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Enemies to Lovers auf hoher See
Nachdem ihre Ex-Freundin ihr das Herz gebrochen hat, stiehlt die junge Hexe Evelyn deren unersetzliche Familienerbstücke und flieht durch das erstbeste Portal, das sie finden kann. Sie landet in Threshold, einer magischen Zwischenwelt, die aus einem gigantischen Meer und vielen kleinen Inseln besteht. Ausgerechnet Bowen, der Kapitän der berüchtigten Piratenbande Cŵn Annwn, fischt sie aus dem Wasser und stellt Evelyn vor die Wahl: Entweder schließt sie sich der Crew an, oder er schmeißt sie wieder von Bord. Doch die junge Hexe lässt sich nicht gerne herumkommandieren - auch nicht von einem verboten attraktiven Kapitän, der mit jedem Tag mehr ihr Herz zu erobern droht ...
»Spicy Fantasy mit Piraten, Vampiren, Hexen und mehr? Count me in!« ONEBOOKMORE
Band 1 der neuen New-Adult-Fantasy-Reihe der TIKTOK-Hype und NEW-YORK-TIMES-Bestseller-Autorin Katee Robert
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Seitenzahl: 509
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
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Danksagungen
Die Autorin
Die Romane von Katee Robert bei LYX
Impressum
Katee Robert
Hunt on Dark Waters
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anika Klüver
Um ihrer Ex-Freundin Lizzie eins auszuwischen, stiehlt die junge Hexe Evelyn deren unersetzliche Familienerbstücke und flieht durch das erstbeste Portal, das sie finden kann. Sie landet in Threshold, einer magischen Zwischenwelt, die aus einem gigantischen Meer und vielen kleinen Inseln besteht. Dass diese Welt nach strengen Regeln funktioniert, spürt Evelyn schnell am eigenen Leib. Denn sie wird ausgerechnet von Bowen, dem Kapitän der berüchtigten Piratenbande Cŵn Annwn, aus dem Wasser gefischt und vor die Wahl gestellt: Entweder sie schließt sich der Crew an, oder er ist gezwungen, sie zu töten. Um zu überleben und dem Zorn ihrer sehr mächtigen Ex-Freundin, die ihr bereits dicht auf den Fersen ist, zu entkommen, muss sich Evelyn wohl oder übel mit ihrem neuen Leben als Piratin anfreunden. Doch die junge Hexe lässt sich nicht gerne herumkommandieren und schmiedet einen Plan, der ihre Flucht garantieren soll – wäre da nicht ihr verräterisches Herz, das von Tag eins an droht, vom Kapitän persönlich gekapert zu werden …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für Tim. Dieses Buch wäre nicht entstanden, wenn du mich nicht dazu gebracht hättest, die E-Mail abzuschicken, von der ich ständig geschwafelt habe. Ich liebe dich!
Meine Großmutter hat mir alles beigebracht, was ich weiß. Sie war ein verwelktes altes Weib, als meine Mutter starb und mich im hochbetagten Alter von sechs Jahren allein ließ. Bunny – sie bestand darauf, dass ich sie so nenne – fuhr damals in einem uralten Auto vor, warf einen Blick auf mich und schnalzte mit der Zunge. »Du siehst genauso aus wie sie, was? Steig ein, Vögelchen. Es hat keinen Sinn, da dumm rumzustehen und Däumchen zu drehen.«
Sie hatte nicht viel Respekt vor Gesetzen – menschlichen oder sonstigen –, aber Bunny hatte eine endlose Liste mit Regeln, über die man fast unmöglich den Überblick behalten konnte. Führe keine Zauber während einer Sonnenfinsternis durch. Wenn du schon lügst, dann gib dir wenigstens Mühe, damit es glaubwürdig klingt. Welchen Weg du im Leben wählst, spielt keine Rolle, solange es der richtige für dich ist.
Und halte dich verdammt noch mal von Vampiren fern.
Vermutlich dreht sich Bunny gerade im Grab um. Zumindest würde sie das, wenn ich sie beerdigt hätte, als sie einen Tag nach meinem achtzehnten Geburtstag starb. Leute wie wir mögen keine Gräber – auch das hat sie mir beigebracht. Wir bevorzugen es, verstreut zu werden, um uns den Naturelementen anzuschließen. Unsere Asche ist dann wie eine kleine Handvoll Sternenstaub, der zur Erde, ins Meer, in die Luft und ins Feuer zurückkehrt. Bunny hat sich an dieses Leben geklammert, bis sie nicht länger gebraucht wurde, danach ist sie weitergezogen, um Pfade zu beschreiten, auf denen ich ihr nicht folgen kann.
Mir soll es nur recht sein, dass sie nicht mehr da ist, um zu sehen, was aus mir geworden ist.
Paradebeispiel: die umwerfende Vampirin, die neben mir an der Theke lehnt. Lizzie ist nicht meine feste Freundin. Sie hat es nicht so mit Bezeichnungen, und ich bin zu sehr Bunnys Kind, um mit einer Vampirin zusammen zu sein.
Aber mit einer zu schlafen?
Ich bin schon immer gern Risiken eingegangen. Hoffentlich wird mir das diesmal nicht zum Verhängnis werden. Meine Erfolgsbilanz sagt etwas anderes, aber hey, ich lerne langsam, wenn Spaß im Spiel ist. Es ist nicht so, als würde ich viel Zeit mit Lizzie verbringen. Wir haben uns vor sechs Monaten kennengelernt, und nachdem wir zwei glorreiche Wochen im Bett verbracht hatten, bei denen ich mir nicht sicher war, ob ich sie überleben würde, sind wir uns immer mal wieder begegnet, um anschließend eigene Wege zu gehen und anderswo Zerstörung anzurichten.
Ich wusste nicht, dass sie wieder in der Stadt ist, bis ich vor zwei Stunden eine Textnachricht mit einer Uhrzeit und einem Ort erhielt. Man stelle sich meine Überraschung vor, als ich in dieser heruntergekommenen Bar auftauchte, die zu gleichen Teilen mit Menschen und übernatürlichen Gestalten gefüllt ist. Meist meiden wir magisch begabten Leute normale Menschen. Sie wissen nicht, dass wir existieren, und wir hätten gern, dass das so bleibt. Aber es gibt Orte, die eine Ausnahme für diese Regel darstellen, und diese Bar ist einer davon.
Die Bar kommt mir nicht wie einer der üblichen Läden vor, in denen Lizzie sich gerne herumtreibt, aber was weiß ich schon? Schließlich verbringen wir unsere gemeinsame Zeit nicht mit Reden.
»Was ist mit der da?«
Ich schaue in die Richtung, in die Lizzie mit dem Kinn deutet, und entdecke eine zierliche Frau, die allein am Ende der Theke sitzt. Andere übernatürliche Wesen auf magische Weise zu überprüfen, wird als unhöflich angesehen, also riskiere ich es nicht, sie kommt mir allerdings menschlich vor. Was bedeutet, dass Lizzie spielen will. Das Ganze haben wir schon ein paarmal gemacht. Wir reißen eine Menschenfrau in einer Bar auf und nehmen sie mit ins nächstbeste Hotel, um eine Nacht voller Sex und gelegentlich auch Magie zu erleben. Da Lizzie eine Blutlinienvampirin ist, hat ihr Biss eine luststeigernde Wirkung, was für jede Menge Spaß sorgt.
Ich bin heute Abend nicht in der Stimmung. Ich hätte gar nicht erst auf Lizzies Textnachricht reagieren oder mir zumindest eine Ausrede überlegen sollen. Heute ist der dreiundzwanzigste April, was bedeutet, dass ich gestern fünfundzwanzig geworden bin.
Es bedeutet auch, dass Bunny nun seit sieben Jahren tot ist. Das ist eine Glückszahl, es fühlt sich jedoch gerade nicht so an, als hätte ich sonderlich viel Glück. Trauer ist etwas Seltsames. An den meisten Tagen komme ich zurecht, indem ich die Zauber wirke, die mir Bunny beigebracht hat, oder meine Umgebung mit einer speziellen Mischung aus Küchenhexenmagie reinige, von der sie schwor, dass sie negative Emotionen abwehren würde.
Doch an den schlechten Tagen mache ich einen kompletten systematischen Prozess durch, bei dem ich mich an sie erinnere. Ich putze alles, zaubere und backe ihre Lieblingskekse, was jedes Mal in einem tränenreichen Moment gipfelt, wenn ich die Schachtel mit Fotos durchgehe, die ich in meinem Schrank aufbewahre. Sie würde mir einen Schlag auf den Hinterkopf verpassen, wenn sie mich an diesen Tagen sehen könnte. Sie würde mich daran erinnern, dass die Toten nicht endgültig fort sind und es keinen Sinn hat, mein Leben damit zu verschwenden, um jemanden zu trauern, der lediglich durch eine Tür gegangen ist, um den nächsten Teil dieser großen Reise anzutreten, die wir Existenz nennen.
An den guten Tagen glaube ich ihr. An den schlechten Tagen? Eher weniger. Und der Jahrestag ihres Todes ist immer ein schlechter Tag.
»Evelyn.« Lizzies Stimme ist kalt, aber das ist nichts Neues. Sie mag vor Hitze regelrecht knistern, wenn wir im Bett sind, außerhalb davon hingegen gibt sie sich nicht mit wärmeren Gefühlen ab.
Ich seufze und versuche, mich zu konzentrieren. Ihr weniger als hundert Prozent meiner Aufmerksamkeit zu schenken, ist gefährlich. Und genau aus diesem Grund hätte ich heute Abend nicht herkommen sollen. Ich schaue erneut zu der Menschenfrau hinüber. Sie reibt ihren Strohhalm auf verführerische Weise an ihrer Unterlippe, während sie uns beobachtet … Lizzie beobachtet. »Sie ist hübsch.«
»Hast du eine andere Kandidatin im Sinn?«
Ich lasse den Blick halbherzig durch den Raum schweifen. Fast alle mustern Lizzie, allerdings geben sich die meisten von ihnen Mühe, dabei nicht zu offensichtlich zu wirken. Ich kann ihnen keinen Vorwurf machen. Ihr Anblick ist schlichtweg beeindruckend. Sie ist eine schlanke weiße Frau mit einem strengen dunklen Pferdeschwanz und einem Faible für alltagstaugliche Sportbekleidung. Ihre Leggings und ihr eng anliegendes Langarmshirt sollten sie eigentlich wie eine Fußball-Mom erscheinen lassen, die sich zufällig in diese heruntergekommene Bar verirrt hat.
Wie Beute.
Doch als Blutlinienvampirin aus einer Familie, die über die magische Fähigkeit verfügt, das Blut im Körper einer Person zu kontrollieren, darüber hinaus unvorstellbar reich ist und über einen Biss mit luststeigernder Wirkung verfügt, ist Lizzie noch nie in ihrem Leben Beute gewesen.
Die anderen Raubtiere im Raum wissen das ebenfalls. Ich entdecke eine Werwölfin, die ihren Partner zur Tür hinauszerrt. Und in einer Ecke verlangt ein Dämon mit einem wirklich raffinierten Tarnzauber gerade nach seiner Rechnung.
Sie machen den Weg frei, damit Lizzie ungestört auf die Jagd gehen kann.
Zu schade, dass ich heute Abend nicht in der Stimmung bin. Ich kippe meinen dritten – vierten? … fünften? – Tequila hinunter und stelle das Glas auf die Theke. Dabei versuche ich, die klebrige Oberfläche zu ignorieren. »Was auch immer du willst. Sie ist in Ordnung.« An jedem anderen Abend wäre ich zu der Frau am Ende der Theke hinübergeschlendert, um ihr mein charmantestes Lächeln zu schenken, während ich ihr einen Drink ausgebe und sie zurück zu Lizzie führe. Heute Abend fühlt sich dieser Aufwand jedoch zu anstrengend an.
»Bist du etwa eifersüchtig, Evelyn?«
Selbst wenn ich es wäre – und das bin ich nicht –, bin ich klug genug, es nicht zuzugeben. Lizzie mag Spaß daran haben, mit mir ins Bett zu gehen, aber ich bin nicht so dumm, zu glauben, dass Orgasmen sie je davon abhalten würden, mich zu ermorden, falls ihr der Sinn danach steht.
Bunny hatte wirklich recht. Ich bin eine verdammte Närrin. Das ist die einzige Erklärung dafür, dass ich immer wieder mit Lizzie in die Kiste springe. Ein Teil von mir findet es aufregend, am Abgrund des Verderbens zu balancieren.
Dieses Verlangen sorgt dafür, dass ich mich zu Lizzie hingezogen fühle. Ich kann mich heute Abend amüsieren. Ich werde mich dazu zwingen, mich heute Abend zu amüsieren, selbst wenn es mich umbringt. Normalerweise hege ich keinen Todeswunsch, doch am dreiundzwanzigsten April ist eben nichts normal. Nicht mehr.
»Vielleicht werde ich sie mit nach Hause nehmen, statt sie für dich einzufangen.« Ich grinse Lizzie an. »Willst du dich auf eine Wette einlassen?«
Sie mustert mich mit unheimlichen dunklen Augen. »Bist du betrunken?«
»Nein. Vermutlich nicht. Okay, vielleicht ein bisschen.« Ich bin einfach nur sentimental und lasse mich davon überwältigen. Nicht, dass Lizzie wüsste, dass gestern mein Geburtstag war oder dass der heutige Tag bedeutet, dass Bunny seit sieben Jahren tot ist. Eine derartige Beziehung haben wir nicht. Eigentlich kann man das, was wir miteinander haben, nicht mal als Beziehung bezeichnen. Es ist eher eine … wie nennen die gewöhnlichen Sterblichen das noch mal? Eine Situationship.
»Wenn du nicht betrunken bist, was stimmt dann nicht mit dir? Du verhältst dich sonst nie so.«
Wäre ich jemand anders, wären wir beide anders, wäre das hier ein Wendepunkt für uns. Ich würde ihr beichten, warum ich so niedergeschlagen bin, und sie würde etwas unternehmen, um mich zu trösten. So was passiert allerdings nur in romantischen Filmen. Nicht im echten Leben. »Ich will nicht darüber reden.«
»Evelyn.«
»Ist schon gut. Mir geht es gut.« Ich hebe eine Hand, um den Barkeeper herbeizurufen, damit er mir einen weiteren Tequila einschenkt, doch Lizzie packt mein Handgelenk. »Die Mühe kannst du dir sparen. Wir gehen.«
Ich blinzle. »Wie bitte?«
»Ich bin es nicht gewohnt, mich zu wiederholen.« Sie wirft ein Bündel Geldscheine auf die Theke und zerrt mich in Richtung Tür. Sie bewegt sich so schnell, dass ich kaum hinterherkomme. Ich erhasche einen Blick auf die Frau am Ende der Theke und bemerke ihren enttäuschten Gesichtsausdruck. Dann haben wir die Tür erreicht. Niemand macht Anstalten, mir zu helfen, obwohl ich nicht wirklich in Gefahr bin.
Zumindest denke ich, dass ich es nicht bin … oder?
»Lizzie?« Ich stoße beinahe mit der Hüfte gegen einen der Tische, doch irgendwie bemerkt Lizzie es und zerrt mich im letzten Moment zur Seite. Ich stoße zischend den Atem aus. »Wo brennt’s denn?«
»Du zeigst gerade sehr eindeutig, dass du verletzt bist. Jedes Raubtier in diesem Gebäude war kurz davor, vorbeizukommen und an dir zu schnüffeln.«
Ich blinzle erneut, meine Erwiderung bleibt mir jedoch im Hals stecken, als sie mich durch die Tür bugsiert und mir die kalte Nachtluft ins Gesicht schlägt. Eigentlich sollte das dafür sorgen, dass ich sofort nüchtern werde, aber irgendwie führt es bloß dazu, dass ich erkenne, wie betrunken ich tatsächlich bin. Ich schwanke und reiße meinen Arm aus Lizzies Umklammerung. Zumindest versuche ich es. Meine Bemühungen bringen mir allerdings nichts weiter ein als eine schmerzende Stelle auf der Haut, die sich morgen wahrscheinlich in einen beeindruckenden Bluterguss verwandelt haben wird. »Lass mich los.«
Sie ignoriert mich. »Wenn ich dich in ein Taxi setze, wirst du dann nach Hause fahren und deinen Rausch ausschlafen?«
Vor zehn Minuten war das alles, was ich wollte. Nun stemme ich die Füße in den Boden, denn der Tequila, der durch meine Adern schießt, verspricht mir eine tolle Nacht, die auf gar keinen Fall in einer Katastrophe enden könnte. »Es ist noch früh.«
»Evelyn.«
»Lizzie.« Ich ahme ihren Tonfall nach. »Du wolltest die hübsche Lady. Lass uns gehen und sie holen.«
»Ich bin nicht in der Stimmung, auf eine melancholische Betrunkene aufzupassen.«
»Wie unhöflich. Ich bin nicht melancholisch. Melancholie ist was für Dichter und Leute, die vorhaben, den nächsten Bestseller zu schreiben. Ich bin gut drauf. Lustig. Jemand, mit dem man verdammt viel Spaß haben kann.«
»Hmm.« Wir erreichen die Bordsteinkante, und sie hebt eine Hand. Ich gehe davon aus, dass sie ein Taxi herbeiwinken will. Doch der Wagen, der vor uns hält, ist dunkel und weist keinerlei Hinweise auf seine Herkunft auf. Ich bin mir nicht mal bezüglich der Marke und des Modells sicher.
Ich starre das Fahrzeug an. »Wird das hier irgendeine besonders kostspielige Aktion? Denn ich mag ja in der Lage sein, meine Rechnungen zu bezahlen, aber das gelingt mir nur, indem ich kein Geld für derartigen Quatsch auf den Kopf haue. Das ist viel zu protzig, Lizzie. Ehrlich, das ist einfach nur verschwenderisch.«
Sie schaut mich an, und ich könnte beinahe schwören, dass ich sehe, wie sie darüber nachdenkt, ob sie mir die Kehle herausreißen soll, um diese wandelnde Katastrophe namens Evelyn einfach hinter sich zu lassen, oder nicht. Schließlich schüttelt sie den Kopf. »Steig in den Wagen, Evelyn, sonst werde ich dich dazu zwingen.«
»Wenn du …«
Offensichtlich haben wir das Ende von Lizzies Geduldsfaden erreicht. Sie vollführt eine Bewegung, die mich vielleicht beeindrucken würde, wenn ich nicht so verdammt genervt wäre, zerrt mich mit einer Hand nach vorn und packt mit der anderen meinen Nacken, während sie gleichzeitig die Autotür öffnet. Ich habe kaum Gelegenheit zu fluchen, als sie mich auch schon auf den Rücksitz stößt.
»Hör auf, mich so zu behandeln, als wäre ich eine Bedrohung!«
»Du bist keine Bedrohung. Du bist eine Belastung.« Sie lässt sich hinter mir ins Auto gleiten und schlägt die Tür zu. Ich strecke die Hand nach dem Griff der anderen Tür aus, doch das Auto fährt so schnell los, dass ich gegen den Sitz geschleudert werde.
Sie hat mich gerade … Sie hat mich gerade ernsthaft … Ich wirbele herum und starre die Person hinter dem Steuer an. Eine kurze magische Überprüfung – unhöflich, ich weiß, aber das kümmert mich in diesem Augenblick nicht – verrät mir, dass es sich um einen Vampir handelt. Verdammt. Ich lehne mich vor und klopfe gegen die Rückseite des Fahrersitzes. »Entschuldigung, ich werde entführt.«
Lizzie verdreht die Augen. »Du wirst nicht entführt. Ich rette dich vor dir selbst. Gern geschehen.«
»Nein, ich werde definitiv entführt. Halten Sie den Wagen an.«
Die Person hinter dem Steuer reagiert nicht, doch das habe ich ehrlich gesagt auch nicht erwartet. Es handelt sich um einen von Lizzies Lakaien, einen gebissenen Vampir, der einem Blutlinienvampir dient. Schon witzig, wie die Vampirkultur den Kapitalismus so gründlich nachahmt. Lizzie hat es bisher allerdings nie zu schätzen gewusst, wenn ich sie darauf hingewiesen habe. Bunny hatte mit ihrer Regel, dass man sich von Vampiren fernhalten sollte, wirklich den richtigen Riecher.
»Ich bin keine Belastung«, murmle ich. »Ich muss nicht gerettet werden.«
»Klar.« Sie schnaubt. »Was immer du sagst, Evelyn.«
Ich lasse mich in den Sitz zurücksinken, und mein Hirn schwappt in meinem Schädel hin und her. »Ich glaube, ich hasse dich.«
»Nein, du hasst mich nicht.«
Nein, ich hasse sie nicht. Ich rutsche zu ihr hinüber und lege meinen Kopf auf ihre Schulter. »Na schön, ich hasse dich nicht.«
»Ich weiß.«
Ich stupse ihren Arm an. Immer wenn ich gerade denke, dass Lizzie über keinerlei Sinn für Humor verfügt, lässt sie winzige Anflüge davon durchschimmern. Ich bin mir fast sicher, dass sie sich gerade über mich lustig macht, aber als ich in ihr umwerfendes Gesicht aufschaue, verzieht sie die Lippen nur ganz leicht zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. In der Dunkelheit des Wagens gelingt es mir fast, mich selbst davon zu überzeugen, dass auch ihre Augen ein klein wenig wärmer geworden sind. »Ich schätze, ich sollte dir dafür danken, dass du mich vor mir selbst gerettet hast. Akzeptierst du Orgasmen als Bezahlung?«
»Evelyn.« In ihrem Tonfall liegt liebevolle Verzweiflung. »Schließ die Augen, und ruh dich aus.«
Ich weiß nicht, ob es Vampirmagie oder der Alkohol ist, doch trotz meiner besten Bemühungen, sie offen zu halten, fallen mir die Augen zu. Schlaf wallt verlockend um mich herum auf und nimmt mich schließlich mit sich, um mich in seine dunkle Umarmung zu schließen. Und während ich davongleite, meine ich zu spüren, dass Lizzie mir mit den Fingern beruhigend über die Haare streicht.
»Wach auf, Evelyn.«
Ich hebe den Kopf vom Kissen und blinzle Lizzie an. Mein Schädel pocht im Rhythmus mit meinem Herzschlag, und mein Mund schmeckt … Tja, ich sollte wohl besser nicht zu intensiv darüber nachdenken, was für einen fürchterlichen Geschmack ich gerade auf der Zunge habe. »Ich brauche eine Zahnbürste.« Ich schaue mich um, und mir wird nach und nach klar, wo ich mich befinde. Ich bin hier bisher nur ein paarmal gewesen. Ich erkenne das große Bett mit den extrem edlen Laken und der herrlich angenehmen Daunendecke. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob Vampire schlafen, aber Lizzie macht generell keine halben Sachen. Das Schlafzimmer ist eine luxuriöse dunkle Oase. Zu luxuriös für meinen Geschmack. Zu dunkel. Aber in kleinen Dosen kann ich das wertschätzen.
»Warum bin ich in deinem Bett?« Ich setze mich auf und presse die Lippen zusammen, um zu verhindern, dass ich mich übergebe. »Warum hast du mich hergebracht? Du hättest mich einfach nach Hause schicken sollen.« Ich habe eine vage Erinnerung daran, dass sie mich ins Haus getragen und mich mit ihrer kompetenten und forschen Art ins Bett gebracht hat. Das würde mir vielleicht das Herz wärmen, wenn mir nicht so übel wäre.
Natürlich ruiniert sie es sofort. »Damit du an deinem eigenen Erbrochen erstickst und allein krepierst? Ich denke, das willst du nicht.« Sie wedelt mit einer Hand. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Uns bleibt keine Zeit. Du musst gehen.« Ihre Miene ist kalt und ihre Stimme entrückt. Keine Spur mehr von der Wärme, an die ich mich gewöhnt habe, und auch von dem geradezu sanften Wohlwollen, das sie mir gestern Nacht entgegengebracht hat, ist definitiv nichts mehr übrig.
Ganz schön dumm von mir, etwas zu vermissen, von dem ich mir fast sicher bin, dass ich es mir ohnehin nur eingebildet habe. Ich streiche mir das Haar aus dem Gesicht und versuche, meinen Kater auszublenden, der dafür sorgt, dass ich mich einfach wieder im Bett verkriechen will, um mich für ein paar weitere Stunden nicht zu bewegen. »Warum? Was ist los?«
»Diese Sache zwischen uns ist zu Ende. Ab sofort.« Sie wendet sich ab. Ihre Haut ist so blass, dass sie im Mondlicht, das durchs offene Fenster strömt, beinahe durchsichtig wirkt. »Ich habe gerade die Nachricht erhalten, dass meine Mutter auf dem Weg zu mir ist. Sie wird schon bald hier sein.«
Plötzlich ist mein verkaterter Zustand meine geringste Sorge. Lizzie mag eine Schwäche für mich haben, ihre Mutter dagegen hat einen sogar noch beängstigenderen Ruf als sie. Wenn sie herausfindet, dass ihre Tochter mit einer niederen Hexe geschlafen hat, wird sie mir wahrscheinlich jeden einzelnen Tropfen Blut aus dem Körper ziehen.
Verdammt, Bunny hatte recht. Ich hätte mich niemals auf Vampire einlassen sollen.
Zufälligerweise mag ich mein Blut genau da, wo es ist, also springe ich auf. Mein Magen rebelliert auf beunruhigende Weise, doch ich habe gerade keine Zeit, mich zu übergeben. Hektisch ziehe ich meine Klamotten an. »Wie lange habe ich?«
»Nicht lange.« Sie klingt beinahe gelangweilt. Als wäre ich ein lustiges Spielzeug gewesen, mit dem sie sich amüsiert hat. Und jetzt ist es an der Zeit, dieses Spielzeug wegzuwerfen.
Es gibt keinen Grund, warum das wehtun sollte. Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich mich vor mehreren Monaten in diesem Club von ihr verführen ließ. Wie dumm von mir, sentimental zu werden. Aber das letzte Nacht hat sich … anders angefühlt. Vielleicht lag das auch nur am Tequila, der mich albern und sentimental werden ließ. Lizzie hat mich zu sich nach Hause gebracht, weil ich mich lächerlich gemacht habe – nicht, weil ich ihr tatsächlich etwas bedeute.
Würde ich ihr etwas bedeuten, würde sie nicht tatenlos dastehen, während sich mein Tod nähert.
Götter, ich bin wirklich eine Närrin. Ich habe wahrhaftig angefangen, mich in sie zu verlieben. Energisch ziehe ich mir meine Stiefel an und binde sie schnell zu. »Wenn du mich einfach nach Hause gebracht hättest, wäre das jetzt gar kein Problem.«
»Nur ein weiterer Fehler in einer langen Reihe von Fehlern.«
Tja, verdammt, das tut definitiv weh. Ich atme mühsam ein und versuche, all die Gefühle zu verdrängen, die zusammen mit dem Rest des Tequilas durch meinen Körper strömen, damit ich klar denken kann. Auf mein verletztes Herz kann ich mich später noch konzentrieren. Schließlich wird Lizzies Mutter es mir womöglich direkt aus der Brust reißen, wenn ich jetzt nicht abhaue. »Du musst mich hier rausbringen.« Lizzie verfügt über die gleichen Fähigkeiten wie ihre Mutter – wie der Rest ihrer Familie. Sie ist in der Lage, mich lange genug zu beschützen, damit ich um mein Leben rennen kann.
»Ich habe keine Zeit. Ich muss sie empfangen, wenn sie eintrifft.« Sie zieht ihre Kleidung von letzter Nacht – von heute früh? – aus und macht sich daran, sich ein sauberes Outfit zusammenzustellen. Dumm wie ich bin, kann ich mich nicht davon abhalten, jedem Zentimeter ihrer Haut nachzutrauern, der jetzt von ihrem einfachen Kleid bedeckt wird, während sie die Knopfleiste schließt. Ich war noch nie zuvor mit einer Person im Bett, die körperlich so perfekt war wie Lizzie. Und das, was sie mit Blut anstellen kann, hat jede sexuelle Begegnung, die wir hatten, in ganz neue Höhen katapultiert.
Und sie … hat sich letzte Nach um mich gekümmert? Auch wenn ich es besser weiß, kann ich nicht umhin, an diesen zärtlichen Moment im Auto zu denken. Ich habe mir das nicht eingebildet – das schwöre ich. Ich zögere, während mein Herz wie verrückt pocht. Vielleicht lag ich falsch, als ich dachte, dass das mit uns nichts bedeuten würde. Vielleicht … »Komm mit mir«, platzt es aus mir heraus.
Lizzie zieht eine Augenbraue hoch. »Evelyn.«
Ich weiß, dass es keinen Sinn hat, einen aussichtslosen Kampf zu führen, aber mein törichtes Herz hat die Kontrolle über meinen Mund übernommen. »Bitte, Lizzie. Du bist mehr als die Waffe, als die sie dich benutzen. Du könntest so viel mehr sein.« Ich will sie nicht ändern. Keinesfalls. Doch was könnte sie sein, wenn sie tatsächlich frei von den Zwängen ihrer Familie wäre? Ich hätte es niemals gewagt, sie darum zu bitten, wenn ich nicht Angst um mein Leben hätte.
Sie kommt quer durchs Zimmer auf mich zu und umfasst sanft mein Kinn. Ihre dunklen Augen sind unergründlich. »Ich kann ehrlich nicht beurteilen, ob du versuchst, mich zu manipulieren, oder ob du das tatsächlich glaubst.« Sie schüttelt langsam den Kopf. »Wie dem auch sei, es wird nicht funktionieren. Ich habe kein Bedürfnis, etwas anderes als eine Waffe zu sein. Ich genieße es, eine Waffe zu sein.« Ihr Griff wird fester, und mehrere Sekunden lang denke ich, dass sie womöglich etwas wirklich Schockierendes tun wird, wie zum Beispiel mich zu küssen. Auch wenn ich es besser weiß, werde ich als Reaktion darauf ein klein wenig weich.
Dann stößt sie mich von sich. »Verschwinde.«
Ich habe kein Herz mehr, das man mir brechen könnte. Das Leben ist im besten Fall grausam und gnadenlos, andere Leute sind sogar noch schlimmer. Das weiß ich. Natürlich weiß ich das. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es schmerzt, als die Frau, mit der ich sechs Monate lang geschlafen habe, im Grunde genommen zugibt, dass es sie nicht kümmert, ob ich lebe oder sterbe.
Nach dem Gefühlschaos von gestern Nacht will sich ein Teil von mir einfach nur zusammenkauern und das, was passieren wird, geschehen lassen.
Der Impuls hält nicht lange an, aber er beschämt mich dennoch.
Ich schaue zu, wie Lizzie das Zimmer verlässt. Ihre langen Schritte wirken wie die eines Raubtiers auf der Pirsch. Sie wird nicht einmal in der Nähe bleiben, um sicherzugehen, dass ich es zu einem Ausgang schaffe, bevor ihre Mutter eintrifft. So wenig bin ich ihr wert. Weniger als nichts.
Der Gedanke ist zumindest teilweise eine Lüge, aber irgendwie macht er das Ganze nur noch schmerzhafter. Ich bedeute ihr etwas, allerdings nicht genug, dass sie sich zwischen mich und ihre Familie stellt. Nicht genug, um mein Leben zu retten. »Manchmal bist du echt ein Miststück, Lizzie.«
So werde ich nicht abtreten.
Ich lasse mich auf die Knie sinken und greife unter das Bett, um den Rucksack hervorzuholen, den ich dort versteckt habe, als mich Lizzie zum zweiten Mal mit nach Hause genommen hat. Wie Bunny immer sagte: Man sollte stets einen Fluchtweg haben – oder sechs. Auf sämtliche Eventualitäten vorbereitet zu sein, zahlt sich schon im normalen Leben aus, und wenn man mit einer Vampirin schläft, dann gilt das doppelt. Man kann nie wissen, wann man der mordlüsternen Mutter seiner Nicht-Freundin über den Weg läuft.
Ich schlinge mir den Rucksack über die Schultern und drehe mich zum Fenster herum. Wir befinden uns im ersten Stock, und das Fenster geht zur Vorderseite des Hauses hinaus, also kommt dieser Ausgang nicht infrage. Kein Grund, ein Ziel abzugeben. Im hinteren Bereich des Hauses gibt es eine Treppe, die die menschlichen Bediensteten benutzen. Dort befindet sich auch eine Tür, die mich nach draußen bringen wird. Das bedeutet, dass ich durch den Wald wandern muss, der das Anwesen umgibt, das ist jedoch ein kleiner Preis, den ich gern zahle.
Ich gehe auf die Tür zu, halte allerdings vor der Kommode mit dem großen antiken Spiegel inne. Lizzie trägt im Allgemeinen keinen Schmuck, aber auf der Kommode steht eine ganze Schale mit wertvollem Glitzerkram, an der man sich einfach bedienen kann. Armreife, Halsketten, Ringe und Broschen, alles mit Juwelen besetzt. Viele der Stücke sehen aus, als seien sie Hunderte von Jahren alt. Eine derartige Beute könnte mich über Jahre hinweg absichern … oder zumindest könnte ich damit ein paar Monate lang ein ausschweifendes Leben führen.
Ich habe nicht die Angewohnheit, Freundinnen oder Liebhaberinnen zu bestehlen, Lizzie dagegen hat gerade bewiesen, dass sie keins von beiden ist. Das macht diesen Schmuck zu leichter Beute. Ich werfe einen wütenden Blick auf die Tür und nehme dann meinen Rucksack ab, um den Schmuck hineinzustopfen. Die Befriedigung, die ich empfinde, als ich mir ihren Zorn vorstelle, wenn sie entdeckt, dass das teure Zeug verschwunden ist, ist unbeschreiblich.
Ich verhalte mich kleinlich, doch das ist mir egal.
Der Flur ist glücklicherweise leer, und ich mache mir nicht die Mühe, leise zu sein, als ich auf die Treppe zulaufe. Vor einem Vampir aus Lizzies Familie kann ich mich ohnehin nicht verstecken. Ihre Magie basiert sogar noch stärker auf Blut als die normaler Blutlinienvampire. Zusätzlich zu einer ganzen Reihe anderer Tricks können sie jedes Wesen mit Blut im Körper in einem gewissen Umkreis erspüren.
Ich kann mir vorstellen, dass Versteckspiele mit ihr deswegen nie lange dauern.
Ich nehme die Treppe nach unten und renne so schnell, dass ich beinahe stolpere. Ich würde gern behaupten, dass der ganze Sex mit Lizzie meine Kondition verbessert hätte, aber die Wahrheit ist, dass ich mich nur dann mit solcher Geschwindigkeit bewege, wenn ein Auftrag schiefgeht – und meine Aufträge gehen selten schief. Wenn man rennen muss, ist man bereits erledigt.
Jeder Atemzug sticht wie ein Messer in meiner Lunge, ich kann es mir jedoch nicht leisten, langsamer zu werden. Niemand ist in Sicht, als ich zur Tür am unteren Ende der Treppe hinausstürme. Wo ist die Hintertür? Ich habe mir diesen Ausgang gemerkt, als ich das Haus vor einer Weile erkundet habe, aber Adrenalin und mein Kater sorgen dafür, dass mir der Kopf schwirrt und meine Erinnerung verschwommen ist. Von diesem Flur gehen Dutzende Türen ab. Bedienstetenunterkünfte? War der Ausgang vier oder fünf Türen den Flur entlang?
Ein Schauder läuft mir den Rücken hinunter, als der Warnzauber, den ich rund um das Haus errichtet habe, die Anwesenheit von … fünf … zehn … fünfundzwanzig … Oh verdammt, das sind eine Menge Vampire. Was ist das hier, ein Familientreffen?
Ich reiße die vierte Tür auf und eile hindurch. Geradewegs in ein staubiges Wohnzimmer. Ich halte abrupt inne. »Was in aller Welt …?« Ich war mir so sicher, dass das der Weg nach draußen wäre. Eine von Motten zerfressene Couch steht an einer Wand, direkt gegenüber von zwei ebenso verfallenen Stühlen. Ich entdecke eine Kommode, die aussieht, als könnte sie zusammenbrechen, sobald jemand zu laut niest, und einen großen Drehspiegel auf einem Ständer, der an diesem Ort vollkommen fehl am Platz wirkt.
Gedämpfte Stimmen ertönen im Flur, begleitet vom Klang schneller Schritte. Ich überprüfe die Neuankömmlinge, ohne nachzudenken. Es handelt sich um Menschen, aber das bedeutet nicht, dass ich erwischt werden will. Leise ziehe ich die Tür hinter mir zu und halte den Atem an, während ich darauf warte, dass sie vorbeigehen.
Doch das tun sie nicht.
Sie bleiben ein paar Schritte von der Tür entfernt stehen und sprechen weiter mit leiser, gehetzter Stimme. Ich könnte einfach abwarten, bis sie weggehen, mir bleiben jedoch nur Minuten, bis die Vampire das Haus erreichen.
Also muss ich durch das Fenster fliehen.
Ich eile darauf zu und rümpfe die Nase, weil jeder meiner Schritte eine Staubwolke aufwirbelt. Warum reinigen die Zimmermädchen diesen Raum nicht? Jeder Teil des Hauses, den ich erkundet habe, ist makellos. Ich schiebe die Vorhänge beiseite und bereue es sofort, denn ein Niesen kündigt sich an. Das spielt keine Rolle. Ich muss bloß das Fenster aufbekommen …
Die Farbe am Rahmen ist so dick, dass es verklebt ist und sich nicht öffnen lässt.
»Das soll wohl ein Witz sein.« Ich habe keine Zeit, das verdammte Ding mit einem Messer aufzuhebeln. Bestimmt gibt es hier irgendwo noch einen anderen Ausgang. Ich mache ein paar Schritte auf die Tür zu, halte dann inne, als der Spiegel im Zimmer seltsam flackert. Obwohl ich weiß, dass ich keine Zeit habe, der Sache auf den Grund zu gehen, ergreift Neugier von mir Besitz. Mir das genauer anzuschauen, wird lediglich einen Augenblick dauern. Ich gehe auf den Spiegel zu und schicke einen Hauch Magie in seine Richtung. Was ich entdecke, entlockt mir ein Grinsen.
»Lizzie, du hast Geheimnisse vor mir gehabt.« Sie hat ein Portal in ihrem Haus. Kein Wunder, dass das Personal keinen Zutritt zu diesem Zimmer hat. Würde jemand beim Versuch, den Spiegel zu putzen, durch ein Portal fallen, wären die daraus resultierenden Konsequenzen ein Albtraum.
Aber wohin führt es?
Ich werfe einen Blick zur Tür und beiße mir auf die Lippe. Nach dem Ausgang zu suchen, ist immer noch ein guter Plan, aber ich kann mich nicht so schnell bewegen wie die Vampire dort draußen. Und wenn Lizzie herausfindet, dass ich sie bestohlen habe, wird sie mich verfolgen. Und zwar nicht auf spaßige Weise.
Das Portal dagegen? Ich kann hindurchgehen und dafür sorgen, dass mir niemand folgen kann. Das wird sie nicht davon abhalten, mich zu jagen, ich habe allerdings mein ganzes Leben damit verbracht, zu lernen, wie man untertaucht. Ich kann ihr lange genug ausweichen, bis ihre Mutter sie auf irgendeine mörderische Mission schickt oder Lizzie eine andere arme Seele findet, die sie quälen kann.
Ein Kinderspiel.
Die Worte fühlen sich wie eine Lüge an, also ignoriere ich sie.
Ich brauche zwei wertvolle Minuten, um mir in den Daumen zu schneiden und den Rahmen des Spiegels rasch mit einem kleinen Zauber zu belegen. Sobald ich ihn aktiviere, wird er innerhalb von dreißig Sekunden explodieren und das Portal hinter mir schließen. Das stellt ein Risiko dar, Lizzie eine direkte Möglichkeit zu geben, mir zu folgen, ist allerdings noch riskanter.
Hoffe ich.
Mir bleibt keine Zeit zum Zögern. Ich ziehe meine Bluse ein wenig weiter auf, um das Netzwerk aus Tätowierungen auf meiner Brust zu enthüllen. Jede von ihnen ist ein vorbereiteter Zauber, der lediglich auf ein bisschen Blut wartet, mit dem man ihn aktiviert. Ich drücke meinen blutenden Finger auf das Tattoo in der Mitte meiner Brust und errichte einen Schild um mich herum. Er wird nur so lange halten, wie meine Konzentration und Macht Bestand haben, doch ich habe keine Ahnung, wo ich landen werde, sobald ich durch das Portal trete.
Die Tür fliegt auf, als ich einen Schritt in das Portal mache. Lizzie stürmt ins Zimmer. »Was hast du vor, verdammt noch mal?«
»Entkommen.« Ich muss bloß den Zauber auslösen, um den Spiegel zu zerstören, nachdem ich hindurchgetreten bin. Verdammt, ich werde das zeitlich sehr genau abpassen müssen.
In meinem Rucksack klimpert es, als ich mich tiefer in den Spiegel hineinlehne. Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Das hast du nicht getan.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Mein Herz schlägt so schnell, dass sie in der Lage sein muss, die Lüge zu spüren. Ich muss verschwinden, und zwar sofort.
Ich dachte, dass bereits sämtliche Wärme aus Lizzie gewichen wäre. Wie sich herausstellt, lag ich damit falsch. Das letzte bisschen Weichheit verschwindet von ihren Zügen, und sie bleckt ihre Fangzähne. »Lass den Rucksack sofort fallen, Evelyn.«
Das wäre die kluge Vorgehensweise, ich habe mich jedoch schon sehr lange nicht mehr für die kluge Vorgehensweise entschieden. Es besteht kein Grund, jetzt damit anzufangen. »Nein.« Ich nehme einen letzten Atemzug und löse den Zauber am Rahmen des Spiegels aus.
Lizzie stürzt auf mich zu, doch es ist zu spät. Das Letzte, was ich sehe, ist ihr wutverzerrtes Gesicht, während sie schreit: »Ich werde dich verdammt noch mal umbringen!« Dann explodiert der Spiegel und schneidet die Verbindung zwischen uns ab.
Genau in diesem Moment erkenne ich meinen Fehler. Dies ist gar kein direktes Portal. Natürlich nicht. Ich hätte wissen müssen, dass Lizzie keinen offenen Durchgang zu einem anderen Ort in ihrem Haus haben würde.
Dunkelheit umfängt mich. Sie ist dicht und erdrückend. Ich kann nicht das Geringste erkennen, kann nicht atmen, kann nicht denken. Oh Götter, bitte sagt mir, dass ich nicht vor Lizzie geflohen bin, nur um in dieser Leere zu sterben.
Verdammt, nein. Mein Instinkt sorgt dafür, dass ich mich in Bewegung setze, obwohl es schwierig ist, in dieser Umgebung voranzukommen und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die einzige andere Option besteht jedoch darin, stillzuhalten und zu ersticken, und so werde ich nicht abtreten. Panik wallt in meiner Brust auf und schreit in meinem Verstand. Ich habe gehört, dass Ertrinken eine friedliche Todesart wäre, das hier dagegen ist kein bisschen friedlich. Es ist einfach nur entsetzlich.
Geh weiter. Bleib in Bewegung. Einen Fuß vor den anderen. Du hast immer noch Kraft in dir, und du wirst sie verdammt noch mal benutzen.
Ich mache einen Schritt nach dem anderen. Es fühlt sich an, als würde mich ein gähnender Abgrund mit Haut und Haaren verschlingen. Aber ich laufe auf etwas, selbst wenn ich es nicht sehen kann. Es muss einen Ausweg geben. Das muss es einfach. Ich muss ihn nur finden.
Als meine Lunge anfängt, nach Luft zu schreien, hat sich jedoch immer noch nichts verändert. Vor lauter Verzweiflung laufe ich schneller. Mir bleibt nicht viel Zeit. Ich kann nur schwer beurteilen, ob bereits schwarze Flecken vor meinen Augen tanzen, wenn ich absolut nichts sehen kann. Selbst diese Nicht-Luft, die mich umgibt, scheint gegen mich anzukämpfen und zu versuchen, mich zum Stillstand zu bringen oder wenigstens zu verlangsamen.
Scheiß drauf.
Inzwischen sprinte ich und bewege meine Arme, so schnell ich kann, während meine Lunge kreischt. Ich presse die Lippen zusammen, damit ich nicht keuchend nach Luft schnappe, aber ich bin nur noch Sekunden davon entfernt, dass mein Körper einfach die Kontrolle übernimmt.
Ich presche mit einem solchen Tempo vorwärts, dass mir erst klar ist, dass der Boden unter meinen Füßen verschwunden ist, als ich bereits falle.
Zwischen einem Wimpernschlag und dem nächsten wird die Dunkelheit durch blasses Morgenlicht ersetzt. Ich nehme einen glorreichen salzigen Atemzug … und dann pralle ich so heftig gegen etwas, dass alles schwarz wird.
»Meerjungfrau an Steuerbord!«
Der Ruf holt mich aus meiner Kajüte. Wir befinden uns nicht in Gewässern, wo sich Meerjungfrauen herumtreiben, aber wenn die Sichtung stimmt, steht uns ein heftiger Kampf bevor. Ich schnappe mir einen Speer aus der Halterung und bemerke, dass mein Quartiermeister Miles das mit einem Bann belegte Netz bereits in den Händen hat.
Wir treffen uns an der Steuerbordseite, und ich kneife ein wenig die Augen zusammen. Das Licht der Sonne spiegelt sich so grell auf dem aufgewühlten Wasser, dass ich kaum etwas sehen kann. Dass die Frau im Ausguck unter diesen Umständen überhaupt etwas erkennen konnte, ist ein verdammtes Wunder. »Wo?«
Miles ist einen Kopf kleiner als ich und drahtig gebaut. Seine Haut ist mit feinen grünen Schuppen bedeckt, ähnlich denen eines Reptils. Er schirmt seine Augen ab und schaut zum Krähennest hinauf, wo Sarah kauert. Ich kann ihr blondes Haar von hier unten kaum ausmachen, doch sie kommuniziert offensichtlich mit ihm, indem sie ihre Luftmagie benutzt. Ein paar Augenblicke später deutet er aufs Wasser. »Dort.«
Ich folge seinem ausgestreckten Finger und entdecke weniger als zehn Meter entfernt eine Gestalt im Wasser. Mein Körper spannt sich an, und ich hebe den Speer, bevor mir klar wird, was ich da vor mir habe. Blasse Haut. Langes Haar, das tatsächlich Haar ist und kein Seetang. Ein Gesicht, das entschieden menschlicher wirkt als jene der Mitglieder des Meeresvolks, denen ich in all den Jahren begegnet bin, seit ich begonnen habe, mit den Cŵn Annwn zu jagen. »Das ist keine Meerjungfrau.«
Miles zuckt mit den Schultern. »Dann lass sie dort. Das Meer wird sich darum kümmern.«
Das macht er immer. Wenn es eine Planänderung gibt, würde Miles lieber einfach wie gehabt weitermachen, statt sich an die neuen Umstände anzupassen. Ich könnte schwören, dass er nur deshalb damit angefangen hat, um mich zu untergraben. Wenn ich sage, dass wir nach Norden segeln, fängt er an, zu diskutieren, dass Richtung Süden eine bessere Route wäre. Jedes … einzelne … Mal.
Seiner Ansicht nach wäre es weniger anstrengend, diese Person einfach dem Meer zu überlassen, anstatt sie an Bord zu holen und sie vor die Entscheidung zu stellen, entweder zu sterben oder sich der Besatzung anzuschließen. Unter den Cŵn Annwn gibt es noch andere, die ihm zustimmen und einfach weitersegeln würden.
Aber ich bin der Kapitän dieses Schiffes, und so machen wir das auf der Crimson Hag nicht. An meinen Händen klebt schon genug Blut, dass es für mehrere Leben reichen würde. Wann immer es möglich ist, versuche ich, es zu vermeiden, noch mehr hinzuzufügen.
Ich reiche ihm den Speer. »Wir überlassen diese Person nicht dem Meer. Sie könnte aus dieser Gegend stammen.«
»Hier draußen wird sich kein Einheimischer aufhalten.« Er schüttelt den Kopf. Die Bewegung wirkt zu ruckartig, um wirklich menschlich zu sein. »Wir haben seit Tagen kein anderes Schiff gesehen, und es hat keine Stürme gegeben, die eins hätten erwischen können. Ganz zu schweigen davon, uns eine Überlebende in den Weg zu spülen. Diese Person ist unerlaubt in Threshold eingedrungen.«
Möglich. Sogar wahrscheinlich.
Das bedeutet allerdings nicht, dass ich sie dem Meer überlassen werde, ohne das zu überprüfen und sie anschließend vor eine Wahl zu stellen. Der einzige Zweck der Cŵn Annwn besteht darin, Threshold zu schützen, und damit auch all die Reiche, die durch Portale auf den Inseln, die in der Weite des Meeres verteilt sind, mit unserer Welt verbunden sind. Allerdings befinden sich nicht auf allen Inseln Portale und es gibt Bürgerinnen und Bürger des Reiches, die ebenfalls unserem Schutz unterstehen sollten.
Nicht alle unsere Leute erinnern sich daran. Zumindest dann nicht, wenn es ihnen nicht in den Kram passt.
Ich warte ab, bis die Crimson Hag ein wenig dichter an die Person herangesegelt ist. Ich könnte ins Wasser springen und sie herausholen, für derartige Theatralik besteht hingegen kein Grund. Stattdessen konzentriere ich meine Macht und sende sie aus. Ich hebe die Person aus dem Wasser und bringe sie vorsichtig an Deck.
Die Crew beäugt dieses Geschehen mit einigem Interesse. Wir fischen nicht jeden Tag Leute aus dem Meer und noch seltener kommt es vor, dass diese noch am Leben sind.
Ich gehe neben unserem Fang in die Hocke, um ihn mir genauer anzuschauen. Es handelt sich um eine Frau. Sie ist menschlich oder stammt aus einem der Reiche, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner eher humanoid aussehen. Sie trägt einen Beutel auf dem Rücken und Kleidung, die mir nicht vertraut vorkommt, deshalb brauche ich einen Augenblick, um den Stoff der Hose zuzuordnen. Jeans. Das grenzt die Optionen für ihre Herkunft beträchtlich ein. Die Jeans schmiegen sich an einen Körper, der üppige Oberschenkel, breite Hüften und einen weichen Bauch aufweist. Ihre schwarze Bluse sitzt eng an ihrem Oberkörper und lässt kleine Brüste erahnen.
Ich zwinge mich, den Blick von ihrem Körper abzuwenden und mich auf ihr Gesicht zu konzentrieren. Ich bin fest entschlossen, nicht hier zu hocken und eine bewusstlose Frau zu begaffen, doch der Blick auf ihre Züge hilft nicht wirklich. Sie hat runde Wangen, einen vollen Mund und weit auseinanderliegende Augen. Ihre Haut ist so blass, dass ich sofort den Drang verspüre, sie in den Schatten zu bringen, bevor sie einen Sonnenbrand bekommt. Ihre Haare sind zu nass, um die tatsächliche Farbe beurteilen zu können, aber ich denke, dass sie ein paar Nuancen heller sind als meine.
Ein Speer blitzt in meinem Augenwinkel auf. Ich strecke ruckartig eine Hand aus, um ihn aufzuhalten, bin jedoch zu langsam. »Verdammt!« Mein gesamter Körper spannt sich an, bereit für das Unausweichliche, der Speer hingegen schwebt in der Luft. Seine Spitze befindet sich nur wenige Zentimeter von der Brust der Frau entfernt. Eine Welle heftiger Magie wallt auf, verschwindet dann wieder, und der Speer landet klappernd auf dem Deck.
Ich wirbele herum, um Miles anzuschreien: »Was machst du da, verdammt noch mal?«
»Meine Aufgabe erledigen«, erwidert er tonlos. »Sie ist keine von uns.«
Nein, das ist sie ganz sicher nicht. Ich erkenne die Magie nicht, aufgrund ihres menschlichen Aussehens würde ich allerdings wetten, dass sie eine Hexe ist. Das sollte mich nicht faszinieren. Es bedeutet lediglich, dass sie einen Vorteil für uns darstellen würde, wenn wir sie auf unsere Seite ziehen können. »Unsere Aufgabe besteht darin, sie vor die Wahl zu stellen.«
»Die Cŵn Annwn haben keine Verwendung für Frauen wie sie.«
Ich öffne den Mund, um ihm mitzuteilen, dass er sich verziehen soll, aber die Frau reißt schlagartig die Augen auf und lässt mich innehalten. Sie mustert uns mit einem einzigen Blick und schlägt dann eine Hand auf ihre Brust. Magie steigt in einer Welle auf, die mich ein gutes Stück zurückdrängt, bevor ich meine eigene Magie wie einen Schild um mich lege. Einige meiner Leute haben nicht so viel Glück. Lautes Platschen erklingt und gleich darauf folgt der Ruf: »Mann über Bord!«
Miles will nach dem Speer greifen, doch sie stößt die Waffe weg, bevor er sie in die Finger bekommen kann. »Wo in aller Welt bin ich?« Ihre Stimme klingt heiser, als sei sie länger im Meer gewesen, als mir klar war.
»Du da, keine Bewegung.« Ich deute auf sie und richte meinen strengen Blick anschließend auf Miles. »Hol unsere Leute aus dem Wasser. Sofort.«
Für einen Moment befürchte ich, dass er widersprechen könnte, doch schließlich nickt er knapp und macht sich daran, der Mannschaft zackig Befehle zu erteilen. Innerhalb weniger Minuten haben wir alle ins Wasser gefallenen Mitglieder unserer Besatzung wieder an Bord geholt und sichergestellt, dass das Schiff selbst keinen dauerhaften Schaden erlitten hat.
Während ich mich darum gekümmert habe, hat sich die Frau ihrerseits ein wenig umgeschaut. Sie betrachtet mein Schiff auf eine Weise, die dafür sorgt, dass sich alles in mir zusammenzieht. Als würde sie jeden sichtbaren Zentimeter nach Wertgegenständen absuchen. Ich weiß, was dieser Gesichtsausdruck bedeutet.
Sie ist eine Diebin.
Und tatsächlich hat sie etwas in der Hand, mit dem sie herumfummelt. Ich erkenne es sofort und bewege eine Hand an meine Hüfte, wo sich normalerweise meine Flasche befindet. Nun ist sie verschwunden. Sie hat sie mit ihren flinken Händen gepackt, während ich noch dachte, dass sie bewusstlos wäre.
Vielleicht hat Miles recht, was sie betrifft.
Ich schüttle energisch den Kopf. Das ist ein gefährlicher Gedanke. Eine Wahl. Wir bieten immer eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten an. Das ist das, was uns von den Monstern unterscheidet, die wir jagen. Deren Opfer bekommen nichts angeboten, was auch nur ansatzweise Gnade ähnelt.
Sie erwischt mich dabei, wie ich sie dabei beobachte, während sie mit der Flasche spielt, und grinst vollkommen reuelos. »Soll ich dich mit Käpt’n anreden?« Ihre Stimme ist kehlig, und der anzügliche Unterton in ihrer Frage ist etwa so subtil wie ein Felsbrocken, der reichen würde, um die Hag zu versenken.
Ich mache einen Schritt auf sie zu, bevor ich mich davon abhalten kann. Diese Frau ist keine Sirene – sie sind so gut wie ausgestorben, den Göttern sei Dank –, aber sie verfügt über ihre ganz eigene Anziehungskraft. »Du befindest dich an Bord der Crimson Hag, einem Schiff der Cŵn Annwn.«
Interesse blitzt in ihren Augen auf. Zu spät fällt mir auf, dass sie von einem Grün sind, das mich an saftig grüne magische Wälder denken lässt. Sie beugt sich zu mir herüber und mustert mich auf übertriebene Weise von oben bis unten. »Seltsam, du siehst gar nicht aus wie ein Jagdhund.«
»Ein Jagdhund?«, wiederhole ich.
»Hmm.« Ihr Blick bleibt an meiner Brust hängen und verweilt dort. »Die Hunde Annwns, die Wilde Jagd und all das. Mit walisischen Mythen kenne ich mich aus.«
Dazu habe ich nichts zu sagen. Wir sind kein Mythos. Das waren wir nie. Mit genug Zeit und Abstand neigt die Geschichte allerdings dazu, zu einem Mythos zu werden. In vielen Reichen gibt es Erzählungen über die Cŵn Annwn. Solange es Threshold gibt, das, wie der Name schon sagt, als Schwelle zwischen den Reichen fungiert, gibt es auch die Cŵn Annwn, die es beschützen. Sollten die ursprünglichen Mitglieder gelegentlich ihre Gestalt verändert und in anderen Reichen auf die Jagd gegangen sein …
Tja, wir versuchen aus gutem Grund, es zu vermeiden, die Aufmerksamkeit der ursprünglichen Mitglieder auf uns zu ziehen.
Der Rest von uns Mitgliedern der Flotte aus Schiffen, die unter blutroter Flagge segeln, ist durchaus sterblich. Sogar der Rat, der weit entfernt auf Lyari rumlungert und in Abwesenheit der ursprünglichen Mitglieder über Threshold herrscht, neigt dazu, nur ein wenig langlebiger zu sein.
Nicht, dass ich vorhätte, dieser Fremden eine Geschichtsstunde über meine Leute zu erteilen. »Du hast die Wahl. Schließe dich den Cŵn Annwn an oder kehre ins Meer zurück!«
»Wow, das ist ja eine interessante Wahl. Sehr originell und kein bisschen übertrieben.« Sie verdreht die Augen.
Mir fällt auf, dass sie absolut keine Angst vor mir hat. Ich blinzle. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Sogar die Leute in Threshold, diejenigen, die wir beschützen sollen, was unser einziger Daseinszweck ist, misstrauen uns und nehmen sich vor uns in Acht. Das Ganze basiert auf einem empfindlichen Gleichgewicht aus gegenseitigem Respekt, und ich tue mein Bestes, um sicherzustellen, dass ich meine Macht nie missbrauche. Aber diese Hexe hat keine Ahnung davon. Sie weiß nichts über mich. »Das ist die einzige Wahl, die du hast«, schnauze ich.
»Niedlich.« Sie dreht sich um und mustert erneut ihre Umgebung, bevor sie sich wieder mir zuwendet. »Aber ich verzichte darauf, irgendeine Wahl zu treffen. Der Echsenmann hat gerade versucht, mir einen Speer ins Herz zu rammen, bevor er wusste, dass ich wach bin, also sieh es mir nach, wenn ich mich eurem kleinen Club der feigen Mörder nicht anschließen will.«
»Du hast dagegen kein Problem damit, uns zu bestehlen.« Ich strecke eine Hand aus. »Gib sie mir zurück.«
»Oh, dieses kleine Ding?« Sie hält die Flasche hoch, als hätte sie sie noch nie zuvor gesehen. »Die gehört mir. Ein altes Familienerbstück.«
»Du …« Ich reiße mich zusammen, bevor ich nach ihr greife. »Wie lautet dein Name?«, verlange ich zu wissen.
»Evelyn.« Sie wirft die Flasche in die Luft und fängt sie gekonnt auf. »Im Universum gibt es eine alles umfassende Regel, lieber Käpt’n. Ich bin überrascht, dass du sie nicht kennst.«
Obwohl ich weiß, dass ich es bereuen werde, seufze ich und frage: »Wie lautet die Regel?«
»Wer es findet, darf es behalten.« Sie grinst. »Die hier gehört mir. Ich werde sie nicht zurückgeben, egal wie sehr du mich anknurrst und die Zähne fletschst. Du nimmst diese ganze Jagdhundsache wirklich zu wörtlich. Ganz schön peinlich.«
So langsam habe ich echt genug davon. Sie will offensichtlich Schwierigkeiten machen, und auch wenn das kein Todesurteil sein sollte, kann ich nicht zulassen, dass sie vor den Augen meiner Besatzung meine Autorität untergräbt. Vor allem nicht, da Miles inzwischen Monate damit verbracht hat, die Meinung der Mannschaft über mich zu schmälern. Zu sehen, wie diese Hexe dermaßen frech mit mir umspringt, wird ihm nur noch mehr Munition verschaffen.
Wie auf allen Schiffen der Cŵn Annwn wählen wir unsere Kapitäne per Abstimmung. Meine Befehlsgewalt hat nur so lange Bestand, wie meine Crew Vertrauen in mich hat. Und ihr Vertrauen steht bereits auf wackligen Füßen.
Wenn ich das Kapitänsamt verliere, wird Miles die Abstimmung gewinnen. Und das Erste, was er tun wird, ist, ihr diesen Speer direkt ins Herz zu stoßen.
Ich sammle meine Macht, was mir so leichtfällt wie Atmen, und wickele sie darin ein. Evelyn quiekt, aber ich bringe sie zum Schweigen, bevor sie weiterplappern kann, indem ich ihren Kiefer versiegele. Sie reißt die Augen auf und verengt sie dann zu Schlitzen. Ihr Blick verspricht Vergeltung.
Ich umfasse ihre Taille und gebe mir große Mühe, nicht zu bemerken, wie verlockend weich sie sich anfühlt. Dann hebe ich sie ohne Probleme hoch und werfe sie mir über die Schulter. Mehrere Besatzungsmitglieder lachen, als sie einen empörten Laut von sich gibt, doch Miles beobachtet das alles mit zusammengezogenen Brauen.
Soll er ruhig zuschauen. Ich habe ihm nichts gegeben, womit er arbeiten kann. Hoffe ich.
Evelyn nimmt die Situation nicht ernst, das ist allerdings häufig der Fall, wenn Leute versehentlich durch ein Portal reisen und an einem Ort landen, an dem sie nichts zu suchen haben. Wie ernst die Lage ist, fällt ihnen erst auf, wenn es zu spät ist. Die Gesetze sind die Gesetze. Ich kann sie nicht brechen, ohne mein Leben und das meiner Mannschaft zu riskieren.
Nicht mal für eine niedliche, vorlaute kleine Hexe.
Unfassbar, wie dreist dieser Mistkerl ist!
Ich kämpfe gegen den unsichtbaren Griff an, während der Kapitän das Deck überquert. Telekinetische Fähigkeiten sind selten, und das ist auch gut so, denn sie sind verdammt nervig. Wenn ich die Zauber auf meiner Brust erreichen könnte, sollte ich in der Lage sein, mich zu befreien, aber meine Arme werden durch seinen festen Griff seitlich an meinen Körper gepresst.
Außerdem hat er mich über seine Schulter geworfen wie einen Sack Getreide – ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass die Tatsache, dass er mein Gewicht nicht im Geringsten wahrzunehmen scheint, irgendeinen Effekt auf mich hat. Warum sollte er es auch wahrnehmen? Er ist so groß wie ein Haus. Er muss fast zwei Meter messen. Seine Schultern sind derart breit, dass sie die Sicht auf den Himmel versperren, und seine Haut ist stark gebräunt, weil er vermutlich viel Zeit in der Sonne verbringt. Sogar kopfüber kann ich erkennen, dass sein blutroter Mantel dramatisch flattert, während er übers Deck schreitet. Er wirkt wie eine Figur aus einem Film, die den typischen wortkargen Einzelgänger verkörpert.
Er mag auf schroffe Art und Weise auch gut aussehen.
Aber das ist mir natürlich nicht aufgefallen.
Momentan kann ich mich nicht aus seinem Griff befreien, also richte ich meine Aufmerksamkeit auf das Schiff und die Crew. Auf den ersten Blick gleicht es einem Piratenschiff aus einem Film, doch es gibt Abweichungen. Das komplette Gefährt ist von Magie durchdrungen, was sich daran erkennen lässt, dass sich einige Teile ohne Einsatz der Besatzungsmitglieder bewegen. Das große blutrote Segel über uns entfaltet sich, und das Schiff ruckelt ein wenig, als der Wind den Stoff bläht.
Der andere Unterschied zu einem Piratenschiff besteht in der Tatsache, dass alle wie frisch gebadet wirken. Tatsächlich riecht das Schiff … irgendwie angenehm. Nach Pinien und Zitrone mit einem ganz leichten Hauch von Minze. Es duftet ein bisschen wie der Schutzzauber, den Bunny stets in ihre Reinigungszauber eingebaut hat. Sofort muss ich an die Samstage denken, an denen sie mich in der Früh aus dem Bett gezerrt hat, damit ich ihr bei der Hausarbeit helfe. Ich habe mich immer lauthals beschwert, in diesem Augenblick hingegen trifft mich die Nostalgie so heftig, dass ich hektisch blinzeln muss, um die Tränen zurückzuhalten, die in meinen Augen brennen.
Bunny ist nicht hier, und ich bin in Gefahr.
Ich schließe die Augen und versuche, mich zu konzentrieren. Der Kapitän bewegt sich recht behutsam, beinahe so, als wolle er mich nicht zu sehr durchschütteln und verhindern, dass mein Bauch gegen seine Schulter prallt. Aber das muss Zufall sein. Der Kerl hat mir gerade die Möglichkeit gegeben, mich seiner fröhlichen Mörderbande anzuschließen … oder zu ertrinken. Nach dieser Reise durch das Portal werde ich nicht abtreten, indem ich ertrinke. Nein danke.
Ich befinde mich in Threshold.
Das habe ich immer noch nicht so richtig verarbeitet. Ich mag den Kapitän damit aufgezogen haben, dass die Cŵn Annwn ein Mythos sind – jeder weiß, dass sie und die Wilde Jagd tatsächlich existiert haben und in der Dunkelheit gewisser Nächte immer noch reiten –, doch ich dachte wirklich, dass Threshold nicht real wäre.
Vor langer Zeit befanden sich die Reiche sehr viel dichter aneinander. Menschen und Kreaturen konnten mit Leichtigkeit zwischen ihnen hin- und herwechseln, was der Ursprung zahlreicher Geschichten über Mythen und Monster ist. Niemand weiß, welches Ereignis den Übergang so gut wie unmöglich gemacht hat. Klar ist lediglich, dass es vor sehr langer Zeit geschah. Seitdem sind so viele Generationen vergangen, dass sich die Leute diese Frage nicht mehr stellen.
Aber … Threshold? Ein Reich, das nach wie vor mit jedem anderen existierenden Reich verbunden ist? Schier endlose neue Möglichkeiten flackern in meinen Gedanken auf und sorgen dafür, dass meine Handflächen jucken.
Der Kapitän stößt eine Tür auf, und das Licht nimmt ab, als wir das Deck verlassen. Ich weiß ehrlich nicht, was ich erwartet habe. Nichts an diesem Schiff entspricht den Erwartungen in Bezug auf … Piraten? Ich bin mir nicht sicher, ob man diese Mannschaft überhaupt als Seeräuber, so wie ich sie kenne, bezeichnen kann.
Kühle Luft streift meine nackte Haut und meine nasse Kleidung und sorgt dafür, dass ich zittere. Der Kapitän setzt mich ab und ich verschwende keine Zeit, sondern schaue mich sofort um. Ich entdecke einen großen Schreibtisch vor einem Trio aus gewaltigen Fenstern, die eine wunderbare Aussicht aufs Meer und das Kielwasser des fahrenden Schiffes bieten. Der Boden besteht aus gebohnerten Holzdielen. Auf beiden Seiten des Raums befindet sich eine Tür.
Die Kajüte ist größer, als ich erwartet habe, und ich halte inne, um noch einmal alles eingehend zu mustern. Ich bin keine Architektin, aber ich bin mir sicher, dass sich die Wände sehr viel weiter erstrecken als bis zu der Stelle, an der das Schiff zu Ende sein sollte. Ist das so eine Art Taschendimension? Doch wie können die Fenster dann eine Aussicht auf das Wasser bieten, über das wir gerade segeln?
Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Schreibtisch. Er besteht aus irgendeinem mir unbekannten Holz und die Oberfläche schimmert ganz leicht. Magie? Ich versuche, einen Schritt vorzutreten, stehe jedoch immer noch unter dem Bann der Macht des Kapitäns.
Ich starre ihn finster an. Götter, nun ist er noch attraktiver als zu dem Zeitpunkt, an dem ich zum ersten Mal die Augen geöffnet habe. Sein dunkles Haar ist gerade lang genug, um als verwegen beschrieben zu werden. Sein Kiefer ist kantig und würde vermutlich die Faust von jedem zerschmettern, der versucht, ihm einen Schlag zu verpassen. Und sein muskulöser Körper ist offensichtlich an harte Arbeit gewöhnt. Er steckt in einer gut geschnittenen Hose und einem locker sitzenden schwarzen Hemd mit einem V-Ausschnitt, der einen verlockenden Blick auf eine breite, leicht behaarte Brust gewährt. Und der lange Mantel, den er trägt, gefällt mir so gut, dass ich ihn ihm am liebsten sofort stehlen würde. Seine Augen sind beinahe so dunkel wie Lizzies … Nein, ich sollte besser nicht an Lizzie denken oder daran, wie wütend sie gewirkt hat, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Wie mordlüstern.
Wenn ich durch ein anderes Portal gelangen kann, werde ich wirklich außerhalb ihrer Reichweite sein.
Ich verdränge den Gedanken fürs Erste. Das ist ein potenzieller Plan für die Zukunft, zuerst muss ich mich jedoch aus dem Schlamassel befreien, in den ich hier geraten bin.
Der Kapitän mustert mich mit kritischem Blick. Seine Miene besteht nur aus strengen Linien, was ich kein bisschen aufregend finde. »Wenn ich dir den magischen Knebel abnehme, wirst du dich dann benehmen?«
Auf gar keinen Fall. Ich versuche, einen aufrichtigen Ausdruck aufzusetzen, während ich nicke. Er scheint nicht überzeugt, aber die Macht, die meinen Kiefer zusperrt, löst sich. Ich öffne und schließe ein paarmal den Mund. Es tut nicht wirklich weh – er war bemerkenswert sanft und hat überragende Kontrolle über seine Magie bewiesen –, doch ich werde jede Gelegenheit nutzen, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Das ist ein ausgezeichnetes Druckmittel, um die Leute dazu zu bringen, das zu tun, was man will.
Leider entdecke ich in seiner Miene nicht das geringste Schuldbewusstsein. Wenn überhaupt, wirkt er nur noch verärgerter. »Ich habe dir nicht wehgetan, also hör auf mit diesen Spielchen.«
»Vielleicht habe ich ein empfindliches Kinn.«
»Hast du nicht.«
Er hat recht. Ich verlasse diesen Pfad der Manipulation und betrete den nächsten. »Ich wollte nicht hier landen. Das Portal, das ich benutzt habe, hatte eine Fehlfunktion. Ich habe eine Familie, die mich braucht. Kinder. Vier Stück. Wenn ich nicht zurückkehre, werden sie verhungern.«
Seine Züge bleiben so ungerührt wie die einer Statue aus Granit. »Wie lauten ihre Namen?«
Ich blinzle. »Was?«
»Deine verhungernden Kinder. Ihre Namen.« Er schnippt mit den Fingern. »Schnell.«
»Dean, Sam, John und … Cas.«
Der Kapitän wirkt nicht überzeugt. »Selbst wenn das stimmen sollte, was ich ernsthaft bezweifle, würde das keinen Unterschied machen. Unsere Gesetze existieren nicht grundlos.«
»Es sind eure Gesetze. Nicht meine.«
»Du befindest dich in Threshold, Evelyn. Nun sind es auch deine Gesetze.«
Er spricht meinen Namen so streng aus, dass ich nicht weiß, wie ich mit meiner körperlichen Reaktion darauf umgehen soll. Ich will gleichzeitig aus dem Raum fliehen und ihn besteigen wie einen mürrischen Berg. Was bloß ein weiterer Beweis dafür ist, dass man meinen Hormonen nicht trauen kann.
Zuerst Lizzie, die absolut bereit war, mich sterben zu lassen, und zweifellos versuchen wird, mich aufzuspüren und umzubringen, weil ich sie hintergangen habe.
Und nun dieser Kapitän, der mir die Option gab, mich seiner Crew anzuschließen, aber offensichtlich kein Problem damit hat, mich zu töten, falls ich ablehne.
Die beste Methode, einen Kampf mit einer telekinetisch begabten Person zu gewinnen, besteht darin, sich gar nicht erst auf einen einzulassen. Die zweitbeste Methode besteht darin, sie mit einem schmutzigen Angriff auszuknocken und dann verflucht schnell wegzurennen. Keine von beiden ist momentan eine Option. Ich befinde mich auf einem Schiff mitten im Ozean. Ich kann nirgendwohin, selbst wenn meine Arme frei wären.
Es gibt einen Ausweg. Ich muss ihn nur finden. »Wie lautet dein Name, Käpt’n?«
Er spannt den Kiefer an, als wolle er nicht antworten, sagt jedoch schließlich: »Bowen.«