Die Vergeltung auf Neuwerk - Dieter Heymann - E-Book

Die Vergeltung auf Neuwerk E-Book

Dieter Heymann

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Beschreibung

Der Hamburger Hauptkommissar Richard Bruns reist mit seiner Verlobten Karin zur Insel Neuwerk, um dort gemeinsam einige entspannte Urlaubstage zu verbringen. Doch nach dem grausamen Mord an einem Beschäftigten der Stackmeisterei ist es mit der Erholung schnell vorbei, denn er wird von seinem Vorgesetzten mit den Untersuchungen betraut. Bruns bekommt mit der jungen Kriminalbeamtin Deniz Yilmaz Verstärkung aus der Hansestadt. Schon bald deuten für die beiden Ermittler erste Hinweise darauf hin, den Täter unter den Gästen des Hotels Hus am Hafen suchen zu müssen. Noch während ihrer Befragungen geschieht ein zweiter Mord. Währenddessen recherchiert Oberkommissar Boris Gerdes im LKA Hamburg in der Vergangenheit des ersten Mordopfers und fördert dabei ebenso überraschende wie erschreckende Dinge zutage. Liegt hier der Schlüssel zur Aufklärung der Verbrechen?

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Wie schon bei meinem ersten Neuwerk-Krimi ziert erneut ein Werk der Hamburger Malerin Hilde Karin Nielsen den Einband dieses Buches. Dafür liebe Hilde ein herzliches Dankeschön!

Das Buch

Der Hamburger Hauptkommissar Richard Bruns reist mit seiner Verlobten Karin zur Insel Neuwerk, um dort gemeinsam einige entspannte Urlaubstage zu verbringen. Doch nach dem grausamen Mord an einem Beschäftigten der Stackmeisterei ist es mit der Erholung schnell vorbei, denn er wird von seinem Vorgesetzten mit den Untersuchungen betraut.

Bruns bekommt mit der jungen Kriminalbeamtin Deniz Yilmaz Verstärkung aus der Hansestadt. Schon bald deuten für die beiden Ermittler erste Hinweise darauf hin, den Täter unter den Gästen des Hotels Hus am Hafen suchen zu müssen. Noch während ihrer Befragungen geschieht ein zweiter Mord.

Währenddessen recherchiert Oberkommissar Boris Gerdes im LKA Hamburg in der Vergangenheit des ersten Mordopfers und fördert dabei ebenso überraschende wie erschreckende Dinge zutage.

Liegt hier der Schlüssel zur Aufklärung der Verbrechen?

Der Autor

Dieter Heymann wurde 1968 in Spelle (Kreis Emsland) geboren und wuchs in Rheine auf, wo er auch heute lebt. Nach dem Abitur kam er in die öffentliche Verwaltung, in der er noch immer tätig ist. Neben Schwimmen und Radfahren liest er gerne Spannendes und engagiert sich in der Vorstandsarbeit seines Schützenvereins.

Im Jahr 2020 veröffentlichte er mit „Tod eines SA-Mannes“ sein erstes Buch, das zugleich Auftakt zu einer Reihe von historischen Kriminalromanen aus dem Münsterland der 1930er-Jahre war. Mittlerweile liegt der vierte Band dieser Serie vor.

Auf Neuwerk ist er seit einigen Jahren Stammgast. Hier genießt er die Ruhe und Entspannung, die die Insel zu bieten hat. Vor allem die Natur und die netten Gespräche mit Einheimischen und Inselbesuchern weiß er sehr zu schätzen.

Schon bei seinem ersten Besuch auf dem Eiland kam ihm der Gedanke, den idyllischen Ort in der Nordsee für einen Kriminalroman zu nutzen. „Das Sterben auf Neuwerk“ bildete den Auftakt der Krimireihe um den Hamburger Hauptkommissar Richard Bruns.

Weitere Informationen gibt es auf der Facebook-Seite „Dieter Heymann (Autor)“.

Für alle, die Neuwerk lieben

Heimatlos! Wie weh das klingt.

Namenlos in´s Grab gesenkt,

Das kein Mutterarm umschlingt,

Dem kein Bruder Blumen schenkt.

Ach, im Wind, der diesen Stein,

Diesen Hügelsand umweht,

Wird manch´ banges Klagen sein,

Das euch weinend suchen geht.

Aber reiht sich himmlisch schön,

Nächtens oben Licht an Licht,

Taut´s wie Trost aus jenen Höh´n:

Heimatlose seid ihr nicht.

Inschrift auf der Tafel am Fuß des Hauptkreuzes auf dem Friedhof der Namenlosen auf Neuwerk, verfasst von Gustav Falke

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Epilog

Prolog

Noch einmal überzeugte sie sich mit ihrer rechten Hand davon, dass das hineinfließende Wasser auch die richtige Temperatur hatte. Nachdem die Prüfung zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen war, nahm sie die bunt bedruckte Plastikflasche vom Badewannenrand und ließ das flüssige Schaumbad ins Wasser laufen. Sie liebte den Geruch von frischen Rosen. Gleichzeitig fühlte sich das Rosenholzöl so wunderbar sanft auf ihrer Haut an.

Erst jetzt öffnete sie ihren BH, zog danach ihren Slip aus und schlüpfte in ihren Morgenmantel. Danach ging sie ins Wohnzimmer, um die passende CD einzulegen. Bereits viele Wochen zuvor hatte sie sich eine Sammlung mit sinnlichen Balladen von Udo Lindenberg für diesen besonderen Anlass ausgesucht. Dessen Lieder hatte sie schon immer sehr gemocht. Alleine schon aus diesem Grund erschien ihr ihre Wahl nur logisch. Sie bediente die Playtaste und reduzierte die Lautstärke. Die sanfte Musik wollte sie nur ganz leise im Hintergrund wahrnehmen, wenn sie in der Wanne lag.

Dann ging sie ins Bad zurück. Dort stellte sie fest, dass inzwischen genügend Wasser in der Wanne war. Das Nass war mit einer Schicht aus Schaum bedeckt, der ein wohliges Aroma verströmte. Zufrieden löste sie den Gürtel ihres Morgenmantels, ließ diesen achtlos zu Boden fallen und begab sich ins Wasser. Dort lehnte sie ihren Kopf entspannt zurück und schloss die Augen.

Zum Abendessen hatte sie sich drei Gläser Wein gegönnt. Dies war wohl der Grund, warum sie jetzt von einer plötzlichen Müdigkeit übermannt zu werden drohte. Doch einschlafen durfte sie auf gar keinen Fall, denn sie wollte die Zeit im Badewasser dazu nutzen, um ein letztes Mal in Ruhe über alles nachzudenken.

Schnell waren die Schatten der Vergangenheit wieder vor ihrem geistigen Auge präsent. Niemals würde sie diesen einen Tag in ihrem Leben vergessen. Ein einziger Tag, nein, eine einzige Stunde hatte ausgereicht, um ihr ganzes Leben zu zerstören! Dabei hätte alles so schön werden können ...

Sie hatte eine glückliche Kindheit gehabt. Nach erfolgreichem Abitur hatte sie zu studieren begonnen. In dieser Zeit gab es zwar einige unbedeutende Affären, aber eben auch diese eine Nacht, die sie bis heute bitter bereute, weil sie so folgenschwere Auswirkungen auf ihr weiteres Sein haben sollte.

Erst kurz vor dem Diplom hatte sie ihn kennengelernt. Schon als sie den jungen, äußerst attraktiven Mann damals zum ersten Mal sah, war ihr klar gewesen, dass er die große Liebe in ihrem Leben sein würde. Ihm schien es in diesem Augenblick nicht anders zu gehen, denn er hatte sie noch für den gleichen Abend zum Essen eingeladen.

Während sie in einem gemütlichen italienischen Lokal gespeist und sich dabei angeregt unterhalten hatten, muss der Funke zwischen ihnen endgültig übergesprungen sein. Später hatten sie es nicht geschafft, sich voneinander zu lösen, sondern hatten die folgende Nacht gemeinsam miteinander verbracht.

Wie hatte es damals nur so weit kommen können, wo sie doch eigentlich genau diese Situationen aus nur allzu gutem Grund für alle Zeiten vermeiden wollte?

An diesem Abend war der Zauber zwischen ihnen so überwältigend gewesen, dass sie es nicht über ihr Herz gebracht hatte, ihn abzuweisen, was eigentlich die richtige Entscheidung gewesen wäre. So hatte sie ihm später unter Tränen die Wahrheit sagen müssen. Doch zu ihrer Überraschung hatte selbst dies ihn nicht davon abhalten können, bei ihr zu bleiben.

In der Folgezeit hatte es für sie neben dem Studium nur noch ihn gegeben. An jedem freien Tag war sie zu ihm gefahren, um seine Nähe zu genießen. Schnell waren aus anfänglichen Träumereien konkrete Pläne für eine gemeinsame Zukunft geworden. Wenige Monate, nachdem sie ihn kennengelernt hatte, schloss sie ihr Studium ab. Unmittelbar danach hatte sie eigentlich zu ihm ziehen wollen, um sich in ihrer neuen Umgebung einzugewöhnen und sich nach und nach in ihrem Job einzurichten.

Hätte sie ihr Vorhaben damals doch nur gleich in die Tat umgesetzt! Stattdessen hatte sie den größten Fehler ihres Lebens begangen ...

Ihre Kommilitoninnen hatten versucht, sie zu einem letzten gemeinsamen Abend zu überreden. Schließlich hatte sie entnervt zugestimmt, wo eine ablehnende Antwort im Nachhinein die weitaus bessere Option gewesen wäre. Ein böser Schnitzer, der für sie in jenem Moment nicht als solcher zu erkennen gewesen war, aber im Endeffekt all ihre Träume von einer unbeschwerten und glücklichen Zukunft an seiner Seite zunichtegemacht hatte!

Nichts war danach mehr so gewesen, wie es vorher war. Mit ihrem gedankenlosen Entschluss hatte sie nicht nur ihr eigenes, sondern auch sein Leben und möglicherweise gar das einer dritten Person für immer ruiniert. Wie oft hatte sie diesen einen kurzen Augenblick, der alles zerstört hatte, in den letzten Jahren schon verflucht! Die Schuld an dem, was anschließend passiert war, trug sie ganz allein!

Nachdenklich betrachtete sie die batteriebetriebene Wetterstation auf dem Regal mit den Handtüchern, auf der sich auch die Uhrzeit ablesen ließ. Allmählich drängte die Zeit, wenn sie ihren Vorsatz noch rechtzeitig erfolgreich umsetzen wollte. Bevor Svetlana am nächsten Morgen die Wohnung betreten würde, musste es unwiderruflich geschehen sein.

Langsam erhob sie sich aus dem Wasser und stieg aus der Badewanne. Nachdem sie ihren Körper mit dem Badeschal abgetrocknet hatte, verwendete sie einige Zeit darauf, sich mit ihren Lieblingsdüften einzusprühen. Dann föhnte und bürstete sie ihr Haar.

Nackt, wie sie war, ging sie anschließend ins Schlafzimmer, um sich rasch die vorher schon bereitgelegte Unterwäsche anzuziehen. Zum Abschluss streifte sie ihr schönstes Kleid über. Für einen Augenblick überlegte sie, dezent etwas Rouge und einen Lippenstift aufzutragen, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Die Menschen, die ihr nahestanden, sollten sie so in Erinnerung behalten, wie sie immer gewesen war: Schlicht und natürlich.

Während sie im Wohnzimmer ein weiteres Glas Wein trank, dachte sie ein letztes Mal über ihr Vorhaben nach. Dabei überkam sie ein schauriges Gefühl. Es gehörte doch mehr Mut dazu, ihre Absicht umzusetzen, als sie zuvor gedacht hatte.

Tat sie auch wirklich das Richtige? Wie viele Personen würde sie mit ihrem Schritt enttäuschen? Würden die Menschen, die ihr einmal nahegestanden hatten, sie irgendwann verstehen, nachdem sie ihren Abschiedsbrief gelesen hatten?

Mit plötzlicher Entschlossenheit gab sie sich einen Ruck. Nein, es gab keine andere Lösung für sie. Sie musste es einfach tun! Zielbewusst öffnete sie das Röhrchen und schüttete den kompletten Inhalt in ihr Glas. Danach füllte sie dieses mit dem restlichen Wein auf.

Nur ein leises Zischen war zu hören, als sich die Tabletten in der Flüssigkeit aufzulösen begannen. Als dies nach wenigen Minuten vollständig geschehen war, nahm sie das Glas beherzt in die Hand und führte es, ohne dabei an irgendetwas zu denken, zum Mund, um es in einem Zug zu leeren.

Nun hatte sie es also tatsächlich hinter sich gebracht. Es gab kein Zurück mehr!

Entspannt lehnte sie sich auf dem Sofa zurück. Schon bald verspürte sie ein angenehm wohliges Gefühl, dass sich in ihrem Körper ausbreitete. Die plötzlich einsetzende Schläfrigkeit sorgte dafür, dass ihre Augenlider immer schwerer wurden.

Ein letztes Mal in ihrem Leben musste sie an ihn denken. Wer würde ihm wohl von ihrem Schritt berichten und wie würde er darauf reagieren? Würde er überhaupt jemals davon erfahren?

Noch einmal versuchte sie sich an das unnachahmlich schöne Gefühl zurückzuerinnern, wie es seinerzeit gewesen war, wenn er sie zärtlich in den Arm genommen und geküsst hatte. Mit dem letzten inneren Aufbäumen gelang es ihr, sich nochmals sein Gesicht vor Augen zu führen. Dann schwanden ihr die Sinne.

1

Vorsichtig fuhr Richard Bruns durch die enge Zufahrt von der Hans-Retzlaff-Straße auf den Schotter des Parkplatzes. Obwohl die meisten der Stellplätze bereits mit Autos belegt waren, fand er schnell noch einen Ort, an dem er den Mercedes für die nächsten sieben Tage zurücklassen konnte.

Zuvor hatte er Karin zusammen mit dem Gepäck in der Nähe der Rettungsstation in Sahlenburg abgesetzt, wo sie auf ihn warten wollte, bis er zu Fuß zurückgekehrt war.

Noch immer konnte er es nicht glauben. Beinahe seit einem dreiviertel Jahr waren sie beide mittlerweile ein Paar!

Damals hatte jemand auf der Insel Neuwerk versucht, Karins komplette Familie auszulöschen. Ihre Geschwister und sie waren in jenen Tagen auf der Insel zusammengekommen, um ihren kurz zuvor verstorbenen Vater beizusetzen. Dabei war die Familie zu diesem Zeitpunkt untereinander völlig zerstritten gewesen.

Nach den schrecklichen Geschehnissen war ihr lediglich noch ein Bruder geblieben, der wie sie das furchtbare Gemetzel überlebt hatte.

Bruns war nach dem ersten Mord an einem Bruder Karins in seiner Eigenschaft als Kriminalhauptkommissar des Landeskriminalamtes Hamburg nach Neuwerk beordert worden, wo er unter widrigsten Wetterbedingungen schließlich den Mordfall aufklären konnte. Die Zuständigkeit der Hamburger Behörden erklärte sich darin, dass die Insel verwaltungstechnisch seit vielen Jahrhunderten zur Hansestadt gehörte.

Im Zuge seiner Ermittlungen hatte er die einzige Tochter des Bankiers Ludwig Godeffroys kennengelernt, die, wie er selbst, seinerzeit ebenfalls im Leuchtturm untergebracht war. Da er nicht als befangen gelten wollte, hatte er sich anfangs nicht eingestehen dürfen, welche Anziehungskraft sie vom ersten Augenblick an auf ihn ausgeübt hatte, obwohl sie ihrerseits ziemlich offen ihr Interesse an ihm signalisiert hatte.

Nach Abschluss des Falles hatten sich ihre Wege zunächst getrennt. Während sie zu ihrem Zuhause nach Stuttgart zurückgereist war, hatte er in Hamburg wieder seine Arbeit aufgenommen. Für eine kurze Zeit hatten sie sich aus den Augen verloren und Bruns befürchtete in dieser Zeit schon, Karin niemals wiederzusehen.

Doch schon bald darauf, nachdem sie endgültig in ihre alte Heimat Hamburg zurückgekehrt war, um gemeinsam mit ihrem Bruder das familieneigene Bankhaus weiterzuführen, hatte sie sich zu seinem Erstaunen telefonisch bei ihm gemeldet.

Noch heute musste Bruns über sich selbst schmunzeln, wenn er an seine freudige Reaktion dachte, als er zu seiner Verblüffung ihre Nummer auf seinem Display erkannt hatte. Sie ihrerseits hatte ihre Vorfreude nicht zu verhehlen versucht, als sie ihn ganz direkt gefragt hatte, ob sein Angebot, ihr nach den vielen Jahren ihrer Abwesenheit Hamburg zeigen zu wollen, noch immer gelte.

Noch am selben Tag hatten sie sich getroffen und einen wundervollen Abend miteinander verbracht. Am Ende war sie mit ihm zu seiner Wohnung gefahren, um dort das auf Neuwerk Versäumte nachzuholen und die Nacht mit ihm zu verbringen. Danach war er sich sofort darüber im Klaren gewesen, dass es in Zukunft keine andere Frau mehr für ihn geben würde, die auch nur annähernd eine solche Anziehungskraft auf ihn auszuüben vermochte wie Karin.

Bevor sie sich seinerzeit erstmalig begegnet waren, hatte ihr Vorleben durchaus einige Parallelen aufzuweisen gehabt. Sowohl Karin als auch er hatten in der Vergangenheit ihre Enttäuschungen erlebt und waren von ihren jeweiligen Ehepartnern geschieden.

Dennoch hatte am Anfang eigentlich alles gegen sie gesprochen. Karin war mit dem entsprechenden Schuhwerk ausgestattet, beinahe einen halben Kopf größer als er und nach dem Tod ihres Vaters vielfache Millionärin, während er wegen der Unterhaltszahlungen für seine beiden Töchter stets knapp bei Kasse war.

Doch weder die Standesunterschiede zwischen ihnen noch das Gerede anderer Leute, die sie oft als ungleiches Paar wahrnahmen, hatten sie seitdem gestört. Sie strahlten auf die Menschen in ihrem Umfeld das Glück frisch verliebter Teenager aus, wenn sie sich zusammen sehen ließen.

Inzwischen bewohnten sie eine gemeinsame Wohnung in Hamburgs bester Citylage, in die Bruns´ Töchter regelmäßig auf einen Kaffee oder zum Essen vorbeischauten. Jasmin und Kathrin hatten sich sehr für ihren Vater gefreut, als er ihnen eines Tages Karin vorstellte und verstanden sich sofort prächtig mit ihr.

Einige Wochen zuvor hatte Karin Bruns eines Abends sehr zu dessen Erstaunen vorgeschlagen, ihren gemeinsamen Urlaub im Juni auf Neuwerk zu verbringen. Sie hatte ihren Wunsch damit begründet, sich Gedanken um die Renovierung des Ferienhäuschens machen zu wollen, das ihr Großvater einst kurz nach dem Krieg erworben hatte.

„Bist du dir denn auch wirklich sicher, ausgerechnet dorthin zu wollen?“, hatte sich Bruns vorsichtig bei ihr erkundigt. „Immerhin wurden deine beiden Brüder und deine Schwägerin auf der Insel umgebracht. Du verbindest doch Schreckliches mit diesem Ort!“

„Mir ist natürlich bewusst, dass die Erinnerungen an die grauenvollen Ereignisse des letzten Jahres auf Neuwerk gleich wieder aufkommen werden, sobald ich die Insel betrete. Doch ich kann ja nicht auf ewig vor meiner Vergangenheit davonlaufen, sondern muss mich ihr stellen. Schließlich habe ich in meiner Kindheit wunderschöne Zeiten auf der Insel erlebt! Außerdem habe ich ja immer noch dich an meiner Seite, falls es mir dort elend gehen sollte. Und letztlich haben wir beide uns ja auf der Insel kennengelernt, was doch immerhin einen nicht unerheblichen zusätzlichen positiven Aspekt darstellt.“

„Glaub mir, das war der beste Moment meines Lebens!“

Sie hatte kurz gezögert, bevor sie leise vorbrachte:

„Da wäre noch etwas … Ich möchte endlich meinen ersten Bernsteinfund machen! ´Du wirst nicht den Bernstein finden, sondern der Bernstein findet dich!´ wurde mir als Kind immer eingebläut, wenn ich wieder einmal erfolglos im Watt gesucht hatte. Nun, mich hat er im Gegensatz zu meinen Geschwistern nie gefunden, wie ich dir gestehen muss, mein Liebling.“

Bruns hatte daraufhin laut lachen müssen. „Also gut, wenn du wirklich meinst. Unter diesen Umständen habe ich als dein Partner ja geradezu die Pflicht, dir bei der Überwindung deines Kindheitstraumas zur Seite zu stehen! Und abgesehen von den schlimmen Vorfällen im letzten Jahr hat mir Neuwerk ja wunderbar gefallen, wie ich gerne zugebe. ´Wer einmal auf Neuwerk war, fährt entweder nie mehr oder immer wieder dorthin´, wurde mir bei meinem Aufenthalt auf der Insel erklärt. Da ich mich eindeutig in die zweite Kategorie einordnen würde, wäre es mir eine große Freude, dieses herrliche Fleckchen Erde gemeinsam mit dir zu besuchen!“

Mit einigen Zwei-Euro-Münzen, die er in den letzten Tagen ganz bewusst zurückgelegt hatte, entrichtete er am Automaten die fällige Gebühr und hinterlegte den Parkschein gut sichtbar auf dem Armaturenbrett seines Wagens. Dann machte er sich schleunigst auf den nur wenige hundert Meter langen Fußweg zum Sahlenburger Strand.

Schon von weitem entdeckte er Karin, die mit zwei Bechern in der Hand nach ihm Ausschau hielt. Er musste schmunzeln. Seine Partnerin war einfach wunderbar und dachte wirklich an alles! Ein Kaffee würde ihnen beiden jetzt wirklich guttun.

Eigentlich hatten sie vor der Kutschfahrt zur Insel noch in einem gemütlichen Café am Strand frühstücken wollen, welches um acht Uhr öffnete. Doch die Gezeiten hatten ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Da die Abfahrt des Wattwagens an diesem Tag tidebedingt ebenfalls bereits für acht Uhr angesetzt war, hatten sie entsprechend früh aufstehen und auch auf ein Frühstück zu Hause verzichten müssen. Unterwegs hatten sie nur eine kurze Pause gemacht, die Karin dazu genutzt hatte, um eine Zigarette zu rauchen.

Als er sie erreicht hatte, gab sie ihm einen Kuss und überreichte ihm seinen Becher, den er dankbar entgegennahm. Vorsichtig nahm er einen Schluck des heißen Getränks und warf danach einen Blick auf seine Armbanduhr.

„Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis die Wagen von der Insel eintreffen. Ich bin sehr gespannt, ob Frau Temming uns wirklich chauffieren wird.“

Bei ihrer Anreise nach Neuwerk im vergangenen Jahr war Karin von Frauke Temming gefahren worden. Auch Richard Bruns hatte sie im Zuge seiner Mordermittlungen kennengelernt. Als er vor einigen Tagen im Hotel Kapitäns Hus angerufen und das Frühstück für sie am Anreisetag nachgebucht hatte, hatte er sich bei dieser Gelegenheit danach erkundigt, ob sie zufällig von der sympathischen Kutscherin gefahren werden würden. Sehr zu seiner Freude hatte man ihm dies zugesagt.

Es dauerte nicht lange, bis das Getrampel von Pferdehufen zu hören war und die ersten Wattwagen den Strand hochgefahren kamen, um im Anschluss den kleinen Deich zu überqueren und sich dann auf dem Platz hinter der Rettungsstation zu sammeln.

Bruns hatte Frauke gleich erkannt. Sie saß vorn auf der Sitzbank des vierten Wagens und lenkte ihre beiden Zugpferde geschickt durch die enge Zufahrt hinter das Gebäude. Dort angekommen, zog sie die Handbremse des Wagens an, stieg nach vorn von der Kutsche ab und zog mit geübten Handgriffen rasch eine Leiter unter dem Gefährt hervor, die sie an der Seitenwand anlehnte. Anschließend war sie den aussteigenden Fahrgästen behilflich, deren Urlaub auf der Insel damit beendet war.

Nachdem sie auch das Gepäck ihrer Passagiere heruntergereicht hatte, sah sie sich suchend auf dem Platz um und entdeckte dabei schon bald Bruns, der sich ihr inzwischen mit ihren Koffern genähert hatte.

„Moin, Herr Hauptkommissar“, rief sie erfreut. „Schön, Sie wiederzusehen. Neuwerk scheint Ihnen ja im letzten Jahr trotz der misslichen Umstände sehr gefallen zu haben. Ich war ehrlich gesagt einigermaßen überrascht, als mir Ihr Name durchgegeben wurde. Noch erstaunter war ich allerdings, als ich …“

Karin war mittlerweile ebenfalls nähergekommen und berührte kurz den Oberarm ihres Partners, bevor sie Frauke begrüßte:

„Hallo Frau Temming. Wir beide haben uns im Vorfeld gefragt, ob Sie es wohl sein würden, die uns zur Insel hinüberfährt. Offensichtlich wurde unser Wunsch bei den Planungen ihres Hauses berücksichtigt.“

Damit gab sie Frauke die Hand, die diese irritiert schüttelte. Auch Bruns, der bis jetzt noch nicht zu Wort gekommen war, begrüßte sie nun herzlich.

Nach dem Handschlag trat Frauke einen Schritt zurück und beäugte ihre beiden Fahrgäste forschend, ehe sie stockend fragte:

„Entschuldigen Sie meine Neugier, aber sind Sie beide etwa … ich meine …?“

„Sie meinen, ob wir zusammen sind?“, erlöste Karin sie schmunzelnd. „Ja, das sind wir allerdings! Nachdem ich im letzten Jahr von Stuttgart nach Hamburg gezogen war, haben sich unsere Wege nicht ganz zufällig erneut gekreuzt, woraufhin wir schnell ein Paar wurden.“

„Streng genommen hat dies sogar nur wenige Stunden gedauert“, ergänzte Bruns und brachte die Runde damit herzhaft zum Lachen.

„Inzwischen sind wir bereits verlobt und werden im nächsten Jahr heiraten“, berichtete Karin voller Stolz, nachdem sich alle wieder beruhigt hatten.

„Oh, meinen herzlichen Glückwunsch! Ich freue mich sehr für Sie beide“, erwiderte daraufhin die Kutscherin. „Auch, dass Sie trotz der schrecklichen Ereignisse im letzten Jahr wieder zu uns auf die Insel kommen, Frau Wöhrle.“

„Ich habe mir fest vorgenommen, in den nächsten Tagen sämtliche Orte aufzusuchen, an denen ich damals meine beiden Brüder und meine Schwägerin verlor“, entgegnete diese. „Das Badehaus, der Friedhof der Namenlosen und das Kapitäns Hus, in dem wir sogar untergebracht sein werden. Dazu der Leuchtturm, in dem Richard und ich …“

„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche“, fiel ihr Frauke ins Wort. „Aber das Badehaus wurde schon bald nach Ihrer Abreise im letzten Jahr wegen Baufälligkeit abgerissen. Und der Leuchtturm ist derzeit gesperrt, weil er saniert werden soll. Es wird mit bis zu drei Jahren Bauzeit gerechnet ...“

„Oh, das ist aber schade. Ich hatte mich so auf die herrliche Aussicht von dort oben gefreut …“

Bruns nahm Karin tröstend in den Arm und erklärte Frauke:

„Nun, der Leuchtturm ist der einzige Ort in Karins Aufzählung, der ausschließlich positive Erinnerungen in uns weckt. Immerhin waren wir seinerzeit beide dort einquartiert und sind uns auf dem Flur das erste Mal begegnet.“

„Ah, ich verstehe“, meinte Frauke mit einem breiten Grinsen im Gesicht, welches Karin rot anlaufen ließ. „Aber wir sollten uns langsam für die Abfahrt bereit machen. Ich glaube, meine Kollegen warten schon auf uns.“

In der Tat waren die anderen Wagen inzwischen bereits mit neuen Fahrgästen besetzt. Auch auf Fraukes Kutsche saßen schon mehrere gut gelaunte Urlauber auf den beiden hinteren Bänken. Nachdem Bruns rasch ihr Gepäck aufgeladen hatte, nahmen Karin und er auf der vorderen Sitzbank neben der Wagenlenkerin Platz.

Es bedurfte nur eines leisen Zungenschnalzens Fraukes, um die Pferde in Bewegung zu setzen. Mit geschickten Bewegungen reihte sie ihr Gespann in die kleine Kolonne der Wattwagen ein, die sich auf den Weg zurück zur Insel machte.

Nachdem der Untergrund bald danach vom hellen Sand des Sahlenburger Strandes in den grauen Matsch der Wattlandschaft gewechselt hatte, tauschte Bruns mit seiner Verlobten einen hastigen Blick aus und beugte sich anschließend zu Frauke herüber:

„Fast hätten wir es vergessen. Sie waren ja im vergangenen Jahr an der Auflösung des Falles nicht gänzlich unbeteiligt. Karin und ich sind der Meinung, dass wir bei dieser Gelegenheit einander ausreichend schätzen gelernt haben. Wenn Sie einverstanden sind, würden wir uns darum gerne mit Ihnen duzen. Wäre das okay für Sie?“

Beide sahen Frauke nach diesen Worten erwartungsvoll an und hielten ihr jeweils die rechte Hand entgegen. Bruns zeigte mit der anderen Hand zuerst auf seine Partnerin und danach auf sich selbst, als er noch schnell ergänzte:

„Meine Verlobte heißt übrigens Karin und mein Name ist Richard.“

Erfreut schlug die Kutscherin ein.

„Abgemacht! Dann bin ich ab jetzt für euch Frauke.“

2

Angesichts der Temperaturen an diesem Tag war die Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes ausgesprochen schweißtreibend.

Bereits seit Dienstbeginn am frühen Morgen schnitten Arie Jong und sein Kollege Volker Lüdtke das Gehölz zurück, das am Rande eines unbefestigten Weges stand und diesen mit seinem Geäst zunehmend eingeengt hatte. Da diese Strecke auch von den mit Tagesgästen besetzten Wattwagen des Neuwerk Hus befahren wurde, mussten Zweige und dünnere Äste von Zeit zu Zeit gestutzt werden, damit die Durchfahrt der Kutschen weiterhin bedenkenlos gewährleistet werden konnte.

Die beiden Arbeiter der HHB, der Hamburger Hafenbehörde, befanden sich inmitten einer weiten Fläche von grünen Wiesen westlich des Leuchtturms auf Neuwerk. An der nordwestlichen Ecke der Turmwurt begann der schmale Pfad, der sich am hübsch anzusehenden Häuschen der Malerin Silke Höllerich vorbeischlängelte, um nach einigen Hundert Metern schließlich irgendwo zwischen dem Neuwerk Hus und dem Schulgebäude am kreuzenden Blüsenpfad zu enden.

Als die Sonne im Laufe des Vormittages immer höher stieg und ihnen unbarmherzig auf der Haut brannte, tippte Jong seinem Kollegen, der sich gerade mit einer Motorsäge an einigen dickeren Zweigen zu schaffen machte, auf die Schulter und bedeutete ihm, sein Arbeitsgerät für einen Augenblick abzustellen.

Nachdem Lüdtke dieser Aufforderung nachgekommen war, meinte Jong:

„Meine Kehle ist knochentrocken! Was hältst du davon, ein schattiges Plätzchen aufzusuchen, dort eine kurze Pause zu machen und dabei einen Schluck Wasser zu trinken?“

Bei seinen Worten hatte er mit der rechten Hand auf die Turmwurt gezeigt. Unmittelbar neben deren Deich war viele Jahrzehnte zuvor ein kleiner Wald angelegt worden, dessen hohe Bäume angenehmen Schatten zu spenden versprachen.

Lüdtke brauchte nicht lange überredet zu werden. Auch ihm rann der Schweiß nur so von der Stirn. Erleichtert legte er die Motorsäge zur Seite und griff nach der Kühltasche, in dem sie ihre Getränkeflaschen mitführten, um sich derart ausgestattet gemeinsam mit seinem Kollegen auf den Weg zu machen.

Beide Männer waren schon seit vielen Jahren bei der HHB beschäftigt. Die Hamburger Hafenbehörde war neben der Versorgung Neuwerks mit Frischwasser und Heizöl, der Abwasserentsorgung und dem Küstenschutz sowie dem Betrieb des Leuchtfeuers und der Markierung der Wattwege auch für die Pflege der Grünanlagen zuständig. In den Sommermonaten waren ständig 12 Mitarbeiter auf der Insel, die in Schichten von jeweils zehn Tagen arbeiteten, um im Anschluss für die darauffolgenden zehn Tage ihre Freizeit auf dem Festland genießen zu können. Untergebracht waren die Beschäftigten der HHB in der betriebseigenen Unterkunft in der Nähe des Leuchtturms.

Gerade Jong, der gebürtig aus den Niederlanden stammte und lange im hektischen Duisburg gelebt hatte, wusste die Ruhe und Entspannung, die Neuwerk zu bieten hat, sehr zu schätzen.

„Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so heißen Juni auf der Insel erlebt zu haben“, stöhnte er, während er den Verschluss seiner Wasserflasche aufdrehte.

Nach den vielen Jahren in Deutschland war ihm der niederländische Akzent längst nicht mehr anzuhören. Die Männer hatten sich auf einer Bank an einer kleinen Wegkreuzung niedergelassen. In ihrem Rücken führte ein mit Klinkerpflaster ausgelegter Pfad schräg über den Deich auf den Leuchtturm zu, während sich der direkt vor ihnen befindende und davor östlich um die Turmwurt geleitete Mittelweg bis zum nördlichen Deichabschnitt erstreckte. Eine zweiarmige Laterne zierte die in Dreiecksform ausgeführte Verkehrsinsel der kleinen Kreuzung.

„Jetzt übertreibst du aber“, protestierte Lüdtke und nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche. „Solche heißen Junitage hatten wir in den letzten Jahren doch schon häufiger. Schon mal was vom Klimawandel gehört?“

Jong gab sich geschlagen. „Okay, du hast ja recht. Aber anstrengend ist das Arbeiten heute trotzdem! Immerhin können wir uns später auf den Feierabend freuen, denn heute soll es ja ein frisches Bratwürstchen vom Grill geben.“

„Stimmt, das hätte ich fast vergessen! Eine leckere Wurst und dazu ein kühles Bier. Das wird schmecken!“

Einige Tage zuvor hatte ihr Kollege Hoppe, der an diesem Tag zum Küchendienst eingeteilt war, angesichts des sommerlichen Wetters angeregt, an diesem Abend im Innenhof des HHB-Gebäudes gemeinsam zu grillen. Sein Vorschlag war von der übrigen Belegschaft sofort begeistert aufgenommen worden. Am nächsten Morgen wurde gleich die entsprechende Bestellung aufgegeben. Im Laufe des heutigen Vormittags sollte das Fleisch zusammen mit weiterem Proviant und den Getränkekisten vom Festland geliefert werden.

„Hoffen wir, dass Hoppe auch genügend Bier in den Kühlschrank legt“, meinte Jong. „Bei diesen Temperaturen werde ich heute Abend bestimmt einen gewaltigen Durst haben.“ „Da habe ich keinerlei Bedenken“, erwiderte sein Kollege schmunzelnd. „Ihm selbst wird es ja schließlich nicht besser ergehen als uns!“

Beide Männer zündeten sich eine Zigarette an. Gegenüber näherte sich eine Gruppe von vier etwa dreißigjährigen Frauen, die die Turmwurt umgangen hatten und nach kurzer Diskussion weiter dem Mittelweg folgten. Lüdtke sah ihnen mit verträumtem Blick hinterher.

„Heute müsste man jung sein …“, ließ er nach einiger Zeit schwärmerisch verlauten.

„Das sollte deine Silvia aber besser nicht hören“, kommentierte Jong.

„Was du immer gleich hast“, wehrte sich Lüdtke. „Das sagst du doch nur, weil du dich in deinem Alter nicht mehr für Frauen interessierst. Ich jedenfalls habe nirgendwo unterschrieben, dass ich nicht hin und wieder mal einen Blick riskieren darf, als ich Silvia damals heiratete. Wer weiß, was sie so alles hinter meinem Rücken treibt?“

„Na, du musst es ja wissen …“

Auf einmal meinte Jong, von hinten leise Schritte zu hören, die sich ihnen näherten. Instinktiv sah er sich um. Tatsächlich war dort ein Mann zu sehen, der auf dem abschüssigen Pfad vom Leuchtturm her direkt auf sie zukam. Da er sich offensichtlich sehr für seine Umgebung zu interessieren schien und sich während des Gehens aufmerksam nach links und rechts umsah, bemerkte er die HHB-Beschäftigten auf der Bank zunächst nicht. Erst als sich Lüdtke bückte, um seine Flasche laut polternd in die Kühltasche zurückfallen zu lassen, nahm er die beiden Männer wahr.

Jong, der sein Gesicht noch immer dem Fremden zugewandt hatte, wollte gerade zu einem freundlichen Gruß ansetzen, als er plötzlich dessen unheimlichen Blick bemerkte. Nachdem er die beiden Arbeiter bemerkt hatte, hatte der Mann nämlich abrupt in seinen Bewegungen innegehalten und starrte Jong unverhohlen an.

Ohne den Grund dafür benennen zu können, fühlte sich Jong auf einmal ausgesprochen unwohl in seiner Haut. Die eiskalt funkelnden Augen des Fremden klebten förmlich auf seinem Gesicht. Ihm lief ein frostiger Schauer über den Rücken.

„Was meinst du, wollen wir weitermachen?“, fragte Lüdtke unversehens wie aus weiter Ferne.

Der eisige Blick des Mannes hatte Jong mittlerweile völlig verwirrt. Für einen kurzen Moment fühlte er sich außerstande, seinem Kollegen eine Antwort zu geben. Es dauerte einen Moment, bis er seinen Blick von dem Unbekannten lösen und sich Lüdtke zuwenden konnte, dem er hastig antwortete:

„Äh … ja, natürlich.“

Scheinbar hatte Lüdtke nichts von dieser skurrilen Situation mitbekommen. Jong hingegen hatte beim Anblick des Mannes eine seltsame Unruhe ergriffen.

Als er seinen Kopf noch einmal nach hinten drehte, um abermals nach dem geheimnisvollen Fremden zu sehen, hatte sich dieser bereits einige Meter von ihnen entfernt. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er schnurstracks denselben Weg zurück, auf dem er gekommen war.

3

„Füllst du noch rasch die Kühlschränke auf?“, bat Rolf Dewenter seine Lebensgefährtin Marianne Jürgens und stellte dabei zwei Kisten mit Getränken auf dem Boden des kleinen Verkaufsraumes ab. „Ich würde dann schon mal das Leergut sortieren.“

„Na klar, mache ich“, antwortete sie und öffnete auch schon die Tür des ersten Kühlschranks, um mit schnellen Bewegungen die Flaschen aus den Kisten hineinzustellen.

„Wenn ich fertig bin, möchte ich noch einen Blick in die Regenrinnen werfen“, rief er ihr beim Hinausgehen noch zu. „Die sind beim letzten Schauer wohl übergelaufen, berichtete mir Werner. Ich habe ihm versprochen, die Dachtraufen vom Dreck zu befreien, damit das Wasser wieder ablaufen kann.“

„Ist in Ordnung, mein Schatz!“, erwiderte sie.

Eigentlich lebte das Paar in einem kleinen Dorf in der Nähe von Wolfsburg, wo Dewenter als Hausmeister an einer Schule beschäftigt war. Doch seit mittlerweile über dreißig Jahren verbrachten sie ihre gemeinsamen Sommerurlaube schon auf Neuwerk. Die Insel war mit vielen schönen Kindheitserinnerungen für Marianne Jürgens verbunden, weil sie in jungen Jahren häufig mit ihren Eltern hier gewesen war.

Nachdem sie sich beide später gefunden hatten, hatte Dewenter irgendwann ihrem Drängen nachgegeben, ein paar Tage auf der Insel zu verbringen. Der daraufhin gebuchte Kurzurlaub hatte schon ausgereicht, um ihn vom Erholungswert Neuwerks zu überzeugen.

Von Anfang an hatte er die frische Meeresluft, die freundlichen Menschen und die Entschleunigung, die er hier fand, zu schätzen gewusst. Seitdem kamen sie mehrmals im Jahr her und blieben dann meist für zwei Wochen.

Im Laufe der Jahre hatte sich ein freundschaftliches Verhältnis zu Rommy und Werner Nickel entwickelt, die den kleinen Kaufladen im Schatten des Leuchtturms betrieben. Da die beiden mittlerweile längst das Rentenalter erreicht hatten, waren sie über jede Hilfe dankbar, die sie von Dewenter und seiner Lebensgefährtin bekamen.

Der Platz vor dem Gebäude, in dem einst der Leuchtturmwärter mit seiner Familie gelebt hatte, war inzwischen fast vollständig verwaist. Noch eine Stunde zuvor hatten zahlreiche Tagestouristen die Tischgruppen unter den Sonnenschirmen bevölkert, um sich zu stärken und sich bei dieser Gelegenheit im Laden gleich mit einem Souvenir von der Insel einzudecken.

Erst am Abend war an diesem Tag mit einem weiteren Ansturm der Tagesgäste zu rechnen, denn der heutige Tag barg eine Besonderheit: Das erste Niedrigwasser war bereits am frühen Morgen gewesen. Somit konnten die zahlreichen Pferdewagen des Festlandes am frühen Abend noch bei Tageslicht das Watt ein zweites Mal passieren, um weitere Besucher für kurze Zeit auf die Insel und anschließend wieder zurückzubringen.

Die Aussicht auf den zusätzlichen Umsatz, den diese Doppeltide in Aussicht stellte, wollte sich das Inselkaufmannspaar natürlich nicht entgehen lassen. Dabei würden sie wieder auf ihre Freunde zählen können, die ab dem späten Nachmittag erneut die körperlich anstrengenden Tätigkeiten für sie erledigen würden. Gerade in diesen Tagen wusste Nickel die Unterstützung des Paares sehr zu schätzen, denn seine Frau hatte sich eine üble Erkältung eingefangen und lag mit Fieber im Bett.

Als Gegenleistung für ihr Engagement ließ der Kaufmann Marianne Jürgens und Rolf Dewenter schon seit langem in seinem Wohnwagen übernachten, der auf dem Gelände hinter den Stallungen des Hus am Hafen seinen Standplatz hatte. Das Paar konnte sich auf diese Weise die Kosten für die Unterkunft in einem der Hotels sparen.

Dewenter war inzwischen mit dem Auffüllen der leeren Kisten mit Pfandflaschen fertig und hatte diese ordentlich aufeinandergestapelt. In wenigen Tagen würde ein Traktor mit Anhänger vorfahren, dessen Fahrer das Leergut abholen und nach der Fahrt über das Watt in Sahlenburg gegen volle Kisten austauschen würde. Befriedigt sah er sich noch einmal prüfend um und verließ im Anschluss den kleinen Bretterverschlag, in dem das Lager des Ladens untergebracht war.

Als er die Tür gerade hinter sich abschließen wollte, fiel ihm ein Mann auf, der hinter dem Toilettenhäuschen hervorkam. Das kleine Gebäude, das einst als Schule erbaut und gleichzeitig als Kapelle genutzt worden war, stand in unmittelbarer Nähe zum Leuchtturm. Über einen gepflasterten Pfad, der dort über den Turmdeich führte, konnte man auf den Mittelweg gelangen.

Der Fremde erregte seine Neugier, weil er im Gegensatz zu allen anderen Besuchern der Insel ein auffallend grimmiges Gesicht zog. Er hatte den Mann am Vortag schon einmal gesehen, als dieser einen Kaffee bei Werner getrunken hatte.

´Nanu, welche Laus ist dem denn über die Leber gelaufen?´, fragte er sich verwundert.

Am Tag zuvor war die Laune des Inselbesuchers noch wesentlich besser gewesen, denn da hatte er sich an einem der Tische angeregt mit den anderen Urlaubern unterhalten.

Trotz dessen verdrießlicher Mimik grüßte er den Vorübergehenden mit einem freundlichen „Moin“.

Doch der Mann schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Wie in Trance ging er an ihm vorbei, offenbar, ohne ihn überhaupt wahrzunehmen.

Dewenter hatte auf einmal ein ganz seltsames Gefühl. Beim Anblick dieser unheimlichen Person fröstelte es ihn seltsamerweise plötzlich.

Am Ende des Platzes verschwand der Fremde hinter der Vogtscheune, durchquerte danach die Deichscharte, um sich schließlich in südliche Richtung zu wenden.

Dewenter, der ihm kopfschüttelnd hinterhergesehen und mit einem Blick hinter dem Turmdeich überprüft hatte, ob es dort etwas Besonderes zu sehen gab, erschrak, als Marianne, die zwischenzeitlich unbemerkt neben ihn getreten war, ihn völlig unerwartet ansprach:

„Was ist denn auf einmal mit dir los, Rolf? Du siehst ja aus, als sei dir ein Gespenst begegnet!“

Der Angesprochene brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln. Dann erwiderte er:

„Merkwürdig! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich jetzt glatt behaupten, ich hätte gerade tatsächlich eines gesehen ...“

4

„Da wären wir auch schon“, rief Frauke Temming ihren Fahrgästen gut gelaunt zu.

Mit geschickten Kommandos brachte sie die beiden Zugpferde dazu, mit dem Wattwagen genau vor dem Eingang zum Kapitäns Hus zum Halten zu kommen. Rasch stieg sie über die Deichsel vom Wagen, um ihren Fahrgästen anschließend beim Ausstieg behilflich sein zu können.

Als Bruns schließlich ihr Gepäck in den Händen hielt, verabredeten Karin und er mit Frauke, sich an einem der nächsten Tage zum Abendessen zu treffen.

Zum Abschied winkte diese ihnen noch einmal freundlich zu, bevor sich ihr Gespann wieder in Bewegung setzte. Frauke brauchte gleich hinter dem Kapitäns Hus nur noch eine scharfe Rechtskurve zu nehmen, um schon fast am Hus am Hafen angelangt zu sein, in dem sie als Pferdepflegerin angestellt war. Dort würde sie die Pferde ausspannen und danach auf ihre Weide führen.

Die Außenterrasse des Kapitäns Hus war mit einigen Gästen besetzt, die in der schönen Morgensonne ihr Frühstück genossen.

Bevor sie in das Restaurant gingen, nahm Bruns seine Partnerin fürsorglich in den Arm. „Liebling, bist du dir auch wirklich ganz sicher, dass du in diesem Hotel übernachten willst? Ich meine, wir könnten zur Not immer noch …“

Im September des vorigen Jahres war im Kapitäns Hus Karins ältester Bruder Johannes nach einem gemeinsamen Abendessen der Familie vergiftet worden. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass dies nur der Auftakt zu einer ganzen Serie von Morden an ihrer Familie sein sollte.

„Nein, ich will in keines der anderen Häuser!“, erwiderte sie entschieden und machte sich von ihm frei. „Du weißt, ich möchte über die damaligen Ereignisse hinwegkommen und will deshalb in deiner Begleitung noch heute ganz bewusst all die Orte aufsuchen, an denen Johannes, Frederick und Luisa umgebracht wurden. Lass uns also hineingehen und einchecken. Außerdem habe ich inzwischen riesigen Appetit auf eine herzhafte Mahlzeit! Das Einzige, worum ich dich bitte, ist, in meiner Nähe zu bleiben, wenn ich gleich den verhängnisvollen Tisch wiedersehe.“

Er gab ihr schnell einen Kuss auf die Wange und versicherte ihr dabei:

„Selbstverständlich werde ich dich nicht aus den Augen lassen und auf dich achtgeben!“

Dann öffnete er ihr die Tür und folgte ihr anschließend mit den Koffern in der Hand in das Innere des Lokals. Ehe sie dort jedoch vom Hausherrn Hein Witt begrüßt werden konnten, warf Karin bereits einen bedrückten Blick auf den Ort, an dem Johannes seinerzeit urplötzlich zusammengebrochen und kurz danach verstorben war.

Bruns trat leise hinter sie und hielt sie an den Schultern, nachdem er das Gepäck abgestellt hatte.

„Komm Liebling, lass uns unser Zimmer beziehen“, flüsterte er ihr dabei leise ins Ohr.

Wortlos drehte sie sich zu ihm um und ließ sich von ihm umarmen. Danach wischte er ihr vorsichtig eine Träne aus dem Gesicht.

„Bist du okay?“, fragte er anschließend.

„Ja, es geht schon wieder“, erwiderte sie. „Bitte entschuldige, aber für einen Moment drohten die Erinnerungen mich zu übermannen. Doch ich habe mir fest vorgenommen, während unseres Aufenthaltes auf der Insel mit diesem furchtbaren Kapitel meines Lebens für immer abzuschließen. Also muss ich da jetzt durch!“

„Moin Frau Wöhrle, hallo Herr Bruns“, erklang es auf einmal hinter ihnen.

Hein Witt kam in Begleitung seiner Frau mit einem strahlenden Lächeln auf sie zu. Nacheinander gaben beide ihnen die Hand.

„Meine Gattin und ich haben uns wirklich sehr gefreut, als uns Ihre Zimmerbuchung übermittelt wurde und wir Ihre beiden Namen sahen.“ Er räusperte sich kurz verlegen, ehe er weitersprach: „Ich hoffe, uns ist bei der Bearbeitung kein Fehler unterlaufen, aber laut Mail wurde lediglich ein Doppelzimmer für Sie beide bestellt. Sollte dies nicht korrekt sein, bestünde immer noch die Möglichkeit …“

„Lassen Sie es gut sein, Herr Witt“, winkte Bruns schmunzelnd ab. „Ihre Unterlagen sind völlig in Ordnung. Genauso hatten wir in Ihrem Haus gebucht.“

Witt sah zuerst seine Frau und dann seine Gäste verwirrt an. Doch schon im nächsten Moment schien er das Gehörte richtig einzuordnen, denn auf seinem Gesicht zeigte sich auf einmal ein breites Grinsen, als er entgegnete:

„Na, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als Ihnen beiden zu gratulieren! Die schrecklichen Vorfälle im September scheinen zumindest auch etwas Gutes bewirkt zu haben. Ich freue mich sehr für Sie beide! Meine Frau Gisela wird Ihnen schnell Ihr Zimmer zeigen und Sie dann zu unserem Frühstücksbuffet führen.“

„Bitte folgen Sie mir, wir haben Sie im Erdgeschoss untergebracht“, sagte Gisela Witt mit einem freundlichen Lächeln und ging auch schon voran.

Ehe Karin und Bruns ihr nacheilen konnten, wurden sie von Witt noch kurz zurückgehalten.

„Ach Frau Wöhrle, bevor ich es vergesse: nochmals vielen Dank für den Verkauf der Weide. Wenn Sie in den nächsten Tagen mal etwas Zeit haben, möchte ich Ihnen gerne unsere Pläne für die Erweiterung des Hotels vorstellen. Natürlich nur, falls Sie daran interessiert sind.“

„Liebend gern“, antwortete Karin. „Wer weiß, vielleicht können wir uns bezüglich der Auftragsvergaben an die Handwerksfirmen sogar zusammenschließen, denn auch wir beabsichtigen einige Umbaumaßnahmen am Haus meines Großvaters.“

*

Eine junge Frau ging mit einem Eimer in der Hand an der Glasfront des Wintergartens vorbei. Sie öffnete das Gatter zur nebenliegenden Wiese und betrat den umzäunten Bereich. Ein einzelnes Pferd, das sich auf der anderen Seite der Pferdekoppel im Bereich des Mittelweges aufgehalten hatte, setzte sich daraufhin sogleich in Bewegung und kam auf seine Besitzerin zu galoppiert. Man konnte der braunen Stute die Freude über das Erscheinen der Frau geradezu ansehen! Nachdem sie ihre Besitzerin erreicht hatte, steckte sie ihr Maul gierig in den Behälter, in dem sich ihre morgendliche Ration Hafer zu befinden schien.

Karin und Bruns hatten es sich im Inneren gemütlich gemacht und betrachteten die Szene vergnügt, während sie ihr Frühstück genossen. Die Aussicht über die weiten Wiesen der Insel war aus dieser Perspektive einzigartig. In einiger Entfernung ragte die obere Hälfte des Leuchtturms aus den Bäumen. Im Osten zeigte sich das rot gedeckte Dach des Schullandheims Meeresbrise.

„Ich möchte noch heute einen Spaziergang über die Insel machen und dabei sowohl die Stelle, wo einmal das Badehaus gestanden hat, als auch den Friedhof der Namenlosen aufsuchen“, sagte Karin eben und schnitt mit ihrem Messer ein weiteres Brötchen auf.