Blumen und Brandsätze - Klaus Neumann - E-Book

Blumen und Brandsätze E-Book

Klaus Neumann

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Beschreibung

Spätestens seit den 1980er Jahren erregt kaum etwas die Öffentlichkeit so sehr wie die Frage, wie viele und welche Menschen, »die wir nicht gerufen haben«, Deutschland aufnehmen sollte. Klaus Neumann beschäftigt sich mit Antworten auf diese Frage: von Forderungen nach der Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes in den frühen 1990er Jahren über die sogenannte Willkommenskultur 2015 bis zur Neuauflage der Behauptung, das Boot sei voll, nach der Ankunft von Flüchtlingen aus der Ukraine 2022. Der Historiker untersucht die unterschiedlichen Motivationen, Schutz zu gewähren oder Schutzsuchende abzuweisen. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung stehen dabei lokale und lokalpolitische Auseinandersetzungen: im Westen Hamburgs und im südöstlichen Sachsen. Er macht anschaulich, wie sehr Aushandlungsprozesse um die lokale Aufnahme von DDR-Übersiedlern und Asylsuchenden, Aussiedlerinnen und Kriegsflüchtlingen verquickt waren mit Debatten über Rassismus und Rechtsextremismus, demokratische Teilhabe sowie west- und ostdeutsche Identitäten. Sein Buch erlaubt somit neue Einblicke in dreieinhalb Jahrzehnte deutscher Geschichte. Zugleich ist es ein Plädoyer für eine umfassende und gut informierte Debatte über die Frage, warum Deutschland Schutzsuchende aufnehmen sollte.

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Seitenzahl: 979

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Klaus Neumann

Blumen und Brandsätze

Eine deutsche Geschichte1989 – 2023

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2024 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-441-1

© der deutschen Ausgabe 2024 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-385-8

Karten: Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: Lisa Neuhalfen, Berlin

Umschlagabbildung: © picture alliance / dpa / Christian Charisius, HamburgerMessehallen, 2022

Inhalt

1 Historischer Fortschritt, Deutschland aus der Ferne und die unvergleichbaren Enden eines imaginären Spektrums

2 Hamburger Unwirtlichkeiten, kommunalpolitisches Engagement und die Schranken »ehrbarer Fernstenliebe«

3 »Ausländische Bürger«, »dumpfe Menschen« und die hochfliegenden Pläne eines zugezogenen Bürgermeisters

4 Die Opferbereitschaft gut situierter Nachbarschaften, die Provenienz Hamburger Schweißer und der »Asylkompromiss«

5 Ein »friedliches Dörflein im Wesenitztal«, das Feilschen um Telefonzellen und Spielarten von Angst und Gewalt

6 Eine kontroverse »Belegungsentzerrung«, das Wort eines Hanseaten und Vorbehalte gegen den Rückbau von Flüchtlingsunterkünften

7 Zeugen der Baseballschlägerjahre, ein ertrunkener Junge und Abhilfe gegen »Misskredit«

8 Privilegien nationalstaatlicher Souveränität, Schutzsuchende außer Sichtweite und Kämpfe um ein Bleiberecht

9 Ein »landschaftlich reizvoll« gelegenes Lager, tiefer Frust bei den Bürgern und die »Würde der Anderen«

10 Die Verhinderung eines »Ghettos«, Kettensägen in einem Villenvorort und die Marginalisierung des rechten Randes

11 Die Konsequenzen einer »Bierlaune«, das »Recht aller Anwohner auf Ruhe und Frieden« und die Coronapandemie als Fortsetzung der »Flüchtlingskrise«

12 Abschließendes über Geschichte und Geschichten, Unterschiede und Zusammenhänge und eine unaufgeregte Diskussion

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Archive, Sammlungen und digitale Informationssysteme

Zeitungen und Zeitschriften

Zitierte Literatur

Abkürzungen

Personenregister

Danksagung

Zum Autor

1Historischer Fortschritt, Deutschland aus der Ferne und die unvergleichbaren Enden eines imaginären Spektrums

»Wie viele Flüchtlinge verträgt Deutschland?«, fragte die Hamburger Illustrierte Stern auf ihrer Titelseite im Oktober 2015. Der Untertitel benennt die Diagnose, die diese Frage provoziert haben mochte: »Die Zuwanderung spaltet unsere Gesellschaft«.1 Mit »Deutschland« verknüpfte der Stern ein sehr spezifisches Bild: das Gemälde »Der Wanderer über dem Nebelmeer« von Caspar David Friedrich. Auf dem Cover blickt der mit dem Rücken zum Betrachter stehende »Wanderer« auf eine Gruppe von etwa fünfzig Menschen, die meisten von ihnen Männer, die aus dem arabischen Raum sein könnten. Sie geben sich weder fordernd noch aggressiv. Ist der »Wanderer« dennoch überfordert? Und überhaupt: Wie soll er sich gegenüber der Gruppe verhalten?

Die Frage, wie viele Flüchtlinge Deutschland vertrage, hat die Öffentlichkeit seit Jahrzehnten immer wieder umgetrieben. In der unmittelbaren Nachkriegszeit ging es dabei vor allem um Deutsche, die aus Osteuropa flohen oder vertrieben wurden. In den Westzonen und der frühen Bundesrepublik sorgte man sich um eine angebliche Überforderung durch »illegale Grenzgänger« und »Sowjetzonenflüchtlinge«. In den 1980er und 1990er Jahren hieß es, dass zu viele Aussiedlerinneni und Asylsuchende kommen. Wie sehr sich die Frage nach Deutschlands Aufnahmekapazität in den Vordergrund der politischen Debatte schob, hing selten allein von der Zahl neu ankommender Flüchtlinge ab. Und die Antworten unterschieden sich je nachdem, in welchem Deutschland die Frage gestellt wurde: ob in Cottbus oder Castrop-Rauxel, Neustadt in Sachsen oder Neustadt an der Weinstraße, Berlin-Neukölln oder Berlin-Steglitz.

In diesem Buch geht es darum, wie zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten Flüchtlinge im weitesten Sinne in Deutschland willkommen geheißen, allenfalls toleriert oder abgewiesen wurden. Wann, wo und warum stellte sich die Frage nach den Grenzen der Aufnahmefähigkeit? Und was hatte und hat es mit der vielfach behaupteten Spaltung auf sich? Es müsste doch möglich sein, so dachte ich mir, als ich den Stern-Titel sah, sich produktiv mit diesen Fragen im Rahmen einer Zeitgeschichte Deutschlands auseinanderzusetzen. Meine Geschichte beginnt 1989, als in den Worten Willy Brandts mit dem Fall der Mauer die zwei deutschen Staaten »zusammenwachsen« sollten und noch nicht abzusehen war, dass der eine sich den anderen einverleiben würde, und endet 2023. In dem Zeitraum gab es dreimal eine überdurchschnittlich hohe Fluchtmigration nach Deutschland: nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa und während der postjugoslawischen Kriege in den frühen 1990er Jahren, als Folge des syrischen Bürgerkriegs von 2014 bis 2016 und nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022. Außerdem wurden allein 1989 und in den ersten sechs Monaten des folgenden Jahres 580 000 DDR-Übersiedler und zwischen 1988 und 1995 mehr als 2,3 Millionen Aussiedler beziehungsweise Spätaussiedler in der Bundesrepublik aufgenommen.2

Blumen und Brandsätze beschreibt Reaktionen auf deutsche und nichtdeutsche Flüchtlinge, Asylsuchende, Aussiedler und Papierlose über einen Zeitraum von 34 Jahren: vom Umgang mit Migrantinnen aus der DDR bis zur Aufnahme von Ukrainerinnen 2022 und 2023. Mehrfach dominierte die Frage der Aufnahme von Schutzsuchenden die politische Agenda: während des erbitterten Streits um den »Asylkompromiss« Anfang der 1990er Jahre, während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 und 2016 und während der Diskussionen um die »Eindämmung illegaler Zuwanderung« 2023. Doch auch wenn diese Frage bundespolitisch keine Rolle spielte, wurde auf der lokalen Ebene oft dennoch über die Unterbringung von Flüchtlingen, über Abschiebungen und über die »Würde der Anderen« heftig gestritten. Das Buch handelt von rechter Gewalt gegen Fremde, der Angst, mit ihr assoziiert zu werden, und der selbstgerechten Überzeugung, nichts mit ihr zu tun zu haben. Es wird um Solidarität und Willkommenskulturen gehen, aber auch um Rassismus und die Angst vor Fremden.

2018 bis 2023

Es gab auch Zeiten, zu denen die Vorstellung absurd schien, das Land könnte ob der Zahl neu ankommender Zuwanderer kollabieren. Als ich im Sommer 2018 in Deutschland ankam, um mit der Arbeit an diesem Buch zu beginnen, erlebte ich ein offenes und entspanntes Land. Auch wenn viele Menschen der Meinung waren, dass die Regierung während der sogenannten Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016 versagt habe, hatte sich die überwiegende Mehrheit der über eine Million Schutzsuchenden, die damals nach Deutschland gekommen waren, eingelebt. Viele sprachen inzwischen relativ gut Deutsch, hatten Arbeit und eine Wohnung gefunden und begannen, sich in ihrer neuen Heimat einzumischen. Es schien, als ob die Aufnahme so vieler Menschen in so kurzer Zeit überraschend gut geklappt habe. Immer noch kamen Flüchtlinge nach Deutschland, aber ihre Zahl war im Vergleich zu der im »langen Sommer der Migration« überschaubar. Selbst dort, wo es ein paar Jahre zuvor Demonstrationen gegen Asylsuchende gegeben hatte, sorgte ihre Anwesenheit nur selten für Unmut. Fast überall gab es Willkommensinitiativen. Auch meine allererste Lektüre in Deutschland, ein Buch mit Reportagen des Welt-Journalisten Lucas Vogelsang,3 beschrieb ein Land, das im Vergleich zu dem, das ich von früher kannte, bunter und entspannter war.

In diesem Sommer standen nicht mehr die neu ankommenden Flüchtlinge im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die, die ihre Überfahrt über das Mittelmeer nicht überlebten. Mehrere mit Spendengeldern vor allem aus Deutschland finanzierte Seenotrettungsmissionen operierten im Mittelmeer. Als Italien und Malta einem Schiff der Dresdner Organisation Mission Lifeline das Anlaufen eines Hafens verwehrten, war die Empörung in Deutschland groß. An vielen Orten bildeten sich Komitees, die Proteste in Solidarität mit den Seenotrettern organisierten und sich im Sommer zum Bündnis Seebrücke zusammenschlossen.4 Kurz nach meiner Ankunft gingen in Berlin mehr als 10 000 Menschen auf die Straße und skandierten »Seenotrettung ist kein Verbrechen«. Die erste öffentliche Veranstaltung, die ich besuchte, war ein Diskussionsforum in Berlin, bei dem unter anderem eine Vertreterin von SOS Méditerranée, die Organisation, die das Seenotrettungsschiff Aquarius betrieb, und die Grünen-Bundestagsabgeordnete Filiz Polat über das Sterben an der europäischen Außengrenze diskutierten. Dass der Veranstaltungssaal inmitten der Schulferien gut gefüllt war, lag sicherlich auch daran, dass die Zeit in der Woche zuvor unter der provokanten Überschrift »Oder soll man es lassen?« eine hitzige Debatte über das Pro und Kontra privater Seenotrettung losgetreten hatte.5

Als ich die letzten Seiten von Blumen und Brandsätze schrieb, empörte sich kaum noch jemand über die Kriminalisierung der Seenotretter. Bundeskanzler Olaf Scholz distanzierte sich sogar von der im Koalitionsvertrag vereinbarten und vom Bundestag 2022 beschlossenen Bereitstellung von acht Millionen Euro über vier Jahre für die private Seenotrettung.6 Und wieder einmal wurde darüber gestritten, wie sich die Zuwanderung von Schutzsuchenden begrenzen lasse. Die Regierung in Berlin war auch unter Druck, weil Landräte und Bürgermeisterinnen der drei Ampelparteien genauso über die Belastung ihrer Kreise und kreisfreien Städte stöhnten wie ihre Amtskolleginnen von CDU und CSU.7 Dass es auch Landkreise gab, in denen die kommunalen Behörden die Herausforderungen reibungslos bewältigten,8 wurde in einer zunehmend aufgeregten Diskussion kaum wahrgenommen. Dabei stand im Verlauf des Jahres nie zu erwarten, dass 2023 nur annähernd so viele Asylsuchende und ukrainische Kriegsflüchtlinge einreisen würden wie im Vorjahr.

Vielerorts wurde 2023 auch wieder lautstark gegen die lokale Aufnahme von Schutzsuchenden protestiert. Wie in den frühen 1990er Jahren und während der Zeit, die missverständlich gern als »Flüchtlingskrise« bezeichnet wird, waren die Proteste inzwischen so zahlreich, dass über sie allenfalls in der Lokalpresse berichtet wurde. In der Kleinstadt Dippoldiswalde im sächsischen Osterzgebirge beispielsweise wehrten sich Einwohnerinnen seit Juni 2023 gegen die Pläne des Landratsamts, ein leerstehendes Berufsschulzentrum als Gemeinschaftsunterkunft für Asylsuchende zu nutzen. Der örtliche Stadtrat sprach sich ebenfalls gegen das Projekt aus.9 Die Stimmung im Ort war derart angespannt, dass bei einem Vortrag, den ich dort auf Einladung der Oberbürgermeisterin im Sommer 2023 hielt, vorsorglich Polizei anwesend war.

Wenn es um die Aufnahme von Asylsuchenden und anderen Fremden geht, scheint sich die Geschichte in einer Dauerschleife zu befinden. Die Dippoldiswalder, die im Juni 2023 auf die Straße gingen, benannten Ängste, die in der alten Bundesrepublik bereits in den 1980er Jahren artikuliert worden waren und in den unmittelbaren Nachwendejahren die Innenpolitik des wiedervereinigten Deutschlands prägten. Aber Deutschland im Jahre 2023 war unbestreitbar nicht mehr das Deutschland der 1980er und 1990er Jahre. Das Land ist insgesamt wohlhabender geworden, auch wenn der Wohlstand ungleichmäßiger verteilt ist als vor dreißig Jahren. Vor allem Zuwanderung hat die deutsche Gesellschaft maßgeblich verändert: Die Zahlen des Mikrozensus von 2021 besagten, dass 17,3 Prozent der Bevölkerung selbst eingewandert und dass weitere 5,7 Prozent die direkten Nachkommen von Einwanderinnen waren.10 Anders als in den 1990er Jahren besteht heute weitgehender Konsens darüber, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Selbst die Feststellung, dass der Islam zu Deutschland gehöre,11 stößt mittlerweile nur einer Minderheit auf. Das sah noch anders aus, als Wolfgang Schäuble das 2006 erstmals so formulierte. Aber im Unterschied zu den frühen 1990er Jahren, als die Empörung über die Einschränkung des grundgesetzlich verbrieften Rechts auf Asyl große Wellen schlug, werden die 2023 vereinbarten Maßnahmen, um den »irregulären« Zuzug in die Europäische Union (EU) zu unterbinden, heute nur von einer kleinen Minderheit infrage gestellt, obwohl sie unter anderem die Internierung von Schutzsuchenden an den europäischen Außengrenzen vorsehen. Am 5. Juni 2023 nahmen in Hamburg weniger als einhundert Menschen an einer von einem breiten Bündnis beworbenen Kundgebung teil, um gegen die Reform des europäischen Asylsystems zu protestieren.

Als Deutschland 2015 fast 900 000 Schutzsuchende – etwa zwei Drittel von ihnen aus Ländern mit einer überwiegend muslimischen Bevölkerung – aufnahm, hieß die Mehrheit die Neuankömmlinge als zukünftige Mitbürgerinnen willkommen. 2023 waren sich Bundesregierung und Landesregierungen unabhängig von ihrer jeweiligen politischen Zusammensetzung einig, dass gesellschaftliche Teilhabe auch denjenigen ermöglicht werden muss, die als Schutzsuchende nach Deutschland gekommen sind. Viele der Anfang der 1990er Jahre als Asylsuchende oder Kriegsflüchtlinge eingereisten Kurden, Bosnier und Iranerinnen mussten jahrelang abgeschottet in Lagern leben, durften nicht arbeiten und hatten keinen Zugang zu Deutschkursen, und wenige Deutsche empörten sich darüber. Doch 2015 wünschten sich viele, dass die neu ankommenden Syrer und Afghaninnen rasch die deutsche Sprache erlernen und eine Arbeit aufnehmen würden. Weder von ihnen noch von den ukrainischen Kriegsflüchtlingen, von denen nach dem 24. Februar 2022 binnen eines Jahres mehr als eine Million in Deutschland Zuflucht suchten, wurde erwartet, dass sie so bald wie möglich wieder in ihre Heimat zurückkehren.

Das Deutschland von heute ist nicht mehr das von 1990, weil nun mehr Menschen mit einer migrantischen Biografie ein integraler Teil der Gesellschaft sind. Viele haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte sind in Führungspositionen immer noch unterrepräsentiert, gerade in Politik, Justiz und Verwaltung, doch im Vergleich zu den 1990er Jahren hat sich viel bewegt. Einen »Migrationshintergrund« hatten 2023 die Oberbürgermeister von Hannover und Frankfurt am Main, Belit Onay und Mike Josef, aber auch Ryyan Alshebl, der 2015 als syrischer Flüchtling nach Deutschland kam und im April 2023 im ersten Wahlgang zum Bürgermeister der Gemeinde Ostelsheim in Schwaben gewählt wurde.12 Hinsichtlich des Anteils von Mandatsträgerinnen gibt es allerdings von Land zu Land und von Partei zu Partei große Unterschiede. Ende 2021 hatten 11,3 Prozent der Bundestagsabgeordneten, 21,1 Prozent der Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten, aber lediglich 0,8 Prozent der Abgeordneten im sächsischen Landtag einen Migrationshintergrund. Nur in Hamburg, Berlin, Bremen und Thüringen lag der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund über dem entsprechenden Prozentsatz der wahlberechtigten Bevölkerung, er blieb aber auch dort weit hinter dem jeweiligen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund zurück.13

Auch die parteipolitische Landschaft hat sich grundlegend gewandelt. Anders als in den 1990er Jahren saß Ende 2023 mit der Alternative für Deutschland (AfD) eine Partei im Bundestag und in vierzehn von sechzehn Länderparlamenten, deren Vertreter sich mit rassistischen Äußerungen profiliert haben. In ihrem Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2016 bekannte sich die Partei zu einer deutschen Leitkultur und macht die »Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert […] als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit« aus.14 Fünf Jahre später, vor der Bundestagswahl 2021, gab die Partei sich noch alarmistischer: Sie werde nicht »zulassen, dass Deutschland aus falsch verstandener Toleranz vor dem Islam seine tradierte Kultur verliert«.15

Schon früher saßen völkische und rechtsnationale Parteien in den Landesparlamenten: die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), die Deutsche Volksunion (DVU) und die Republikaner. Doch heute sind die Größenordnungen andere. Umfragen zufolge lag die AfD im Herbst 2023 in den fünf ostdeutschen Flächenstaaten zwischen 32 und 35 Prozent. In der Vergangenheit konnte ihre Regierungsbeteiligung in einigen ostdeutschen Ländern nur dadurch verhindert werden, dass andere Parteien trotz erheblicher ideologischer Differenzen miteinander Koalitionen eingingen. Am deutlichsten ist das in Sachsen, wo es kaum inhaltliche Schnittmengen zwischen Grünen und CDU gibt, eine schwarz-grün-rote Koalition aber 2019 die einzige Alternative zu Neuwahlen oder einer AfD-Regierungsbeteiligung war. Zugegebenermaßen klingt viel von dem, was AfD-Politiker heute gerade über Flüchtlinge und andere Migrantinnen sagen, vertraut – womit wir wieder beim Bild von der Geschichte als Dauerschleife wären. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Diejenigen, die sich mit rassistischen oder xenophoben Äußerungen in den frühen 1990er Jahren hervortaten, waren in der Regel etablierte Politiker, deren Partei den Bundeskanzler beziehungsweise den bayerischen Ministerpräsidenten stellte und die nicht vom Verfassungsschutz als mögliche oder tatsächliche Gefährder der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eingestuft wurden.

Fern- und Nahaufnahmen

Mir fallen die Unterschiede zwischen der heutigen Gesellschaft und der im Jahr der Wiedervereinigung besonders auf, weil ich 1985 die Bundesrepublik, in der ich geboren und aufgewachsen war, verließ, um in Australien zu promovieren. Zwar kehrte ich 1989 für knapp zwei Jahre nach Europa zurück, doch bis 2018 nahm ich Deutschland vor allem aus der Ferne wahr: aus Australien, Papua-Neuguinea und Aotearoa Neuseeland. Mit diesem Abstand verfolgte ich die Auseinandersetzung um die Aufweichung des Grundrechts auf Asyl, die Brandanschläge auf die Unterkünfte von Migrantinnen und Flüchtlingen und die Lichterketten in den 1990er Jahren. Mit Erstaunen registrierte ich, wie viele Menschen 2010 angeblich das unsägliche Buch Deutschland schafft sich ab des ehemaligen Berliner SPD-Finanzsenators Thilo Sarrazin lasen. Wie viele Australier war ich 2015 von den deutschen Reaktionen auf die Ankunft syrischer Flüchtlinge 2015 fasziniert.

In den frühen 1990er Jahren hatte ich die brennenden Unterkünfte für Asylsuchende und Arbeitsmigrantinnen aus der Entfernung als Indiz für eine noch immer nicht aufgearbeitete Vergangenheit wahrgenommen. Meine Interpretation war damals sicherlich beeinflusst von der Berichterstattung der australischen Medien, für die zum Beispiel die Brandsätze und Steine werfende Menge in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 vor allem aus Neonazis bestand.16 In den 2010er Jahren musste ich mich nicht mehr auf Auslandskorrespondenten, die Deutsche Welle oder mit großer Verspätung in Melbourne eintreffende deutsche Zeitschriften verlassen. Im Netz konnte ich quasi live die Demonstrationen vor dem ehemaligen Praktiker-Baumarkt im sächsischen Heidenau am vorletzten Augustwochenende 2015, aber auch den begeisterten Empfang syrischer Flüchtlinge auf dem Münchner Hauptbahnhof wenige Tage später miterleben.

Neugierig geworden, verbrachte ich im Oktober 2015 einige Wochen in Deutschland, unter anderem, um über die Aufnahme Schutzsuchender für ein australisches Magazin zu berichten. Was ich sah, verblüffte mich. Plötzlich war mir das Land meiner Geburt sympathischer als meine australische Heimat, wo sowohl konservative als auch sozialdemokratische Regierungen seit Jahren die Menschenrechte von Schutzsuchenden mit Billigung der Mehrheit der Bevölkerung missachteten. Zwar wusste ich mehr über Angela Merkels »Wir schaffen das« als über Helmut Kohls Reaktionen auf rassistische Gewalt in Hoyerswerda, Hünxe und Rostock, doch mein Blick auf die Ereignisse in Deutschland im Sommer und Herbst 2015 war nun getönt durch meine kritische Sicht auf die ausgenommen restriktive australische Asylpolitik.

Während der Arbeit an diesem Buch, von 2018 bis 2023, lebte ich wieder in Deutschland. Die Themen Flucht und Migration sind in dem Hamburger Stadtteil, in dem ich wohne, sehr präsent: In meiner Nachbarschaft leben viele Migrantinnen aus der Türkei, aber auch viele Flüchtlinge, unter anderem aus Westafrika und der Ukraine. In der Straße, in der ich während der Arbeit an Blumen und Brandsätze wohnte, hatte jemand Anfang 2020 »Leave no one behind« an eine Hauswand gesprüht, um die Evakuierung des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos zu fordern. Ein anderes Graffito erinnerte an den Tod des Guineers Oury Jalloh am 7. Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle. Und in den fünf Jahren, in denen ich an diesem Buch arbeitete, verging kaum ein Tag, an dem in den Medien nicht über Flüchtlinge in Deutschland berichtet wurde. Trotzdem denke ich manchmal wehmütig an die Zeit zurück, als sich das Land und seine Menschen aus der sicheren Entfernung vergleichsweise leicht deuten ließen. Oft wurde ich an einen Satz aus einem meiner Lieblingsfilme, Alexander Kluges Die Patriotin, erinnert: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner blickt es zurück: Deutschland.«

Für mich ist dieses Buch auch der Versuch, mich einem Land anzunähern, das ich mehr als drei Jahrzehnte lang aus einer großen Distanz wahrnahm – ja mehr noch: ein Versuch, eine Geschichte der Bundesrepublik gerade für den Zeitraum, in dem ich nicht dort lebte, zu schreiben. Das Thema, die Aufnahme von Schutzsuchenden, eignet sich für eine Auseinandersetzung mit der jüngsten bundesrepublikanischen Vergangenheit, weil es seit dem Mauerfall ein zentrales Thema der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung gewesen ist. Blumen und Brandsätze ist das Ergebnis meines Erstaunens im Sommer 2015 und des Wunsches, das Land, das mir zugleich vertraut und fremd war, besser zu verstehen und so auch meine eigenen Lesarten kritisch zu hinterfragen. Wie kam es, dass die Entscheidung der Bundesregierung, die deutschen Grenzen im September 2015 nicht dichtzumachen, damals auf breite Zustimmung stieß? Aber auch: Woher rührte die Wut der Menschen in Heidenau und anderswo? Und wie schafften es kommunale Entscheidungsträger (auch in Heidenau), den Protest einzuhegen? Wie begründeten Gegner und Befürworter der Aufnahme von Schutzsuchenden ihre Position? Ließen sich Verbindungslinien ziehen: von den pogromartigen Unruhen in Hoyerswerda zu den Protesten in Heidenau, von den Lichterketten 1992 und 1993 zur sogenannten Willkommenskultur? Was hatten und haben die Aversionen gegen die Aufnahme Schutzsuchender, aber auch das massenhafte ehrenamtliche Engagement für Flüchtlinge mit Deutschlands Nazi-Vergangenheit und der Erinnerung an eben diese zu tun? Mich interessierte dabei nicht so sehr, wie die Berliner Politik auf die Herausforderungen des Jahres 2015 reagierte, sondern was vor Ort geschah, wie lokale Entscheidungsträger und zivilgesellschaftliche Akteurinnen die Aufnahme oder Abweisung von Schutzsuchenden aushandelten.17 Ich wollte diesen Prozess bis in die späten 1980er und frühen 1990er Jahre zurückverfolgen. Dabei hatte ich vor, die großen Linien der Geschichte im Blick zu behalten, aber nicht zu versuchen, sie nachzuziehen.

2015 ging es um die Aufnahme von Menschen, die in Deutschland Asyl beantragten. Doch bereits ein flüchtiger Blick auf die 1990er Jahre zeigte, dass eine Beschränkung auf die Aufnahme von Asylsuchenden kaum sinnvoll wäre. Das machten schon Parolen wie »Ausländer raus!« deutlich, die sich ja nicht gegen Menschen mit bestimmten Aufenthaltstiteln richteten. Von Rassismus waren alle betroffen, die aufgrund äußerer Merkmale als fremd wahrgenommen wurden, ob sie nun deutsche Staatsangehörige waren oder nicht. In diesem Buch geht es um die Aufnahme von Menschen, »die wir nicht gerufen haben«,18 wie das ein Hamburger CDU-Politiker 1989 formulierte – seien es nun DDR-Übersiedler, die er damals im Sinn hatte, Aussiedler beziehungsweise ab 1993 Spätaussiedler, Kriegsflüchtlinge oder Asylsuchende. Sie alle waren, wenn auch in unterschiedlicher Weise, letztendlich ungebetene Fremde. Gelegentlich werde ich auch Zwangsmigrantinnen erwähnen, die auf Einladung nach Deutschland kamen: als Kontingentflüchtlinge oder im Rahmen von Bundes- oder Landesaufnahmeprogrammen. Und schließlich wird es nicht ausbleiben, dass es in diesem Buch oft auch um »Ausländerinnen« im weitesten Sinne gehen wird.

Warum aber sollte man das Augenmerk auf lokale Aushandlungen legen, schließlich wird Asyl- und Migrationspolitik von der Bundesregierung gemacht und vom Bundestag beschlossen? Selbst die Gestaltungsmöglichkeiten des Bundes sind oft begrenzt. Den eritreischen Diktator Isayas Afewerki, dessen Politik dazu geführt hat, dass heute ungefähr 70 000 Eritreer in Deutschland leben, kümmert die Haltung der deutschen Regierung wenig. Die war auch nicht imstande, die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und die von ihnen ausgelösten Fluchtbewegungen zu verhindern. Aber die Politik der Bundesregierung und vom Bundestag verabschiedete Gesetze bestimmen, welche Aufenthaltstitel Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge bekommen, ob sie arbeiten und ihre Familien nachholen dürfen und unter welchen Umständen sie abgeschoben werden dürfen. Eine Bundesbehörde, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), entscheidet über individuelle Anträge auf Asyl.

Die Gestaltungsmöglichkeiten der Länder sind viel begrenzter. Es gibt länderspezifische Aufnahmeprogramme, und die Vorgaben der Länder hinsichtlich der Unterbringung von Schutzsuchenden unterschieden sich in der Vergangenheit zum Teil erheblich. Baden-Württemberg richtete bereits 1980 Sammellager für Asylsuchende ein, lange vor den meisten anderen Bundesländern. Die vom damaligen Bundesinnenminister Seehofer geforderten und im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD 2018 vereinbarten AnkER-Zentren (Zentren für Ankunft, Entscheidung, Rückführung) wurden lediglich in Bayern, Sachsen und im Saarland realisiert. Aber in den Flächenstaaten sind die Länder nur für die Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende zuständig. Folgeeinrichtungen fallen in die Verantwortung von Landkreisen und kreisfreien Städten und werden entweder von ihnen selbst oder von privaten Dienstleistern betrieben. Von den Landratsämtern finanzierte Flüchtlingssozialarbeiterinnen betreuen Asylsuchende. Wenn diese ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängern wollen, müssen sie beim Ausländeramt des für sie zuständigen Landkreises (oder der zuständigen kreisfreien Stadt) vorstellig werden, das auch Abschiebungen initiieren kann.

Die Entscheidungen von Kreis- und Stadträtinnen, Landräten und Oberbürgermeisterinnen haben einen wesentlichen Einfluss auf das Leben von Asylsuchenden und Migrantinnen allgemein, selbst in Bereichen, in denen es bundesgesetzliche Vorgaben gibt. Beispielsweise wird die Einbürgerung durch ein Bundesgesetz geregelt, doch von Ausländeramt zu Ausländeramt gibt es große Unterschiede bei der Einbürgerungspraxis, selbst innerhalb einzelner Bundesländer:19 Ein Landkreis wirbt um Anträge auf Einbürgerung, sorgt dafür, dass sie zügig bearbeitet werden und schöpft den gesetzlichen Spielraum bei Ermessenseinbürgerungen voll aus, während ein anderer kaum Ermessenseinbürgerungen vornimmt und eine zur Bearbeitung von Anträgen vorgesehene Stelle lange nicht besetzt. Doch gesetzliche Rahmenbedingungen sind nur eine Variable: Während einige Kommunalpolitiker ihre Gestaltungsmöglichkeiten nicht ausschöpfen wollen, bestehen andere erfolgreich auf Mitspracherechten, die sie formal betrachtet gar nicht haben. Um mir die Einflussmöglichkeiten der Altonaer Bezirksversammlung, der er viele Jahre angehört hatte, aufzuzeigen, verwies der Hamburger CDU-Politiker Andreas Grutzeck auf das Amt des Bundespräsidenten: Rein rechtlich gesehen habe der nur wenige Befugnisse, doch was er aus seinem Amt mache und wieviel Einfluss er habe, hänge letztendlich von ihm ab.20 Im Folgenden wird es also auch darum gehen, inwieweit Kommunalpolitikerinnen versuchen, Politik zu gestalten, ganz unabhängig davon, ob ihre Mitwirkung vorgesehen ist.

In den öffentlichen Auseinandersetzungen um die Frage, ob und in welchem Umfang die Bundesrepublik Asylsuchenden Schutz gewähren sollte, ging es vordergründig zumeist um die Frage der Kapazität, also um die im Oktober 2015 vom Stern suggerierte Behauptung, Deutschland »vertrage« nicht noch mehr Flüchtlinge, oder um die Frage, ob »das Boot voll« sei, wie der Spiegel im September 1991 in einer Titelgeschichte nahelegte, deren Titelbild eine überfüllte deutsche Arche Noahs mit den Worten »Ansturm der Armen« zeigte.21 Doch wenn jemand der Meinung ist, dass Deutschlands Aufnahmekapazität erschöpft sei, dann sieht sie sich nicht als Passagierin auf einer Arche, sondern denkt womöglich an fehlende Kitaplätze oder stört sich an Gruppen junger Schwarzeri Männer im Straßenbild ihrer Stadt. Konkret entzündeten sich Auseinandersetzungen in der Regel nicht an der Mobilität von Migrantinnen, »die wir nicht gerufen haben«, sondern an deren geplanter oder erfolgter Immobilisierung vor Ort, also am Bau und Betrieb von Gemeinschaftsunterkünften. Und deshalb ist es sinnvoll, den Fokus auf die lokale Politik zu legen, in der darüber entschieden wird.

Besonders interessieren mich Menschen, die sich in der Kommunalpolitik engagieren, ob ehrenamtlich als Mitglieder eines Kommunalparlaments oder hauptamtlich als gewählte Leiter einer Behörde. Zivilgesellschaftliche Akteurinnen, die bei der Aushandlung von Politik mitmischen, spielen in meinem Buch auch eine Rolle. Vordergründig geht es mir nicht um die Erfahrungen von Asylsuchenden, Flüchtlingen und Aussiedlerinnen, sondern um den behördlichen, lokalpolitischen und zivilgesellschaftlichen Umgang mit ihnen. Der ist allerdings manchmal auch nur als Reaktion auf Migrantinnen als politische Akteure verständlich.

Exemplarisches

Um über die Aufnahme von ungebetenen Fremden vor Ort schreiben zu können, habe ich zwei Fallbeispiele gewählt: den Bezirk Altona, den westlichsten der sieben Hamburger Bezirke, und den Kreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, einen der zehn sächsischen Landkreise. Eigentlich verbindet die beiden nur die Elbe – und der »Wanderer«. Caspar David Friedrichs um 1817 gemaltes Panorama zeigt mehrere Motive aus der Sächsischen Schweiz. Wie kein anderes Gemälde ist es mit dieser von Friedrich selbst erwanderten Region assoziiert. Aber »Der Wanderer« ist auch eines der ersten Bilder, das sich einer auf dem Hamburger Flughafen ankommenden Reisenden einprägt. Es ist dort allgegenwärtig, ob im Transitbereich oder in der Gepäckhalle. Ausgerechnet diese unromantische Großstadt – oder ihre Marketingabteilung – hat sich Friedrichs Gemälde als Wahrzeichen auserkoren. Obwohl der »Wanderer« erst seit den 1970er Jahren in der Hamburger Kunsthalle hängt, ist er heute untrennbar mit der Hansestadt verbunden. Es war Hamburg, so der Kunsthistoriker Florian Illies, »das Caspar David Friedrich großmachte«.22 Als »Der Wanderer« im März 2023 seinen angestammten Platz als temporäre Leihgabe verließ, war das dem Hamburger Abendblatt nicht nur einen ausführlichen Artikel wert; die Zeitung spendierte auch am Tag seines Abschieds im Zwanzig-Minuten-Takt kostenlose Führungen.23

Der Bezirk Hamburg-Altona ist überwiegend identisch mit der bis zum Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 eigenständigen Stadt Altona und umfasst vierzehn Stadtteile. Auf 77 Quadratkilometern leben insgesamt etwa 280 000 Einwohnerinnen, wobei die Bevölkerungsdichte in den vier innerstädtischen Stadtteilen Sternschanze, Altona-Nord, Altona-Altstadt und Ottensen bei jeweils weit über 10 000 Einwohner pro Quadratkilometer liegt, in dem zum Teil ländlichen Sülldorf aber unter 2000. Im Süden wird der Bezirk durch die Elbe begrenzt. Etwa 640 Kilometer lang erstreckt sich die Elbe vom westlichsten Altonaer Stadtteil Rissen bis zur deutsch-tschechischen Grenze. Von da an fließt sie die ersten 40 Kilometer durch den Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Zu ihren beiden Seiten liegt die Sächsische Schweiz mit der Kreisstadt Pirna. Der äußerste Nordosten des Kreises gehört zum Lausitzer Bergland, während der Westen Teil des Osterzgebirges ist. Flächenmäßig ist der Landkreis etwa sechs Mal so groß wie der Bezirk Altona, hat aber nur etwa 246 000 Einwohner, die sich auf 36 Gemeinden verteilen. Die größte, das an Dresden angrenzende Freital, hat knapp 40 000 Einwohner, während in der kleinsten Gemeinde, Hermsdorf am Kamm des Erzgebirges an der deutsch-tschechischen Grenze, weniger als 800 Menschen wohnen. Der heutige Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge wurde 2008 aus dem Landkreis Sächsische Schweiz und dem Weißeritzkreis gebildet, die 1994 aus den Kreisen Pirna und Sebnitz beziehungsweise Dippoldiswalde und Freital hervorgegangen waren.

Meine Entscheidung für ausgerechnet diese beiden Fallbeispiele ergab sich eher zufällig. Ich hatte nie in Hamburg gelebt; Sachsen hatte ich vor 2018 erst dreimal besucht. Bei der Auswahl spielte eine Rolle, dass Hamburg-Altona und der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge auf den ersten Blick an den beiden extremen Enden eines imaginären Spektrums angesiedelt werden und somit, so hoffte ich, eine möglichst große Bandbreite lokaler Reaktionen abbilden könnten. Um einen Vergleich der beiden Fälle, von West- und Ostdeutschland oder von Großstadt und ländlichem Raum, geht es mir in diesem Buch nicht. Ein solcher Vergleich wäre wenig sinnvoll, da die strukturellen Bedingungen zu verschieden sind: angefangen bei den unterschiedlichen historischen Voraussetzungen bis zu den völlig andersartigen Kommunalverfassungen. Stattdessen möchte ich mithilfe einer Beschäftigung mit Verhältnissen, die in vielerlei Hinsicht nicht unterschiedlicher sein könnten, eine Geschichte erzählen, die große regionale und lokale Unterschiede aufweist, in der diese Unterschiede aber manchmal wechselseitig bedingt sind und in der es auch viele und überraschende Gemeinsamkeiten gibt.

Hamburg-Altona und die Sächsische Schweiz und das Ostergebirge sind weder repräsentativ noch bilden sie einen wie auch immer definierten deutschen Durchschnitt ab. Im Gegenteil, sie machen es möglich, in meiner Geschichte des lokalen Umgangs mit Schutzsuchenden die Diversität Deutschlands abzubilden: innerstädtischen Kiez und Villenvororte einer westdeutschen Millionenstadt auf der einen Seite, Vororte im Dresdner Speckgürtel, Kurorte und relativ abgelegene Dörfer im deutsch-tschechischen Grenzgebiet auf der anderen. Hier: sozialdemokratische Hochburgen, grün-alternative urbane Milieus und Stadtteile, in denen die Hälfte der Bevölkerung eine migrantische Biografie hat. Da: Städte und Gemeinden mit einem außerordentlich niedrigen Anteil von Einwohnerinnen ohne deutschen Pass, in denen die CDU lange keine nennenswerte Konkurrenz hatte und die bei der Bundestagswahl 2017 der AfD zu einem ihrer drei Direktmandate verhalfen.

Dass Hamburg-Altona und das südöstliche Sachsen scheinbar Welten trennen, wird deutlich, wenn man ihre politischen Repräsentanten in den Blick nimmt. Die Bewohner des Osterzgebirges wurden von 1990 bis 2002 im Bundestag von Rainer Jork (CDU), dem Sieger im Wahlkreis 320 (Dresden-Land – Freital – Dippoldiswalde), vertreten. Jork war langjähriges Mitglied der Ost-CDU, Mitglied der letzten DDR-Volkskammer und vorher beruflich als Dozent an der Technischen Universität Dresden tätig gewesen. Bei den ersten beiden Wahlen nach der Wiedervereinigung erzielte er jeweils die absolute Mehrheit der Erststimmen. Die Sächsische Schweiz war bis 2002 Teil des Bundestagswahlkreises 317 (Pirna – Sebnitz – Bischofswerda), wo der Elektrohandwerksmeister Klaus Brähmig dreimal das Direktmandat für die CDU gewann. Von 2002 bis 2017 repräsentierte Brähmig auch das Osterzgebirge, da im Zuge der Wahlkreisreform 2002 ein neuer Wahlkreis 158 (Sächsische Schweiz-Weißeritzkreis) geschaffen wurde, der die Sächsische Schweiz und das Osterzgebirge umfasste und seit der Bundestagswahl 2009 »Sächsische Schweiz-Osterzgebirge« heißt. Brähmig gewann seinen Wahlkreis dreimal – 1990, 1994 und 2013 – mit der absoluten Mehrheit der Erststimmen. 2017 verlor er ihn an Frauke Petry, eine gebürtige Dresdnerin, die zusammen mit ihrer Familie kurz vor dem Mauerfall in die Bundesrepublik migriert war. Petry ist promovierte Chemikerin und gründete 2007 ein Unternehmen, das Kunststoffe herstellte. Sie war ein AfD-Gründungsmitglied und wurde 2015 zu einer von zwei AfD-Bundesprechern gewählt. Nach der Bundestagswahl 2017 trat sie aus der AfD aus, behielt aber ihr Abgeordnetenmandat. Bei der Bundestagswahl 2021 ging der Wahlkreis an den AfD-Kandidaten Steffen Janich, einen Polizisten, der 2020 wegen seiner Rolle bei einer nicht angemeldeten Demonstration gegen Covid-19-Auflagen vom Dienst suspendiert wurden.

Im Bundestagswahlkreis 19 (Hamburg-Altona), dessen Grenzen mit denen des gleichnamigen Bezirks weitgehend identisch sind, ging das Direktmandat von 1990 bis einschließlich 2017 an die SPD. Die promovierte Sozialwissenschaftlerin Marliese Dobberthien, die unmittelbar vor ihrer Wahl Staatsrätin für Gleichstellung in Hamburg war, vertrat den Wahlkreis für zwei Legislaturperioden. Von 1998 bis 2011 wurde der Wahlkreis im Bundestag vom Juristen Olaf Scholz repräsentiert, danach für zwei Legislaturperioden vom promovierten Juristen Matthias Bartke, der vor seiner Wahl die Rechtsabteilung der Hamburger Sozialbehörde geleitet hatte. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann die Politologin Linda Heitmann von den Grünen das Direktmandat. Seit 1990 gelang es im Wahlkreis 19 keinem der Kandidaten, eine absolute Mehrheit der Erststimmen zu gewinnen; Scholz erzielte bei der Bundestagswahl 2002 mit 49,4 Prozent das vergleichsweise beste Ergebnis.

Ein Blick auf die Lokalpolitik macht ebenfalls auf zentrale Unterschiede aufmerksam. Das Altonaer Bezirksamt wird von Stefanie von Berg von den Grünen geleitet. Sie folgte auf Liane Melzer von der SPD. Der Altonaer Bezirksversammlung steht mit Stefanie Wolpert (Grüne) in der derzeitigen (21.) Wahlperiode ebenfalls eine Frau vor. In der Sächsischen Schweiz und im Osterzgebirge hat es seit 1990 insgesamt acht (ausnahmslos männliche und christdemokratische) Landräte gegeben. Dass der Amtsinhaber Michael Geisler ein Mann ist, ist nicht ungewöhnlich: Ende 2023 waren alle zehn sächsischen Landräte sowie die Oberbürgermeister der kreisfreien Städte Chemnitz, Leipzig und Dresden Männer. Unter den 36 Stadt- und Gemeindeoberhäuptern im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge gab es Ende 2023 nur eine Oberbürgermeisterin und eine Bürgermeisterin. Im Pirnaer Stadtrat saßen 2023 drei Frauen und 23 Männer.

Auch hinsichtlich ihres demografischen Profils könnten das südöstliche Sachsen und Hamburg-Altona kaum unterschiedlicher sein. Während der Anteil von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft auch 1989 im Vergleich zu Westdeutschland niedrig war, waren Orte wie Pirna, Freital, Neustadt und Heidenau vor der Wende bedeutende Industriestandorte. 1990 hatte der Bezirk Altona knapp 240 000 Einwohner, während die vier Kreise Pirna, Sebnitz, Dippoldiswalde und Freital zusammen auf knapp 310 000 Einwohner kamen. Seitdem nahm die Einwohnerzahl Hamburg-Altonas beständig zu; im Verlauf von 33 Jahren wuchs sie um fast 15 Prozent. Die Einwohnerzahl des Kreises Sächsische Schweiz-Osterzgebirge nahm dagegen ab – seit 1990 um mehr als 20 Prozent.24

Auf den ersten Blick stehen die Sächsische Schweiz und das Osterzgebirge für ein kleinstädtisches und ländliches Deutschland, in dem vergleichsweise wenige Migranten und viele alte Leute leben und in dem konservative sowie extrem rechte Positionen relativ viel Zuspruch finden, während Hamburg-Altona Repräsentant eines großstädtischen, kulturell diversen, liberalen und vergleichsweise jungen Deutschlands ist. Trotzdem sollte man sich vor vorschnellen Einordnungen hüten. Ja, in Altona orientiert sich die überwiegende Mehrheit der Wählerinnen links von der Mitte (zumal auch Teile der Altonaer CDU sich lange eher links dieser imaginären Mitte positioniert haben); nach 1945 erhielten rechtsextreme Politiker in Hamburg nur in Ausnahmefällen großen Zulauf. Aber ausgerechnet im liberalen Hamburg gelang es einer rechtspopulistischen Partei das erste und bisher einzige Mal im Nachkriegsdeutschland, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Bei der Bürgerschaftswahl 2001, zwölf Jahre vor der Gründung der AfD, erzielte die Partei Rechtsstaatlicher Offensive des Amtsrichters Ronald Schill aus dem Stand 19,4 Prozent der Stimmen. Bei der zeitgleich stattfindenden Wahl zur Altonaer Bezirksversammlung kam sie immerhin noch auf 15,4 Prozent. In einem von der CDU geführten Senat übernahm Schill den Posten des Zweiten Bürgermeisters. Als Innensenator war er auch für die Ausländer- und Asylpolitik zuständig. Im oft als rechte Hochburg verschrienen Sachsen waren seit dem Mauerfall weder die AfD noch andere rechtsextreme Parteien an der Landesregierung beteiligt. Bis zur Wahl des von der AfD nominierten Tim Lochner als Oberbürgermeister von Pirna im Dezember 2023 stellten die AfD oder ähnliche Parteien auch keine Bürgermeisterinnen oder Landräte in Sachsen.

Nicht nur bilden der Bezirk Altona und der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge die Vielfalt Deutschlands ab. Sie sind auch in sich ausgesprochen heterogen. So gehört der Osdorfer Born, der in den letzten Jahrzehnten oft als »sozialer Brennpunkt« galt, genauso zu Altona wie Nienstedten, der Stadtteil Hamburgs mit dem höchsten Durchschnittseinkommen, und Ottensen, ein innerstädtisches Viertel, dessen alter Baubestand in den letzten dreißig Jahren saniert wurde und das von einem Quartier für Migrantinnen zu einem bei Hipstern angesagten Wohn- und Ausgehviertel mutierte. Zum Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge gehören Dörfer und Kleinstädte, aber auch die beiden Mittelstädte Pirna und Freital. Beide haben knapp 40 000 Einwohner und waren in DDR-Zeiten Sitz bedeutender Industriebetriebe im Einzugsbereich Dresdens: die eine zwanzig und die andere zehn S-Bahn-Minuten von der Landeshauptstadt entfernt. Aber damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Pirnas Geschichte reicht zurück ins Hochmittelalter. Zu seinen Attraktionen gehört eine historische Altstadt, die zahlreiche Touristen anzieht. In Pirna gibt das Stadtbürgertum auch heute noch den Ton an. Zivilgesellschaftliche Initiativen – wie zum Beispiel der CSD Pirna, der seit 2003 den Christopher Street Day in Pirna ausrichtet und ein Begegnungszentrum unterhält – haben Einfluss auf sein politisches Leben. Pirna war schon im 19. Jahrhundert Sitz der gleichnamigen Amtshauptmannschaft, beherbergte auch in der DDR eine Kreisverwaltung und seit 1990 ein Landratsamt. In Freital war bis 1994 die Kreisverwaltung des gleichnamigen Landkreises Freital ansässig. Freital verlor diese dann aber in der Kreisgebietsreform an das benachbarte Dippoldiswalde. Die Stadt entstand erst 1921 aus dem Zusammenschluss dreier Gemeinden. Ein eigentliches Stadtzentrum sucht man vergebens. Es gibt keinen nennenswerten Tourismus. Stadtbürgertum und Zivilgesellschaft sind in Freital weniger einflussreich als in Pirna.

Baumaterial

Die Bausteine meiner deutschen Geschichte sind zahlreiche Geschichten. Die könnten zwar jede für sich erzählt werden, doch sie ergeben vor allem im Verbund Sinn. Wie in anderen meiner Bücher vertraue ich darauf, dass sie nur selten erklärungsbedürftig sind, sondern selbst erklärendes und analytisches Potenzial haben. Das haben auch, so hoffe ich jedenfalls, die vielen zeitgenössischen Zitate, mit denen mein Text arbeitet. Ihnen kommt zudem die Aufgabe zu, eine Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu schaffen, auch wenn Letztere der Leserin oft bekannt vorkommen mag. Diese Distanz ermöglicht uns, die Vergangenheit nicht bloß als eine Vorläuferin der Gegenwart zu begreifen, unseren Blick zu schärfen für Vergangenheiten, die nie Gegenwart geworden sind, und mithilfe von Geschichte(n) »die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen«.25

Für dieses Buch habe ich mit mehreren Hundert Menschen in Hamburg und Sachsen gesprochen. Etwa 170 Interviews habe ich mit Einverständnis der Befragten digital aufgezeichnet. Die Gespräche erstreckten sich bisweilen über viele Stunden. Ich habe außerdem Dutzende von Veranstaltungen beobachtet: von Protesten gegen Coronaschutzimpfungen bis zu Podiumsdiskussionen über die Seenotrettung von Migrantinnen im Mittelmeer. In Pirna besuchte ich Stadtrats- und Kreisratssitzungen; in Hamburg verfolgte ich zahlreiche Sitzungen der Bezirksversammlung Altona und ihrer Ausschüsse. Da mich die Geschichte des Umgangs mit Schutzsuchenden interessiert, stütze ich mich vor allem auf schriftliche und, wenn auch in geringerem Maße, mündliche Quellen.26 Dabei war ich abhängig von der Bereitschaft von Zeitzeuginnen, mit mir über die Vergangenheit zu sprechen, und von der Verfügbarkeit schriftlicher Zeugnisse. Zu Letzteren gehörten vor allem Verwaltungsakten, die Protokolle und Drucksachen kommunaler Parlamente und die Berichterstattung in lokalen Zeitungen.

Seit etwa fünfzehn Jahren sind die Protokolle und Drucksachen kommunaler Parlamente in der Regel digital über Rats- und Bürgerinformationssysteme zugänglich. Für die Zeit davor ist die Überlieferung lückenhaft. Besonders bei den für mein Projekt so wichtigen Verwaltungsakten war ich auf das Entgegenkommen von Ämtern und staatlichen und kommunalen Archiven angewiesen, da normalerweise nur behördliche Akten, die älter als dreißig Jahre sind, öffentlich zugänglich gemacht werden. Sowohl in Hamburg als auch in Sachsen wurde mir Einsicht in für mich wichtige Bestände erst mehrere Jahre, nachdem ich meine Bitte vorgetragen hatte, gewährt. In der Sächsischen Schweiz und im Osterzgebirge kam dazu, dass viele für mich relevante Akten die Kreisreformen 1994 und 2008 nicht überlebt hatten. Die ausgesprochen uneinheitliche Quellenlage hat die Auswahl der Themen dieses Buches maßgeblich geprägt.27

Ebenfalls beeinflusst wurde meine Auswahl von der Verfügbarkeit wichtiger Akteure. Nicht alle waren bereit, mit mir zu sprechen. In der Sächsischen Schweiz und im Osterzgebirge rührte die Ablehnung manchmal daher, dass ich nicht als australischer, sondern als westdeutscher Forscher wahrgenommen wurde. Viele Menschen in der Region fühlten sich außerdem verunglimpft durch eine 2017 vom Göttinger Institut für Demokratieforschung erstellte Studie zu flüchtlingsfeindlichen Protesten in Heidenau und Freital, und manche der Kommunalpolitiker, die ich um ein Gespräch für meine Arbeit bat, waren zutiefst misstrauisch gegenüber einem Forschungsvorhaben mit einem scheinbar ähnlichen Erkenntnisinteresse.28

Wortwahl

Gerade bei Themen, die so kontrovers diskutiert werden wie die Migrations- und Asylpolitik, sind auch Begrifflichkeiten umkämpft. Umso wichtiger ist es, dass wir uns der Nutzung und Wirkung relevanter Wörter sowie ihrer Genealogien bewusst sind. Da dieses Buch vielfach historische Texte zitiert, ist es unvermeidbar, dass in ihm auch Begriffe vorkommen, die verletzend oder anderweitig problematisch sind. In einigen Fällen habe ich diese Worte verfremdet; ich vertraue aber darauf, dass meine Leserinnen zwischen dem Zitieren einer Quelle und der unnötigen Reproduktion eines verletzenden Wortes unterscheiden und zudem wissen, dass historische Akteurinnen sich nur der zeitgenössischen Konnotationen von Wörtern bewusst sein konnten. Manchmal ist ein historischer Begriff auch unumgänglich, weil er einen gesetzlich definierten Status bezeichnet. Wenn möglich, benutze ich eine Sprache, die nach unserem heutigen Kenntnisstand Personen oder Sachverhalte akkurat beschreibt und es vermeidet, Unrecht sprachlich fortzuschreiben.

Es gibt kein Wort für Menschen, die gezwungen wurden oder sich gezwungen sahen, ihre Heimat zu verlassen, und in Deutschland Zuflucht suchten, das nicht an sich oder aufgrund der mit ihm assoziierten Eigenschaften problematisch ist.29 Im Alltagssprachgebrauch werden solche Menschen heute gemeinhin als Geflüchtete oder Flüchtlinge bezeichnet. Die Frage, welcher Begriff der bessere ist, wurde im Kontext der sogenannten Flüchtlingskrise (für die erfreulicherweise inzwischen auch der 2015 von Bernd Kasparek und Marc Speer geprägte Begriff des »langen Sommers der Migration«30 benutzt wird) intensiv diskutiert.31 Ich verwende »Flüchtling«, da das Partizip Perfekt ein Ende der Flucht suggerieren könnte und da ich wie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und Andrea Kothen von Pro Asyl der Meinung bin, dass »Flüchtling« anders als »Geflüchtete« eine historische und rechtliche Bedeutung hat, die nicht verloren gehen sollte.32 Wer jeweils gemeinhin als Flüchtling galt, änderte sich mit der Zeit. In der Bundesrepublik war der Begriff anfangs für Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten reserviert, die später gemeinhin als »Vertriebene« galten, während Übersiedler aus der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR anfangs als »illegale Grenzgänger« bezeichnet wurden und nichtdeutsche Flüchtlinge offiziell »heimatlose Ausländer« hießen.33

Als rechtliche Kategorie bezeichnet »Flüchtling« aber nicht einfach alle Menschen mit einer Fluchterfahrung. Gemäß Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist diejenige ein Flüchtling, die

aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will […].34

Die Flüchtlingskonvention war nicht etwa zuvörderst eine Antwort auf die historische Erfahrung des Holocaust oder die massenhaften Vertreibungen in China, auf dem indischen Subkontinent und in Palästina in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre. Ihre Architekten hatten vor allem das Schicksal der sogenannten DPs (Displaced Persons) vor Augen: ehemalige Konzentrationslagerhäftlinge, Zwangsarbeiterinnen und Kriegsgefangene, die nach dem Krieg in Deutschland oder Österreich gestrandet waren, weil sie nicht in ihre Ursprungsländer in Osteuropa zurückkehren wollten oder konnten. Obwohl die sperrigen Kriterien des Artikel 1 der Flüchtlingskonvention den historischen Umständen geschuldet sind, unter denen sie formuliert wurden, sind sie heute mindestens ebenso wichtig wie vor sechs oder sieben Jahrzehnten. In der EU wird maßgeblich unter Bezug auf sie entschieden, ob eine Person individuell als Flüchtling anerkannt wird.35 Staaten haben darüber hinaus die Möglichkeit, Gruppen von Menschen einen Flüchtlingsstatus zuzugestehen. So wurden beispielsweise in der Bundesrepublik in den späten 1970er Jahren vietnamesische Bootsflüchtlinge als sogenannte Kontingentflüchtlinge anerkannt, und seit 2022 werden Ukrainerinnen, die vor dem Krieg in ihrem Land fliehen, gemäß der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie der EU als Flüchtlinge eingestuft.36

Diejenigen, die sich in Deutschland um eine Anerkennung als Flüchtling bemühen, werden gemeinhin Asylsuchende oder »Asylbewerber« genannt.37 Der in den 1980er und 1990er Jahren gebräuchliche Begriff »Asylant« meinte oft auch Menschen, deren Schutzbegehren erfolgreich war, und hatte schon immer eine abwertende Bedeutung;38 diejenigen, die das Wort damals benutzten, wussten darum. Ich werde manchmal den Begriff Schutzsuchende verwenden, wenn ich Asylsuchende, Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchten, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden, und Flüchtlinge meine.

In seiner Dystopie 1984 beschreibt George Orwell, wie die regierende Partei von Ozeanien versucht, die Wahrnehmung der Realität mithilfe von »Neusprech« zu kontrollieren. Bestimmte Gedanken, »insoweit wenigstens, als Denken an Worte gebunden ist«, sollen so undenkbar werden.39 Neusprech reduziert sowohl den Bedeutungsgehalt einzelner Vokabeln als auch den lexikalischen Umfang der Sprache: viele Wörter, deren Bedeutung ambivalent ist oder die an eine Vergangenheit erinnern, die nicht Teil der vom Staat autorisierten Geschichte ist, werden durch neu geschaffene Wörter ersetzt. Auch in Demokratien spielt Neusprech eine wichtige Rolle – gerade im Umgang mit Schutzsuchenden. Deutsche Gesetzgeber und Behörden haben eine Vielzahl von Begriffen eingeführt, die die Erfahrungen von Schutzsuchenden unsichtbar machten und gleichzeitig andere Termini wegen ihrer Konnotationen vermieden. Zum Beispiel werden anstelle des historisch belasteten Wortes »Deportation«, der die zwangsweise Verbringung von Juden in Ghettos und Vernichtungslager bezeichnete, für das Außer-Landes-Bringen von Migrantinnen der Begriff »Abschiebung« und das euphemistische »Rückführung« benutzt. Ein Paradebeispiel für juristische Begriffe, die das, was sie bezeichnen, verschleiert, ist die »Fiktion der Nichteinreise« in eine »Transitzone«, hinter dem sich die Entrechtung von Personen verbirgt, die sich faktisch, aber nicht im formal rechtlichen Sinne auf dem Territorium eines Staates aufhalten.40

Besonders relevant im Kontext dieses Buchs sind Begriffe, die die Orte bezeichnen, an denen Schutzsuchende vom Staat untergebracht werden. Im April 2017 wurde Papst Franziskus heftig kritisiert, weil er während einer Predigt über einen Mann, den er auf Lesbos getroffen hatte, gesagt hatte, er wisse nicht, ob es ihm gelungen sei, »dieses Konzentrationslager zu verlassen«.41 Anschließend betonte er, seine Aussage sei kein Versprecher gewesen: »›Es gibt diese großen Flüchtlingslager, und das sind wirkliche Konzentrationslager […].‹ Man solle sich nur vor Augen führen, ›was unbescholtene Leute fühlen, die in Lagern eingesperrt sind und nichts tun können‹.«42

In Deutschland wird die Bezeichnung Lager heute allenfalls von den Kritikern der Einrichtungen, in denen Schutzsuchende untergebracht sind, verwendet.43 Dabei war der Begriff »Lager« beziehungsweise »Sammellager« noch in den 1980er Jahren auch für Institutionen gebräuchlich, in denen der Staat, wie vom Ausländergesetz vorgesehen, Asylsuchende einquartierte.44 Im Folgenden werde ich immer wieder auch von »Lagern« sprechen, weil scheinbar neutrale technische Termini wie »Ankunftszentrum«, »Gemeinschaftsunterkunft« oder »Erstaufnahmeeinrichtung« und das inoffizielle »Heim« auch zum ausländerbehördlichen Neusprech zählen und nicht unwidersprochen hingenommen werden sollten. Für die Verwendung des Wortes »Lager« spricht auch, dass es an die Genealogie einer Institution erinnert. Das gilt übrigens auch für den Sprachgebrauch von Papst Franziskus, solange man dabei berücksichtigt, dass der Terminus »Konzentrationslager« bereits lange vor 1933 in Gebrauch war, auch zur Bezeichnung von Internierungslagern für »lästige Ausländer«, unter ihnen jüdische Flüchtlinge, in der Weimarer Republik.45

Wenn in der Bundesrepublik über Migration diskutiert wurde, war lange Zeit die zentrale Kategorie die der Ausländerin. Dabei war es nie so ganz klar, wer diese eigentlich war:46 Die Parole »Ausländer raus!« der 1980er und 1990er Jahre richtete sich gegen erkennbar Fremde (auch wenn diese einen deutschen Pass hatten) und nicht pauschal gegen alle Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Und selbst unter Ersteren gab es Abstufungen: In der alten Bundesrepublik galten etwa Türkinnen als ausländischere Ausländer als Griechen.47 Das Wort »Ausländer« bezeichnet zudem eine Ausnahme von einem nicht näher definierten Normalzustand; das Pendant »Inländer« existiert nur hypothetisch. Heute haben Migrantinnen und Menschen mit Migrationshintergrund »Ausländerinnen« als Kategorien weitgehend abgelöst. Aber auch die Bedeutung dieser Termini ist diffus. Sind Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft, die in die Bundesrepublik einwanderten (zum Beispiel als Aussiedlerinnen aus der Sowjetunion) Migranten? Und wenn ja, warum erstreckt sich der Begriff dann nicht auf die sogenannten DDR-Übersiedlerinnen, die sich vor 1990 in der Bundesrepublik niederließen? Und warum sollte jemand, die als Migrantin oder Flüchtling nach Deutschland kam, Zeit ihres Lebens als Migrantin oder Flüchtling gelten? Das Attribut »mit Migrationshintergrund« sollte diese Widersprüche auflösen, tat das aber nur bedingt.48 Zudem verband sich mit diesem Begriff, mehr noch als mit dem der Migrantin, eine Eigenschaft, die keine Migrationserfahrungen voraussetzte und selbst von den Kindern von Einwanderern nicht »abgestreift« werden konnte.49

Viele von den Äußerungen und Verhaltensweisen, die heute als rassistisch gelten, wurden in den 1990er und 2000er Jahren als ausländerfeindlich oder fremdenfeindlich bezeichnet, wobei diese beiden Attribute oft synonym gebraucht wurden.50 Aus heutiger Sicht war »ausländerfeindlich« ähnlich ungenau und missverständlich wie der Begriff »Ausländerin«: Ausländerfeindlichkeit richtete sich in der Regel nicht gegen Menschen, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen, sondern gegen alle, die aufgrund ihres Aussehens, ihrer Sprache oder ihrer kulturellen Gebräuche nicht dem Bild eines weißen Deutschen entsprachen. Oft gilt sie als Indiz für eine rechtsextreme Einstellung. Aber was genau Rechtsextremismus ausmacht, war immer strittig; seit den 1980er Jahren haben sich zahlreiche Forscher mit der Frage beschäftigt, wie er sich am besten definieren lasse.51 Auch dieses Attribut lädt zu Missverständnissen ein, weil es suggeriert, dass Extremismus an den äußersten Enden eines Rechts-Links-Spektrums angesiedelt ist und dass sich in der Mitte dieses Spektrums eine normalisierte breite Mitte befindet, deren Haltungen unverdächtig sind.

Vorschau

Die nächsten zehn Kapitel beschäftigen sich abwechselnd mit Hamburg-Altona und mit der Sächsischen Schweiz und dem Osterzgebirge. Im nächsten Kapitel entwerfe ich einen historischen Rahmen für den lokalen Umgang mit Zuwanderern in Hamburg im Jahr der Wiedervereinigung. Dazu gehe ich bis in die 1970er Jahre zurück. Das dritte Kapitel widmet sich der Ausgangslage Anfang der 1990er Jahre in der Sächsischen Schweiz und im Osterzgebirge und beschäftigt sich mit Flüchtlingen, Migrantinnen und Rassismus in der DDR und der Einrichtung der ersten Notaufnahme- und Durchgangslager nach der Wende.

In Kapitel 4 geht es um den kontrovers diskutierten Bau und die ersten Jahre des ursprünglich für DDR-Übersiedler geplanten Pavillondorfs »Hemmingstedter Weg« in Hamburg-Osdorf. Das fünfte Kapitel ist die Geschichte eines Lagers für Asylsuchende in Porschendorf, heute ein Ortsteil der Gemeinde Dürrröhrsdorf-Dittersbach in der Nähe von Pirna. Kapitel 6 setzt die in Kapitel 4 begonnene Geschichte der Osdorfer Unterkunft fort und widmet sich vor allem der Entstehung, dem Verlauf und der Befriedung eines Protests in den späten 1990er Jahren. Kapitel 7 beschreibt die Positionierung der Kommunalpolitik, vor allem in der Sächsischen Schweiz, gegenüber rassistischer Gewalt und dem Erstarken radikal rechter Strukturen.

Im achten Kapitel geht es um Hamburger Proteste gegen Abschiebungen, eine Hamburger Erstaufnahmeeinrichtung in Mecklenburg, sogenannte Einschleicher und Migrantinnen, die in den 2000er und 2010er Jahren ohne gültige Papiere in Hamburg lebten. Kapitel 9 widmet sich wieder der Sächsischen Schweiz und dem Osterzgebirge und hat die Auseinandersetzungen um die Unterbringung von Asylsuchenden in Lagern und deren Versorgung zum Gegenstand. In Kapitel 10 beschäftige ich mich mit Konflikten um die Errichtung von Unterkünften für Schutzsuchende seit den 2010er Jahren, vor allem in den Altonaer Stadtteilen Rissen, Blankenese und Bahrenfeld. Die Antworten in der Sächsischen Schweiz und im Osterzgebirge auf die »Flüchtlingskrise« Mitte der 2010er Jahre stehen im Zentrum des elften Kapitels. Zum Schluss versuche ich, die Geschichten dieses Buches zu einer Geschichte zu bündeln. Mit einem Plädoyer für eine gut informierte öffentliche Debatte über Fragen der Schutzgewährung endet dieses Buch.

i In diesem Buch verwende ich in beliebigem Wechsel sowohl die weibliche als auch die männliche Pluralform, wenn das Geschlecht von Personen unbekannt ist.

i Das Adjektiv »Schwarz« (das ich durchgängig großschreibe) kann auf eine Identität und/oder eine Zuschreibung verweisen. Das Adjektiv »weiß« bezeichnet ebenfalls keine biologische Eigenschaft.

2Hamburger Unwirtlichkeiten, kommunalpolitisches Engagement und die Schranken »ehrbarer Fernstenliebe«

In einer Szene in Jan Schüttes »verstörend schönem« Debütspielfilm Drachenfutter aus dem Jahr 1987 unterhält sich eine junge Frau (Ulrike Purschke) in einem Hamburger Café mit zwei Männern, Shezad (Bhasker Patel) und Rashid (Buddy Uzzaman).1 »Wo kommt ’n ihr eigentlich her?«, fragt sie. »Oh, wir kommen von Klein Flottbek«, antwortet Shezad. Die junge Frau lacht. Es ist ein freundliches Lachen; es liegt ihr fern, sich über die Männer lustig zu machen. Zu diesem Zeitpunkt weiß das Publikum bereits, dass die beiden aus Pakistan stammen und Asylsuchende sind. Dieses Zusammentreffen markiert in Schüttes Film die einzige Begegnung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen, die von Empathie und gegenseitigem, uneigennützigem Interesse geprägt ist. Ansonsten gibt sich Hamburg betont unwirtlich. Im Film wird die Stadt als nass und kalt präsentiert. Kalt ist auch der deutsche Staat, denn Shezad wird nach der Ablehnung seines Asylantrags abgeschoben. Damit verliert sein chinesischer Freund Xiao (Ric Young), dem die zuständige Behörde nach Absolvierung eines Kurses über die Hackfleischverordnung eine Konzession zum Betreiben eines pakistanischen Restaurants erteilt hat, seinen Flottbeker Koch. »Deutschland ist ein reiches Land, das schonungslos mit Flüchtigen aus armen Ländern umgeht«, kommentierte Schütte seinen Film. »Man kennt keine Rücksicht und man kennt keine Schicksale.«2

Das von Schütte gezeichnete Bild widersprach der Selbstdarstellung Hamburgs, einer damals wie heute vergleichsweise reichen Stadt in einem reichen Land, die schon lange beanspruchte, »Tor zur Welt« zu sein.3 Als der Senat der Freien und Hansestadt 1976 das erste Mal »Leitlinien für eine hamburgische Ausländerpolitik« formulierte, betonte er, Hamburg habe »seit jeher eine ausländerfreundliche Politik betrieben« und könne »auf eine lange Tradition im Zusammenleben mit Ausländern und ihrer Integration zu Bürgern dieser Stadt zurückblicken«. Diese Aussage bezog sich augenscheinlich auf Menschen, die in der Hansestadt aufgrund »traditioneller wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zu Hamburgs Handelspartnern und Nachbarstaaten« lebten. Zwei Drittel der damals in Hamburg beheimateten Nichtdeutschen waren allerdings Arbeitsmigranten aus Anwerbeländern wie Italien, Spanien, Jugoslawien oder der Türkei. Um sie vor allem ging es in den »Leitlinien«, da sie als Problem wahrgenommen wurden und laut Senat besonderer staatlicher »Fürsorgeanstrengungen« bedurften, zum Beispiel im Bereich der Wohnraumversorgung oder Schulbildung.4

Nach einmütigem Drängen der Gewerkschaften und der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände hatte die SPD-geführte Bundesregierung im November 1973 beschlossen, »die Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer einzustellen«.5 Grundsätzlich begrüßte der Senat diesen Anwerbestopp. Es war auch sein erklärtes Ziel, die dauerhafte Rückkehr von Arbeitsmigrantinnen in ihre Herkunftsländer zu unterstützen. Das gebiete »schon die Fürsorgepflicht gegenüber den in die Bundesrepublik gerufenen Arbeitnehmern aus Anwerbeländern«.6 Aber der Senat sprach sich dagegen aus, Menschen zur Rückkehr in ihre Heimat zu zwingen, den Familiennachzug zu begrenzen oder Zuzugssperren für einzelne Stadtviertel mit hoher Ausländerkonzentration zu verfügen – in Hamburg-Altona waren dies Ottensen, Altona-Altstadt, Altona-Nord und das Schanzenviertel. Für diejenigen Ausländer, die in Hamburg bleiben wollten, strebte der Senat eine »möglichst weitgehende Eingliederung […] in die deutsche Gesellschaft« an.7 Ihr Rechtsstatus solle verbessert werden. Ausländerfeindlichkeit wurde in den »Leitlinien« nicht thematisiert; selbst in Stadtteilen mit einem hohen Anteil von Menschen aus Anwerbeländern gebe es keine spezifischen Spannungen zwischen Deutschen und Nichtdeutschen. Allerdings hielt der Senat für eine gelungene Eingliederung »die vorurteilsfreie Aufgeschlossenheit der Bevölkerung für die Probleme der Ausländer und ihre Bereitschaft zur Mithilfe [für] notwendig«.8 Zu den Voraussetzungen einer derartigen Aufgeschlossenheit machten die »Leitlinien« keine Angaben.

Mit irregulären Migrantinnen befassten sich die »Leitlinien« nur am Rande. Der Senat bezifferte die Zahl der illegal in Hamburg lebenden Menschen auf 5000. Dabei handele es sich entweder um Menschen, die unkontrolliert oder als »Scheintouristen« eingereist waren, um in Hamburg zu arbeiten, oder um »ungelenkt einreisende Ausbildungsbewerber«.9 Weil sie einer Abschiebung entgehen wollten, würden viele von ihnen »mißbräuchlich« Asyl beantragen. Gleichzeitig kämen Ausländer »auf Grund politischer Entwicklungen in ihren Heimatländern als Flüchtlinge in die Bundesrepublik«. Sie würden »keine nennenswerten Probleme« verursachen.10 Damit brachte der Senat den damaligen Stellenwert des Themas »Asyl« zum Ausdruck: Aufgrund der überschaubaren Zahl von Asylsuchenden war das öffentliche Interesse gering – trotz einer wegweisenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts 1975, demzufolge das grundgesetzlich garantierte Asylrecht »keine immanenten Schranken habe«.11 Das sollte sich Ende der Dekade jedoch ändern, als Menschen wie Shezad und Rashid zunehmend in den Fokus öffentlicher und staatlicher Aufmerksamkeit rückten.

In den »Leitlinien« war der Senat davon ausgegangen, dass der Ausländeranteil aufgrund des Anwerbestopps sinken würde. Doch die Zahl der in Hamburg gemeldeten Menschen ohne deutschen Pass nahm in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre stetig zu – von etwa 170 000 im Dezember 1985 auf circa 195 000 vier Jahre später.12 Anfang 1989 besaß bereits jeder zehnte Hamburger nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. In Altona-Altstadt lag der Ausländeranteil bei über 20 Prozent, wohingegen die Altonaer Vororte im äußersten Westen der Stadt – Rissen und Sülldorf – einen Ausländeranteil von weniger als 5 Prozent aufwiesen. Etwa ein Drittel der in Hamburg gemeldeten Nichtdeutschen waren türkische Staatsangehörige; in Altona-Altstadt und Ottensen lag ihr Anteil 1989 sogar bei etwa 50 Prozent.

»Was hat die CDU gegen Dänen und Türken?«

Der vergleichsweise hohe Ausländeranteil in der Bundesrepublik hatte zum einen mit der Migration von Millionen von Menschen zu tun, die infolge der Anwerbeabkommen mit der Türkei, Italien, Jugoslawien und anderen Ländern Süd- und Südosteuropas eingewandert waren. Anders als landläufig angenommen blieb die Mehrzahl zwar nicht dauerhaft in der Bundesrepublik.13 Doch entgegen den Erwartungen der bundesdeutschen Behörden holten viele Migranten besonders nach dem Anwerbestopp 1973 ihre Familien nach. Zum anderen lag der hohe Ausländeranteil daran, dass vielen Migrantinnen, auch wenn sie die längste Zeit ihres Lebens in der Bundesrepublik gelebt hatten, eine Einbürgerung genauso verwehrt blieb wie ihren in Westdeutschland geborenen Kindern. Sie wurden also auch dann als Ausländerinnen registriert, wenn sie längst Hamburgerinnen (oder Flottbekerinnen) geworden waren.

Bereits in den 1970er Jahren begann eine öffentliche Diskussion darüber, ob politische Teilhabe auch für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft wünschenswert sei und, wenn ja, wie sie sich ermöglichen ließe. Bei dieser Diskussion stand letztendlich das Selbstverständnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft zur Disposition. Ein Kommentar im konservativen Hamburger Abendblatt beschrieb die Problemlage 1981 so: »Politisch geht es im Kern um die Frage, ob wir die länger bei uns lebenden Ausländer als Mitbürger oder als Gäste auf Zeit betrachten wollen. Sie als Mitbürger anzunehmen, heißt in der Konsequenz auch, ihnen möglichst umfassende gesellschaftliche Mitwirkungsmöglichkeiten einzuräumen.«14 In den »Leitlinien« hatte der Senat 1976 zugesagt, die Frage eines kommunalen Ausländerwahlrechts prüfen zu lassen, ohne das Thema daraufhin weiter zu verfolgen.15

Im benachbarten Schleswig-Holstein forderte die oppositionelle SPD bereits 1977, »Ausländern, die aus der Europäischen Gemeinschaft stammen und fünf Jahre in der Bundesrepublik wohnhaft sind, das Kommunalwahlrecht einzuräumen«.16 Zwei Jahre später argumentierte auch der 1978 eingesetzte erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD), in einem wegweisenden Memorandum, dass die politische Teilhabe von Ausländerinnen, die schon länger in der Bundesrepublik lebten, zu deren Integration beitragen würde und »gesellschaftspolitisch vieles für ein von der Staatsangehörigkeit unabhängiges kommunales Wahlrecht der Zuwanderer« spreche.17 In den folgenden Jahren befanden etliche Staatsrechtler, die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Ausländerinnen sei mit dem Grundgesetz vereinbar.18

In der CDU, die in Hamburg zuletzt 1957 an der Regierung beteiligt war, stießen derlei Ideen auf Ablehnung.19 In der FDP sah es anders aus: Ihre linksliberale Landesvorsitzende Helga Schuchardt setzte das Thema 1979 auf die landespolitische Agenda.20 Mehr Gewicht hatten allerdings die Stimmen aus der regierenden SPD, die die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer forderten. 1981 sprach sich Sozialsenator Jan Ehlers, der dem linken Flügel der Sozialdemokratie zugerechnet wurde, dafür aus, die Wahlberechtigung bei Wahlen zu den Bezirksversammlungen nicht mehr vom Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft abhängig zu machen.21 Er konnte sich dabei sogar auf entsprechende SPD-Landesparteitagsbeschlüsse berufen. Aber der SPD-geführte Senat war nicht in Eile, diese Beschlüsse umzusetzen. Folgenlos blieb auch, dass die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländerinnen in das SPD-Programm für die Bürgerschaftswahl 1983 aufgenommen wurde, obwohl die SPD damals die absolute Mehrheit gewann.

Umgesetzt wurden die SPD-Parteitagsbeschlüsse zum kommunalen Wahlrecht für Nichtdeutsche erst, nachdem die Hamburger SPD 1987 ihre absolute Mehrheit verloren hatte und mit der FDP eine Koalition eingehen musste. Treibende Kraft für die Einführung des Ausländerwahlrechts war nun der freidemokratische Zweite Bürgermeister und Justizsenator Ingo von Münch, der vor seiner Ernennung zum Senator Staatsrecht an der Universität Hamburg gelehrt hatte. Am 15. Februar 1989 entschied die Bürgerschaft nach langer und kontroverser Debatte mit den Stimmen von SPD, FDP und Grün-Alternativer Liste (GAL), dem Hamburger Landesverband der Grünen, dass Ausländer, die acht Jahre in Deutschland gelebt hatten, das aktive und passive Wahlrecht erhalten sollten.22 Allerdings galt das nur für die Wahlen zu den Bezirksversammlungen. Bereits am Tag zuvor hatte der schleswig-holsteinische Landtag den Staatsangehörigen von Dänemark, Irland, den Niederlanden, Norwegen, Schweden und der Schweiz das kommunale Wahlrecht zugestanden.23

Der Vorstoß der Landesparlamente in Hamburg und Kiel war bundespolitisch hoch umstritten. Nachdem die Hamburgische Bürgerschaft dem kommunalen Ausländerwahlrecht am 1. Februar in erster Lesung zugestimmt hatte, argwöhnte Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU), dass es sich hier um einen »Anschlag auf die Verfassung« und den »Ausverkauf deutscher Interessen« handelte, und versprach, das Vorhaben »so schnell wie möglich« zu stoppen.24 Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die Bayerische Staatsregierung zogen daraufhin gegen das in Schleswig-Holstein beschlossene Gesetz zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes und das Hamburgische Gesetz zur Einführung des Wahlrechts für Ausländer zu den Bezirksversammlungen vor das Bundesverfassungsgericht, das mittels einer einstweiligen Anordnung ihre Umsetzung verhinderte und den Klagen am 31. Oktober 1990 stattgab.25 Damit war ein umfassendes kommunales Wahlrecht für Ausländerinnen vom Tisch. Da seit der Einführung des Ausländerwahlrechts in Hamburg keine Wahlen stattgefunden hatten, wirkte sich das Urteil nicht auf die Zusammensetzung der Bezirksversammlungen aus.

Zum Zeitpunkt des Karlsruher Urteils gab es bereits kommunale Vertretungen in Deutschland, an deren Wahl auch Ausländerinnen beteiligt gewesen waren. Die DDR hatte im März 1989 ein kommunales Wahlrecht für Nichtdeutsche eingeführt, nicht zuletzt um die entsprechende Diskussion in der Bundesrepublik zu beeinflussen. Dagegen hatte es Proteste gegeben: Im sächsischen Hoyerswerda etwa, von dem im nächsten Kapitel ausführlicher die Rede sein wird, hatte die Polizei im April 1989 eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Deutschen und ausländischen Vertragsarbeitern im Zusammenhang mit der Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts dokumentiert.26 1990 hatte die Volkskammer entschieden, dieses Wahlrecht beizubehalten, und so waren bei den ersten freien Kommunalwahlen in der DDR auch Ausländer wahlberechtigt gewesen.27 Ein begrenztes kommunales Wahlrecht wurde flächendeckend kurz darauf auch im wiedervereinigten Deutschland eingeführt. Um dem Maastrichter Vertrag Genüge zu tun, musste auch die Bundesrepublik die Teilnahme von EU-Ausländerinnen an Kommunal- und Europawahlen ermöglichen. Dazu wurde im Dezember 1992 Artikel 28 (1) des Grundgesetzes geändert.