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»Möglicherweise liebe ich diese Frau. Sie ist sanft und süß und gleichzeitig barsch und herrisch. Ein wandelnder Widerspruch.«
Lizzie ist es gewohnt, zu bekommen, was sie will. Und im Moment hätte sie gerne die unersetzlichen Erbstücke ihrer Familie zurück und trockenen Boden unter den Füßen. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn die Vampirin steckt auf einem Piratenschiff in Treshold fest, einer magischen Zwischenwelt. Zum Glück begegnet sie Maeve, einer Selkie, die Lizzie einen Deal anbietet: Wenn sie Maeve hilft, ihr Fell wiederzubekommen, hilft sie ihr dabei, ihre Juwelen zurückzukriegen und führt sie durch die fremde Welt wieder nach Hause. Das bei ihrem Pakt schnell echte Gefühle ins Spiel kommen ist bald Lizzies kleinstes Problem, denn ihnen ist eine gefährliche Piratenbande auf den Fersen ...
Band 2 der CRIMSON-SAILS-Reihe von Katee Robert
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Seitenzahl: 511
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
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Die Autorin
Die Romane von Katee Robert bei LYX
Impressum
Katee Robert
Blood on the Tide
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anika Klüver
Lizzie ist eine mächtige Vampirin und bekommt immer, was sie will. Und im Moment hätte sie gerne ihre unersetzlichen Familienerbstücke zurück und trockenen Boden unter den Füßen. Stattdessen steckt sie auf einem Piratenschiff in Threshold, einer magischen Zwischenwelt, fest. Und als wäre das nicht schon genug, wird sie auch noch in die Rebellion gegen die Cŵn Annwn hineingezogen, jene gefährliche Macht, die über alle Piratencrews in ganz Threshold herrscht. Doch Lizzie hat Glück im Unglück, denn sie trifft bei einer Rettungsmission auf Maeve, eine einheimische Selkie, der ihr Fell geraubt wurde. Die beiden Frauen erkennen schnell, dass sie ein gemeinsames Ziel verbindet: zurückholen, was ihnen genommen wurde. Lizzie verspricht Maeve, ihr dabei zu helfen, ihr Fell aufzuspüren, und im Gegenzug steht Maeve der Vampirin bei, ihre wertvollen Familienjuwelen wiederzubekommen und den Weg zurück nach Hause zu finden. Dass die wachsende Anziehungskraft zwischen ihnen bald schon gefährlicher als jedes Seeungeheuer, dem sie auf ihrer Reise begegnen, wird, ist schnell ihr kleinstes Problem – denn um ihre Ziele zu erreichen, müssen sie sich ausgerechnet mit den Cŵn Annwn anlegen …
Liebe Leser:innen,
Blood on the Tide enthält Elemente, die triggern können.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis
Euer LYX-Verlag
Für die Fans von Fluch der Karibik, die sich gewünscht haben, dass es mehr weibliche Figuren gegeben hätte und dass sich diese weiblichen Figuren ständig geküsst hätten.
Lizzie
In beinahe zweihundert Jahren habe ich mich nicht ein einziges Mal gefragt, wie lange es dauert, bis ein Vampir ertrinkt.
Nun ist das alles, woran ich denken kann.
Wir mögen so gut wie unsterblich sein, aber man kann uns töten. Es würde zwar deutlich länger dauern als bei einem Menschen, bis ich dem Mangel an Sauerstoff erläge, ich könnte jedoch nicht ewig durchhalten. Irgendwann würde mich das kalte Meer überwältigen und mich für immer in die Tiefen hinabziehen.
Düstere Gedanken. Makabre Gedanken. Es ist unmöglich, ihnen zu entkommen, während man auf einem Schiff segelt, das auf diesem gewaltigen Ozean kaum mehr als eine Nussschale ist. Wo immer ich auch hinschaue, sehe ich Wasser, das sich in allen Richtungen bis zum Horizont erstreckt. Ich schwöre, dass ich sogar in meiner Kajüte, die durch eine Art Taschendimensionsmagie geschützt ist, spüren kann, wie das Schiff mit jeder Welle, die wir erklimmen, schaukelt und schwankt.
Mich auf die Vorstellung des Ertrinkens zu konzentrieren, auf das Gefühl, das ich in diesem Moment habe und bei dem es sich ganz sicher nicht um Angst handelt, ist mir dennoch lieber, als über die Abfolge von Ereignissen nachzugrübeln, die mich nach Threshold geführt haben – genauer gesagt auf die Audacity, auf der ich nun mit meiner Exfreundin und der neuen Liebe ihres Lebens übers Meer segele.
Vor ein paar Monaten befand sich Evelyn noch in meinem Bett und himmelte mich an. Nun scheint sie nur noch Augen für diesen riesigen Mann zu haben, der jeden, der in ihre Nähe kommt, finster anstarrt. Ich kann nicht einmal seine Kampffähigkeiten bemängeln. Bowen ist ein mächtiger telekinetisch begabter Mensch, der nicht davor zurückschreckt, seine Magie einzusetzen, um Evelyn und die Besatzung zu verteidigen. Einen seiner Angriffe einzustecken, hat sich angefühlt, als hätte mich ein Sattelschlepper gerammt. Ich bin nicht erpicht darauf, diese Erfahrung zu wiederholen.
Doch wann immer ich mich herumdrehe, erwische ich mich dabei, wie ich die beiden mustere und all die kleinen Details analysiere, die verraten, wie extrem verliebt sie offensichtlich ineinander sind. Ich kann nicht umhin, es mit der Beziehung zu vergleichen, die Evelyn und ich miteinander geführt haben …, und stelle fest, dass es gar keine richtige Beziehung war. Mich hat sie nie so angeschaut. Mir war nicht einmal bewusst, dass ich wollte, dass sie mich so anschaut, und dann war die Möglichkeit auch schon wieder verschwunden, bevor mir klar war, was ich verloren hatte.
Das alles spielt keine Rolle. Das darf keine Rolle spielen. Es ist meine Bestimmung, einen anderen Blutlinienvampir aus unserer erweiterten Familie zu heiraten, damit wir miteinander Nachkommen zeugen können, um unsere Macht zu festigen und sicherzustellen, dass wir gegenüber den anderen Blutlinien nicht ins Hintertreffen geraten. Aktuell besteht diesbezüglich nur ein geringes Risiko, meine Mutter ist allerdings nicht zur mächtigsten Vampirin in unserem Reich geworden, indem sie sich auf ihren Lorbeeren ausgeruht hat. Sie wäre niemals damit zufrieden, dass ich mich mit einer Frau einlasse, ganz zu schweigen von einer menschlichen Frau. Hätte sie gewusst, dass ich mich mit Evelyn vergnügt habe, hätte sie sie auf der Stelle umgebracht.
»Widerwärtig, nicht wahr?«
Ich schaue nicht zum Steuer hinüber, wo Nox steht und sich lässig gegen das Geländer lehnt. They scheint sich ständig irgendwo lässig anzulehnen und their Körper auf jeder verfügbaren Oberfläche zu rekeln. Nox ist der Kapitän der Audacity und eine fürchterliche Nervensäge. They sieht zu viel und findet Vergnügen daran, wunde Punkte anzusprechen. They reckt das Kinn, und ich folge der Bewegung mit dem Blick zu Evelyn, die sich an Bowens Brust schmiegt und in seine Augen hinaufstarrt.
Das Engegefühl in meiner Brust, das nie ganz verschwindet, wird noch schlimmer. »Verzieh dich, Nox.«
»Lizzie, meine Liebe, irgendwann wirst du deinen Frieden damit machen müssen, dass du nur die zweite Wahl bist. Du könntest immer noch auf tragische Weise in meinem Bett landen. Die beste Methode, über eine ehemalige Partnerin hinwegzukommen, besteht darin, sich jemand Neues zu suchen.«
Nox ist auf beinahe fremdartige Weise schön. They besitzt graue Augen, blasse Haut, weißblondes Haar, das an den Seiten kurz und oben auf dem Kopf ein wenig länger ist, und die Art von Knochenbau, die Engel zum Weinen bringen würde, falls sie je existiert hätten. Außerdem ist they eine wahnsinnig komplizierte Person, und von solchen Leuten habe ich im Laufe meines langen Lebens mehr als genug gehabt. »Ich verzichte.«
»Lizzie, du verletzt mich.« They klingt jedoch nicht so, als würde they es ernst meinen. Das soll mir bloß recht sein. Würde they auch nur den geringsten Druck auf mich ausüben, würde ich nicht zögern, them den Kopf vom Körper zu reißen, Kapitän und Elementarmagiewesen hin oder her.
Typisch Evelyn. Sie kommt in ein anderes Reich und gerät sofort mitten in eine Verschwörung, die darauf abzielt, die derzeitige Machtstruktur komplett über den Haufen zu werfen. Ich bin mir nach wie vor nicht ganz sicher, warum ich dieses Schiff und diese Besatzung noch nicht verlassen habe, um meinen eigenen Weg zu gehen. Aber wenigstens wird es mit Nox, eine Art Doppelagent für die Rebellion in Threshold, nie langweilig. In den drei Monaten, die vergangen sind, seit ich mich der Besatzung widerwillig angeschlossen habe, haben wir Monster bekämpft, Schutzsuchende zu Portalen befördert, die sie zurück nach Hause bringen werden, und in so ziemlich jedem Hafen, in dem wir angelegt haben, unser eigenes Gewicht in Wein getrunken.
Unsere derzeitige Aufgabe hat mit der Rebellion zu tun. Vor einer Woche bekam Nox Wind davon – buchstäblich, denn die Nachricht kam mit dem Wind zu uns –, dass einer their Agentinnen von einer Besatzung der Cŵn Annwn aufgegriffen worden sei. Streng genommen sind wir ebenfalls eine Crew der Cŵn Annwn, eine der Monster jagenden Mannschaften, die über die Meere von Threshold segeln und den Frieden wahren sollen.
In Wahrheit würden Nox und their Leute nichts lieber tun, als die Cŵn Annwn und den Rat, der über sie herrscht, zu Fall zu bringen, denn die Cŵn Annwn sind wie jede andere Instanz in der Geschichte, die zur Überwachung und Kontrolle dient – sie neigen dazu, ihre Macht zu missbrauchen und ebenjene Leute zu drangsalieren, die sie eigentlich beschützen sollten.
Ich werde nicht mehr hier sein, wenn die Rebellion letztendlich den direkten Kampf gegen den Rat aufnimmt. Insgeheim wünsche ich mir, das würde auch für Evelyn gelten. Aber sie steckt bereits bis zum Hals in dieser Sache drin, und ich habe nicht den Eindruck, dass sich das ändern wird, egal wie oft wir darüber diskutieren. Wenigstens wird heute Nacht genug los sein, um die Langeweile in Schach zu halten. Vielleicht werde ich sogar schon bald die Gelegenheit bekommen, ein paar Leute zu ermorden. Das sollte mich aufmuntern. »Wie nah sind wir diesem Schiff, das deine Agentin gefangen genommen hat?«
Nox zieht die Augen zusammen und wechselt innerhalb eines Herzschlags vom flirtenden Schwerenöter zum skrupellosen Kapitän. »Nah. Die Drunken Dragon folgt stets derselben Route, indem sie von Viedna über Khollu zu den Three Sisters und wieder zurück segelt. Brady ist nicht klug genug, um zu wissen, wen er da an Bord hat, also wird er auf demselben Weg nach Norden weiterfahren wie immer. Wir sollten schon bald in der Lage sein, sie am Horizont zu entdecken.«
Diese ganze Geheimniskrämerei nervt fürchterlich. Ich bevorzuge eine simplere – und direktere – Herangehensweise im Umgang mit meinen Feinden. Herumzuschleichen und so zu tun, als wäre man Teil ebenjener Gruppe, die man zu Fall bringen will … Das ist alles so mühsam. Ein blutiger Kampf, bei dem am Ende jeder weiß, wer der Sieger ist, wäre mir lieber. Wenn er blutig genug ist, muss man den Konflikt auch kein zweites Mal austragen. Nicht solange die Erinnerung daran noch frisch ist. Wenn diese Person, die als Nox’ Agentin fungiert, von dermaßen großer Bedeutung ist, dass sie uns von unserem vorherigen Kurs abbringen kann, dann sollte sie auch fähig genug sein, sich um sich selbst zu kümmern. »Was ist an dieser einen Person so wichtig, dass du bereit bist, das Risiko in Kauf zu nehmen, jemand könnte herausfinden, dass du nicht der perfekte kleine Soldat der Cŵn Annwn bist?«
»Maeve ist ein entscheidendes Mitglied unseres Netzwerks, und ich brauche sie wieder dort, wo sie hingehört.« Nox’ Stimme klingt kalt, aber ich meine, eine gewisse Sanftheit wahrzunehmen, die in den Worten mitschwingt. They mag dieses kleine Opfer.
»Wenn du das sagst.« Das Anliegen, das allen Mitgliedern dieser Crew derart am Herzen zu liegen scheint, könnte mir nicht gleichgültiger sein. Korrupte Regierungen gibt es schon seit Anbeginn der Zeit, und wenn es der Rebellion irgendwie gelingen sollte, den Rat der Cŵn Annwn abzusetzen, dann wird lediglich etwas noch Schlimmeres das Machtvakuum füllen, das daraufhin zurückbleiben wird.
Diese Rettungsmission ist für mich die reinste Zeitverschwendung. Diese Agentin, die von der Besatzung der Drunken Dragon gefangen genommen wurde, kümmert mich ebenso wenig wie das noble Unterfangen, in das Nox und Bowen Evelyn hineingezogen haben. Ich bin bloß deshalb noch hier, weil Threshold eine große Wasserwelt ist und ich ohne ein eigenes Schiff und eine Mannschaft Jahre brauchen würde, um die Crimson Hag aufzuspüren, auf der sich meine gestohlenen Familienerbstücke befinden.
Ohne sie kann ich nicht nach Hause zurückkommen. Wenn ich überhaupt dazu in der Lage bin heimzukehren, denn das Portal, das in mein Heimatreich führt, wurde zerstört. Ich verdränge den Gedanken. Mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie ich meine Rückkehr bewerkstelligen kann, bevor ich den gestohlenen Schmuck wieder in Händen habe, hat keinen Sinn. Und den wertvollen Kram werde ich erst zurückbekommen, wenn ich die Crimson Hag finde. Und bevor ich das tun kann, müssen wir diese verdammte Rettungsmission hinter uns bringen.
Ich zwicke mir in den Nasenrücken. »Diese Maeve könnte tot sein.«
»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine furchtbare Pessimistin bist?« Nox packt das Steuer fester. »Schon möglich, dass sie tot ist. Aber wir werden so tun, als wäre das nicht der Fall, bis wir einen Beweis für das Gegenteil haben.« They flucht leise vor sich hin. »Maeve ist ein gutes Mädchen. Die Leute reden mit ihr. Teilen ihr Geheimnisse mit, die sie einem Fremden niemals anvertrauen würden. Selbst wenn sie ihre Aufgabe nicht so gut erledigen würde, verdient sie etwas Besseres, als Brady und seiner Besatzung ausgeliefert zu sein. Die gehören zum Schlimmsten, was die Cŵn Annwn zu bieten haben. Man hätte sie schon vor Jahren aus dem Verkehr ziehen sollen, allerdings beherrschen sie das, was sie tun, einfach zu gut, und der Rat ignoriert jegliche Beschwerden, die gegen sie eingereicht werden.« Nox schüttelt den Kopf und lässt ein höhnisches Lächeln aufblitzen. »Mir ist klar, dass dich das alles nicht kümmert, also werde ich jetzt den Mund halten.«
»Das weiß ich sehr zu schätzen«, erwidere ich trocken. Ich bin kein edler Ritter in schimmernder Rüstung, der anderen zu Hilfe eilt. Wenn überhaupt, bin ich der Bösewicht. Die Leute in meinem Leben würden das mit Sicherheit behaupten. Ohne Nox am Steuer hätte ich meine persönlichen Ziele niemals beiseitegeschoben, um die Retterin zu spielen.
Obwohl ich es eigentlich besser weiß, schaue ich erneut zu Evelyn hinüber. Sie tatscht nicht länger an Bowen herum und ist aktuell damit beschäftigt, einen Kreis ins Deck des Schiffs zu ritzen. Er soll einen Schild erschaffen, wenn er ausgelöst wird, was es Bowen ermöglichen soll, seine telekinetischen Fähigkeiten für einen Angriff statt zur Verteidigung zu benutzen. Evelyn ist eine verdammt gute Hexe, also hege ich keinen Zweifel, dass das Ganze funktionieren wird.
Ihre blasse Haut hat durch die Sonne eine leichte Bräune erhalten, und ihr blondes Haar, das aufgrund des Winds und der salzigen Luft ständig gewellt ist, trägt sie nun schulterlang. Sie lacht auch mehr. Mir ist nie aufgefallen, wie wenig sie gelacht hat, als sie mit mir zusammen war. Außerdem hat sie sich voll und ganz der Piratenmode hingegeben, auch wenn sie darauf verzichtet, die traditionelle blutrote Kleidung der Cŵn Annwn zu tragen. Stattdessen trägt sie eine schwarze Hose, die sich perfekt an ihre fülligen Oberschenkel und ihren großen Hintern schmiegt, dazu ein wallendes weißes Oberteil, das sich sehr gut auf den Titelbildern dieser Liebesromane machen würde, die sie so schätzt.
Glücklich zu sein, steht ihr gut.
Ich hasse den Anblick.
»Käpt’n! Die Dragon!« Der Ruf schallt aus dem Krähennest zu uns herunter.
»Verdammt, endlich«, murmelt Nox und hebt dann die Stimme, bis sie fast ein Brüllen ist. »Beeilung, Leute!«
Ich werfe them einen strengen Blick zu. »Du hast doch sicher nicht vor, hier draußen ein anderes Schiff der Cŵn Annwn anzugreifen, oder?« Wir mögen eine Crew haben, die größtenteils aus Kraftpaketen besteht, aber das gilt für die meisten Schiffe der Cŵn Annwn. Die Vorstellung, eine Seeschlacht gegen ein anderes Schiff zu schlagen, behagt mir nicht. Die Monster, mit denen wir es in den drei Monaten, die ich nun schon an Bord bin, zu tun bekommen haben, haben ausgereicht, um mir Albträume zu bescheren – nicht, dass ich das je laut zugeben würde. Ein Kampf auf festem Boden stellt für mich kein Problem dar. Doch dieser Schwachsinn auf dem Wasser, wo ein falscher Schritt bedeuten kann, dass einen der Feind nicht einmal töten muss, weil das Meer das übernimmt – das ist nichts für mich.
»Natürlich nicht.« Nox schnippt mit den Fingern in Richtung des Steuermanns. Er heißt Eyal und ist ein großer, drahtiger Mann mit dunkelbrauner Haut und umwerfenden strahlend blauen Dreadlocks. »Halte uns auf diesem Kurs. Ich will nicht, dass es so aussieht, als würden wir sie verfolgen.«
Eyal nickt, bei mir wirft der Befehl jedoch Fragen auf. »Aber wir verfolgen sie doch.« Außerdem sind wir dank unserer Luftelementarnutzer, die die Segel mit ihrer Magie füllen, ziemlich schnell unterwegs. Ich kann die Drunken Dragon inzwischen klar und deutlich erkennen. Das Schiff muss in etwa die gleiche Größe wie unseres haben, dennoch wirkt es nicht größer als eine Vierteldollarmünze. Ich erschaudere. Ich hasse das offene Wasser, verdammt noch mal.
»Du hast Glück, dass du so hübsch bist, Liebes.« Nox lehnt sich dicht an mich heran. »Ich kann nur eine Person mitnehmen, aber ich brauche jemanden, der die Menge unter Kontrolle halten kann, ohne meine Agentin in Gefahr zu bringen. Wir haben zwei Optionen, wer das sein kann. Entweder du oder Bowen. Entscheide dich.«
Ich starre them an. Ein Angriff auf ein komplettes Schiff mit nur zwei Leuten stellt ein gewaltiges Risiko dar, selbst wenn sowohl Bowen als auch ich durchaus in der Lage sind, eine Gruppe Menschen innerhalb von Sekunden auszuschalten. Allerdings reden wir hier nicht von gewöhnlichen Menschen. Die meisten Besatzungen der Cŵn Annwn bestehen aus Magieanwendern und übernatürlichen Wesen, von denen manche locker so mächtig sind wie ich. Zumindest theoretisch.
Ich sollte Nox mitteilen, dass they Bowen mitnehmen soll. Wenn er stirbt, kann Evelyn weinend in meine Arme sinken und … Ich schaue erneut zu meiner Exfreundin hinüber. Sie hat den Kreis fertiggestellt, hockt nun da und plaudert unbekümmert mit zwei Besatzungsmitgliedern.
Glücklich. Sie ist so verflucht glücklich.
Verdammt. »Ich gehe mit.«
Nox lehnt sich noch näher zu mir herunter. »Keine Sorge. Ich werde niemandem von deiner noblen Gesinnung erzählen.«
Ich bin nicht nobel. Ich würde eine noble Geste nicht einmal dann erkennen, wenn sie mir in den Hintern beißen würde. »Möglicherweise gibt es an Bord dieses Schiffs Informationen über die Crimson Hag. Ich will sie mir besorgen, bevor eins deiner ungeschickten Crewmitglieder die Beweise vernichtet.« Je schneller ich dieses Schiff finde, desto eher kann ich in mein vertrautes Umfeld zurückkehren: Tod und Dunkelheit und familiäre Verpflichtungen.
»Klar, Liebes. Was immer du sagst.« Nox hebt einmal mehr die Stimme und brüllt Befehle. Ich folge them nach achtern und schaue aufmerksam zu, während they aus their dramatischem blutroten Mantel schlüpft und ihn Poet, der Quartiermeisterin, reicht. »Pass für mich darauf auf, Liebes.« Dann zieht sich Nox weiter aus und entledigt sich erst der blutroten Weste und dann des blutroten Hemds, um schließlich aus der blutroten Hose zu schlüpfen. Wenn es um die Mitgliedschaft bei den verdammten Cŵn Annwn geht, macht Nox wirklich keine halben Sachen. »Auf die auch.«
»Du weißt schon, dass deine Kajüte gleich da drüben ist, oder? Du musst dich nicht in aller Öffentlichkeit ausziehen.«
»Lizzie, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine Spielverderberin bist?« Mir war nicht klar, dass Poet Kleidung zum Wechseln mitgebracht hat, bis Nox einen hautengen schwarzen Ganzkörperanzug überstreift und mich angrinst.
»Sie werden in deiner Kajüte sein, wenn du zurückkommst.« Poet – eine große Frau, die aussieht, als würde sie zum Spaß Wände eintreten – verfügt über breite Schultern und eine dicke Taille. Ihre hellbraune Haut ist mit maritimen Tätowierungen bedeckt, und sie trägt ihr langes braunes Haar zurückgebunden, sodass man ihre strengen Züge sehen kann. Sie richtet ihre ernsten dunklen Augen auf mich. »Lass nicht zu, dass unser Kapitän getötet wird.«
Ich lächle und blecke dabei die Zähne. Ich kann Poet eigentlich ganz gut leiden, doch sie ist Nox gegenüber auf geradezu abartige Weise loyal. »Es ist der Plan deines Kapitäns. Wenn they stirbt, dann ist das their eigene Schuld.«
»Lizzie, du bist solch ein Sonnenschein.« Nox legt einen Arm um meine Schultern und lacht, als ich erneut die Zähne blecke und nach them schnappe. »Ich meine das ernst. Du bist ein unendlicher Quell der Belustigung.«
They gibt mir keine Gelegenheit, eine Erwiderung zu formulieren, sondern lehnt sich mit dem vollen Körpergewicht zurück und befördert uns beide über die Seite des Schiffs. Der Sturz sorgt dafür, dass mir der Magen in die Kehle rutscht. Das Schiff ist größer, als es den Anschein hat, und der Weg nach unten dauert verdammt lange.
Heilige Scheiße, heilige Scheiße, heilige Scheiße.
Wir prallen so heftig auf dem Wasser auf, dass es mir den Atem verschlägt. Meine Flüche dringen als endlose Reihe aus Luftblasen aus meinem Mund. Oh verdammt, mir war nicht klar, dass Nox meinte, dass wir zu dem verfluchten Schiff schwimmen würden. Um mich herum ist es kalt und nass und so dunkel, dass ich nicht das Geringste erkennen kann. In den Tiefen unter uns könnte alles Mögliche lauern, und ich würde es erst erfahren, wenn es direkt vor mir auftaucht – und vielleicht nicht einmal dann. Der Druck des Wassers macht es mir unmöglich, mich zu bewegen, zu atmen, zu denken, zu … Ich kann nicht atmen, weil ich mich unter Wasser befinde.
Wenn Nox vorhat, mich auf diese Weise umzubringen, dann hat they eine gute Wahl getroffen. Ich muss mich enorm zusammenreißen, um nicht in Panik zu verfallen …, und merke sofort, dass genau das passiert. Ich kann meine Gliedmaßen nicht bewegen. Mein Körper reagiert nicht auf die zunehmend schrillen Befehle, die mein Hirn ruft. Ich muss zur Oberfläche schwimmen. Ich muss das Schiff erreichen und so schnell wie möglich aus dem Wasser klettern. Ich kann nicht hier sein. Ich kann nicht …
Eine Luftblase bildet sich um meinen Mund und meine Nase herum, dehnt sich aus und spendet mir kostbaren Sauerstoff. Ich verdanke sie Nox’ Elementarkräften. Ich hasse den hektischen Atemzug, den ich nehme, hasse die Erleichterung, die mich erfüllt, hasse es, darauf angewiesen zu sein, dass mich Nox während dieses kleinen Ausflugs am Leben hält. Dass ich nun in der Lage bin zu atmen, lindert das entsetzliche Gefühl in meiner Brust allerdings nicht. Es verschafft mir nur genug Raum, um sehr gründlich darüber nachzudenken, welche Arten von Monstern knapp außer Sichtweite lauern könnten und lediglich darauf warten, uns als Appetithappen zu verspeisen. Wäre das schlimmer, als zu ertrinken? Besser? Ich habe keine Ahnung, aber ich will nicht sterben.
Nox zieht mich eng an sich heran, so dicht, dass wir Liebende sein könnten. Die Luftblase breitet sich aus, dann vernehme ich their Stimme in meinem Ohr. »Atme, Lizzie. Ich hab dich.« Eine Sekunde später schießen wir durchs Wasser, angetrieben von Nox’ Magie. They ist eines dieser seltenen Wesen, die auf alle vier Elemente zugreifen können. Das macht es verdammt schwer, them zu töten, mit einem winzigen Teil meines Gehirns bin ich jedoch in der Lage zuzugeben, dass they in Situationen wie dieser durchaus nützlich ist.
Die Bewegung hilft dabei, meine Gedanken zu beruhigen. Nox wird mich nicht umbringen oder mich der Tiefe überlassen. Ich kann nicht glauben, dass mir dieser Gedanke überhaupt in den Sinn gekommen ist. Alles ist vollkommen in Ordnung. Abgesehen von der Tatsache, dass ich mich nach wie vor im verdammten Wasser befinde.
Innerhalb weniger Minuten werden wir langsamer und steigen schließlich im Schatten der Drunken Dragon zur Oberfläche auf. Die Blase, die meinen Mund umgibt, löst sich auf, während ich salzige Seeluft einatme. »Ich hasse dich.«
»Lügnerin. Du magst mich ziemlich gern.« Nox schwimmt zum Schiff und hievt sich aus dem Wasser.
Ich folge them so schnell wie möglich, denn ich will unbedingt Abstand zwischen mich und den finsteren Abgrund des Meeres bringen. Der Gedanke, dass etwas auftauchen könnte, um mich zu packen und fortzuzerren, während ich die Seite des Schiffes erklimme, lässt mich einfach nicht los. Aber wenigstens hätte ich eine Chance, es kommen zu sehen, sobald ich mich an der frischen Luft befinde. Ich kann nicht umhin, vor Erleichterung zitternd einzuatmen, als meine Füße das Wasser verlassen.
Ich ziehe mich hoch und folge Nox, was mir eine ausgezeichnete Sicht auf their athletischen Körper verschafft. Ich kann nicht anders, als zu bemerken, dass sich die Perfektion von Nox’ Gesicht auch auf alle anderen Körperteile zu erstrecken scheint. Wäre they nicht so eine Nervensäge, würde ich them vielleicht mit in mein Bett nehmen.
»Wie sieht deine Agentin aus?«
Nox wirft einen Blick über die Schulter zu mir nach unten. »Rote Haare. Sommersprossen. Klein und rundlich. Ihr Name ist Maeve. Ermorde mein Mädchen nicht, Lizzie. Wenn du das tust, werde ich etwas sehr Unschönes machen müssen.«
Ich mache mir nicht die Mühe, etwas zu erwidern. Versehentlich die Agentin zu ermorden, wäre nachlässig, und das ist ein Wort, von dem ich niemals zulassen werde, dass es mit mir in Verbindung gebracht wird. »Kümmere dich um dich selbst. Pass auf, dass du nicht erstochen oder in die Luft gesprengt wirst, während ich den Großteil der Arbeit erledige und alle töte.«
Ausnahmsweise hat Nox mal keine kluge Erwiderung parat. They klettert einfach weiter. Their schlanker Körper wirkt angespannt. Ich folge them. Das aufgeregte Pochen in meinem Blut ist ein willkommenes Gefühl. Eine vertraute Empfindung.
Das hier ist meine Bestimmung. Hierfür wurde ich erschaffen.
Ich bin keine Person, die für den Frieden gedacht ist, und auch wenn es in den letzten drei Monaten an Bord der Audacity ein paar Kämpfe gegeben hat, war keiner dabei, der so herausfordernd gewesen wäre, dass ich die Anspannung hätte loswerden können, die ständig in mir brodelt.
Ich sende einen Schwall meiner Macht aus, und die Körper der Besatzung leuchten vor meinem inneren Auge auf. Es sind zu viele Herzschläge, um sie alle auf einmal anzuhalten, vor allem da die Hälfte von ihnen geschützt ist. Ich stupse den an, der mir am nächsten ist, und prüfe den magischen Schutzwall, während ich versuche, das Blut in den Adern dieser Person nach meinem Willen zu bewegen. Es reagiert träge, aber es reagiert. Ich grinse und lasse die Ketten von mir abfallen, die mich normalerweise zu zivilisiertem Verhalten zwingen. Sie nehmen den letzten Rest meiner noch verbliebenen Angst mit sich.
Das wird ein Spaß.
Maeve
Ich habe im Laufe meines Lebens schon in einigen brenzligen Situationen gesteckt, aber diese ist bislang die schlimmste. Ich kauere in der stinkenden Zelle im Schiffsgefängnis und beäuge misstrauisch die fünf Männer, die mich von der anderen Seite der verschlossenen Tür aus lüstern begaffen. Seit sie mich vor drei Tagen draußen erwischt haben, befinde ich mich an Bord der Drunken Dragon. Ich hätte wissen müssen, dass mein Ruderboot es nicht von Viedna nach Khollu schaffen würde, ohne dass etwas Übles passiert. Doch es waren nicht die Stürme, die zu dieser Jahreszeit aufziehen, die mich in Schwierigkeiten gebracht haben.
Es waren die verdammten Cŵn Annwn.
Diejenigen, die Threshold angeblich vor Monstern beschützen, selbst jedoch monströser sind als all die Kreaturen, die sie ermorden. Ich drücke mich gegen die schmutzige Wand, als einer der Männer eine Hand zwischen den Gitterstäben der Tür hindurchschiebt und versucht, mich zu betatschen. Vielleicht sollte ich dankbar dafür sein, dass sie so lange gebraucht haben, um sich dafür zu entscheiden, hier herunterzukommen, um mich zu bedrohen. Aber momentan fällt es mir schwer, für irgendetwas dankbar zu sein. Ich bin erschöpft und schmutzig und schwebe in ernsthafter Gefahr. Und noch schlimmer als all das zusammen ist die Tatsache, dass mir ein unverzichtbarer Teil von mir fehlt.
Doch egal, wie hoffnungslos meine Lage auch sein mag, ich werde nicht kampflos untergehen.
»Komm her, du hübsches Ding.« Der grapschende Mann unternimmt einen erneuten Versuch, nach mir zu greifen. »Zwing uns nicht dazu, die Schlüssel zu holen. Es sei denn, du willst, dass wir zu dir in die Zelle kommen …«
Ich fauche ihn an, aber aus meiner menschlichen Kehle klingt es armselig schwach. Hätte ich meinen Pelz, würden sie es nicht wagen zu versuchen, mich mit ihren scheußlichen, schmutzigen Händen zu berühren. Sie hätten viel zu viel Angst davor, dass ich ihnen die Kehlen herausreiße. Wäre ich vollständig … Doch das bin ich nicht. Und wenn ich mich nicht aus diesem furchtbaren Dilemma befreien kann, werde ich das nie wieder sein.
Ich überlege immer noch fieberhaft, was ich tun kann, als ich das Klimpern eines Schlüssels höre und mir beinahe das Herz stehen bleibt. Mir läuft die Zeit davon. Wenn ich mit ihnen in der Zelle gefangen bin, ist alles vorbei. Meine einzige Hoffnung besteht in einem Fluchtversuch. Ich muss darauf bauen, dass der Kapitän kein absolutes Monster ist, das es seiner Besatzung erlaubt, auf seine Gefangene loszugehen. Wenn sie allerdings mit seinem Segen hier sind – oder zumindest mit seinem stillschweigenden Einverständnis –, dann werde ich mich über die Reling stürzen und auf die Gnade des Meeres hoffen müssen.
Doch die Stimme, die als Nächstes spricht, klingt nicht barsch und rau von einem Leben auf See. Sie ist sanft und hell und geradezu harmonisch. »Komme ich ungelegen?«
Meine Möchtegernangreifer erhalten keine Gelegenheit zu antworten. Ich sehe nicht, was passiert. Im einen Moment drehen sie sich zu der Person um, die hier so unvermittelt eingedrungen ist, im nächsten schlagen ihre leblosen Körper auf dem Boden auf und Blut läuft ihnen aus Mund, Augen und Ohren. Und hinter ihnen steht … meine Retterin?
Zuerst denke ich, dass sie eine meiner entfernten Cousinen aus dem Norden sein könnte. Ihr dunkles nasses Haar klebt an ihrem Gesicht und ihren Schultern, doch dann bemerke ich die Kleidung. Diese Person, diese Retterin, stammt aus einem der anderen Reiche, nicht aus Threshold. So muss es sein, denn ich habe noch nie eine Hose gesehen, die sich dermaßen wirkungsvoll an schlanke Beine schmiegt, oder ein Oberteil, das keine Nähte zu haben scheint. Vielleicht hat der Kapitän sie aus dem Meer gefischt, nachdem sie das falsche Portal benutzt hat und hier gelandet ist.
Leichtfüßig steigt sie über die Leichen hinweg – denn es sind Leichen; kein einziger der Männer hat auch nur ein einziges Mal Atem geholt, seit sie zusammengebrochen sind – und schiebt den Schlüssel ins Schloss. »Du musst Maeve sein.«
Nun, da das Licht, das durch das Bullauge hinter mir fällt, in ihr Gesicht scheint, habe ich Schwierigkeiten, Worte zu finden. Sie ist wunderschön. Es ist die Art von Schönheit, die dafür sorgen würde, dass sich mein Nackenfell aufstellt, wenn ich noch welches hätte. Die Art von Schönheit, die dafür gedacht ist, die Arglosen anzulocken. Dieses Wesen ist durch und durch ein Raubtier.
Die Tür schwingt an den rostigen Angeln auf. Ich mache keinerlei Anstalten, mich zu rühren. »Du befindet dich mir gegenüber im Vorteil. Du scheinst zu wissen, wer ich bin, aber ich habe keine Ahnung, wer du bist.«
Statt darauf zu warten, dass ich auf sie zukomme, betritt sie die Zelle. Plötzlich kommt es mir so vor, als gäbe es hier nicht mehr genug Platz. Nicht mehr genug Luft. Nicht mehr genug von irgendwas. Ihre Augen blitzen blutrot auf, und ein unverkennbares magisches Pochen flammt in meinem Blut auf. Es tut nicht weh, ist aber unglaublich beunruhigend.
Ich weiche hektisch einen Schritt zurück. »Was machst du da?«
»Ich überprüfe, ob du verletzt bist.« Sie beobachtet mich nach wie vor aufmerksam, und in ihrer Miene liegt etwas, das mich an einen Wolf erinnert, der ein besonders saftiges Reh beäugt. »Du scheinst wohlauf zu sein, wenn auch ein wenig dehydriert.«
Ich muss ein wenig Abstand zwischen uns bringen, aber das kann ich nicht, solange sie zwischen mir und der Tür steht. »Ist das hier eine Rettungsmission oder hast du vor, da weiterzumachen, wo diese Mistkerle aufgehört haben?« Ich deute mit einer Hand auf die gefallenen Piraten.
»Dies ist eine Rettungsmission, was mich wohl zu einer der Guten macht. Ausnahmsweise mal.« Sie rümpft angewidert die Nase, und ich stelle entsetzt fest, dass sie ziemlich niedlich ist. »Wie originell.«
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, erhalte allerdings ohnehin keine Gelegenheit, etwas zu sagen. Eilige Schritte nähern sich, und bald darauf kommt eine Person zum Vorschein, die ich tatsächlich erkenne. Meine Brust krampft sich zusammen und so etwas wie ein Schluchzen entringt sich meiner Kehle. »Nox.«
»Wir holen dich hier raus.« They bleibt in der Tür stehen und verzieht das Gesicht. »Blockierst du den Ausgang aus einem bestimmten Grund, Lizzie?« Ohne eine Antwort abzuwarten, drängt sich Nox an ihr vorbei. »Ignorier sie. Sie ist bloß sauer, weil sie nicht noch mehr Leute töten durfte.«
Lizzie. Was für ein bescheidener Name für eine derart furchterregende Frau.
Lizzie tritt behände zur Seite. »Ich wollte nur ein Gefühl für unsere kleine Gefangene bekommen.«
Ich kann Nox’ Miene nicht richtig deuten, aber they wirkt besorgt. »Wir müssen los. Die Audacity ist schon fast hier, um uns einzusammeln, und unser Schiff darf sich nicht zu lange in der Nähe aufhalten. Das würde nur dazu führen, dass die Leute Fragen dazu stellen, was mit der Drunken Dragon und ihrer Besatzung passiert ist.«
»Du willst also sagen, dass es besser wäre, wenn es kein Schiff gäbe, zu dem die Leute Fragen stellen können?« Lizzie verlässt die Zelle und geht zu einer Laterne, die auf der anderen Seite des Gangs hängt.
Ich habe bislang keinen Grund gehabt, mich auf vielen Schiffen der Cŵn Annwn aufzuhalten, ich bin allerdings ein paarmal an Bord der Audacity gewesen, und dort ist es ganz anders als in diesem Drecksloch. Die Drunken Dragon ist lediglich ein Schiff und verfügt nicht über praktische Taschendimensionen für die Unterbringung der Crewmitglieder. Sie schlafen alle in einem gewaltigen Raum in schaukelnden Hängematten. Und der Gestank lässt vermuten, dass es hier auch keine Bordtoiletten oder sanitären Anlagen gibt. Dieses Schiff wird ziemlich schnell in Flammen aufgehen, wenn Lizzie etwas in Brand steckt.
»Mir ist klar, dass ich dich zu einem bestimmten Zweck mitgenommen habe, aber es ist ziemlich beunruhigend, wie sehr du die Gewalt genießt«, sagt Nox.
Lizzie zuckt mit den Schultern. Ihre Miene wirkt seltsam ausdruckslos. »Tote können keine Geschichten erzählen.«
Nox zieht die Augen zusammen. »Soll das ein Witz sein?« They schüttelt ruckartig den Kopf. »Vergiss es. Spar dir die Antwort. Ich hätte Bowen mitnehmen sollen.« They streckt mir eine Hand entgegen. »Bringen wir dich hier raus.«
Ich habe keine Ahnung, was ich von ihrem Umgang miteinander halten soll, aber eines weiß ich mit Sicherheit: Ich will hier raus. Nox ist eine bekannte Größe. Das genügt mir vollkommen. Ich ergreife their Hand und lasse mich von them an der merkwürdig stillen Lizzie vorbeiziehen. Selbst in diesem Körper sind meine Sinne geschärft. Ich sollte keine Zeit damit verschwenden, mich auf die Fremde zu konzentrieren, dennoch fällt mir auf, dass ihre Atmung deutlich langsamer ist als die eines Menschen. Das Gleiche gilt für ihren Herzschlag. Was ist sie?
Nox führt mich an einem Massaker vorbei. Anders kann man es nicht beschreiben. Das Seltsamste daran ist, dass keinerlei Blutspritzer auf den abgenutzten Planken zu sehen sind. Es scheint, als wäre ein Großteil der Besatzung einfach spontan tot umgefallen. Der einzige Beweis für Gewalt ist das, was ich auch bei den Männern im Gefängnis gesehen habe – Blut, das ihnen aus Mund, Nase und Augen rinnt.
Ich weiß, dass Nox in der Lage ist, mit Elementarmagie zu töten – they kann die Luft in der Lunge einer Person festhalten, bis sie erstickt. Oder Wasser heraufbeschwören und einen an Land ertrinken lassen, was hier den Pfützen nach zu urteilen, die sich in der Nähe des Kopfes mancher Leute befinden, offensichtlich passiert ist. »So viele.«
»Diese Crew ist schon lange ein Problem gewesen. Das weißt du ebenso gut wie alle anderen.«
Das stimmt. Unter den Cŵn Annwn gibt es Schiffe, von denen die Einheimischen wissen, dass man es vermeiden sollte, sich irgendwo allein mit Mitgliedern der Besatzung wiederzufinden. Außerdem sollte man hübsche Leute verstecken, damit sie nicht die Aufmerksamkeit der Kapitäne auf sich ziehen. Streng genommen dürfen die Cŵn Annwn keine Einheimischen in ihre Reihen aufnehmen, manche Kapitäne interessieren sich allerdings mehr für die Macht, über die sie verfügen, als für die Regeln, die sie befolgen sollten. Den Rat kümmert das nicht, solange sie weiterhin Monster abschlachten. Niemand kann sie aufhalten … Zumindest hat es bislang niemanden gegeben, der dazu imstande war.
Diese Rettungsmission ist dennoch ein kühner Schachzug, selbst für Nox. »Meinetwegen herzukommen, stellt ein verdammt großes Risiko dar. Du hättest das nicht tun sollen.«
They schenkt mir ein charmantes Grinsen. »Ich bitte dich, Maeve. Du weißt doch, dass ich ein so liebreizendes Mädchen niemals diesen Mistkerlen überlassen hätte. Wir schaffen dich jetzt hier weg und bringen dich in Sicherheit.«
In Sicherheit. Das ist ein netter Gedanke. Ich weiß jedoch nicht, ob er je auf mich zugetroffen hat. Vielleicht in meiner Kindheit, als ich mich lediglich darum kümmern musste, innerhalb der felsigen Umrandungen der Bucht in der Nähe meiner Heimat auf Viedna zu bleiben. Oder auf den Wechsel der Jahreszeiten zu warten, damit meine bevorzugte Fischsorte zurückkehren würde und ich sie jagen konnte. Oder den Erwartungen zu entsprechen, die meine Mutter und Großmutter an mich hatten.
So sicher habe ich mich schon sehr lange nicht mehr gefühlt. Ganz bestimmt nicht seit ich mich der Rebellion angeschlossen habe, aber vor allem jetzt nicht mehr, da ich meinen Pelz verloren habe. Ich stelle mir vor, dass es sich so anfühlen muss, wenn man einen Arm oder ein Bein verliert. Ich strecke ständig instinktiv die Hand aus, um danach zu greifen, nur um mich dann erneut an den Verlust zu erinnern, als wäre es das erste Mal. »Ich muss nach Khollu.«
»Über das, was als Nächstes passiert, werden wir reden, nachdem wir dich auf die Audacity gebracht haben.« Nox scheucht mich über das Deck auf die Reling zu; dahinter wartet ein anderes Schiff mit blutroten Segeln.
Die Realität holt mich ein, und ich stemme die Füße in den Boden. »Warte. Ich kann mich nicht auf Hedds Schiff aufhalten. Es ist ebenso schlimm wie dieses hier.« Nox mag mich vielleicht ein wenig vom Rest der Crew abschirmen können, letztendlich muss they jedoch vor allem their eigene Tarnung aufrechterhalten. They darf die Cŵn Annwn nicht wissen lassen, dass they ein Doppelagent für die Rebellion ist.
Was bedeutet, dass they mich nicht beschützen kann.
Ich starre all den Tod und die Beweise für die Rebellion um mich herum an. »Was hast du getan?«
Statt so besorgt zu wirken, wie es in dieser Situation angemessen wäre, schlingt Nox einen Arm um meine Schultern und führt mich an die Reling. »Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, hat sich einiges verändert. Ich bin jetzt der Kapitän.«
Ich drehe mich um, um them anzuschauen. »Was?« Hedd hätte diesen Posten niemals aufgegeben, selbst wenn man ihn abgewählt hätte. Was bedeutet, dass er tot sein muss. Aber … wie?
»Ich werde dir alles erklären, sobald wir drüben sind. Das hier ist nicht der richtige Ort für diese Unterhaltung.« They gibt jemandem aus their Besatzung ein Zeichen, und augenblicklich habe ich den Eindruck, als würde sich eine riesige Hand um meine Taille legen und mich behutsam in die Luft heben. Ich erstarre, denn mir ist nur allzu bewusst, wie leicht es jemandem mit telekinetischer Begabung fallen würde, mehr Schaden anzurichten, als Gutes zu tun, wenn er jemanden trägt. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich habe keine Höhenangst, es ist allerdings durchaus beunruhigend, in die Tiefe zu starren, während mein hilfloser Körper über die sehr weit unter mir liegende Meeresoberfläche schwebt. Sollte ich aus dieser Höhe fallen, würde es sich anfühlen, als würde ich auf eine feste Oberfläche krachen. Meine Sorge ist offenbar unbegründet. Ein paar Sekunden später werde ich sicher auf dem Deck der Audacity abgesetzt.
Eine Person mit schulterlangem blonden Haar und sonnengebräunter Haut kommt mit einer Decke auf mich zugeeilt. »Dir muss eiskalt sein. Ich bin Evelyn, sie/ihr. Haben sie dir etwas angetan?« Sie legt die Decke mit einem warmen Lächeln um meine Schultern. »Wie es aussieht, hat Lizzie sie alle getötet, also schätze ich, dass das … Nun ja, das ist immerhin etwas.«
Diese Frau ist so hübsch, dass ich erröte, aber ihre quirlige Art sorgt dafür, dass ich mich sofort entspanne. Sie hat in etwa meine Maße; ihr üppiger Körper steckt in einer hautengen Hose und einem Hemd, das einen beträchtlichen Teil ihrer Brust entblößt, die größtenteils mit mir vage vertrauten magischen Glyphen bedeckt ist. Eine Hexe, auch wenn ich noch nie eine gesehen habe, die sich ihre Zaubersprüche in die Haut tätowiert.
Die Tatsache, dass erst Nox und dann Lizzie leichtfüßig auf dem Deck landen, bewahrt mich davor, etwas erwidern zu müssen. Hinter Lizzie brennt die Dragon bereits lichterloh.
Nox winkt zwei Mitglieder der Besatzung herbei. »Sorgt dafür, dass das Feuer das Schiff auf den Meeresgrund sinken lässt. Schnell.« Sie wenden sich bereits ab und rufen dem Rest der Crew barsch Befehle zu.
Wenn ich Nox jetzt nicht aufhalte, wird they mich schnurstracks zurück nach Viedna bringen.
Ich eile zu them und packe their Arm. »Nox, du musst mir zuhören. Ich muss nach Khollu.« Dort lebt Bronagh. Selbst wenn er sich jetzt nicht dort aufhält, wird er irgendwann zurückkehren. Ich muss einfach hoffen, dass er meinen Pelz immer noch hat. Natürlich ist das reine Spekulation. Mein Pelz könnte mittlerweile überall sein. Womöglich ist er längst für einen ordentlichen Gewinn verkauft worden. Vielleicht werde ich für den Rest meines Lebens Gerüchten hinterherjagen und ihn niemals finden. Der Gedanke lässt mich erschaudern. »Nox, bitte.«
Nox schüttelt den Kopf. »Die Dinge entwickeln sich schneller, als wir es erwartet haben. Du musst in deine Heimat zurück, damit du dort für mich die südliche Route im Auge behalten kannst.«
Mir wird ganz heiß, und das hat nichts damit zu tun, dass ich eben potenziell mit der hübschen Blondine geflirtet habe. Nein, das ist Scham, und sie sorgt dafür, dass ich mir wünsche, dass sich das Deck unter mir auftun und mich verschlingen würde, damit ich die Wahrheit nicht zugeben muss. »Ich werde dir als Spionin nicht viel nützen. Nicht in meinem derzeitigen Zustand.«
Endlich hält they inne und wendet den Kopf, um mich anzusehen. »Wovon redest du da?«
»Mein Pelz.« Ich kann mich nicht dazu durchringen, in Nox’ graue Augen zu schauen. »Er wurde gestohlen. Ich muss ihn zurückbekommen. Bis ich ihn habe, werde ich nicht nach Hause gehen können.«
Lizzie
Eine Selkie, die ihr Fell verloren hat. Was für ein Klischee. Ich halte mich im Hintergrund und warte ab, was Nox sagen wird. Diesen Umweg zu machen, um die Selkie zu retten, war bereits verdammt riskant. Wir sollten eigentlich irgendwas jagen, aber ich habe vergessen, was es war. Nicht schon wieder Meerjungfrauen, glaube ich, und Evelyn hat sich ausführlich und beharrlich dagegen ausgesprochen, Drachen zu »ermorden«, es gibt allerdings irgendein Tiefseemonster, das wir gerade eigentlich erledigen sollten. Das alles verschwendet nur meine Zeit. Die Monsterjagd mag mein Blut in Wallung bringen, weil ich mich dann ausnahmsweise mal einem Gegner stellen kann, der tatsächlich eine Chance hat, mich zu besiegen. Ich kann die Euphorie jedoch nicht genießen, solange das verdammte Damoklesschwert meiner Familie über meinem Kopf schwebt.
Alles hat damit angefangen, dass mir meine Mutter einen Überraschungsbesuch abgestattet hatte, was zu einer Reihe zunehmend frustrierender Ereignisse führte. Um sicherzustellen, dass meine reizende Mutter meine Geliebte nicht bei lebendigem Leib häutet, habe ich Evelyn gesagt, dass sie fliehen solle. Doch Evelyn ist nun einmal Evelyn, also ist sie geradewegs durch ein Portal gesprungen – und hat den unbezahlbaren Schmuck meiner Familie mitgenommen.
Und ihn dann umgehend verloren.
Oder besser gesagt: Sie hat dafür gesorgt, dass man sie von dem Schiff wirft, auf dem sich besagter Schmuck aktuell befindet. Das Ganze ist eine absolute Katastrophe, und die Tatsache, dass sich Nox weigert, die CrimsonHag aufzuspüren, verschlimmert alles nur noch. Wenn they nicht bereit ist, mir diesen Gefallen zu tun, obwohl ich mich im Kampf als äußerst nützlich erwiesen habe, dann wird they ganz sicher nicht den Kurs für eine Agentin ändern, die they offensichtlich zurück auf ihrer Heimatinsel haben will, damit sie den Schiffen der Cŵn Annwn, die dort vorbeikommen, Geheimnisse entlocken kann.
Und tatsächlich schüttelt Nox bereits den Kopf. »Es tut mir wirklich leid, Maeve. Ich befinde mich gerade auf einer Jagd und wir haben bereits zu viel Zeit vergeudet. Wenn wir noch länger brauchen, um unseren Auftrag zu erledigen, wird jemand anfangen, Fragen zu stellen.« They zögert. »Und deine Stellung ist zu wichtig, um zu lange unbesetzt zu bleiben. Nicht dein Fell hat dich für die Rebellion so wertvoll gemacht, sondern deine menschliche Form.«
Das ist hart, aber mit einem weichen Herzen gewinnt man keinen Aufstand. Wenn Nox auch nur die geringste Chance auf Erfolg haben will – und ich bin mir nicht sicher, dass dieses Unterfangen erfolgreich sein wird –, darf they den Verlust einer einzelnen Person nicht über das Wohl der Allgemeinheit stellen. Das verstehe ich nur zu gut. Meine Mutter betrachtet die Familie Bianchi als geschlossene Einheit statt als Ansammlung mehrerer Leute, die alle ihre eigenen Gedanken und Gefühle und Ziele haben. Wenn man in die Blutlinie unserer Familie hineingeboren wird, dann wird von einem erwartet, dass man stets gehorcht.
Maeve bricht nicht in Tränen aus, womit ich eigentlich gerechnet habe. »Nox, du verstehst das nicht.«
»Doch, das tue ich. Besser, als mir lieb ist.« They klingt tatsächlich reumütig, was diese ganze Unterhaltung nur noch unangenehmer macht. »Es tut mir leid, Maeve.«
Maeve. Ein süßer Name für ein süßes kleines Ding. Sie ist von kurzer Statur und so kurvig, dass man ihre Hüften packen und sie an sich ziehen will. Ihr lockiges rotes Haar bildet ein zerzaustes Durcheinander auf ihrem Kopf, fasziniert mich aber dennoch. Und die verdammten Sommersprossen. Ich habe schon sehr lange keine Liebhaberin mit Sommersprossen mehr gehabt.
Nicht, dass ich darüber nachdenke, dieses erbärmliche Wesen mit in mein Bett zu nehmen. Ich bevorzuge Partnerinnen, die ein wenig mehr Pfeffer und schärfere Zähne haben. Ich weiß nicht, wie Selkies in Threshold sind, allerdings sind in meinem Reich alle Geschichten, die sich um sie drehen, tragisch und bittersüß. Sie sind Opfer, die lediglich darauf warten, ausgenutzt zu werden – mehr nicht.
Ich zwinge mich dazu, mich von ihr abzuwenden, nur um Evelyn und Bowen zu erblicken. Er ist ein großer, muskulöser Grobian mit schulterlangem dunklen Haar und dauerhaft finsterer Miene. Außer wenn er Evelyn anschaut. Er zieht sie zu sich heran, um ihr einen flüchtigen Kuss zu verpassen, und dann eilt er davon, um zu tun, was immer er erledigen soll, um uns verdammt noch mal von dem brennenden Schiff wegzubringen.
Evelyn hat praktisch Sterne in den Augen, während sie ihm hinterherschaut. Das sorgt dafür, dass sich mir der Magen umdreht. Das Gefühl wird noch schlimmer, als sie sich mit sanftem Verständnis im Gesicht mir zuwendet. Ich hasse es, wenn sie mich so ansieht. In ihrem Blick liegt eine Intimität, nach der ich mich früher einmal gesehnt habe, doch nun fühlt sie sich an wie Schmirgelpapier auf meiner Haut.
Sie gehört mir nicht länger. Und auch wenn ich nicht zu stolz bin, jemanden zu ermorden, um zu bekommen, was ich will, erkenne ich einen aussichtslosen Kampf, wenn ich einen vor der Nase habe. Ich habe Evelyn in dem Moment verloren, als ich ihr gesagt habe, dass sie fliehen soll. Sie weiterhin zu verfolgen, wird mich bloß wie eine Idiotin dastehen lassen, und sie wird am Ende dennoch in den Armen dieses Arschlochs landen.
Sie hebt einen Beutel vom Boden auf, den ich bis dahin nicht bemerkt hatte. »Ich habe dir ein paar trockene Klamotten mitgebracht. Ich dachte, dass du sie gebrauchen könntest.«
»Ich werde mich in meiner Kajüte umziehen. Es gab keinen Grund für dich, diese Mühe auf dich zu nehmen.« Ich nehme ihr den Beutel aus den Händen und gehe an ihr vorbei. Ich sorge dafür, dass mich meine langen Schritte so schnell wie möglich von ihr wegbringen.
Ich steige die Stufen hinunter, und ein kleiner Teil von mir ist angesichts der Tatsache, dass das Schiff innen größer ist als außen, immer noch überrascht. Ich habe zuvor schon Taschendimensionen erlebt, diese hingegen ist so ausgeklügelt, dass der Übergang absolut nahtlos erscheint. Es gibt keinen überwältigenden Augenblick, in dem man sich nicht sicher ist, wo oben und unten ist, und an der Stelle, an der das Schiff in die Taschendimension übergeht, befindet sich nicht einmal eine Delle im Boden. Das ist beeindruckender als alles, was wir zu Hause haben. Wenn man dann noch die Tatsache hinzunimmt, dass hier fließendes Wasser und Toiletten vorhanden sind – und offensichtlich ein Heißwasserboiler von beachtlichem Fassungsvermögen –, gibt es wirklich schlimmere Orte, an denen man leben könnte.
Aber das alles ändert nichts an der Tatsache, dass ich nicht hier sein sollte.
Dass sich die Zeit in jedem Reich anders verhält, ist mir bereits bekannt. Ich habe fast ein ganzes Jahr gebraucht, um das Portal zu finden, das mich nach Threshold bringen würde. Und doch sind für Evelyn höchstens ein paar Wochen vergangen. Ich gehe auch nicht davon aus, dass die Umrechnung immer nach den gleichen Bedingungen erfolgt, also lässt sich nicht leugnen, dass eine beträchtliche Menge Zeit vergeht, während ich hier bin und es nicht schaffe, den Familienschmuck in die Finger zu bekommen.
Ohne ihn kann ich nicht nach Hause zurückkehren. Erbin hin oder her, meine Mutter wird mir dafür, dass ich so spektakulär versagt habe, die Kehle herausreißen. Schließlich darf niemand Schwaches die Familie anführen, wenn sie tot ist. Falls sie überhaupt jemals sterben sollte. Mittlerweile bezweifle ich nicht, dass sie vorhat, ewig zu leben.
Wäre ich irgendjemand anders, würde ich gar nicht mehr nach Hause zurückkehren. Meine Mutter ist nicht für ihre Geduld bekannt und wenn sie mich nicht bräuchte, um kleine Vampirbabys zu zeugen, hätte sie sich nicht dazu herabgelassen, mir eine zweite Chance zu geben, nachdem ich es nicht geschafft habe, die Familienerbstücke zu beschützen.
Sie hätte mich einfach auf der Stelle getötet und wäre dann zur Tagesordnung übergegangen.
Ich kämpfe gegen ein Schaudern an. Ich sollte wohl am besten nicht zu intensiv darüber nachdenken, wie sie mit meiner Abwesenheit umgeht. Ob ich nun erfolgreich bin oder nicht, wenn ich nach Hause zurückkehre, werde ich einen Preis dafür zahlen müssen. Ich werde das Ganze ertragen, so wie ich alle Lektionen meiner Mutter ertragen habe, um danach stärker daraus hervorzugehen.
Eine schnelle Dusche wirkt Wunder, um meine verdrossene Stimmung zu bessern. Ich ziehe mir trockene Kleidung an und binde mir die Haare oben am Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammen, so wie ich es fast immer tue. Ich bin gerade dabei, mir zu überlegen, ob ich mich dazu in der Lage fühle, mich mit Leuten abzugeben, als die Tür aufgeht und die Selkie hereinkommt. Sie bleibt wie angewurzelt stehen. »Oh. Tut mir leid. Mir war nicht klar, dass bereits jemand hier ist. Dies ist die Kajüte, zu der mich Nox geschickt hat.«
Ich werde dem Kapitän die Wirbelsäule herausreißen und sie them in den Hals stopfen. Es gibt noch andere Kajüten. Als Evelyn, Bowen und ich Nox dabei geholfen haben, eine Meuterei anzuzetteln und den letzten Kapitän der Audacity loszuwerden, ist die Hälfte der Besatzung Hedd ins nasse Grab gefolgt. Seitdem füllen wir diese Lücken langsam wieder auf und ermöglichen es anderen Seeleuten, sich uns anzuschließen. Aber wir sind noch weit von einer vollständigen Crew entfernt. Nox hätte diese Frau zu einer dieser leeren Kajüten schicken können. Stattdessen hat they sie zu mir geschickt. Da they nichts ohne Hintergedanken macht, reicht das aus, um mich misstrauisch werden zu lassen …
»Nox wird dir also nicht bei dem Pelzproblem helfen?«
Die Selkie blinzelt mich mit ihren großen dunklen Augen an. »Bei allem gebotenen Respekt, ich kenne dich nicht. Du bist offensichtlich eine neue Rekrutin, was bedeutet, dass ich dir nicht trauen kann. Ich weiß nicht, warum du mich etwas fragst, obwohl du die Antwort bereits kennst, aber ich bin nicht daran interessiert, dieses Spiel mitzuspielen, was auch immer du damit bezwecken magst.«
Ich trete beiseite, während sie an mir vorbei ins Bad huscht. Das war eine winzige Zurschaustellung von Rückgrat, und ich kann nichts gegen die Anerkennung ausrichten, die als Reaktion darauf in mir aufflammt. Schwäche ist ein Zeichen für Beute, und ich habe diese Frau als Beute eingeschätzt. Doch vielleicht steckt mehr in ihr als nur eine holde Dame in Nöten.
Womöglich suche ich aber auch nach einer Ausrede, um eine plausible Erklärung dafür zu haben, dass ich mich zu ihr hingezogen fühle. Ich mag hübsche Dinge, musste jedoch schon vor langer Zeit lernen, dass ich dazu neige, sie kaputt zu machen. Während einige dieser hübschen Dinge dazu bestimmt waren, kaputt gemacht zu werden, gibt es auch jene, die mich mit Reue erfüllen, wenn ich an sie denke. Im Laufe meines langen Lebens habe ich gelernt, mich nur auf Partnerinnen und Partner einzulassen, die ihrerseits Klauen und Zähne und Dornen haben.
Sie neigen dazu, länger zu überleben.
Evelyn muss mir den Kopf stärker verdreht haben, als mir bewusst war, wenn ich nun darüber nachdenke, eine Person mit in mein Bett zu nehmen, die aussieht, als würde sie zusammenklappen, wenn ich nur ein barsches Wort sage. Ich schüttle den Kopf und verlasse die Kajüte, um einmal mehr unseren eigensinnigen Kapitän aufzusuchen. Nox mag den albernen Narren spielen, aber hinter diesen hübschen Augen verbirgt sich ein gerissener Verstand. Ich vermute, dass they einen Hintergedanken hatte, als they Maeve zu meinem Zimmer geschickt hat.
Ich trete durch die Tür von Nox’ Kajüte, ohne anzuklopfen, und halte dann abrupt inne, als ich sehe, dass Nox splitterfasernackt vor mir steht. They ist wirklich gut gebaut. Bislang habe ich Bräunungsstreifen nie anziehend gefunden, ich kann jedoch nicht leugnen, dass sie them nur noch verführerischer machen. They zieht die blonden Augenbrauen hoch. »Sofern du nicht beschlossen hast, auf meine Flirtversuche einzugehen, klopfen die Leute normalerweise an, wenn sie in meine Kajüte kommen.«
Ich trete die Tür hinter mir zu und verschränke die Arme vor der Brust. »Wenn ich mit dir ins Bett gehen wollte, würdest du es wissen.«
Nox lacht und wirkt vollkommen unbeeindruckt. »Die Tatsache, dass du noch nicht versucht hast, mir die Kehle herauszureißen, bedeutet, dass du dem Gedanken nicht vollkommen abgeneigt bist. Aber da du eindeutig entschlossen bist, mir immer wieder das Herz zu brechen … Was willst du stattdessen?« They schnappt sich ein Hemd vom Bett und zieht es sich über den Kopf.
»Wirst du der Selkie wirklich nicht dabei helfen, ihren Pelz zurückzubekommen? Nachdem du so viel auf dich genommen hast, um sie zu retten?«
»Die Selkie hat einen Namen.« Nox zieht sich eine Hose an und schafft es dabei irgendwie, elegant statt unbeholfen zu wirken. »Aber nein, so gern ich es auch tun würde, kann ich nicht dem Piraten hinterherjagen, der Maeves Pelz gestohlen hat. Sie zu retten, war schon riskant genug. Und ich kann es mir nicht leisten, etwas zu tun, das dafür sorgen wird, dass die Cŵn Annwn unser Vorgehen genauer unter die Lupe nehmen. Wenn wir weiterhin von unseren üblichen Segelrouten abweichen, wird jemand im Rat anfangen, Fragen zu stellen.« Nox zögert und auf their Gesicht spiegelt sich etwas wider, das beinahe an Schuldgefühle erinnert. »Und ich meinte das, was ich vorhin gesagt habe, ernst. Maeves Verlust tut mir leid, ihre Fähigkeit, sich in eine Robbe zu verwandeln, ist für die Rebellion jedoch nur von geringem Wert. Die Bedürfnisse vieler überwiegen die Bedürfnisse einer einzelnen Person.«
Das bestätigt meinen Verdacht. Aus dem gleichen Grund ist Nox auch nicht bereit, mir zu helfen. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in diesem götterverlassenen Reich verspüre ich etwas anderes als reine Frustration. »Diese Selkie. Ist sie eine Einheimische? Oder ist sie jemand, der durch das falsche Portal gestolpert ist, so wie der Rest von uns?«
Nox setzt sich auf die Bettkante, um sich die Stiefel anzuziehen. »Ich sag es noch mal: Sie hat einen Namen.«
Das ist mir bewusst. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum es mir dermaßen widerstrebt, ihren Namen auszusprechen, aber Nox ist eindeutig nicht bereit, diese Unterhaltung fortzusetzen, wenn ich them nicht entgegenkomme. Ich verdrehe die Augen. »Na schön, ist Maeve eine Einheimische?«
»Du weißt bereits, dass sie das ist. Worauf willst du damit hinaus?«
Ich werfe them den Blick zu, den diese Frage verdient. »Genau dorthin, wo du mich hingeführt hast, als du sie meinem Zimmer zugeteilt hast. Ich weiß nicht, warum du dir die Mühe machst, so überrascht zu tun.«
They bricht in Gelächter aus. »So langsam denke ich, dass du mir nicht vertraust.« Dabei zuzusehen, wie they sich vom beschützerischen Kapitän in den flirtenden Charmeur verwandelt, ist ein wenig beunruhigend. Natürlich ist mir klar gewesen, dass es sich die ganze Zeit über bloß um eine Maske gehandelt hat, aber mit eigenen Augen zu sehen, wie they sie aufsetzt, fühlt sich an, als würde man einer Person dabei zuschauen, wie sie sich Stück für Stück ihrer Reizwäsche entledigt.
»Es ist wirklich erstaunlich, wie es dir gelingt, die Zeit zu finden und die Energie aufzubringen, Spiele zu spielen, während du so sehr um diese entzückende kleine Rebellion besorgt bist«, sage ich schließlich. »Wann wirst du tatsächlich mal anfangen zu rebellieren, statt den folgsamen Jäger zu spielen?«
Der steinharte Ausdruck kehrt in Nox’ graue Augen zurück. »Pass auf, was du sagst, Lizzie. Ich mag dich, also lasse ich dir deine Respektlosigkeit durchgehen, aber es gibt Grenzen.«
Ich ziehe lediglich eine Augenbraue hoch und lasse die Frage im Raum stehen.
Nox steht auf und dehnt die Schultern. »Du weißt bereits, dass ich dir nicht helfen kann. Zumindest nicht sofort. Maeve ist dazu in der Lage – wenn du ihr zuerst hilfst. Aber beeil dich. Ich meinte das, was ich über ihren Wert für die Rebellion gesagt habe, ernst. Sie ist die einzige Agentin, die wir auf Viedna haben, und wir müssen sie zurück nach Hause bringen, damit sie dort ihre Arbeit machen kann.«
Ich starre them an. »Mir willst du nicht helfen. Doch dein Herz schmilzt regelrecht, wenn es um die arme Selkie geht, die ihr Fell verloren hat. Was für ein Klischee.«
»Du bist eine Vampirin mit Mutterkomplex. Das Gleiche könnte man also über dich sagen.«
Um ein Haar gebe ich dem Impuls nach, them auf der Stelle niederzuschlagen. Nur jahrelange Übung in Selbstbeherrschung hält meinen Zorn im Zaum. Nox bekommt wirklich viel zu viel mit. Das ist extrem lästig. »Wenn sie auf Viedna eine so wichtige Rolle spielt, bedeutet das, dass sie wohl kaum weit gereist ist. Ich verstehe nicht, wie mir das auch nur im Geringsten helfen sollte. Ich könnte ebenso gut eine Karte stehlen und allein losziehen. Eine misstrauische Frau würde dir vorwerfen, dass du versuchst, gleich zwei Aufgaben, für die du verantwortlich bist, auf andere abzuwälzen, statt dich selbst darum zu kümmern.«
»Verkauf dich nicht unter Wert. Du stellst einen Vorteil für diese Besatzung dar, selbst wenn du dermaßen miesepetrig bist, dass bei deinem Anblick selbst die Milch sauer werden könnte. Würde ich auch nur für eine Sekunde glauben, dass du vorhast zu bleiben, würde ich versuchen, dich von unserer Sache zu überzeugen.« Nox stolziert auf mich zu, und ich bin so überrascht, dass ich einen Schritt zurückweiche und them erlaube, an mir vorbei zur Tür zu gehen. Nox grinst. »Ich gebe allerdings zu, dass sogar ich langsam die Nase voll davon habe, dabei zuzusehen, wie du Evelyn und Bowen finstere Blicke zuwirfst. Frischverliebte lösen bei jedem eine gewisse Übelkeit aus, doch so einfach ist das für dich nicht, nicht wahr?«
Meine Augen verengen sich. »Pass gut auf, was du als Nächstes sagst.«
»Glaubst du, dass du sämtliches Blut aus meinem Körper reißen kannst, bevor ich Gelegenheit habe, dich zu Asche zu verbrennen?« Ein wilder Ausdruck schleicht sich in Nox’ graue Augen. Als wäre they sich ebenfalls nicht ganz sicher, ob they blufft.
Ein beträchtlicher Teil von mir will den Fehdehandschuh, den mir Nox gerade vor die Füße geworfen hat, aufheben, um them damit zu Tode zu prügeln. Aber auch wenn they ebenso nervtötend ist wie mein kleiner Bruder, spricht alles dafür, dass they ein guter Kapitän ist. Zweifellos würde jeder, der their Platz einnähme, diese Aufgabe weniger effektiv erfüllen – und wäre noch dazu deutlich schwieriger im Umgang.
Außerdem würde Evelyn wieder diese schreckliche enttäuschte Miene aufsetzen, wenn ich Nox kaltmachen würde. Als würde ich damit ihre schlimmsten Vermutungen bestätigen. Das sollte eigentlich nicht ausreichen, um mich von meinem Angriff abzuhalten, trotzdem tut es irgendwie genau das.
Ich trete zurück und mache dem Kapitän mehr Platz, damit they an mir vorbeigehen kann. »Heute werden wir das nicht herausfinden.«
»Schade.« They klingt tatsächlich so, als würde they es ernst meinen. Enttäuschung schwingt in their fröhlichen Tonfall mit. »Dann ein andermal.«
Ich folge them aus der Kajüte nach draußen. Their Drohung erinnert mich einmal mehr an meinen Bruder Wolf. Einst war ich diejenige, die ihn in Flammen aufgehen ließ, alles im Namen der Anerkennung meiner Mutter.
Ich denke nicht, dass er mir je dafür vergeben hat. Nicht, dass ich auf seine Vergebung aus wäre. So eine Familie sind wir nicht.
In meinem Augenwinkel blitzt etwas Rotes auf, also drehe ich mich um und sehe die Selkie, die mit Evelyn spricht. Mich mit einer Fremden zusammenzutun, selbst mit einer Fremden, die sich ebenso dringend wie ich etwas zurückholen will, das ihr gestohlen wurde, stellt ein Risiko dar. Die Frage ist, ob das Risiko die Belohnung wert ist.
Darüber muss ich nachdenken.
Maeve
Die Vampirin beobachtet mich schon wieder.
Ich befinde mich nun seit einer Woche an Bord der Audacity und habe das Gefühl, dass das Gewicht eines nachdenklichen Blicks auf meinem Nacken lastet, wann immer ich mich umdrehe. Und es ist jedes Mal
