuss auch das Herz seiner Königin zu erobern.

*

Mechthild Reiske hatte zusammen mit ihrer verwitweten Freundin Birgit Sanwald auf dem Festplatz den Einzug des Schützenvereines erwartet. Wie viele andere Frauen auch waren sie schon vorab in den Garten des Schotthocker Hofes gekommen, um den Männern beim stolzen Einmarsch in die Gartenanlage zuzusehen. Als sie ihren Ehegatten im Zug erkannte, winkte Mechthild Reiske ihm fröhlich zu. Später würde sie an der Seite ihres Partners marschieren, wenn der gesamte Verein seinen neuen Schützenkönig in einem weiteren Umzug nach Hause geleitete. Sie hatte während der Zeit des Wartens heimlich ihre ebenfalls anwesende Arbeitskollegin Anna beobachtet, die heute ein allzu auffälliges marineblaues Kleid trug und sagte jetzt mit spöttischer Stimme zu ihrer Freundin:

„Schau dir mal die Suerbaum an. Hat sie sich heute nicht wieder schön gemacht? Alleine dieser aufdringliche Lippenstift! Ich wette, sie spekuliert heute darauf, unsere neue Königin zu werden.“

„Meinst du deine Kollegin? Sie zeigt sehr viel Bein und das Kleid könnte mindestens eine Nummer größer sein. Sie scheint im letzten Jahr ein wenig zugelegt zu haben“, antwortete Birgit Sanwald.

„Die und zugelegt? Dass das Kleid so eng sitzt, ist garantiert von ihr gewollt. Sie gibt sich immer die größte Mühe, ihre Reize hervorzuheben und damit bei den Männern im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Das ist in der Bäckerei genauso! Mit diesem Fummel schafft sie es mal wieder, die Begierden des männlichen Geschlechts beim diesjährigen Schützenfest zu wecken. Alle werden wieder einmal nur Augen für sie haben! Sie weiß ganz genau, was die Herren zu sehen wünschen.“

„Ihr mögt euch wohl noch immer nicht sonderlich?“

„Sie biedert sich mit aller Macht bei unserem Meister an; es ist einfach nur noch peinlich. Ich bin mir sogar fast sicher, dass zwischen den beiden schon mal etwas war. Nicht umsonst ist sie unsere Leiterin geworden. Für eine Beförderung ist sie sich für nichts zu schade, dafür ist sie zu allem bereit! Besonders schlimm ist sie, wenn der Seniorchef mit seiner Pflegerin in den Betrieb kommt, was zum Glück nicht mehr häufig der Fall ist. Sie glaubt wohl immer noch, sie könne ihre Stellung mit ihren Schmeicheleien bei ihm noch weiter verbessern. Als ob dem alten Mann noch der Sinn nach einer jungen Frau stünde.“

„Der alte Heuwes schaut bei euch immer noch persönlich nach dem Rechten? Ich dachte, er vegetiert in seiner schönen Villa nur noch vor sich hin und lässt sich den lieben langen Tag über von seiner jungen Pflegerin verwöhnen. Ich habe ihn vor einem Jahr auf dem Schützenfest zum letzten Mal gesehen.“

„Unterschätze ihn nicht, der Mann ist zäh. Er beobachtet uns bei unserem Umgang mit der Kundschaft immer noch sehr gerne und macht sich einen Spaß daraus, uns vorzuhalten, was wir dabei alles falsch machen. Vermutlich würde er sich heute nicht mehr für das Geschäft interessieren, wenn sein Sohn den Laden damals übernommen hätte. Aber den hat er ja vor einer Ewigkeit vergrault. Jetzt muss eben ein Fremder den Betrieb führen. Vielleicht wird unser Meister das Ganze irgendwann übernehmen; daran denkt die Suerbaum vermutlich auch und raspelt deshalb schon mal Süßholz.“

„Wenn ich sie mir so anschaue hast du wahrscheinlich recht und deine Kollegin erwartet tatsächlich, heute den Königsthron zu besteigen. Das Kleid spricht tatsächlich für diese Annahme.“

„Die Frage ist nur, wen sie sich ausgeguckt hat, um ins Rampenlicht zu rücken? Oder hat sie gar mehrere Eisen im Feuer? Zuzutrauen wäre es ihr.“

„Ich verstehe nicht, was die Männer an ihr finden. Auch sie kann ihr Alter allmählich nicht mehr verbergen, obwohl sie sich beim Schminken alle Mühe gegeben hat.“

„Aber dennoch schafft sie es immer wieder, den Herren der Schöpfung den Kopf zu verdrehen. Ich weiß wirklich nicht, was die an einem solchen Modepüppchen finden. Wir werden ja sehen, wem sie sich heute an den Hals wirft.“

*

Anna Suerbaum beobachtete gespannt den Einmarsch der Schützen. Sie hielt nach Karl-Heinz Ausschau und fand ihn schnell im vorderen Drittel des Umzugs. Freundlich lächelte er ihr zu und sie winkte ihm dezent zurück. Würde es ihm gelingen, heute den Vogel abzuschießen? Es war schon lange ihr Traum, einmal in ihrem Leben Schützenkönigin der Schützengilde Schotthock 1888 zu sein. Sollte er es tatsächlich schaffen, bestand sogar die Möglichkeit, schon in drei Wochen an seiner Seite Ortskaiserin des Schotthocks zu sein! Welch ein Traum, wie würde sie die neidischen Kommentare der anderen Frauen genießen!

Sie war die kritischen Blicke der weiblichen Gesellschaft gewohnt. Sie wusste, auch heute wurde sie beäugt und es wurde über sie getratscht. Ihr war nicht verborgen geblieben, dass ihre Kollegin Mechthild und diese Birgit Sanwald die Köpfe zusammengesteckt und über sie gesprochen hatten. Immer wieder hatten sie mit geringschätzigen Blicken zu ihr herüber geschaut, während sie sich wahrscheinlich ihre Mäuler über sie zerrissen. Doch das war Anna egal, für sie war nur wichtig, ihre Ziele zu erreichen; und das war heute das Besteigen des Königsthrones an der Seite von Karl-Heinz!

Sie wusste, ihr Kleid war sehr gewagt und würde für Diskussionen sorgen. Doch sie hatte es sich absichtlich so genäht, damit es ihre weiblichen Reize vorteilhaft hervorhob. Ihr war bewusst, mit fast vierzig Jahren hatte sie immer noch ein hübsches Gesicht und eine tolle Figur. Sie hatte sich heute zu Hause vor dem Spiegel besonders viel Mühe gegeben und war mit dem Ergebnis äußerst zufrieden: Sie sah einfach toll aus! Mit diesen weiblichen Waffen ließen sich die Männer manipulieren, wie sie gerade erst wieder bei Karl-Heinz festgestellt hatte: Er würde sich ihretwegen heute ein Bein ausreißen, um Schützenkönig zu werden.

Er erhoffte sich mehr von ihr, als sie nur als seine Königin an der Seite zu haben, das hatte sie natürlich schon vor längerer Zeit bemerkt. Doch niemals würde sie ihm mehr als dieses eine Zugeständnis geben, was sie ihm selbstverständlich verschwieg. Er sollte sich ruhig Hoffnungen machen, so konnte sie ihn weiter um den kleinen Finger wickeln.

Karl-Heinz war zwar ein netter Kerl, doch wusste er mit Frauen einfach nicht umzugehen. Außerdem entsprach er mit seinem Beruf als Fabrikarbeiter nicht gerade das, was sie sich von ihrer Zukunft erhoffte. Denn für diese hatte sie noch ganz andere Vorstellungen...

Beim Einmarsch der Schützen hatten ihre Augen noch nach einem zweiten Mann gesucht. Als sie ihn inmitten seiner Vereinskameraden entdeckt hatte, hatte dieser ihr klammheimlich zugezwinkert. Im Gegensatz zu Karl-Heinz wusste Friedrich Ottenhues genau, was eine Frau wie sie wollte. Er hatte für sie seinen Einfluss beim Chef geltend gemacht und ihr eine bessere Stellung verschafft. Das, was er dafür als Gegenleistung verlangte, nahm Anna gerne in Kauf. Sie wusste, er würde sich heute auf dem Fest dezent zurückhalten und sich nicht in ihre ehrgeizigen Absichten einmischen.

Eigentlich war Karl-Heinz in ihren Augen ein unbeholfener Trottel, aber für heute war er ihr als Mittel zum Zweck gerade recht. Sie war gespannt, ob ihre Pläne aufgehen würden und freute sich schon auf den Schießwettbewerb. Gerade wollte sie sich in die Nähe des Schießstandes begeben, als sie hinter dem Tor eine Frau mit schweren Taschen in beiden Händen vorbeihasten sah.

„Die Süssmann“, dachte sie sich, „na, die traut sich ja was, direkt am Festplatz vorbeizustolzieren.“

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August Wissing war froh, als es endlich losging. Für einen Moment hatte sich für ihn während des Umzugs ein Schatten auf den heutigen Tag gelegt, als er den vorwurfsvollen Blick seines früheren Schützenbruders Elias Blumberg aufgefangen hatte. Doch nun begann endlich das Schießen; er musste sich auf seine Aufgaben konzentrieren und hatte dabei alles andere auszublenden. Er war gespannt, wer den Vogel heute abschießen würde.

An Kandidaten für die Königswürde hatte es der Schützengilde noch nie gefehlt. Für jeden seiner Vereinskollegen war es eine ganz besondere Ehre, dem Verein ein Jahr lang als König vorzustehen. Finanziell war die Belastung für den König überschaubar: Nach dem Schießwettbewerb hatte die neue Majestät ein Fass Bier für alle auszugeben - das sogenannte Königsbier. Dann gab es nach dem Wegbringen des Königspaares am Haus des Würdenträgers für die Teilnehmer des Marsches einige Flaschen Schnaps, die in der Regel vor dem Aufbruch beim Festwirt erworben wurden. Zu guter Letzt gehörte es traditionell noch zu den Königspflichten, den finanziellen Aufwand für das neue Kleid der Königin zu tragen. Da sich diese Kosten mehr oder weniger über das ganze Jahr verteilten, konnten sich den Königsschuss auch weniger Betuchte leisten.

Mit Wohlwollen registrierte der Vorsitzende die kleine Warteschlange vor dem Schießstand, die sich sofort gebildet hatte, nachdem der letztjährige Schützenkönig seine drei Pflichtschüsse abgegeben hatte.

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Adelheid Süssmann hatte einen Moment gezögert, den direkten Weg nach Hause zu nehmen, weil dieser am Festplatz entlang führte. Doch sie hatte frische Milch und Eier auf einem in der Nähe gelegenen Bauernhof erworben und ihre Taschen waren zu schwer, um kurz vor dem eigenen Heim noch einen Umweg in Kauf zu nehmen. Sie hatte gar nicht mehr an das Schützenfest gedacht, bis sie plötzlich die sich nähernde Marschmusik wahrgenommen hatte. Nach einem hastig ausgestoßenen Fluch hatte sie sich zwar noch beeilt; doch den Schotthocker Hof hatte sie nicht mehr rechtzeitig passieren können, bevor der Umzug eintraf. Vor dem Einzug hatte sie sich noch schnell in einen gegenüber liegenden Hofeingang zurückziehen können, damit sie für niemanden aus der Gruppe der Marschierenden zu sehen war.

Als die letzten Teilnehmer des Zuges durch das Eingangstor verschwunden waren, schritt sie mit schnellen Schritten an der Gartenanlage vorbei.

Wenn sie jetzt gesehen würde, gäbe es nur wieder dummes Gerede. Genau das hatte es in den letzten Monaten schon genug gegeben; sie wollte ihren früheren „Freunden“ keinesfalls einen weiteren Anlass für ihre giftigen Lästereien geben.

Sie glaubte schon, es unbemerkt am Festgelände vorbei geschafft zu haben, als sie doch noch den verächtlichen Blick einer Person auffing.

Ausgerechnet ihre Nachbarin hatte sie gesehen! Anna Suerbaum hielt ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor, dass ihr Mann Jude war. Es war oft beleidigend und manchmal äußerst verletzend, was sich Adelheid Süssmann von ihrer Mitbewohnerin anhören musste. Erst kürzlich hatte diese sie als „Judenflittchen“ bezeichnet, obwohl sie seit mehr als zwanzig Jahren mit ihrem Mann verheiratet war. Damit übernahm sie die gegen den jüdischen Bevölkerungsteil gerichteten ausgrenzenden Parolen der Nationalsozialisten, die scheinbar inzwischen das komplette Leben und Denken der Menschen im Deutschen Reich diktieren konnten.

Dabei wären sie und ihr Mann Gabriel eigentlich heute auch auf dem Schützenfest gewesen, um mit ihrem Verein zu feiern. Doch vor einigen Monaten war August Wissing bei ihnen erschienen und hatte mit bedauernder Miene verkündet, dass Juden aus den Schützenvereinen auszuschließen seien.

In der Schützengilde Schotthock 1888 betraf das neben ihnen auch noch die Sternbergs und die Blumbergs. Sie und ihr Mann hatten mit ungläubigem Staunen den Worten des Vorsitzenden zugehört und konnten es nicht fassen. Ein Vereinsausschluss nach zwölf Jahren Mitgliedschaft und einigen nicht unerheblichen finanziellen Zuwendungen an den Verein in den wirtschaftlich schweren letzten Jahren. Und das nur aufgrund des jüdischen Glaubens ihres Mannes? Sie hatten sich früher im Kreise ihres Vereins immer sehr wohlgefühlt. Als Bankangestellter hatte Gabriel sogar sechs Jahre lang die Kasse geführt und war für seine Korrektheit von allen Seiten stets gelobt worden. Damals hatte ihn niemand verächtlich als „den Juden“ bezeichnet, im Gegenteil: Alle hatten seine Gesellschaft gerne genossen.

„Wie schnell sich die Zeiten doch ändern. Heutzutage haben wir kaum noch Freunde und die ehemaligen Schützenbrüder grüßen uns nicht einmal mehr“, dachte sie frustriert. „Morgen wird die Suerbaum mir womöglich noch vorhalten, dass ich aus purer Neugier um den Festplatz geschlichen bin, wo ich doch dort als Ehefrau eines Juden schließlich nichts mehr zu suchen habe.“

Fast hätte sie laut aufgelacht, als sie an das Kleid und den übertrieben aufgetragenen Lippenstift ihrer Nachbarin dachte. Sie hatte billig ausgesehen, fast wie eine Prostituierte.

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Das Königsschießen war inzwischen in vollem Gange. Während sich das Blasorchester auf bereit gestellte Stühle niedergelassen hatte und geläufige Melodien spielte, hatten die meisten der Schützenbrüder ein Glas Bier in der Hand. In Gruppen standen sie zusammen und beobachten das Treiben an der Vogelstange. Dort reihten sich immer wieder neue Schützen in die Schlange der Wartenden ein, um auf den Vogel zu schießen. Ein lauter Knall war zu hören, kleine Splitter lösten sich aus dem Holz und fielen zu Boden, als Karl-Heinz Homann den vorerst letzten seiner drei Schüsse in dieser Runde abgegeben hatte. Er übergab das Gewehr an den Schießwart und machte dem nächsten Schützen Platz. Der Vogel würde noch lange nicht fallen, deshalb machte er sich auf die Suche nach Anna, um sie zu einer Bratwurst und ein Getränk einzuladen.

Er fand sie in der Nähe der Theke, wo sie sich mit einem anderen Schützenbruder lebhaft unterhielt. Einen Augenblick war er enttäuscht, dass sie ihn beim Abfeuern seiner Schüsse offenbar nicht beobachtet hatte. Doch dann sah sie ihn, lächelte ihm zu und sofort vergaß er seine kurze Betrübtheit. Freundlich begrüßte er beide:

„Hallo Anna, hallo Friedrich. Wie geht es euch?“

„Heil Hitler“, grüßte Friedrich Ottenhues. Ein Königsstern an seiner Brust wies ihn als König des Jahres 1927 aus.