Harriet und Hermine - Dieter Heymann - E-Book

Harriet und Hermine E-Book

Dieter Heymann

5,0

Beschreibung

Hermine darf ein zweites Leben leben – als Riesenschildkröte auf Galapagos. Das passt wunderbar zu ihr, denn während ihres menschlichen Daseins, das sie fast ausschließlich im hessischen Darmstadt verbrachte, musste ihr ein dicker Panzer wachsen, um alles Unbill zu ertragen und alle Ängste zu überwinden. Geboren Anfang des 20. Jahrhunderts, erlebte sie zwei Weltkriege, Wirtschaftskrisen und Krankheiten. Umso mehr genießt sie nun ihre Freundschaft zu Harriet, uralt, weise und eine große Philosophin. Die beiden alten Damen lassen es sich auf der Pazifikinsel gutgehen, knabbern ab und an einen Grashalm und reden – über vergangene Zeiten, über das Leben und über den Tod. Dieter Heymann ist eine muntere Mischung gelungen: eine Hommage in Form einer Roman-Biografie an seine über alles geliebte Mutter und ein weiter Bogen von deren Lebensgeschichte über Lokalhistorismus hin zu den Thesen der großen Philosophen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Seniorenresidenz

Ein Leben im Paradies

Die wundersame Seelen-wanderung

Hermine

Hermines Vater

Hermines Mutter

Hermines Schwestern Lisa und Friedel

Die Brandnacht in Darmstadt

»Die Welt als Wille und Vorstellung«

Hermines schwere Zeit

Hermines Mann Heinrich

Der Umzug in das eigene Haus

Der kälteste »Jahrhundertwinter«

Sonntags im Orangerie-Garten

Sommer im Hochschwarzwald

Weihnachten

Hermine hatte ein langes Leben

Der scheinbar unbesiegbare Achilles

Das Alter

Gerechtigkeit Gottes

Hermine und die Intelligenz

Was bedeuten eigentlich Träume?

Princeps Mathematicorum

Der Stein auf dem Panzer und die Angst

Die Kunst, glücklich zu sein

Die Stoa

Fragen unserer Existenz

»Ich weiß, dass ich nichts weiß«

Machen Krankheiten einen Sinn?

Meditation hilft

Geben wir unserem Leben einen Sinn

Herz – Schmerz – Tod

Harriet stirbt

Nachwort

Vorwort

D ieses Buch habe ich zum Gedenken an meine Mutter Hermine Margarete Christiane Müller geschrieben: das Leben einer Frau und Mutter im 20. Jahrhundert in den Jahren von 1908 bis 1995. Eine Biografie, die zum Philosophieren, Nachdenken, Nachfühlen und Träumen anregen soll.

Mit einem Zitat des chinesischen Philosophen Konfuzius, der vermutlich von 551 bis 479 vor unserer Zeitrechnung lebte, möchte ich beginnen. »Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.« Das zentrale Thema des großen philosophischen Lehrers war die menschliche Ordnung seiner Zeit. Konfuzius mit dem Beinamen der »Edle« stellte seine philosophischen Thesen in den Mittelpunkt seiner Lehre. Nach seiner Meinung kann als moralisch einwandfreier Mensch nur der gelten, der Achtung vor anderen Menschen hat und mit einer hohen Ahnenverehrung lebt und sich in vollkommener Harmonie mit dem Weltganzen befindet. »Den Angelpunkt zu finden, der unser sittliches Wesen mit der allumfassenden Ordnung, der zentralen Harmonie vereint«, war für ihn das höchste menschliche Ziel. »Harmonie und Mitte, Gleichmut und Gleichgewicht« führen den Menschen durch ein lebenswertes Leben und sind für alle im höchsten Maße erstrebenswert. Selbst dann, wenn für uns Menschen dieses Ziel niemals oder eher selten erreichbar erscheint, »ist es besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen«. Eine weise Empfehlung des großen Chinesen, die über 2500 Jahre alt ist und heute noch mehr denn je ihre Gültigkeit hat.

Meiner Mutter bin ich sehr dankbar, dass sie in mir dieses »kleine Licht« angezündet hat. Sie hat mich gelehrt, worin die Würde des Menschen besteht, und mir eine hohe Wertschätzung für Menschen beigebracht – ein stilles, leises Vorbild. Nie habe ich ihr so richtig meine Dankbarkeit gezeigt. Sie tat mir oft sehr leid. Denn sie hatte es in ihrem Leben nicht besonders leicht. Es waren schlimme Zeiten zu bestehen. Niemals stand sie selbst im Mittelpunkt. Sie führte ein altruistisches Leben, aufopfernd und uneigennützig, war immer für ihren Mann, ihre Kinder und für andere da. Sie musste viele Tiefpunkte in ihrem Leben bewältigen. Gerade während der beiden Weltkriege. Im Ersten bangte sie um ihren Vater und im Zweiten um ihren Ehemann. Beide mussten in diesen schrecklichen, grauenhaften und entsetzlichen Kriegen Soldaten sein. Und danach war nicht nur für ihre Familie, sondern für alle Menschen der Neuanfang unglaublich und unbeschreiblich schwer. Später kämpfte meine Mutter immer wieder gegen ihre zum Teil lebensbedrohenden Krankheiten und ich hatte oft schlimme Angst, sie zu verlieren. Dennoch schenkte ihr das Leben 87 Jahre.

Der Leser erfährt viel darüber, was in ihrer Lebenszeit von 1908 bis 1995 in Darmstadt, in Deutschland und auf der Welt alles los war. Hermine erzählt ihr Leben, spricht über ihre Ängste und erlebt eine unglaubliche Seelenwanderung zu einer philosophierenden Riesenschildkröte auf den Galapagosinseln. Diesen dicken, unzerstörbaren Panzer hatte sie sich so sehr gewünscht. Wie oft hätte sie in ihrem Leben einen solchen gebrauchen können.

Dieses Buch ist eine Hommage an meine Mutter, einen Ehrenerweis, den ich ihr posthum zukommen lassen möchte. Das »kleine Licht« zünde ich nun für sie an. Möge sie sich darüber freuen, gleich, wo es für sie leuchtet.

Die Seniorenresidenz

H arriet ließ es sich den ganzen lieben langen Tag gut gehen. Ein wunderbares Leben, frei von jeglichen Pflichten, nur noch das Beschäftigen mit vergnüglichen Tätigkeiten oder das pure Nichtstun. Hatte sie vielleicht vom Essay »Lob des Müßiggangs« (engl. Originaltitel: In Praise of Idleness) des britischen Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell, eines Philosophen, Mathematikers und Logikers, schon einmal gehört? Lebte sie hier streng nach seinen Ratschlägen? Von wegen »Müßiggang ist aller Laster Anfang«. Sie lag im kühlen Schatten, bewegte sich nur selten und wenn, dann gewöhnlich nur mit ganz kleinen Schritten und sehr entspannt.

Harriet war in dieser von prächtiger Natur umgebenen Seniorenresidenz die allseits beliebte Grand Dame. Nicht, dass sie sich aufspielte oder in Positur brachte, wie das gewöhnlich solche Damen tun, aber mit ihrer stattlichen Figur, ihrem hohen Alter und ihrer würdevollen Contenance strahlte sie eine ganz besondere Abgeklärtheit, Bedachtsamkeit, Gefasstheit, Gelassenheit und Gleichmut aus. Sie wusste sehr viel vom Leben und alle kannten sie hier auf dieser wunderbaren Insel. Mit ihrem gesegneten Alter von über 175 Jahren hatte sie nicht nur eine sehr große Lebenserfahrung, sondern auch ein hohes Maß an Toleranz gewonnen. Sich mit ihr zu unterhalten, zu philosophieren und mit ihr zusammen zu sein, kam immer einer geistigen Erleuchtung gleich. Harriet war freundlich und liebenswürdig. Sie strahlte eine warmherzige Mütterlichkeit aus, sie war eine Freundin, wie man sie sich wünschte und eine fabelhafte, großartige Gesprächspartnerin, vor allem Zuhörerin, wie wir noch sehen werden. Sie kannte auch viele wunderbare Geschichten, die sie immer wieder zum Besten gab. Wenn sie nicht gerade wieder einmal eingenickt war, pflegte sie ihre »sozialen Kontakte«, wie sie das immer nannte. Ihre Lieblingstätigkeit bestand in der Unterhaltung mit anderen.

Wenn Harriet einmal am Erzählen war, fand sie kein Ende. Ihren philosophischen Gedankenspielen zuzuhören, glich einer wunderbaren, entspannenden Meditation. »Quält dich der ewige Dampfplauderer im Kopf mit einem schier unlösbaren Problem, vertraue dich Harriet an. Willst du etwas wissen, frage Harriet. Kommst du nicht weiter, weiß Harriet in den meisten Fällen Rat.« Alle hier in der Seniorenresidenz liebten ihre Harriet. Es war ein märchenhaftes Zusammenleben mit ihr, ein spirituelles Leben.

Harriet meinte: »Nichts ist schändlicher, als wenn man mit nichts anderem beweisen kann, dass man lange gelebt hat, als mit der Zahl seiner Jahre.« Manchmal ging den anderen ihr ewiges Philosophieren aber auch auf den Geist. Zu allen Lebenslagen hatte sie immer etwas beizutragen. Aber die meisten ihrer Gedanken und Zitate passten »wie ein Stein auf den Panzer«, wie sie selbst immer sagte. »Was soll das eigentlich bedeuten: ›wie ein Stein auf den Panzer‹?«, fragte ihre Freundin Hermine. »Das erkläre ich dir später einmal, das wirst du nicht selbst erleben und auch ich nicht, dafür sind wir viel zu alt.« Die junge Hermine, ein Küken in diesen Kreisen, hatte diesen Spruch von Harriet übernommen und auch ständig auf den Lippen. Genauso wie die Jungen heute alles »geil« oder »cool« finden.

Hermine besuchte an diesem wundervollen Morgen wieder Harriet, wie fast an jedem Tag. Sie genoss es, Harriet wegen ihrer großen Erfahrung und unermesslichen Weisheit immer alles Mögliche zu fragen und sie in interessante Gespräche zu verwickeln. Harriet war natürlich unheimlich froh und auch ein bisschen stolz, dass sie so gefragt war. Sie wollte sich mit ihrer großen Leidenschaft, dem Philosophieren, den Jungen nicht aufdrängen. Nur wenn man sie darum bat, dann redete sie wie ein Buch. Und gerade in Hermine hatte sie eine geduldige, aufmerksame, dankbare und gelehrige »junge« Zuhörerin. Hermine hatte so viel nachzuholen. Und Hermine hatte auch sehr viel selbst zu erzählen.

Ein Leben im Paradies

H ermines Unterhaltungen mit der alten Harriet bezogen sich auf alle Gebiete des Lebens. Jetzt wollen wir jedoch erst einmal das Geheimnis lüften, wo sich diese wundersame Seniorenresidenz eigentlich genau befindet. Die beiden leben auf den Galapagosinseln. Eine vulkanische Inselgruppe mitten im Pazifischen Ozean. Sie gehört heute zu Ecuador. Der Archipel liegt 920 Kilometer vom südamerikanischen Festland entfernt westlich der Küste im Pazifik. Es sind insgesamt rund 60 größere und kleinere Lavainseln, die durch Vulkanausbrüche entstanden sind. Die Inselgruppe besteht aus 13 Hauptinseln, von denen nur fünf bewohnt sind –, mit insgesamt nur etwas mehr als 25.000 Menschen. Sie wurden im Jahr 1535 zufällig von dem Spanier Tomás de Berlanga entdeckt. Und das kam so: Der spanische König schickte Tomás, den katholischen Bischof von Panama, mit einer Fregatte zu einer Vermittlungsmission nach Peru. Im Pazifik geriet das Schiff zunächst in schwierige See und danach in eine Windstille. Es war nicht mehr manövrierbar und gelangte durch starke Meeresströmungen am 10. März 1535 an die Küste einer bis dahin unbekannten Inselgruppe. Die Seeleute waren heilfroh, endlich wieder Land zu entdecken, und von den Inseln dermaßen begeistert, dass sie sie Islas Encantadas, verzauberte Inseln, nannten und sie für die spanische Krone in Besitz nahmen. Niemand hatte zu dieser Zeit so weit draußen im Pazifischen Ozean noch unbekannte Inseln vermutet. Starke Strömungen in und um die Inseln herum erweckten bei den Seefahrern den Eindruck, die Eilande änderten immer wieder ihre Lage. Im 17. Jahrhundert waren die Inseln Verstecke und Fluchtorte für Seeräuber und Piraten, darunter auch berühmte Namen wie John Cook oder William Cowley. Sie überfielen meistens die Goldschiffe der Spanier, die mit ihrer wertvollen Fracht aus Mexiko kamen.

Im 19. Jahrhundert benannte man die Inseln nach den dort vorkommenden Riesenschildkröten. Im Jahr 1832 nahm General José Maria Villamil die Inseln für Ecuador in Besitz und nannte sie fortan Archipielago del Ecuador. Von da an begann die erste dauerhafte Besiedlung mit Menschen.

Auf San Cristóbal (oder auch Chatham genannt), der östlichsten der Galapagosinseln, leben Harriet und Hermine, die beiden Riesenschildkröten. Dieser Archipel hat eine Fläche von ungefähr 560 Quadratkilometern. Der höchste Punkt der Insel ist ein erloschener Vulkan, der 730 Meter hoch ist. Durch die von ihm bedingten Niederschläge ist das Klima sehr feucht, während es auf der flacheren Nordosthälfte der Insel sehr trocken ist. Der spanische Name der Insel geht auf den heiligen Christophorus zurück, auf Spanisch heißt er Cristóbal de Licia. Der wesentlich ältere, englische Name Chatham stammt vom ehemaligen britischen Premierminister William Pitt, 1. Earl of Chatham. Auf San Cristóbal leben unter anderem Prachtfregattvögel, Seelöwen, Riesenschildkröten, Blau- und Rotfußtölpel, Leguane und Seemöwen. In La Galapaguera befindet sich eine Aufzuchtstation für Riesenschildkröten.

Wenn man mit dem Flugzeug die Galapagosinseln erreichen will, ist das keine so kurze Reise. Es gibt Flugverbindungen über Miami in Florida, dort steigt man um und fliegt nach Santiago de Guayaquil, die Hauptstadt der ecuadorianischen Provinz Guayas. Sie ist die größte Stadt mit etwa 2,52 Millionen Einwohnern und bedeutendste Hafenstadt Ecuadors am Pazifischen Ozean. Sie ist sogar größer als die 2850 Meter hoch in den Anden gelegene Hauptstadt Quito. Von Guayaquil schafft es der Flieger in weniger als einer Stunde nach San Cristobal auf Galapagos.

Da benötigte Charles Darwin, der britische Naturforscher, für seine Reise schon sehr viel länger. Zwei Tage nach Weihnachten am 27. Dezember 1831 startete er seine Reise mit der HMS Beagle, His Majesty’s Ship von His Majesty’s Naval Base Devonport, einem britischen Hafen im englischen Plymouth, der heute die größte Marinebasis Westeuropas darstellt. Die HMS Beagle unternahm Vermessungsfahrten für die Royal Navy. Bis das Schiff die Galapagosinseln am 15. September 1835 erreichte, waren immerhin vier Jahre vergangen. Durch den Panamakanal wären sie schneller zu dem Archipel im Pazifik gekommen. Doch den gab es damals noch nicht, er wurde erst 1914 eröffnet. Sie mussten noch das von allen Seefahrern am meisten gefürchtete Kap Hoorn umrunden, das immer noch als der wildeste und stürmischste Winkel aller Weltmeere gilt.

Endlich angekommen, faszinierte Darwin die großartige Landschaft der in Europa so wenig bekannten Inselwelt. Riesige schwarze Lavafelder, tiefe Kraterseen und bis über 1500 Meter hohe Kraterfelsen. Und beim genaueren Hinsehen entdeckte er eine einzigartige Vegetation, wie er sie bisher auf der Welt noch nicht gesehen hatte. Feigenkakteen in ihrer einmaligen Farbenpracht, Mangroven, die mit ihrem dichten Blattwerk wie zu groß gewordene Bonsaibäume anmuteten, hatten es Darwin ganz besonders angetan.

Im niederschlagsreichen Hochland grüßte ein Buschwerk in allen Grünschattierungen. Dazu kam eine in seltener friedlicher Eintracht lebende reiche Tierwelt. Hier fühlte sich Darwin bestätigt, seine Beobachtungen auf dieser Inselwelt führten ihn zu seiner Erkenntnistheorie der Evolution – der natürlichen Auslese. In seinem Tagebuch steht in seinem Eintrag über die berühmten Darwinfinken, dass ihre Schnäbel von Insel zu Insel variierten und stets dem Lebensraum und der Nahrung angepasst waren. Sie stellen ein wichtiges Beispiel für Artbildung dar. »Sie sind eines der wenigen Beispiele für Werkzeuggebrauch bei Vögeln, indem diese mit Hilfe von dünnen Hölzchen oder Dornen Insekten aus Schlupfwinkeln aufstöbern.« Viele Vogelarten sollen sich auch sehr zutraulich den Menschen gegenüber verhalten haben, wie man es bisher von Vögeln eher nicht kannte.

Das aggressionsfreie Zusammenleben vieler seltener Tierarten vermerkte er gleichfalls. Eine davon war »Galapagos«, die sogenannte Riesenschildkröte, die ausschließlich vegetarisch lebt, dazu Leguane und Echsen, Seevögel wie Albatrosse, Kormorane, Pelikane und Fregattvögel, Flamingos und Seelöwen – und all dies in vertrauensvoller Gemeinschaft. Alle diese Tiere schienen bisher keine schlechten Erfahrungen mit Menschen gemacht zu haben. Sie betrachteten sie nicht als Feinde und Jäger. Auch die Menschen, die hier lebten, begegneten Darwin besonders gelassen, freundlich und fröhlich. Charles Darwin beschreibt seine Reise als Naturforscher um die Welt in seinen »Gesammelten Werke« wie in einem Tagebuch. Im 17. Kapitel ist seine Ankunft auf dem Galapagos-Archipel auf mehreren Seiten in allen Einzelheiten nachzulesen. Das sei angemerkt für alle Naturliebhaber und Naturforscher, die sich dieses Mammutwerks einmal annehmen möchten. Gleichermaßen empfehlenswert ist der Roman »Der Schöpfung wunderbarer Wege«, in welchem der amerikanische Schriftsteller Irving Stone Charles Darwin und seinen naturwissenschaftlichen Forschungen auf Galapagos ein spannendes, sehr interessantes und nebenbei auch lehrreiches Kapitel widmet.

Die wundersame Seelen-wanderung

A uf Galapagos erzählt man sich einen uralten Mythos: dass die Seelen von ganz bestimmten, auserwählten Menschen in Riesenschildkröten auf den »Inseln der Seligen«, wie Platon das bezeichnen würde, weiterexistieren dürfen. Genau genommen sprechen wir dabei nicht von Reinkarnation, sondern viel mehr von einer Seelenwanderung. Schon Sokrates war sich sicher, dass die Seelen aus der Unterwelt zurückkehren und einen neuen Körper bewohnen können.

Der große deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer beschäftigte sich mit den Upanischaden, den über 3000 Jahre alten indischen religiösen und philosophischen Schriften des Hinduismus. Er erlernte ihre Sprache, um die Schriften im Original lesen und übersetzen zu können. Darin wird eine Wiedergeburt in einem Tierkörper für mehr als möglich gehalten. Grundsätzlich essen deshalb Menschen hinduistischen Glaubens kein Fleisch. Westliche, christlich gläubige Menschen, die dem Reinkarnationsgedanken zum Teil sehr offen gegenüberstehen, glauben nicht an eine Wiedergeburt in einem Tier. Sie ziehen eine große Trennungslinie zwischen Tier und Mensch. Der französische Philosoph René Descartes behauptete, Tiere hätten kein Bewusstsein und könnten keinen Schmerz empfinden. »Was für ein Unsinn!«, würden alle Haustierbesitzer, Tierpfleger in den Zoos oder Bauern, die eng mit Tieren zusammenleben, dagegenhalten. Sie alle sind sich sehr wohl bewusst, dass Tiere eine Seele haben und auch Schmerzen empfinden können.

Das Leben auf Galapagos gleicht einem Leben für Mensch und Tier, wie es im Paradies sein muss. Auf einem der schönsten Flecken dieser Erde werden die Seelen ganz besonderer Menschen für ihr Erdendasein mit einem langen weiteren, unbekümmerten Leben im Körper einer Riesenschildkröte belohnt. Und solche mussten Harriet und Hermine wohl sein. Diese Tiere denken nicht wie wir Menschen über den Sinn ihres Lebens nach, auch nicht darüber, wie sie es gestalten. Bei diesen beiden handelt es sich daher um ungewöhnliche Exemplare, sie waren mit diesem besonderen Heil ausgestattet. Riesenschildkröten fallen auf durch ihre Langsamkeit. Man weiß aus der Tierbiologie, dass Bewegungen, Atmung, Herzschlag und die Zellteilung bei ihnen deutlich langsamer verlaufen als bei vielen anderen Lebewesen. Das muss der Grund sein für ihr biblisches Alter.

Wie oft hatte Hermine sich gewünscht, nur ein kleines bisschen von dem Gleichmut, der stoischen Ruhe und der Gelassenheit dieser Riesenschildkröten zu haben. Das fing schon sehr früh bei ihr an. Mit ihrer Mutter besuchte sie als kleines Mädchen einmal den Frankfurter Zoo. Dort hatten es ihr die Riesenschildkröten ganz besonders angetan. Immer wieder musste sie an diese Tiere denken, die sie so lebensfroh, zufrieden und von Freude bestimmt mit ihren großen Augen angesehen hatten. Auf wundersame Weise fand sich ihre Seele nach ihrem Ableben in einer solchen wieder. Gott musste wohl ihre geheimen, unausgesprochenen und verschlossenen Gedanken erhört haben. Hermine glaubte ganz fest an ihren Schöpfer. Jeden Abend hat sie mit ihrem Sohn zusammen für ihre ganze Familie gebetet: dass ihr Mann vom Krieg unversehrt nach Hause kommen würde, dass die ganze Familie verschont bliebe in diesem schrecklichen Krieg.

»Liebste Harriet, du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich war, dass unsere gemeinsamen Gebete in Erfüllung gegangen sind, alles, was wir uns von unserem Schöpfer gewünscht hatten, ist tatsächlich so gekommen. Mein ältester Sohn wollte schon als kleiner Junge immer Pfarrer werden. Ich beobachtete ihn oft beim Spielen. Andere Kinder spielten Fußball, Schule oder Vater-Mutter-Kind, mein Sohn spielte Pfarrer und las in unserer Familienbibel. Er begleitete mich oft zum Sonntagsgottesdienst in die Kirche. Gerade in der Kriegszeit waren die Kirchen sonntags sehr gut besucht. Mein Ältester zelebrierte zu Hause Gottesdienste sehr authentisch beim Spielen und sprach dabei salbungsvoll, eben wie ein Pfarrer. Aus dem Christlichen Familienbuch hatte er sich unseren Trauspruch verinnerlicht und den 91. Psalm, Vers 1 und 2, sogar auswendig gelernt: »Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.« Er kannte natürlich auch seinen Taufspruch aus dem Familienbuch und der passte ganz wunderbar zu ihm und auch in die Zeit: »Weil du so wert bist vor meinen Augen geachtet, musst du auch herrlich sein, und ich habe dich lieb«, Jesaja 43, Vers 4. Andere Kinder lasen den Struwwelpeter, mein Sohn las im Neuen Testament. Zu seiner Konfirmation überraschte er uns und gleichermaßen seinen Pfarrer. Seinen Konfirmationsspruch hatte er sich selbst in der Bibel ausgesucht: »Wachet, steht im Glauben, seid männlich und seid stark«, 1. Korintherbrief 16, Vers 13. Im Alter von 14 Jahren war sein sehnlichster Berufswunsch, einmal Pfarrer zu werden. Er hatte Gott hinter allem erkannt und wollte ihm dienen, sagte er immer. Es gibt dazu noch eine schöne Geschichte, die ich dir, meine liebste Harriet, unbedingt erzählen möchte.

Als wir während des Kriegs bei den Verwandten in Seelbach bei Lahr im Schwarzwald zu Besuch waren, betete mein Sohn in einer kleinen Kapelle auf einem Hügel hinter dem Haus, dass sein Vater aus dem Krieg doch bald einmal zu Besuch kommen sollte. Und wie ein Wunder muss es ihm erschienen sein, dass wenige Tage später sein Vater tatsächlich erschienen ist. Aristoteles sagte einmal, dass Menschen in ihrem Nachsinnen über die Welt und in ihren Gebeten Gott sehr nahekommen. Gemeinsam mit meinem Sohn hatten wir mit dieser Nähe zu unserem Schöpfer die schreckliche Kriegszeit überlebt. Wir waren beide felsenfest davon überzeugt, dass er seine Hand dabei im Spiel hatte und wir nur ihm ganz allein diese Wendung zu verdanken hatten.«

Hermine fragte sich oft: Warum durfte eigentlich ihr Mann nicht diese wundersame Verwandlung in eine Riesenschildkröte und ein langes sorgenloses Weiterleben in dieser Seniorenresidenz auf Galapagos erfahren? Manchmal vermisste sie ihn und fragte sich, ob es denn eine Regel gäbe, nach der einem Menschen dieses Wunder widerfährt und dem anderen nicht. Doch darüber wollte sie nicht unbedingt nachdenken, vielleicht hatte Harriet eine Erklärung dafür. Es könnte ja auch sein, dass dabei Gott seine Hände im Spiel hätte. Bei Gelegenheit könnte sie dieses Thema einmal anschneiden und mit Harriet darüber philosophieren. Jetzt wollte sie erst ein wenig meditieren und sich später wieder mit Harriet unterhalten. Sie liebte ihre neue Existenz auf Galapagos. Und sie hatte eine Freundin gefunden, wie sie sie niemals im Leben gehabt hatte. »Was geht es uns doch so gut hier auf Galapagos, so müssen sich die Menschen das Paradies vorstellen. Und wir leben jetzt hier.«

Hermine und Harriet hörten manchmal stundenlang gemeinsam auf die Stille. Sie kommunizierten oft ganz leise miteinander. Hermine wandte sich an Harriet: »Warum war es bloß so laut in meinem menschlichen Leben? Hätte mich mein Schöpfer doch nicht nur mit Augen, sondern auch mit Ohrenlidern beschenkt!« Am schlimmsten waren die schrecklichen Geräusche des Kriegs, die sich in ihrem Kopf festgesetzt hatten.

Hermine

H ermine hatte in ihrem Leben niemals Gelegenheit, Bücher zu lesen, geschweige denn sich überhaupt irgendwie geistig und intellektuell zu beschäftigen. Ihr Mann hätte sie auch für verrückt erklärt, wenn sie ihm plötzlich »philosophisch« oder Bücher lesend dahergekommen wäre. Ihre einzigen Aufgaben waren, seiner Meinung nach, in dieser damals von Männern dominierten Welt, die Kinder »großzuziehen« und natürlich den Ehemann in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn der Herr nach Hause kam, musste etwas Ordentliches auf dem Tisch stehen. Der Haushalt sollte jederzeit picobello in Ordnung sein, Wäsche und Hemden für ihn tadellos gewaschen, gestärkt und gebügelt im Schrank liegen. Dennoch geruhte »His Lordship«, wie sie ihn manchmal scherzhaft nannte, »selten zu Hause zu verweilen«. Für seine Frau und Kinder war er meistens dann nie da, wenn sie ihn wirklich dringend gebraucht hätten. Da blieb Hermine wirklich keine Zeit zum Lesen oder für jegliche kulturelle Beschäftigung und schon überhaupt nicht für philosophische Gedanken. Manchmal, vielleicht zu selten, bedauerte sie das außerordentlich und wagte, das auch mal auszusprechen. »Das ist sowieso nichts für dich«, reagierte dann ihr Mann, »und außerdem kapierst du das mit deiner Zwergschulbildung sowieso nicht.« Dabei war Hermine sehr stolz auf ihren Mittelschulabschluss und ihre anschließende, mit großem Erfolg abgeschlossene Berufsausbildung.

Das Einzige, was Hermine sich mühsam erobert hatte bei ihrem Ehemann, war sein »großzügiges« Zugeständnis für ihr Theaterabonnement. Oper und Musik waren ihr Ein und Alles, das genoss sie und das ließ sie sich von ihrem Mann auch nicht vermiesen. Selten begleitete er sie – nur dann, wenn eine lustige Operette auf dem Spielplan stand. Dafür war später ihr mittlerer Sohn ein dankbarer Begleiter. Schon in dessen jungen Jahren nahm Hermine ihn mit ins Theater. Und die Opernabende waren für beide, Mutter und Sohn, immer ein ganz besonderes Ereignis. Das begann schon nachmittags mit dem gemeinsamen Nachlesen des Werks im Opernführer. Man wollte die Handlung schließlich verstehen. Hermine spielte hervorragend Klavier und gab vorab die bekanntesten Melodien und Arien zum Besten. Selten war sie so aufgekratzt und fröhlich wie an diesen Tagen. Natürlich gönnte sie sich in der Pause das obligatorische Gläschen Sekt, der Sohn bekam eine Limonade und dazu gab es immer die geliebten weißen und rosafarbenen Schokolinsen von Piasten. Das musste einfach sein.

Erst jetzt auf Galapagos hatte sie in ihrem neuen Leben richtig begonnen, ihren Bildungshunger zu stillen und nachzuholen, wofür ihr die Erziehung der drei Söhne und das rege gesellschaftliche Leben ihres Mannes früher keine Zeit gelassen hatten. Die gute alte Harriet und sie waren unzertrennlich geworden. Entweder sprachen sie über ihr eigenes, vergangenes Leben oder unterhielten sich stundenlang über Gott und die Welt. Hermine brannte darauf, alle geistigen Versäumnisse aus ihrem früheren Leben aufzuholen. In ihrem Alter und bei diesen paradiesischen Bedingungen hatte sie Zeit und Ruhe für die schönen Seiten ihres »zweiten« geschenkten Lebens. Für sie war das eine Erfüllung eines lebenslangen Wunschtraums, eine besondere Gnade des Himmels. Endlich konnte sie das tun, womit sie sich in ihrem menschlichen Leben immer so gern beschäftigt hätte. Sie konnte nach Friedrich Nietzsches Maxime leben: »Mein Glück wird sein, das zu tun, wozu mich meine innere Stimme treibt, sonst will ich nichts.« »Aber alles zu seiner Zeit«, sagte sie ganz bescheiden zu sich selbst. Bloß nicht wieder in den alten hektischen, aufregenden Trott verfallen.

Hermine Margarete Christiane wurde am 15. Februar 1908, einem Samstag, im Sternzeichen Wassermann geboren. Harriet versuchte, Hermine zu provozieren: »Hermine, du erwähnst so ausdrücklich dein Sternzeichen, glaubst du eigentlich daran? Ist Astrologie Humbug oder ist wirklich etwas dran? Was meinst du?« »Also Harriet, damit eines gleich klar ist, ich halte nichts von Horoskopen in Zeitungen und Illustrierten. Viele Menschen lesen die und ich gebe zu, dass ich sie auch schon manchmal überflogen habe, aber mein Verstand sagt mir, dass sie wertlos sind. Man kann damit nicht die Zukunft voraussehen, wie das manchmal so dargestellt wird. Ich gebe aber zu, dass ich trotzdem schon einmal heimlich, ohne dass es mein Mann erfuhr, einen Astrologen aufgesucht habe, als es mir richtig schlecht ging, ich nahe am Verzweifeln war und einfach nicht mehr weiter wusste. Mir war in dieser Situation völlig egal, ob das System wissenschaftlich haltbar ist oder nicht. Einzig und allein die Wirkung war mir wichtig. Einem Psychiater oder Psychotherapeuten hätte ich mich nie anvertraut. Mein Mann hätte mich für verrückt erklärt. Wie ich einmal herausbekommen habe, ist er selbst einige Male bei einer Wahrsagerin gewesen, die ihm großen geschäftlichen Erfolg und ein hohes Alter vorausgesagt hatte. Daran glaubte er felsenfest und schließlich ist es ja auch so gekommen. Ich glaube, er hat damals 20 Mark bezahlt. Was mein Besuch beim Astrologen gekostet hatte, hätte ich mich nicht getraut ihm zu gestehen. Ich habe das einfach von meinem Haushaltsgeld abgezweigt, das ich von Heinrich Woche für Woche hingelegt bekam, und er hat es nicht gemerkt.«

Hermine war die zweite, ihre ältere Schwester Lisa war 1903 geboren und ihre jüngere Schwester Friedel 1915. Die mittleren haben es nicht immer ganz leicht und Hermine schon gar nicht. Sie war ein Siebenmonatskind und sehr zart und klein. Damals war das Überleben für ein zu früh geborenes Baby noch weitaus unsicherer als heute. Ihre fünf Jahre ältere Schwester erzählte oft, dass sie ein richtiges »Schreikind« gewesen sei. Sie war dünn, kränklich, sensibel, verletzlich und die ganze Familie hatte ständig Angst um sie. Besonders Kinder und Jugendliche starben in dieser Zeit immer noch an der »Schwindsucht«, auch bekannt als Tuberkulose. Eine meist tödlich verlaufende Infektionskrankheit, die trotz moderner Medizin bis heute immer noch nicht vollständig besiegt ist auf unserer Erde.

Harriet erzählte Hermine, sie hätte am gleichen Tag Geburtstag wie der Begründer der modernen Naturwissenschaften Galileo Galilei, der im Jahr 1564 geboren wurde. »Er war ein italienisches Universalgenie, Mathematiker, Physiker und Astronom. Im Jahr 1908, deinem Geburtsjahr, war allerhand los auf der Welt. Der grandiose Dichter Wilhelm Busch starb, der Schöpfer von »Max und Moritz«, aus dessen Werken du deinen Kindern immer vorgelesen hattest und dessen lustige Gedichte du heute noch immer aufsagen kannst, wie ich schon mehrere Male von dir hörte. Die Dresdnerin Melitta Bentz erfand den Kaffeefilter, der den Kaffeesatz aus der Tasse endgültig verbannte. Daraus entstand das Weltunternehmen Melitta. Auch Maggi kennt auf der Welt jeder, eine gute alte deutsche Firma, die heute zum Schweizer Nestlé-Konzern gehört. Sie brachte übrigens im gleichen Jahr den ersten Brühwürfel in die Kochtöpfe. Kaffee HAG wird ins deutsche Markenverzeichnis eingetragen und die Schweizer erfinden Toblerone, die weltbekannte Schokolade. Im olympischen Jahr 1908 fanden die Sommerspiele in London statt. Eine schwere Katastrophe musste Italien verkraften. Die Städte Reggio Calabria und Messina wurden durch ein verheerendes Erdbeben vernichtet, bei dem über 100.000 Menschen umkamen. In Deutschland herrschte die Monarchie. Kaiser Wilhelm II. war Staatsoberhaupt und Fürst Bernhard von Bülow Reichskanzler. Theodor Roosevelt, der 26. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, regierte noch bis 1909«, sprudelte es aus Harriet heraus. Wie sie sich das alles merken konnte, war einfach grandios, und woher sie ihr Wissen hatte, blieb ewig im Verborgenen.

Doch Hermine machte gleich mit, sie konnte eine Menge aus ihrem ganz besonderen Lieblingsbereich, der Musik, zu dieser Unterhaltung beitragen. Als Opern- und Musikliebhaberin wusste sie, dass 1908 der österreichische Komponist und Dirigent Gustav Mahler zum neuen Dirigenten der Metropolitan Opera in New York berufen wurde. Und der von ihr glühend verehrte Dirigent Herbert von Karajan, von dem sie viele Schallplatten hatte, wurde im gleichen Jahr geboren wie sie. Auch die technische Entwicklung nahm einen rasanten Lauf. Erstmalig war eine drahtlose, telegrafische Verbindung zwischen Paris und der größten Stadt Marokkos, Casablanca, möglich. Von dieser Stadt, die ihr Mann im Krieg kennengelernt hatte, schwärmte Heinrich zeitlebens. Was war nicht alles geschehen in diesem schicksalsträchtigen 20. Jahrhundert. Zwei Weltkriege hatten die Menschen zu bestehen, den Holocaust, aber auch die Erfindung der Anti-Baby-Pille, den Bau der ersten Atombombe und den Fall der Berliner Mauer.

Hermine arbeitete mit Harriet ihr ganzes Leben auf. Wenn die beiden einmal beim Erzählen waren, fanden sie so schnell kein Ende. Harriet war eine geduldige, vorurteilsfreie und immer sehr interessierte Zuhörerin.

Schon als sechsjähriges kleines Mädchen spürte Hermine die Sorgen ihrer Eltern. Der Erste Weltkrieg begann 1914, kurz nachdem sie gerade eingeschult worden war. Hermine erinnerte sich mit sehr gemischten Gefühlen an ihren ersten Schultag, Montag, der 19. April 1914 im neuen Schulgebäude der Mornewegschule an der Hermannstraße. Sie konnte am Abend vorher vor lauter Aufregung gar nicht einschlafen. Hermines Mutter hatte dafür ein gutes Rezept. Sie setzte sich ans Bett und betete mit Hermine, dann musste sie noch drei Schlückchen Wasser trinken und langsam von 100 rückwärts zählen. Hermine sagte: »Mutti, ich war noch keinen einzigen Tag in der Schule, kann aber schon bis 100 zählen, aber von 100 rückwärts, das kann ich einfach nicht, und wenn ich es noch so oft übe. Ich habe schreckliche Angst vor der Schule, weil ich noch nicht richtig schreiben kann. Lesen kann ich nur mein Bilderbuch und Rechnen ist schon überhaupt nicht meine Stärke.« Ihre Mutter tröstete sie und sagte: »Du Dummchen, deshalb kommst du doch in die Schule, da sollst du das alles erst lernen.«

Der große Tag war gekommen: ein wunderschöner Frühlingstag im April, sonnig und warm. Ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre Patin Mina waren mitgekommen. Sie standen alle auf dem Schulhof und der Rektor hielt eine Ansprache. »Ich war eine der Kleinsten und hatte schreckliche Angst. Ich klammerte mich auf der einen Seite an meine Mutter und mit der anderen Hand an meine Patin. Die beiden brachten mich in das Klassenzimmer im zweiten Stock. Unser Lehrer stellte sich vor, Herr Lehrer Eidmann, so sollten wir ihn auch anreden. Zu Anfang war er mir ziemlich unheimlich. Aber er begleitete mich viele Jahre meiner Schulzeit und ich habe wirklich sehr viel von ihm gelernt. Ich verehrte ihn wie keinen anderen Menschen in meinem bisherigen Leben und muss heute noch manchmal an ihn denken.

Ein anderer Lehrer, den wir in Rechnen hatten, hieß Jakob Reck. Lehrer Reck hatte im Krieg ein Bein verloren. Er zeigte jedem, ob er es sehen wollte oder nicht, sein Holzbein und schimpfte furchtbar auf den Krieg. Aber davon erzähle ich dir später noch einmal etwas ausführlicher. Ein sehr strenger Mann, der mir schon sehr alt vorkam. Er war ein leidenschaftlicher Anhänger der Astronomie und erzählte uns immer, dass er Nacht für Nacht die Sterne beobachtete. Und wenn er uns fragte, was ein Planet sei, mussten wir wie aus der Pistole geschossen die Antwort aufsagen: Ein Planet ist ein Himmelskörper, der sich um eine Sonne dreht. Und wehe wir konnten sie nicht buchstabengetreu alle aufsagen. Sie mussten wie aus der Pistole geschossen heruntergerasselt werden. Ich habe diesen Satz noch heute im Gedächtnis. Meine Kinder haben in der Schule dafür einen eigenen Merksatz gelernt, den ich mit ihnen zusammen üben musste: Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unsere neun Planeten – Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun, Pluto. Als wir die Planeten auswendig lernen mussten, gab es Pluto noch nicht, er wurde erst 1930 entdeckt. Viele Jahre später sollte mir Jakob Reck noch einmal begegnen. Als Nachbar unseres Hauses in der Uhlandstraße, in das wir nach dem Krieg kurz vor dem ersten Advent 1950 eingezogen sind.

Unsere Handarbeitslehrerin Fräulein Hannah Süß, die wir bis zu meinem Schulabschluss hatten, lebte auch so ihren eigenen Spleen. Sie verehrte eine gewisse Caroline, sie schwärmte von dieser bemerkenswerten Frau, die Mitte des 18. Jahrhunderts gelebt hatte, und erzählte uns jede Stunde aus deren Leben.« »Das ist sie wahrhaftig gewesen«, bestätigte Harriet. »Kaum eine andere Frau polarisierte ihre Zeitgenossen so stark wie sie. Für die einen war sie das schändlichste aller Geschöpfe, andere, wahrscheinlich neidische Menschen, verleumdeten sie als Dirne«, so Harriet.

»Fräulein Süß bewunderte und pries sie als außergewöhnliche, hinreißende Frau. Eine Frau, die in ihren Augen sich die Freiheit nahm zu leben«, wusste Hermine. »Tatsächlich, Hermine, kaum eine andere Frau provozierte ihre Zeitgenossen so stark wie sie. Sie war eine der bedeutendsten Frauen der Romantik und wurde gleichermaßen bewundert und angefeindet, verehrt und gehasst. Friedrich Schiller gab ihr den Beinamen ›Dame Luzifer‹, Goethe hingegen zollte ihr höchsten Respekt. Keine Frau der deutschen Geistesgeschichte hat so sehr die Fantasie der Zeitgenossen wie der Nachlebenden beschäftigt wie Caroline Schlegel-Schelling. Sie war, natürlich nacheinander, mit zwei Philosophen verheiratet. Wilhelm Schlegel, dem Bruder des Philosophen Friedrich, und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Der Erstere heiratete Caroline wegen ihrer Schwangerschaft, obwohl das Kind nicht von ihm stammte. In dieser Zeit war das eine reine Vernunftehe, weil es für eine anständige ledige Frau völlig unmöglich gewesen wäre, in der damaligen Gesellschaft ein Kind zur Welt zu bringen. Beide waren sich im Klaren, dass es sich nicht um eine Liebesehe handelte. Als jedoch 1798 ein neuer Mann, Friedrich Schelling, in ihr Leben trat, entbrannte eine innige Liebe zu ihm. Der in Leonberg geborene Pfarrerssohn war auf Betreiben Goethes und Schillers als außerordentlicher Professor an die Universität Jena berufen. Der junge Philosoph begeisterte seine Studentenschaft mit der Darstellung seiner Naturlehre. Auch die Natur habe Leben und Seele. Sein Grundsatz lautet: Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk!

Caroline hatte sich in diesen zwölf Jahre jüngeren Mann unsterblich verliebt. Sie zeigte es ihm auch und erfuhr seine heftige, leidenschaftliche Gegenliebe. Für die Gesellschaft war es ein Skandal, für die Liebenden der Beginn tiefster Beglückung. Aber auch große Erschütterung bahnte sich an. Friedrich Schiller nannte Caroline von nun an also die ›Dame Luzifer‹, klatschhafte Professorenfrauen bezeichneten sie als lichtscheue Buhlerin. Ganz Jena sprach davon: Der junge Schelling hat dem alten Schlegel die Frau ausgespannt. Es kam, wie es kommen musste, die Ehe wurde geschieden. Carolines Mann selbst blieb gelassen, vielleicht auch wegen seiner eigenen zahlreichen Amouren, die sie wiederum stets immer souverän behandelt hatte und über die sich merkwürdigerweise niemand den Mund zerriss. Die gehässigen Wogen gegen die Ehebrecherin schlugen am höchsten, als Caroline ihren tiefsten Schmerz erfuhr: Ihre 15-jährige Tochter Auguste erkrankte im Sommer 1800 an der Ruhr und starb. Und es kam noch viel schlimmer für das immer noch verliebte Paar. Von einer dreitägigen Wanderung, die die beiden Anfang September 1809 unternahmen, kehrte Caroline krank zurück. In wenigen Tagen zerstörte der Typhus, oder die Ruhr, wie man damals sagte, ihren zarten Körper. Am 7. September 1809 starb sie in Maulbronn. Nur 46 Jahre alt wurde sie.