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Während einer Stadtgrabung in London entdecken Peter Conrad und Lisa Franks innerhalb der Grundmauern einer alten Kirche mysteriöse Bestattungen. Was sich anfangs wie ein mittelalterlicher High-Society-Friedhof darstellt, erweist sich bald als Ort uralter Flüche und Rituale: Den Toten fehlen die Köpfe, ihre Knochen wurden zertrümmert und Nägel in ihre Leiber getrieben. Wenig später stoßen die Forscher um Professor Small auf Brompton Cemetery auf ähnliche Verstümmelungen und in einer vergessenen Krypta auf erstaunlich gut erhaltene Mumien aus viktorianischer Zeit. Zunächst ignorieren die Forscher alle Warnungen und seltsamen Vorfälle. Doch dann wird eine ausgeblutete Frauenleiche gefunden. Und welches schreckliche Geheimnis hütet der Professor? Je tiefer die Archäologen in den Fall eintauchen, desto größer wird die Gefahr. Schließlich greifen Conrad und Franks zu einer Maßnahme, die sie Kopf und Kragen kosten kann. Und ihren Verstand.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
BARRY & DANA STILLER
BLUT
BLUT – EIN FALL FÜR PETER CONRAD
Barry & Dana Stiller
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit schriftlicher
Genehmigung des Herausgebers wiedergegeben werden. Alle Ereignisse, Personen, Orte,
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diesem Roman sind entweder frei erfunden oder werden fiktiv verwendet.
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U1-Fotografie: Seelhammer Photographie | www.seelhammer.de
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Alle Abbildungen, Fotografien, Karten und Illustrationen,
sofern nicht anders vermerkt: Stiller & Stiller
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Bilbiografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Herausgeber: Jochen Seelhammer, Raiffeisenstr. 20, 57577 Hamm
Der Titel ist als E-Book bei der tolino media GmbH & Co. KG,
Albrechtstr. 14, 80636 München erschienen.
© 2019 by Stiller & Stiller
für Herbert Stiller
Die nasse Klinke ließ sich ohne besonderen Kraftaufwand nach unten drücken, und entgegen seiner Befürchtung blieb das verräterische Kreischen ungeschmiert aneinander reibender Metallteile aus. Doch der schmiedeeiserne Torflügel ließ sich keinen Millimeter bewegen. Er schnaufte und betätigte den verzierten Metallgriff erneut — mit dem erwarteten Ergebnis. Auch ein vorsichtiges Ziehen an dem massiven Schlosskasten half nichts. Am liebsten hätte er mit aller Kraft des aufkommenden Unmutes an den Gitterstäben gerüttelt, aber es war schon schwierig genug, mitten in der Stadt keine Aufmerksamkeit zu erregen. Es wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn der Nachtwächter seiner Pflicht ausgerechnet heute nicht nachgekommen wäre und nach Sonnenuntergang nicht abgeschlossen hätte. Trotzdem, die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt, alter Junge. Aber Versuch macht... Er unterbrach sein Murmeln und fragte sich, ob Selbstgespräche tatsächlich erste Anzeichen beginnenden Schwachsinns sein könnten. Und wenn es wirklich so wäre, dann sollte er zumindest relevante Problemstellungen mit sich besprechen und nicht blödsinnige Phrasen zum Besten geben. Ach was. Wahrscheinlich war das nur wieder so eine erfundene Geschichte, mit der Pharmaindustrie und Psychologen neue Krankheiten erschufen, um sich die Taschen zu füllen. Wo war nur das verdammte Mäppchen? Er hatte es doch in die linke Gesäßtasche seiner Kampfhose gesteckt.
»Es ist tiefste Nacht, mein Lieber. Was hast du erwartet?«, zischte seine Begleiterin. »Was auf dem großen Blechschild zu lesen ist, ist etwas antiquiertes Englisch und bedeutet so viel wie: Ist die Sonne untergegangen, ist das Tor abgeschlossen...«
Er verkniff sich eine Entgegnung auf ihre süffisanten Bemerkungen. Sie standen beide unter extremer Anspannung. Er hätte sich nicht auf diese Unternehmung einlassen sollen, die Angelegenheit war ihm von Anfang an seltsam und unstimmig vorgekommen. Doch sie hatte ihn überredet. Am Ende hatte sie gar ihre Freundschaft beschworen. Und nun waren sie hier. Getrieben erst von Neugier und dann von Furcht waren sie immer tiefer zu Geheimnissen vorgedrungen, von denen er lieber nichts wissen wollte — hätte er noch eine Wahl gehabt. So absurd ihr Vorhaben auf den ersten Blick erscheinen musste, jetzt es gab keine andere Möglichkeit mehr. Es musste getan und dem Ganzen ein Ende gesetzt werden, ohne Rücksicht auf Konsequenzen. Das hatten sie in den vergangenen Tagen ausführlich diskutiert und waren immer zu demselben Ergebnis gekommen. Zusätzlich hatte ihn Bishop mit ihren merkwürdigen Erzählungen völlig verrückt gemacht. Er war sich sicher. Es gab kein Zurück... Er klopfte seine Beintaschen ab, irgendwo mussten die verfluchten Dinger doch sein.
Sie zog ein rotes Mäppchen aus ihrer Jackentasche. »Suchst du das hier?«
Mit einer unnötig ausholenden Bewegung und einem grunzenden Laut riss er ihr das kleine Lederetui aus den Händen.
»Du hast mir das Ding doch vor nicht einmal einer Stunde selbst in die Hand gedrückt, damit du dich nicht draufsetzt und deinen Hintern verletzt«, fauchte sie. »Lächerlich, ich weiß sowieso nicht, warum du das mitgenommen hast. Als wenn du damit umgehen könntest.«
Ganz ruhig bleiben, sagte er sich.
»Außerdem, selbst wenn. Was, glaubst du, kannst du mit diesen lächerlichen Dingern ausrichten? Hast du dir das Schloss mal angeschaut?«, setzte sie nach.
Sie schaffte es immer wieder, ihn auf die Palme zu bringen. Gegen ein wenig Frotzelei gab es gerade von seiner Seite selten etwas einzuwenden, aber sie konnte einfach nicht erkennen, wann es ernst wurde. Heute Nacht war es ernst, und sie wusste das. Alles musste planmäßig und effizient durchgezogen werden. Am Ende würde ihr Vorhaben noch scheitern, weil sie wegen ihrer ständigen Sticheleien in Streit gerieten und alle Bobbys des Bezirks auf sich aufmerksam machten. Er kontrollierte den — gottlob noch immer menschenleeren — Gehweg nach links, dann nach rechts. Ruhig bleiben, dann wird alles gut. Seine Finger waren eiskalt. Er brauchte eine gefühlte Minute, um den dicksten Dietrich aus der Mappe zu ziehen. Bevor er das selbstgebastelte Werkzeug in das uralte Schloss stecken konnte, entglitt es ihm und versank in der matschigen Pfütze vor seinen Füßen. »Verdammter Mist!«, entfuhr es ihm.
Noch ehe er seine Taschenlampe gefunden hatte, hielt Lisa Franks ihm bereits das gebogene Drahtstück entgegen. »Wollen wir hoffen, dass er passt.« Sie lächelte, und zu seiner Verwunderung erkannte er keine Häme in ihrer Miene.
»Danke«, grummelte er leise und machte sich daran, mit dem Einbruchswerkzeug amateurhaft in dem großen Schlüsselloch herumzustochern. Nach wenigen Augenblicken ließ er von dem Eisentor ab und wischte sich zum hundertsten Mal die Regentropfen von den Brillengläsern. »Ich gebe auf. Ich fürchte, wir müssen den harten Weg nehmen. Oder willst du es versuchen? Vielleicht funktioniert deine Feinmotorik bei der Kälte ja besser als meine.«
Sie winkte ab. »Ich habe sowieso keinen Augenblick daran geglaubt, dass das klappt.« Sie nahm ihm den unförmigen Dietrich aus der Hand und steckte ihn in ihre Tasche. »Außerdem wird es irgendwann irgendwem trotz des ungemütlichen Wetters auffallen, dass sich zwei Gestalten linkisch an dem Tor zu schaffen machen. Wir sind schließlich mitten in einer Großstadt.« Sie blickte gen Himmel und kniff die Augen zusammen. »Also los, Plan B. Lass uns ein ruhiges Stück an der Mauer suchen.« Bevor er etwas sagen konnte, war sie bereits in der Ilexhecke verschwunden, die sich rechts neben dem viktorianischen Eisengitter anschloss.
»Muss es ausgerechnet dieses Dornengebüsch sein?« Peter Conrad fegte imaginäre Stacheln von seinem übergroßen Parka.
»Lass das, du reibst sowieso nur die Regentropfen durch die Imprägnierung.« Sie zog seine Hand nach unten. Ohne eine Entgegnung abzuwarten, stakste sie tiefer in das nasse Dickicht. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit.
Conrad hatte Mühe, ihr zu folgen. Die alte Ledertasche tat ihr Übriges, ihn zu behindern. Ständig verhedderte sich das sperrige Ding irgendwo. Er fluchte leise. Immer wieder hatte er stachelige Blätter im Gesicht und stolperte über das dichte Gestrüpp, das sich anscheinend ausschließlich um seine Füße wand.
Nach einigen Minuten blieb sie stehen und nickte. »Diese Hecke bietet uns wenigstens einen guten Sichtschutz und hier ist genug Platz für eine Räuberleiter. Oder hast du auf der linken Seite des Tors irgendeine Deckung gesehen?«
Er blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Eben! Neben einer befahrenen Straße über eine hohe Mauer zu klettern ist ja wohl noch auffälliger, als ein paar Minuten an einem Metalltor zu hantieren.«
Sie hatte recht. Auf der einen Seite brauchten sie Deckung und durften auf keinen Fall gesehen werden, auf der anderen Seite beharrte sein Überlebensinstinkt darauf, dass die Anwesenheit anderer Menschen wahrscheinlich das Einzige war, das ihnen Schutz bieten konnte gegen das, womit sie es hier zu tun hatten. Er schluckte. Sie mussten das jetzt allein schaffen, und vorzugsweise ohne die Nerven zu verlieren oder eine ASBO — eine einstweilige Verfügung wegen anti-sozialen Verhaltens — für unerlaubtes Betreten und groben Unfug zu kassieren. Conrad unterbrach seine eigenen Gedanken an diesem Punkt rigoros und sah sich um.
Sie befanden sich auf einer Art winziger Lichtung, dem ersten Platz in dieser beeindruckenden Hecke, an dem man sich drehen konnte, ohne sich in den spitzenbewehrten Blättern zu verfangen. Der Sichtschutz, den das immergrüne Buschwerk gewährte, war wirklich optimal. Es war sicherlich fünf Meter hoch und überragte die Mauer ein gutes Stück. Selbst beim Übersteigen der Krone würde man sie von der Straße aus kaum sehen können. Die Frage war nur, wie sie es anstellen sollten, über die massive Umfriedung zu klettern. Sie bestand aus rot gebrannten Ziegeln, die für ihr Alter erstaunlich glatt erschienen, und selbst die Fugen waren für zwei kletterunerfahrene Archäologen kaum als Griffe zu gebrauchen. Zudem war das Hindernis durch den stundenlangen Regen auch noch glitschig. Beinahe vier Meter ragte das über hundert Jahre alte Bauwerk vor ihnen auf. Selbst mit dem Seil, das Conrad am Tag zuvor in einem dieser neuen Outdoor-Läden für stolze neunzehn Pfund erstanden hatte, würde es kein leichtes Spiel werden. Schließlich musste einer von ihnen erst einmal die rutschige Ziegelmauer erklimmen, bevor sie das Nylonseil irgendwo befestigen konnten. Er seufzte.
»In Ordnung, Lisa. Dann versuchen wir es mit einer Räuberleiter. Ich nehme an, ich bin unten.« Er nahm das Seil und die beiden Karabiner aus dem Rucksack und reichte sie ihr.
»Zieh deine Handschuhe wieder an, sonst verletzt du dich noch an meinen Springerstiefeln. Ich habe keine Lust, im Matsch zu landen, wenn dich die Kräfte verlassen.«
»Mach dir um meine Hände keine Gedanken.« Er lehnte sich rücklings an die nassen Ziegelsteine, ging leicht in die Knie und verschränkte die Finger. »Ich hoffe, du hast kräftige Oberarme. Du wirst dich noch ein ganzes Stück hochziehen müssen.«
Sie zog die Schnürung ihrer handgenähten Lederhandschuhe enger und ließ sie sich zuknoten. Diese teuren Accessoires waren ein Geschenk ihrer Mutter, die ernsthaft darauf bestanden hatte, dass man sich in Großbritannien als 'Frau von Klasse' nicht mit unbedeckten Händen in die Öffentlichkeit begab. Als Lisa sie fragte, wie sie mit Handschuhen ausgraben sollte, hatte ihre Mutter lediglich missbilligend die Augenbrauen gehoben und mit den Schultern gezuckt. Jetzt freute sie sich über die Dinger, auch wenn sie mit großer Sicherheit bei ihrer Mauerkletterei in Mitleidenschaft gezogen würden. Ihre Mutter würde not amused sein, aber über eine gute Erklärung für die Beschädigung würde sie sich später Gedanken machen... Sie griff mit der Linken nach Peters Schulter und setzte den rechten Fuß auf seine verschränkten Hände. Mit aller Kraft stieß sie sich vom Boden ab, glitt mit den Händen die Mauer hinauf und bekam im letzten Moment die obere Kante zu fassen. Gott sei Dank, keine Glasscherben, kein Stacheldraht, nur rauer Mörtel. Sie zog sich ein Stück höher und konnte auf seine Schultern steigen.
»Bist du bereit? Ich gebe dir jetzt den letzten Schub, bevor mich die Kräfte verlassen.« Er schnaufte. »Und lass dir nicht einfallen, auf meinen Kopf zu steigen.«
»Mach ich doch sowieso schon, seit wir uns kennen«, keuchte sie leise.
»Was? Ich hab nichts verstanden.«
»Nichts. Alles okay. Du kannst mich jetzt hochschieben.«
Er hörte das Krachen brechender Äste, gefolgt von einem langen Fluch. »Alles in Ordnung bei dir? Bist du verletzt?« Er verstand die Antwort nicht, doch die kampflustige Tonlage überzeugte ihn davon, dass sie sich nicht ernsthaft verletzt hatte. Er warf die schwere Tasche hinauf und stellte zufrieden fest, dass sie, nachdem sie einen Augenblick auf der Mauer gewankt hatte, im Gehölz auf der anderen Seite landete. Dann war es ruhig. Nur das Geräusch, das der Regen auf den Ilexblättern erzeugte, war zu vernehmen, manchmal übertönt von den Tropfen, die auf seiner Kapuze landeten. Die Minuten verstrichen. Er trat von einem Bein aufs andere. Seine Füße waren mittlerweile so kalt wie seine Finger, und sie fühlten sich nass an. »Was ist los, Lisa?«, fragte er leise und lauschte angestrengt. »Ist wirklich alles okay? Jetzt sag schon was.« Aber sie schien ihn nicht zu hören. Er überlegte, lauter zu rufen, verwarf den Gedanken jedoch. Er würde noch einige Zeit warten, bevor... er die Nerven verlor. Was, wenn dort drüben etwas auf sie gelauert hatte? Verdammt. Er blickte auf seine LCD-Uhr und drückte den G-Knopf. Seit sieben Minuten Funkstille. Er atmete scharf ein. In sieben Minuten konnte absolut alles passieren. Was jetzt?
Er hörte ein kurzes Rascheln, dann schlug etwas laut gegen seine Kapuze. Er schrak zusammen. Sein Blick fiel auf das Ende des Nylonseils, das vor seinen Füßen im Schlamm gelandet war. Er seufzte tief, hob es auf und blickte sich um — keine Möglichkeit das Seil zu befestigen. Keines der Stämmchen war dick genug, auch nur Lisas Gewicht zu tragen. Und Bäume gab es in Sichtweite nicht. Er bewegte sich Richtung Straße, zog das Nylonseil hinter sich her und hoffte, dass es lang genug war... und dass sie es ordentlich angebunden hatte. Vielleicht gab es ja am Rand der Hecke einen stabilen Zaun oder ein Verkehrsschild an einem stabilen Metallpfosten. In keiner anderen Stadt hatte er bisher einen solchen Schilderwald vorgefunden. Die Engländer, und speziell die Londoner, schienen keine Eventualität im öffentlichen Verkehr zu dulden.
Vorsichtig lugte er durch das stachelige Blattwerk. Nichts Brauchbares. Noch nicht einmal eines von diesen wadenhohen Geländern, wie sie in fast jedem deutschen Park zu finden waren und deretwegen er als Kind mehr als ein Mal aufgeschürfte Ellenbogen und Knie gehabt hatte. Eine Fußgängerampel allerdings befand sich keine fünf Meter rechts von ihm. Nur stand die direkt am Straßenrand. Und der wiederum war sicher fünf Meter von seiner Deckung entfernt. Auch wenn bei diesem Wetter um diese Uhrzeit nicht viele Passanten unterwegs waren, spätestens der dritte Autofahrer würde ein quer über den Gehweg gespanntes Seil entdecken und dem nächsten Streifenpolizisten melden. Falls nicht vorher ein unaufmerksamer Fußgänger darüber stolperte oder sich ein Radfahrer mit beschlagener Brille das Genick brach... Nein, das war keine Lösung. Vielleicht gab es auf der Mauerkrone eine Befestigungsmöglichkeit, auch wenn er daran zweifelte. Sie würden wohl einen anderen Rückweg nehmen müssen.
Zurück an der Ziegelmauer hörte er eine leise Stimme, konnte jedoch immer noch nichts verstehen. Aber Lisa schien wohlauf. Als Antwort zog er das Seil straff. »Ich komme jetzt rauf«, sagte er, wissend, dass sie ihn ebenso wenig hören konnte wie er sie. Die Ziegel waren noch glitschiger als vermutet. Das Vorhaben, sich mit den Füßen von der Wand abzudrücken, gab er schnell auf. Dass Lisa ihn hochziehen konnte, war nicht zu erwarten. Zudem würde das Seil an den Kanten der Mauer garantiert durchgescheuert werden. So dauerte es geraume Zeit, bis er mit klammen Fingern genügend Knoten in das Nylonseil geschlungen hatte. Er hoffte, hoch genug zu kommen, um die Mauerkrone zu fassen zu bekommen und sich hochzuziehen — woran er insgeheim zweifelte.
Die Kletterei erwies sich als so kräftezehrend wie befürchtet. Wie ein Klammeraffe hing er mit vor Anstrengung zitternden Beinmuskeln etwa einen halben Meter unterhalb der Mauerkrone. Hätte er die linke Hand vom Seil genommen, hätte er die Kante erreicht. Nur wäre er abgestürzt, sobald er den Griff gelockert hätte. Und selbst wenn nicht — dass er sich mit einem Arm an der Mauer hochziehen könnte, war illusorisch... Schon während seines Wehrdienstes wäre das völlig utopisch gewesen. Und da war er für seine Verhältnisse in athletischer Verfassung gewesen. Er war eben kein Sylvester Stallone. Sein Lachen erstickte in einem anstrengenden Husten. Als er wieder einigermaßen ruhig atmen konnte, setzte er alles auf eine Karte. »Hey, Lisa. Mobilisier die letzten Körner und zieh so kräftig du kannst«, rief er lauter als beabsichtigt. Doch das spielte in diesem Moment keine Rolle mehr. Wenn sie ihn jetzt nicht unterstützen konnte, dann würde er sowieso abstürzen und zwei Meter tiefer auf dem Rücken landen. Das kannte er bereits. Vor Jahren hatte er sich in einer schwachsinnigen Partyaktion zwei Lendenwirbel und den Beckenknochen angebrochen; ein als Seil missbrauchtes Stromkabel war gerissen und er auf einer Holztreppe aufgeschlagen... Er hoffte, dass der Matschboden gnädiger sein würde.
Es gab einen kleinen Ruck, das Nylonseil machte beängstigende schabende Geräusche. Sie hatte verstanden. Mit einer schnellen Bewegung griff er nach der Kante über ihm und fand zu seinem Erstaunen guten Halt. Er schlang die Beine noch fester um das Seil, als er es ohnehin schon tat, und wartete auf ihre nächste Anstrengung. Als er den Zug spürte, gelang es ihm, er auch mit der Rechten die Mauerkrone zu greifen. So hing er einige Sekunden da, die Beine um das Seil verkrampft, und wartete den dritten Ruck ab. Mit letzter Kraft zog er sich hoch und landete endlich bäuchlings auf der Mauer, die Beine auf der einen Seite, den Oberkörper auf der anderen. Er kam sich vor wie ein nasser Perser auf der Teppichstange. Gott sei Dank sieht mich niemand, ging es ihm durch den Kopf.
»Wo warst du so lange? Ich habe schon gedacht, die hätten dich da drüben geschnappt.«
Conrad wedelte nur mit den Armen, brachte aber außer Husten keinen Ton hervor.
»Komm da runter. Das sieht blöd aus«, sagte sie leise, während sie langsam das Nylonseil zu sich zog.
»Keine Hindernisse da unten? Ich hab keine Lust, mir den Hals zu brechen«, krächzte er.
»Nein, keine Sorge. Häng dich einfach an die Mauer und lass dich in das Gebüsch fallen, ist kein Problem.«
Nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er ihren Umriss erkennen. Sie stand vor einer steinernen Säule, einer Art Obelisk, der auf einem gestuften Fundament thronte. Er überragte ihre Gestalt um sicherlich drei Meter. »Hast du das Seil tatsächlich da befestigt?«, keuchte er. »An einem...«
»An einem Grabstein natürlich. Was dachtest du denn, wo man auf einem Friedhof sonst ein Seil befestigen kann?«
Von Anfang an hatte er bei dieser Bishop ein ungutes Gefühl gehabt, ohne jedoch eine Erklärung dafür zu haben. Sie war noch relativ jung, aber er war nicht dumm genug, sie deswegen für weniger gefährlich zu halten. Sie hatte bereits einen Ruf als brillante Rechercheurin und ausgezeichnete Logikerin, was in der Welt der Archäologie durchaus keine Häufigkeit besaß. Schlimmer als diese professionelle Qualität war aber, dass sie schnell lernte, reden konnte, kontaktfreudig war und andere auch noch in beeindruckender Weise für ihre Sichtweise begeistern konnte. Letzteres konnte er überhaupt nicht gebrauchen. Er hatte von diesen speziellen Fähigkeiten anfangs natürlich nichts gewusst, aber selbst wenn es anders gewesen wäre, wie hätte er die Beschäftigung einer Wissenschaftlerin mit anerkannter Fachkompetenz auf dieser Grabung verhindern sollen?
Alles Grübeln und Zaudern hatte jetzt keinen Zweck mehr. Sie war ihm — oder vielmehr der Wahrheit — auf der Spur. Gefährlich nahe. Ihr fehlte nur noch ein Puzzlestück, das entscheidende Puzzlestück. Eigentlich konnte sie das nicht finden; dafür hatte er in kluger Voraussicht gesorgt und seine Spuren verwischt. Trotzdem, die Bishop hatte irgendetwas vor. Sie wirkte aufgeregt und hatte den Tag über mit einigen der Grabungsteilnehmer ungewöhnlich lange gesprochen. Besonders mit diesem Conrad und sogar mit seiner zickigen Freundin, die sie eigentlich überhaupt nicht zu mögen schien. Mit Videoaufzeichnungen von Begegnungen der beiden Frauen hätte man den Begriff 'Stutenbissigkeit' hervorragend illustrieren können, fand er. Schon wegen dieser Feuerpause heute war besondere Aufmerksamkeit angebracht. Susan Bishop führte etwas im Schilde, und sie hatte sich offenbar entschlossen zu handeln. Er würde ihr dicht auf den Fersen bleiben. Die ganze Nacht, wenn es sein musste.
Jetzt gerade unterhielt sie sich wieder mit Conrad. Das hieß, eigentlich redete sie auf ihn ein, denn er sagte kaum ein Wort. Die Beiträge des Deutschen waren meist einsilbig und von einem bedächtigen Kopfnicken begleitet. Nur einmal schien er vehement zu widersprechen, aber sie schaffte es, ihn durch Berührungen und beinahe seelsorgerisch anmutenden Habitus wieder zu beruhigen und auf Linie zu bringen — worin auch immer die bestehen mochte. Diese Lisa Franks war nicht zu sehen. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte er herzlich aufgelacht. Franks hätte Susan Bishop wahrscheinlich die Augen ausgekratzt, wenn sie mitbekommen hätte, wie die Engländerin dem deutschen Anthropologen beruhigend die Hände auf den Arm legte... Obwohl er nicht annahm, dass Conrad und Franks etwas am Laufen hatten. Egal, die beiden Deutschen waren auch nur eine weitere Absonderlichkeit dieser Stadtgrabung.
Nach weiteren fünfzehn Minuten nickte Conrad erneut, diesmal länger und energischer, dann verschwand er ohne ein weiteres Wort. Die Archäologin stand nur unbeweglich da und schien ihre Gedanken kreisen zu lassen, während sie in die aufziehende Dunkelheit starrte. Eine erstaunliche Dunkelheit, befanden sie sich doch mitten in einer Millionenstadt. Hier allerdings war das pulsierende Nachtleben des Londoner Zentrums nichts weiter als ein fahler Lichtsaum weit jenseits der Absperrungen des Grabungsareals und ein gleichmäßiges Rauschen, unterbrochen von gelegentlichem Sirenengeheul, mit dem sich Polizeiwagen und Ambulanzen ihren Weg bahnten. Ob der Geräuschpegel tatsächlich von den Nachtschwärmern in ihren Vehikeln oder ganz profan vom südenglischen Dauerregen herrührte, konnte er nicht sagen... Er sollte seine Aufmerksamkeit auf wichtigere Dinge lenken.
Mittlerweile hatte Bishop sich unter ein helles Zelt, das sie als Freiluftbüro nutzte, zurückgezogen. Sie fing an, in der großen Kladde, die sie praktisch niemals aus der Hand legte, Notizen zu machen. Bishop notierte, zeichnete, strich durch, umkreiste, blätterte zurück und schrieb erneut. So ging es etwa eine halbe Stunde, während die anderen Grabungsteilnehmer sich nach und nach in den wohlverdienten Feierabend verabschiedeten. Was genau die Archäologin tat, war nicht auszumachen. Zum einen war die Petroleumfunzel über der Bierzeltgarnitur zu schwach, zum anderen war er einfach zu weit weg. Aber näher heran konnte er nicht, wenn sie ihn nicht bemerken sollte. Und so wartete er.
Ihm war kalt, besonders an den Füßen. Obwohl eine Plastikplane ihn halbwegs vor dem nervtötenden Regen schützte, drückte der nasse Schlamm um seine Füße langsam, aber beständig kaltes Wasser in seine Wanderschuhe. Hätte er geahnt, dass er so lange im Matsch ausharren musste, hätte er die gefütterten Gummistiefel gewählt... hätte, hätte, hätte... Seine Blase begann, sich bemerkbar zu machen. Du musst Flüssigkeit ablassen sonst werden wir beide krank, alter Junge, und ein bisschen Bewegung wärmt deine Füße, na los! »Halt's Maul«, sagte er leise und schämte sich im gleichen Moment für seine Unbeherrschtheit. Bishop zeigte keine Reaktion. Sie konnte ihn auch unmöglich gehört haben; und gesehen sowieso nicht. Er stand weit genug weg, verborgen durch hölzerne Ausrüstungskisten und hilfreiche Schatten.
Nach einer weiteren Viertelstunde stand die Archäologin auf und verschwand hinter dem Lamellenvorhang des großen Kunststoffzeltes. Bishops heilige Kladde lag unbeobachtet auf dem provisorischen Schreibtisch. Sollte er hinüber sprinten und... Nein, nichts überstürzen. Das hatte wenig Sinn. Selbst wenn er mit ihren Eintragungen etwas anfangen konnte — und da war er keineswegs zuversichtlich — würde er auffliegen. Sie wäre gewarnt. Geduld war gefragt.
Als sie wieder auftauchte, hielt sie einen dampfenden Becher aus matt glänzendem Blech in der Rechten und eine Packung mittelmäßigen Teegebäcks in der Linken. Seine verdammte Sextanerblase rebellierte. Die Archäologin widmete sich wieder ihren Aufzeichnungen. Manchmal stand sie auf, wanderte hinter der Holzbank auf und ab, manchmal blickte sie minutenlang unbeweglich in die verregnete Dunkelheit. Mittlerweile bekam der Drang auszutreten überbordende Präsenz. Er trat langsam von einem Bein aufs andere, wobei die dicken Profilsohlen leise schmatzende Geräusche von sich gaben. Es half wenig. Und Bishop arbeite ungerührt weiter. Vielleicht würde sie bis in die Nacht schreiben. Dann würde sie schlafen gehen und er ein heißes Fußbad nehmen, das dann trotzdem nichts hülfe. Er wäre krank und keinen Schritt weiter. Ach, scheiß drauf, die ist ja offensichtlich noch länger beschäftigt. Langsam stapfte er durch den aufgeweichten Lehmboden in Richtung Grabungsabsperrung. Wenn schon kein Baum und kein Gebüsch in erreichbarer Nähe war, dann musste eben eine von diesen gedrehten Eisenstangen herhalten, die das rotweiße Flatterband vom Boden fernhielten.
Erleichterung war eine zu schwache Bezeichnung für das Gefühl des schlagartig abnehmenden Drucks. Für einen Moment vergaß er sogar seine schmerzenden Eisfüße. Noch nicht einmal der Umstand, dass er für einige Augenblicke das Flatterband erwischte und sein rechtes Hosenbein besprenkelte, konnte die kontinuierliche Verbesserung seiner Laune beeinträchtigen. Mit einem tiefen Seufzen schüttelte er ab, verstaute alles ordnungsgemäß und zog den Reißverschluss hoch. Er fühlte sich für einen Moment, als habe er Energie getankt und nicht nur Ballast abgelassen. Mit der Zuversicht, letztlich einen längeren Atem als diese Susan Bishop zu haben, begab er sich mit bedächtigen Schritten wieder zurück auf seinen Posten. Er zog seine Regenplane zurecht und lugte um die Kante der mittlerweile vertrauten Materialkiste. Fuck! Die blöde Schlampe war weg — und mit ihr diese verdammte Kladde.
Conrad drehte sich umständlich auf der Mauerkrone und ließ sich langsam an der Ziegelwand herunter. Als seine gestreckten Arme zu schmerzen begannen, holte er tief Luft und ließ sich fallen. Lisa hatte recht, wenn man von den Ästen absah, die einem die Nieren durchbohren wollten, war die Landung erträglich.
»Komm schon rüber«, drängelte sie. »Wir müssen uns sputen.«
Er stöhnte, rappelte sich auf, griff seine Umhängetasche und klopfte imaginären Dreck von seinem Armeeparka.
»Ich will echt nicht die gesamte Nacht hier verbringen«, setzte sie nach. Bislang hatte sie so beherrscht gewirkt, aber ihre Nerven lagen nicht weniger blank als seine eigenen.
Er murmelte beruhigend vor sich hin. »Alles gut Lisa, ich bin schon unterwegs, ich komme schon, kein Grund zur–«
»Wir müssen fast bis auf die andere Seite. Also los!«
Die andere Seite. Haha. Ja, da müssen wir wirklich hin. Mann, auf was hast du dich da bloß eingelassen, Peter Conrad? Lisa kannte den Weg durch das beinahe zwanzig Hektar umfassende Gelände, sie hatte den Plan dieses riesigen Gräberfeldes studiert. Über fünfunddreißigtausend Grabmonumente, beinahe eine Viertelmillion Bestattungen... Während er die Kapuze zurechtzog und wieder einmal Regen auf seiner Brille verschmierte, fragte er sich, warum sie dann nicht gleich auf der anderen Seite des Geländes eingestiegen waren. Ganz gleich, sie würde ihre Gründe haben, den langen Weg zu wählen.
»Am besten schlagen wir uns erst einmal zum Hauptweg durch. Der ist ja so breit, dass wir den selbst in dieser Finsternis nicht übersehen können. Von da aus wandern wir dann Richtung Süden bis zum großen Rondell. Hast du dir das schon angesehen? Nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Architektonisch auf jeden Fall sehr beeindruckend, aber ich fürchte, davon werden wir jetzt nicht viel haben.«
»Aha«, grummelte Conrad. »Und dann, wie geht es weiter?«
»Dann schauen wir erstmal. Unser Grab muss da irgendwo sein. Nicht innerhalb der Rotunde vermutlich, aber irgendwo in der Nähe.«
Schweigend stapften sie durch das nasse Gras und suchten ihren Weg durch die teils dicht angelegten Gräber. Manche waren zu kaum erkennbaren Stolperfallen erodiert, andere erstaunlich gut erhalten. Während Franks zielstrebig voranpreschte, gab Conrad sich Mühe, möglichst nicht auf eine Grabstelle zu treten.
Ungeduldig drehte sie sich um. »Wo bleibst du, wir haben noch ein gutes Stück vor uns. Bei deinem Tempo kommen wir nie auf den Hauptweg«, zischte sie.
»Ich will einfach nicht auf irgendwelchen Gräbern herumtrampeln«, rechtfertigte er sich. »Ich weiß ja nicht, ob du das schön fändest.«
»Wir sind hier in der Soldatenecke, mein Freund«, zischte sie ungeduldig. »Die haben im Schützengraben bei Verdun schon ganz anderes mitgemacht. Wahrscheinlich sind ihre Kameraden oder unsere Soldaten schon vor ihrem Begräbnis auf ihnen herumgelaufen. Außerdem haben die hier das Glück, überhaupt begraben worden zu sein. Und dann noch in der Heimat. Also komm jetzt in die Gänge, Peter Conrad.«
»Woher weißt du—«
»Was? Dass das der militärische Teil ist?«, unterbrach sie ihn. »Der Obelisk natürlich. Wüsstest du, wenn du dir die Karte angeschaut hättest.«
Conrad ersparte sich eine weitere Diskussion, aus der er sicher nicht als Sieger hervorgehen würde. Er beschleunigte seine Schritte, achtete aber nach wie vor darauf, möglichst keine der Grabstätten zu betreten. Mit einem flauen Gefühl im Magen bemerkte er den Dunst, der sich langsam über dem feuchten Boden ausbreitete. Er dachte an die Geschichten über den berüchtigten Londoner Nebel. Er schwor sich, diese verrückte Aktion abzubrechen, wenn die Sichtverhältnisse schlechter werden sollten. Er hatte nicht vor, sein Leben hier zu riskieren. Und mit jedem Schritt wuchs in ihm die Sorge, dass sie beobachtet wurden. Sechster Sinn oder schlichte Paranoia? Conrad zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern und konzentrierte sich auf Lisas Schatten einige Meter vor ihm.
Nach einer gefühlten Ewigkeit durch nassklebrigen Nebel und matschiges Gras blieb seine Gefährtin stehen, drehte sich ungeduldig zu ihm um und wartete mit verschränkten Armen. Nachdem er die letzte Gräberreihe hinter sich gelassen hatte, fand er sich auf einer regennassen Asphaltfläche wieder, die gut eine zweispurige Landstraße hätte sein können, gesäumt von großen Alleebäumen und beeindruckenden Grabmonumenten. Die feuchte Luft wirkte hier im Licht der Taschenlampe wie mit wattigen Schlieren durchzogen.
»Da lang«, bemerkte Lisa und marschierte los, sobald er zu ihr aufgeschlossen hatte.
Conrad sah in die eingeschlagene Richtung und glaubte, in der Ferne die Umrisse eines großen Kuppelbaus ausmachen zu können.
Verflucht! Wo steckte Bishop? Hatte das Miststück ihn doch bemerkt und nur darauf gewartet, sich in einem unbeobachteten Moment aus dem Staub zu machen? Quatsch! Die Bishop war so nicht drauf. Dieser Deutschen, der hätte er zugetraut, aus reiner Gehässigkeit ein solches Spielchen stundenlang durchzuziehen und ihn dann wie einen Vollidioten zurückzulassen, nur damit sie ihrem Kumpan voller Häme auftischen konnte, wie sie dem 'Tommy' eins ausgewischt hatte. Was spinnst du dir hier zurecht? Das beständige Prasseln des Regens auf der Plastikplane erweichte langsam sein Gehirn, befürchtete er. Die Bishop wollte vermutlich einfach endlich nach Hause ins Studentenwohnheim. Dort konnte er sie zur Not jederzeit aufsuchen, denn die Adresse kannte er seit Beginn der Grabungsarbeiten. Für ihn war es ein eisernes Prinzip, möglichst schnell alles über die Personen zu wissen, mit denen er zu tun hatte. Und darin bist du unglaublich gut. Wissen ist Macht.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Susan Bishop, mit einem langen Mantel und breitkrempigen Hut bekleidet, plötzlich aus dem Zelt trat und erst das Grabungsareal und dann den Friedhof verließ, kaum eine Viertelstunde, bevor die Tore durch die Parkverwaltung geschlossen wurden. Ihr kostbares Notizbuch trug sie sicherlich bei sich, jedenfalls war die Tasche über ihrer Schulter groß genug. Es hatte keinen Sinn, in den Zelten nach der Kladde zu suchen. Er beschloss, ihr in sicherem Abstand zu folgen.
Wie er vermutet hatte, schlug sie die Richtung zur Underground ein. Nachdem die Archäologin sich in einem dieser Sandwich-Läden, die zurzeit wie Pilze aus dem Boden schossen, ein dick belegtes Baguette gekauft hatte, setzte sie ihren Weg zur nahe gelegenen U-Bahn-Station Fulham Broadway fort. Das war nicht ungewöhnlich. Obwohl sie über ein Auto verfügte, benutzte sie in der Innenstadt häufiger die Bahn, um dem ewig währenden Stau Londons zu entgehen. Wie erwartet bestieg sie die District Line Northbound.
Sie stand im Gang in der Mitte des Wagens und schien die vorbeifliegenden Wände der engen Betonröhre zu beobachten. Wahrscheinlich begutachtete sich die eitle Gans dabei in der deutlichen Spiegelung... Lass deine Emotionen da raus, konzentrier dich! Er hatte einen Sitzplatz am Durchgang zum nächsten Zugteil erwischt, kaum fünf Meter von Bishop entfernt. Die District Line war voll, wie immer um diese Zeit, und so bestand keine Gefahr, dass sie ihn bemerkte. Trotzdem war er überrascht, als sie sich kurz vor der Haltestelle Embankment hastig zur nächstgelegenen Tür drängelte. Sein Weg war ein ganzes Stück weiter, und er schaffte es nur knapp hinauszuschlüpfen, bevor sich die Automatiktüren wieder schlossen. Hatte Bishop ihn trotz aller Vorsicht bemerkt und versuchte nun, ihn abzuschütteln? Nein, ihr weiteres Verhalten sprach dagegen. Ihre Hast lag offenbar nur darin begründet, dass sie Embankment beinahe verschlafen hatte, denn jetzt bestieg sie — ohne Hektik, ohne sich irgendwie zu vergewissern, ob sie unbeobachtet war — die Northern Line in nördlicher Richtung. Glücklicherweise war die Underground hier genauso überfüllt wie auf der District Line. Dieses Mal suchte er sich einen Stehplatz in ihrer Nähe, aber in ihrem Rücken. Kurz rief er sich die Geographie der Stadt ins Gedächtnis und vergewisserte sich, dass dies der Weg zur Ifor Evans Hall war, wo Bishop derzeit hauste. Es war fast enttäuschend langweilig, sie bis zu ihrer Tür zu verfolgen.
Doch dann wurde er stutzig. Sie stieg zwar an der richtigen Haltestelle Camden Town aus, verließ aber den unterirdischen Bahnhof nicht. Mit einigen anderen Fahrgästen wechselte sie durch die zugigen Röhren zu dem Gegenbahnsteig. Was soll das? Fährt sie jetzt wieder zurück? Wo will die Schlange hin? Hatte sie also doch etwas vor! Wie gut, dass er seine Überwachung nicht vorzeitig abgebrochen hatte. Beim nächsten Mal wäre er besser vorbereitet und darauf gefasst, nötigenfalls auch eine stundenlange Beschattung durchzuführen. Solche Patzer erlaubte man sich nur ein einziges Mal. Zu seiner Erleichterung wartete bereits eine ganze Reihe Menschen am Gleis, sodass er weiterhin keine Entdeckung fürchten musste. Der typische Geruch der unterirdischen Tunnel blies ihm um die Nase, und er bemerkte, dass die Bahn, die Bishop jetzt bestieg, zwar in die Gegenrichtung fuhr, aber zum City Branch gehörte, der ganz andere Stationen anfuhr als der West End Branch, mit dem sie hergekommen waren. Er fragte sich, wohin die Reise ging. Nach einer Verabredung zum Abendessen sah es genauso wenig aus wie nach einer späten Shoppingtour.
Plötzlich hatte er einen Verdacht — und der wurde genährt, als sie nach nur vier Stationen an der Station Angel die Tube wieder verließ: Bishop hatte noch ein weiteres Engagement, soviel wusste er, und zwar am Greater London Record Office. Was hoffte sie in den Archiven zu finden? Und um diese Zeit? Sollte sie über ihn recherchieren, würde sie ins Nirwana laufen. Alle, die mit der Grabungskampagne in Zusammenhang standen, kannten nur seinen Decknamen. Und würde sie den dazugehörigen Lebenslauf zusammenstellen, würde die Legende, mit der er sich eingeführt hatte, nur umso glaubwürdiger. Über seine Identität konnte Bishop am GLRO unmöglich etwas herausfinden, da war er sicher. Nur, was wollte sie dann? Vielleicht wurde er doch paranoid und seine Person interessierte sie überhaupt nicht. Vielleicht hatte sie einfach nur ein professionelles Interesse gepackt und sie versuchte, nach Dienstschluss mehr über den Friedhof herausfinden. Trotz dieser durchaus plausiblen Alternative wollten die Alarmglocken in seinem Kopf partout keine Ruhe geben.
Grübelnd folgte er der Archäologin etwa zehn Minuten in südlicher Richtung. Dann kam der rote Ziegelbau des GLRO in Sicht. Sie öffnete die von Glasbausteinen gerahmte Eingangstür des unsensibel renovierten Gebäudes und trat in das dämmrig beleuchtete Foyer ein. Er hielt sich hinter der Ecke des Eingangs außer der Sichtweite Bishops und des Wachmanns, den die Archäologin offenbar kannte. Er hörte, wie sie mit einem raschen »Nein, nicht lange, Chris. Ich muss nur etwas im Kataster checken« auch schon in den Tiefen des Gebäudes verschwand.
Er presste sich mit dem Rücken gegen die Backsteinfassade. Dieses verdammte Miststück! Kalter Schweiß schoss aus allen Poren seines Körpers. Beruhige Dich, das muss überhaupt nichts bedeuten. Schließlich war auch das Friedhofsgelände hier verzeichnet. Doch diese Argumentation verfing nicht. Sie war seinetwegen hier. Da war er sich plötzlich vollkommen sicher.
Nach mehreren hundert Metern verschwanden die Alleebäume und wurden durch noch dichtere Grabbebauung abgelöst. Dann kamen die ersten Arkaden von Bromptons großem Rondell in Sichtweite. Sofern man bei Dunkelheit und Nebel von Sicht sprechen konnte, dachte Conrad missmutig. Doch allein die Größe der Silhouette flößte dem Betrachter Respekt ein. Wie antike Säulengalerien verliefen die Bogengänge beiderseits des Hauptweges in fünfzehn oder zwanzig Meter Abstand, sicherlich auf über hundert Meter Länge. Auf halber Strecke führten breite Treppen vom asphaltierten Hauptweg unter die Arkadengänge. Rechter Hand bekrönte ein Turm, vielleicht eine winzige Kapelle, diesen Abgang. Sein Archäologeninstinkt meldete sich und verdrängte für einen Moment die Unbehaglichkeit. Soso, Unbehaglichkeit nennst du das? Lisa würde das anders nennen. Welche Geheimnisse gab es wohl unter diesen Mauern zu entdecken? Niemand baut fünf Meter breite Treppen zu einem Lagerraum für Gartengeräte und Rindenmulch. Mal abgesehen davon, dass kein Mensch auf Dauer das Geraffel jedes Mal die Treppe hoch und wieder runter trägt. Und die Katakomben waren sicherlich alt, denn der gesamte Friedhof schien um dieses Arkadenbauwerk herum geplant worden zu sein. Kurz bevor er Lisa den Vorschlag machen konnte, diesen Bereich Bromptons bei Tageslicht zu prospektieren, unterbrach sie leise seine Gedanken.
»Da vorne ist die Rotunde. Dort gibt es noch einmal vier von diesen Abgängen. Die sind zwar etwas schmaler gebaut, aber immer noch ohne Taschenlampe leicht auffindbar.«
Er brummte ein kurzes »Wenn du es sagst« und folgte ihr nach links auf den Rundweg.
»Wir müssen in die südöstliche Ecke dieses Rundbaus, so viel ist mir aus den Plänen klar geworden.«
»Kein schlechter«, kommentierte Conrad ihren unbeabsichtigten Kalauer. Sein Kreuz schmerzte ein wenig von dem Sturz ins Gebüsch, und die schwere Tasche tat ihr Übriges auf seinem Schlüsselbein. Er wechselte sie auf die linke Seite. »Bist du sicher, dass wir das ganze Zeug brauchen? Mir fällt fast die Schulter ab.«
»Bin ich.« Sie verlangsamte ihren Schritt und blieb schließlich stehen. »Hier ist eine Lücke in der Mauer, der nordöstliche Durchgang. Weit kann es nicht mehr sein.«
Im Dunkeln war es schwer zu beurteilen, aber Conrad schätzte, dass das große Rondell einen Durchmesser von gut einhundert Metern hatte: ein Hektar Grabstelle an Grabstelle, und das war nur ein winziger Teil Bromptons. Jetzt schien auch der pantheonartige Kuppelbau, der sich vorhin gegen den Nachthimmel abgezeichnet hatte, recht nah. Dann fiel sein Blick wieder auf den Rundgang links von ihm. Mit Verwunderung stellte er fest, dass es keineswegs an der Nacht lag, dass die Arkaden so dunkel wirkten. Offene Bögen befanden sich nur auf der Innenseite des Bauwerkes, die Rückseite war komplett zugemauert. Ganz so, als sollte eine klare Trennlinie zwischen dem Innenraum der Rotunde und dem Rest von Brompton Cemetery gezogen werden. Und obwohl er keinen offenkundigen Unterschied zwischen den Grabsteinen des inneren Kreises und dem Bereich außerhalb der Bogengänge ausmachen konnte, wirkte es auf ihn irgendwie rituell, wie eine magische Grenze, die das Innen vom Außen trennen sollte. Vielleicht lagen hier besondere Menschen begraben? Seine Fantasie ging mit ihm durch. Er hatte bei neuzeitlichen Friedhöfen noch nie von einem solchen Quatsch gehört. Wahrscheinlich beschäftigte er sich schon zu lange mit Toten — und eine Grabungskampagne auf einem riesigen Friedhof war nicht hilfreich, um wieder klarer zu sehen. Conrad war sich sicher, nicht zu Verschwörungstheorien zu neigen, aber das hier war...
»Hey, Peter, alles okay? Hier geht es runter. Ich glaube, wir sind hier richtig. Vorsicht, die Steine sind ganz schön glitschig.«
»Ich dachte, du hättest nur eine ungefähre Ahnung, wo wir hin müssen. Wieso ausgerechnet da runter?«
»Schiss?«
Er konnte es nicht erkennen, aber ihr nervöses Grinsen war förmlich hörbar. »Unsinn!« Er schnaufte. »Aber du sagtest, unser... das Grab, das wir suchen, läge vermutlich nicht innerhalb der Rotunde.«
»Richtig. Ich habe auf unserem langen Marsch noch einmal darüber nachgedacht. Der grobe Standort ist unstrittig. Es ist der südöstliche Sektor der Rotunde.« Sie zog die steife Kapuze ihrer Jacke tiefer ins Gesicht. »Und ich habe da so einen Verdacht. Innerhalb des Arkadenkreises liegt es sicher nicht, das ist ganz unmöglich. Dabei bleibe ich. Aber völlig ungeschützt unter freiem Himmel. Ist das wahrscheinlich?«
»Nein. Du hast recht«, hakte er ein. »Und ob etwas unterhalb einer Einfriedung zum Außenbereich oder zum inneren Kreis gehört, tja, darüber kann man vortrefflich streiten.«
»Eben. Wer weiß, wie es da unten aussieht. Vielleicht setzt sich das Untergeschoss ja in den Bereich außerhalb der Rotunde fort.«
»Na ja, das glaube ich jetzt weniger.« Er stieg zu ihr hinab. »Egal, jetzt sind wir schon einmal hier. Ich möchte endlich die Taschenlampe benutzen und aus dem verdammten Regen rauskommen. Vielleicht habe ich dann endlich nicht mehr das Gefühl, dass mir irgendwer in den Nacken atmet.«
»Glaube ich kaum«, murmelte sie fast unhörbar.
»Was meinst du?«
»Ach, nichts.« Sie umfasste zwei Stäbe des eisernen Tors, hinter dem eine schwere Holztür erkennbar war. »Du kannst jetzt den Generalschlüssel rausholen, Herr Conrad.«
»Dieses blöde Vorhängeschloss ist hartnäckiger als das Eisentor.« Fluchend versuchte er, einen Ansatzpunkt für das Brecheisen zu finden. »Gib mir mal den Pflock aus meiner Tasche und klemm ihn drunter. Dann habe ich einen besseren Hebel.«
»So geht moderne Archäologie.« Sie reichte ihm das Holzstück. »Aber mach ihn nicht kaputt. Vielleicht brauchen wir den noch.«
Er winkte ab. Mit einem lauten Krachen riss der gesamte Beschlag aus der Tür und hinterließ eine splitternde Wunde. »Links rum oder rechts?«
Franks schaltete ihre Maglite ein und wandte sich nach rechts. »Keine Ahnung. Aber so riesig ist das ja hier nicht. Ich kann keine abzweigenden Gänge oder irgendwelche verschlossenen Kammern erkennen.«
Conrad leuchtete die äußere Wand des Raumes ab. »Stimmt. Das hier ist ein ungefähres Spiegelbild der überirdischen Architektur. War ja auch zu erwarten.«
»Nicht ganz. Das Untergeschoss hat zwar den selben Grundriss, wie der Arkadengang oben, aber dieses mal ist es umgedreht.«
Er nickte langsam und zog die Kapuze vom Kopf. »Ja, hier unten ist die Innenwand eine geschlossene Mauer—«
»Und in der Außenmauer befinden sich die Bögen«, vervollständigte sie seine Überlegung.
»Exakt. Und die Nischen hinter den Rundbögen liegen eindeutig außerhalb der Rotunde.« Seine Kopfhaut juckte jedes Mal unerträglich, wenn er diese Polyester-Plüschteddy-Kapuze länger als fünf Minuten trug. »Irgendwie gruselig, wie das so ins Bild passt, oder?«
»Was hast du erwartet? Aus dem Bereich rationalen Vorgehens sind wir doch schon lange raus. Wenn meine Mutter jemals erfährt, was wir hier tun, wird sie mich enterben, entmündigen und einweisen lassen. Also los jetzt, wir sind noch keinen Schritt weiter!«
Sie folgten dem Kellergang und überprüften alle Sarkophage in den Nischen der äußeren Wand. Sie kamen zügig voran, denn zwischen den steinernen Bögen gab es keine Hinweise auf Beisetzungen. Keine Plaketten, Grabplatten, Türchen oder Vertiefungen in der Mauer, nur die steinernen Särge hinter den unterirdischen Arkaden. Und auch die innere Begrenzungswand der Katakomben war fundleer – einfach eine durchgängige Ziegelmauer. Nach rund dreißig Metern machte der Rundweg einen Knick nach links und führte geradewegs nach Südosten. Sie erkannten, dass der Gang in weiteren dreißig Metern Entfernung an einer gemauerten Fläche endete. Auf diesem Abschnitt gab es eine unbenutzte Grabnische.
Conrad blieb stehen. »Glaubst du, die haben da etwas entfernt?«
Sie ließ den Lichtkegel durch den Raum wandern. »Ach was. Das sieht man doch, dass da nie etwas gestanden hat. Mich interessiert mehr, ob es da hinten weitergeht.« Sie beleuchtete die Stirnwand des Gangs.
Nachdem sie zuerst mit bloßen Fäusten und dann mit einem schweren Fäustel die Wand abgeklopft hatten, war Conrad sich sicher. »Fehlanzeige. Hier geht es garantiert nicht weiter. Das ist einfach das Ende der Kellerebene. Zudem wären wir bald unter dem Kuppelbau, wenn es hier weiterginge. Das wäre für das Fundament viel zu gefährlich.«
»Womit klar wäre, dass die Katakomben zumindest am südlichsten Punkt keine Verbindung zueinander haben. Ganz so, wie die oberirdischen Bauten. Und ich bezweifle auch, dass es in nördlicher Richtung anders ist.«
Er kratzte sich erneut am Kopf. »Wir werden sehen.«
Der linke Ast des Kellergeschosses war erwartungsgemäß genauso aufgebaut wie der rechte. Nur wirkte es, als stünden in seinen Mauernischen die älteren Steinsärge. Außerdem waren die Mauerbögen hier nicht alle gleich. Viele waren verziert, manchmal schien gar ein Raum größer als im einheitlich gestalteten südöstlichen Teil der Katakomben.
»Erstaunlich, oder? Je weiter wir zur exakten Ostausrichtung der Särge kommen, desto aufwendiger wird es«, stellte Lisa fest.
»Das waren garantiert die ersten Grabstellen, die belegt wurden; ganz sicher die teuersten. Also mich wundert das nicht wirklich.«
»Hm, mag sein. Hast du schon was Hilfreiches entdeckt?«
Er schüttelte den Kopf, was sie nicht sehen konnte, aber sie erwartete offenbar auch keine Antwort.
»Schau mal, der hier sieht prächtig aus. Komm her.«
Conrad schloss zu ihr auf.
»Sir Edward Thatch heißt der.« Sie beleuchtete die Geburts- und Sterbedaten. »1768. Ganz schön alt geworden der Knabe.« Dann führte sie den Lichtkegel auf das darunter liegende Wappen: ein bekröntes Skelett, das einen undefinierbaren Gegenstand in der Rechten und einen Speer in der Linken hielt. Darunter befand sich ein übergroßes Herz, aus dem etwas herausquoll, das wohl Blut sein sollte. »Achtundachtzig Jahre«, sagte sie nachdenklich. »Stolzes Alter, aber trotzdem. Eigentlich ist die Grabstelle sechzig oder siebzig Jahre zu alt für Brompton.«
Peter schien ihr überhaupt nicht zuzuhören. »Ganz schön gruselig so ein morbides Familienwappen. Was das wohl für ein Kerl war? Und irgendwie kommt mir das bekannt vor. Wenn ich nur wüsste, wo ich das schon einmal gesehen habe...«
»Wenn der Typ nicht erst über ein halbes Jahrhundert woanders beerdigt war und umgezogen ist, nachdem man in den Achtzehndreißigern auf Brompton Cemetery mit dem Bau der großen Rotunde begonnen hat — was ich bezweifle — dann sind diese Katakomben wesentlich älter als die Rotunde. Völlig verrückt, aber es passt irgendwie zu unseren Vermutungen und dieser ganzen Geschichte.«
Peter schob die Brille in seine Haare und rieb sich die Augen. »Eben. Auch nicht bekloppter als alles andere. Interessante Vorstellung, dass diese kreisförmige Gruft schon vorhanden war, als es den Friedhof offiziell noch gar nicht gab. Vielleicht ahnten die Leute nicht einmal, welche okkulten Geheimräume sich direkt unter ihren Füßen befanden.«
»Ja genau. Und exakt auf der Kreislinie gab es schon seit ewigen Zeiten unerklärliche Vorkommnisse und rätselhafte Todesfälle. Im Ernst, das heben wir uns für einen abendfüllenden Horrorfilm auf.« Sie hockte sich vor Thatchs Sarkophag und beleuchtete das Sterbedatum. »Ich spüre, dass wir auf der richtigen Fährte sind.«
Conrad war bereits am nächsten Steingewölbe. »Was hältst du hiervon?« Aus irgendeinem Grund begann sein Herz mit einem Mal zu galoppieren. Wenn du so weitermachst, verlangst du bald, der Ohnmacht nahe, nach dem Riechsalz.
Nachdem sie einige Sekunden lang den kleinen Raum mit ihrer Taschenlampe erkundet hatte, wirkte Franks' Tonfall fast euphorisch. »Der passt absolut! Wahrscheinlich genau nach Osten ausgerichtet, massiv und schmucklos.« Sofort begann sie, die Oberseite des sonst unverzierten Steinsargs mit ihrem Ärmel abzuwischen. »Da, das ist es, Peter!«
Im Schein der beiden Maglites war ein einziges Wort zu erkennen, geschrieben in einer altmodischen, frakturähnlichen Schrift.
»Ich würde jetzt gerne eine rauchen«, bemerkte Conrad leise.
Sie öffnete die Jacke und langte in die Innentasche. »Falls es dich beruhigt, ich habe genauso einen Bammel wie du.«
Er zog eine Kool aus der grün-weißen Pappschachtel. »Woher wusstest du—«
»Was? Dass wir Zigaretten brauchen würden?« Sie kramte in seiner ledernen Umhängetasche. »Wenn man in so einer Situation nicht anfängt zu rauchen, wann dann?« Sie hielt ihm das silberne Gasfeuerzeug entgegen. »Außerdem ist das Menthol. Vielleicht huste ich ja dann nicht so.«
Galgenhumor hilft einigen Leuten, dachte er. Er zündete die Zigarette an, reichte sie ihr und steckte sich dann selbst eine an. Während sie das Glimmen beobachtete, nahm er einen tiefen Zug und atmete geräuschvoll aus. »Bist du dir sicher, dass wir das durchziehen sollen? Wir verhalten uns überhaupt nicht mehr wie Archäologen. Wir denken nicht mehr wie Wissenschaftler. Stattdessen begehen wir Straftaten und glauben Dinge, für die wir noch vor kurzer Zeit andere Menschen verspottet haben.«
Sie paffte zwei Züge und bekam einen Hustenanfall.
»Das ist doch alles lächerlich, Lisa. Wir tun gerade etwas, wofür andere in die geschlossene Psychiatrie gesteckt werden.«
»Ich weiß«, krächzte sie.
Er nahm ihr die Mentholzigarette aus der Hand und zertrat sie auf dem lehmigen Boden der Grabnische.
»Ich weiß, was du meinst«, setzte sie erneut an. »Mir geht es nicht anders. Am meisten Angst habe ich vor mir selbst, vor dem, was in dieser kurzen Zeit aus uns geworden ist.« Wieder musste sie husten. »Aber du hast das alles mit eigenen Augen gesehen, genauso wie ich.«
Conrad schwieg nachdenklich und stieß eine beachtliche Rauchwolke aus, was der Szenerie eine fast kitschige Atmosphäre gab.
»Wir haben alles Für und Wider Dutzende Male abgewägt, haben jede denkbare Alternative durchgespielt — und wir sind immer zur selben Entscheidung gekommen, Peter. Nämlich, dass das hier unbedingt notwendig ist.«
Sie hatte vollkommen recht, es gab nichts, was er dazu sagen konnte. Es half alles nichts. Wenn sie jetzt verzagten, würde es so weitergehen; und sie würden die Wahrheit niemals erfahren. Es musste ein Ende finden, sie konnten dafür sorgen. Beinahe eine Minute lang hörte er nichts als ihre Atemgeräusche. »Das hier ist ein Albtraum«, murmelte er.
»Wenn die uns kriegen, haben wir eine Menge Ärger, das ist mir klar. Aber wenn wir das nicht hinkriegen, haben wir ganz andere Probleme.« Sie schluckte. »Ich möchte nur, dass dieser ganze Horror endlich vorbei ist«
Er warf seine Kippe in den Dreck. Wieder Schweigen.
»Bisher konnte man diese Kommandoaktion als verrücktes Abenteuer betrachten.« Lisa klang ruhiger und fuhr fort: »Aber die Gefahr, in der wir und die anderen mittlerweile schweben, lässt sich nicht mehr durch sarkastische Sprüche verharmlosen. Zumal Scotland Yard auf dem völlig falschen Dampfer ist. Von denen können wir kaum Hilfe erwarten.« Sie seufzte. »Ich will, dass es aufhört.«
Conrad zog das Brecheisen aus der Ledertasche. »Dann lass es uns endlich hinter uns bringen.«
Zu seinem Erstaunen fand er schon nach kurzer Suche eine ausgebrochene Stelle, an der sich der Kuhfuß ansetzen ließ. »Sieht so aus, als wären wir nicht die Ersten«, versuchte er zu scherzen. Seine Stimme klang völlig fremd in seinen Ohren.
»Wenn wir richtig liegen, dann sind wir das auch nicht«, entgegnete sie ernst. »Der Dreck auf der Deckplatte war ja auch nicht gerade die Patina von Jahrhunderten. Wenn du mich fragst, dann wirkte sie geradezu wie absichtlich bestreut.«
Er brummte angestrengt, während er die Steinplatte endlich anheben und verdrehen konnte. »Okay, es fehlt nicht mehr viel. Los, fass mit an, damit wir dieses Ding zur Seite geschoben bekommen.«
Einmal gelockert ließ sich der Deckel mit erstaunlich wenig Kraft bewegen. Und so rutschte er durch ihre gemeinsame Anstrengung komplett von der Steinkiste herunter. Als er auf dem trockenen Boden der Gruft aufschlug, hüllte er die beiden Archäologen in eine Staubwolke, die sich minutenlang in der Luft hielt.
Bishop ließ sich Zeit. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass sie bereits siebenunddreißig Minuten lang im Gebäude war. Ob das ein gutes Zeichen war, weil sie noch immer suchte, oder ein schlechtes, weil sie etwas gefunden hatte und auswertete, vermochte er nicht zu beurteilen. Es gelang ihm nur schlecht, einigermaßen Ruhe zu bewahren. Und die immer noch eisigen Füße machten es auch nicht leichter.
Er verfluchte seine Nachlässigkeit. Er hätte die Situation unter Kontrolle haben müssen, aber dieses Mal konnte er nichts tun außer warten. Wenn sie das Gebäude verließ, würde er eine schnelle Entscheidung fällen müssen. Und er hasste es, Entscheidungen unter Druck zu treffen. Natürlich hätte er versuchen können, ihr unter einem Vorwand im Archiv nachzuspionieren, doch in der ganzen Zeit, seit er hier wartete, hatte nur eine einzige weitere Person das städtische Archiv betreten. Kein Wunder, denn die offiziellen Öffnungszeiten waren lange vorbei. Nein, er wäre unweigerlich aufgeflogen.
Beinahe eine Stunde war inzwischen verstrichen, und das Biest ließ sich immer noch nicht sehen. Gab es einen anderen Ausgang? Sie arbeitete hier und kannte vermutlich alle Ein- und Ausgänge. Es wäre also ein Leichtes für sie, das Gebäude an anderer Stelle zu verlassen. Aber warum sollte sie das tun? Der Nachtwächter hatte sie beim Betreten des Gebäudes gesehen und erwartete, dass sie den gleichen Weg beim Verlassen nahm. Sie würde das Risiko nicht eingehen, einen alarmgesicherten Notausgang zu benutzen. Außerdem sagte ihm sein Bauchgefühl, dass Susan Bishop sich nicht verfolgt fühlte. Vielmehr entwickelte er vermutlich selbst gerade einen ausgewachsenen Verfolgungswahn. Erneut wechselte er seinen Standort im Schatten zwischen den Straßenlaternen am hohen Zaun gegenüber des Archivgebäudes.
Nach einer weiteren Viertelstunde verließ die Archäologin endlich das Greater London Record Office — mit einer Papprolle unter dem Arm. Shit. Verdammter Mist. Er hatte es geahnt. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Was jetzt tun? Sie ging rasch den Bürgersteig hinunter und hatte schon fast die scharfe Kehre an der Northampton Road erreicht. Er setzte sich in Bewegung und sah, wie sie wieder nach links auf das kurze Stück durch den Spa Fields Park einbog, allem Anschein nach zurück zur Angel Station. Er war nicht nah genug an ihr dran, um zuzuschlagen, doch er musste sie unbedingt erwischen, bevor sie die Bahnstation erreichte. Die einzige Gelegenheit wäre der Spa Green Garden an der Rosebery Avenue. Er betete, dass sie die gleiche Route wie auf dem Hinweg wählte. Da hatte sie die Abkürzung durch den Park genommen, anstatt an der Straße zu bleiben. Es war trotzdem kein idealer Ort, weil die Bäume noch zu kahl waren und man ihn vom nahen Wohnblock würde sehen können. Was sollte er bloß tun? Wenn sie ihm wirklich auf der Spur war, dann musste er sie sofort zum Schweigen bringen, das stand fest. Aber was, wenn sie nur in Sachen Stadtarchäologie recherchiert hatte? Konnte er das irgendwie herausbekommen, ohne sich zu verraten? Er beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Es gab nur diese eine Chance, und wenn es schief ging...
Bishop hatte den kleinen Park hinter sich gelassen, und die Rosebery Avenue war in Sichtweite. Zu seiner Erleichterung hielt sie sich rechts und schlug den schmalen Weg zu den Green Spa Gardens ein. Er hatte auf den vielleicht hundert Metern gut eine Minute Zeit, um zu handeln. Er beschleunigte seine Schritte noch einmal und holte sie an dem Kriegsdenkmal mit seiner geflügelten Bronzestatue ein. Als sie ihn bemerkte und sich umdrehte, sprach er sie an.
»Hallo, Susan. Schön, Sie zu sehen!«
Sie wirkte misstrauisch und wartete, bis er herangekommen war. Die Beleuchtung im Park war spärlich und stammte eigentlich nur von den Laternen außerhalb der Umzäunung.
»Hey, was machen Sie denn zu später Stunde in dieser Gegend?«, versuchte er es erneut.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, ihre Tasche abschirmend und die Papprolle wie einen pharaonischen Krummstab haltend. »Das gleiche könnte ich Sie fragen, Mister... wie heißen Sie eigentlich wirklich?«
Panik. Wut. Er versetzte ihr einen Handkantenschlag an die Halsschlagader, der sie lautlos zusammenbrechen ließ. Dann hockte er sich hinter sie, hob ihren Kopf und brach ihr mit einem Knacken das Genick. Es war geschehen, er hatte seine Entscheidung gefällt. Hastig nahm er die Papprolle an sich und riss ihr die Umhängetasche aus den Händen. Weg hier! Sein Blick suchte den Parkweg in beide Richtungen ab und schwenkte dann zu dem Zaun an der Straße. Keine Zeugen. Dann zog er Susan Bishops Leichnam in das Unterholz, sodass ein zufälliger Passant sie nicht bemerken würde. Wenigstens bis zum Morgen würde es dauern, bevor man sie entdeckte.
Nachdem die Luft in der Grabkammer wieder einigermaßen klar war, traten sie wie auf ein Zeichen hin gleichzeitig an den Sarkophag. Er war sich sicher, dass es wie einstudiert aussah: Klischee-Archäologen bei der weltbewegenden Öffnung eines legendären Grabmals. Grobe Werkzeuge in den Händen, Schweiß auf der Stirn, die Augen weit aufgerissen, die Pupillen groß im schwachen Schein der Fackeln — der Taschenlampen.
Er sah noch immer Lisa an, anstatt in den verdammten Sarkophag zu schauen. Seine große Brille mit dem schweren Rahmen war zwar ziemlich dreckig, aber er konnte deutlich erkennen, dass sie einige Male heftig schluckte. Hieß das, der Sarg war leer? Ihr Ziel ausgeflogen? Möglicherweise lauerte er nur darauf, dass sie in Panik aus der Gruft flohen, um sie auf dem menschenleeren Friedhof zu erledigen, wie er schon so viele vor ihnen gejagt und erlegt hatte?
»Gibst du mir jetzt die Utensilien, oder was?« Conrads Stimme klang, als hätte er mit rostigen Nägeln gegurgelt.
Lisa bückte sich nach seiner Tasche und zog nach einigen Fehlversuchen ein langes Skalpell hervor.
Seine Finger zitterten, als er den Arm quer über den Sarg ausstreckte. Hatte er eigentlich den Verstand verloren? Wenn ja, dann war Lisa genauso verrückt wie er, und das machte ihr furchtbares Vorhaben für seinen Verstand ein wenig erträglicher. Er nahm ihr das Messer ab und zog seinen Arm langsam zurück. Ihm blieb die Luft im Halse stecken, als er nach unten blickte, direkt in ein eingefallenes, aber auf sonderbare Weise nicht totes Gesicht. »Das ist tatsächlich...« Er räusperte sich. Kein Toter. An Mumien, Skelette oder Eisleichen hatte er sich in den vergangenen Jahren gewöhnt. Auch frische Leichname konnten ihm kein Unbehagen einflößen, wie er im vergangenen Jahr festgestellt hatte, als in Ägypten der Messtechniker der Grabung erstochen worden war. Aber das hier war ganz anders. Der Mann, der in diesem Sarg vor ihnen lag, schien weniger tot als... leblos. Ihm fiel keine bessere Beschreibung ein. Nachdem er ihn einmal angesehen hatte, war ihm, als könne er seinen Blick nicht wieder lösen. Der Baron war ausgezehrt, der ganze Körper sehr schlank. Conrad schätzte ihn auf wenigstens einen Meter neunzig. Sein Gesicht wirkte durch den dunklen, akkurat gestutzten und ausrasierten Kinnbart noch schmaler und geradezu aristokratisch. Wie eine dunkle Korona war sein halblanges Haar um den Kopf ausgebreitet. An seinen feingliedrigen Händen befanden sich schwere Ringe, die sich lose um die Finger verdreht hatten. Es war einst mehr Fleisch an diesen Knochen gewesen, dachte Conrad wie aus weiter Entfernung. Der Mann sollte seit über hundert Jahren tot sein, und anstatt zu zerfallen, war er irgendwie zu einem... Untoten geworden. Conrad hätte nicht sagen können, wie lange sie beide dort reglos gestanden hatten, bevor er sich entschloss, in den Sarkophag hineinzufassen. Lisa schrak zusammen.
»Schiss?«, murmelte er abwesend.
»Arsch«, fauchte sie zurück. Lisa war bleich geworden.
Conrad fasste das Operationsmesser fester und platzierte die scharfe Schneide über dem Brustbein. Er bemerkte, dass er unwillkürlich den Atem angehalten hatte, und holte hastig zweimal tief Luft. Er zögerte.
»Was ist los, Peter?«
»Ich muss sicher sein.« Er legte die Finger der linken Hand sanft auf die trockene Haut des Halses. Sie war fast so weiß wie die leicht stockfleckigen seidenen Tücher, auf die man den Baron gebettet hatte. Nach fünf oder sechs Sekunden nahm er seine Hand wieder fort.
»Einen Puls kann ich jedenfalls nicht fühlen.«
Ein wenig beruhigter studierte er die Details. Den engen, hochgeschnittenen Kragen des weißen Hemds, das Ensemble aus tiefschwarzem Gehrock und der hervorblitzenden Weste in dunklem Bordeauxrot. Alles eleganteste Mode des späteren neunzehnten Jahrhunderts, wie frisch aus der Ausstellung im Victoria & Albert. Er bemerkte, dass Lisa sich an das Fußende des Sarkophages bewegte und die Schuhe betrachtete. Gamaschen. Selbst die fehlten nicht.
»Und?« Conrads Stimme hallte eigenartig in der Nische wider. Großer Gott, sie sollten wirklich zusehen, dass sie taten, wozu sie gekommen waren — und dann sofort verschwinden und nie wieder ein Wort darüber verlieren.
»Schon okay, ich hab's gleich.« Für einen Moment jedoch sah es so aus, als würde der Mut sie verlassen. Lisa tat sich schon mit 'normalen' Mumien eher schwer; das war bereits in Ägypten klar geworden. Nach kurzem Zögern drückte sie die Schuhspitzen so weit zurück, dass sie die Sohlen mit ihrer Taschenlampe beleuchten konnte. Sie sog scharf Luft zwischen ihren Zähnen ein. »Dreck. Nicht sehr viel, aber immerhin...«
Conrad winkte sie wieder an das Kopfende des Sargs heran. »Ich schätze, wir sollten uns noch einmal vergewissern. Du bleibst schön bei mir.«
Sie nickte und wirkte vollauf damit beschäftigt, ihren Atem zu regulieren. Ihre Blicke folgten jeder seiner Bewegungen. Als sich seine Hand dem Gesicht des Barons näherte, wich sie zurück.
Fragen schwirrten in seinem Kopf. Würden sie dem Schrecken wirklich ein Ende setzen können? Was, wenn sie sich irrten? Wenn sie angegriffen würden? Egal... egal jetzt. Seine Finger drückten sich zwischen die blassen Lippen. Er gab das Skalpell an Lisa zurück, um die zweite Hand frei zu haben. Doch auch beidhändig war es nicht ganz einfach, den Kiefer zu öffnen. Als es ihm gelang, fuhr er hektisch zurück, und Lisa schrie auf.
Blut quoll aus dem Mundwinkel, rann die Wange hinunter und tropfte auf die Seide.
Überall vor ihm und um ihn herum strömten die Menschen durch die engen Tunnel aus den Flugzeugen in die Baggage Claim Area, als gäbe es einen Preis zu gewinnen. Hinter Passkontrolle und Zoll entließ das Gebäude des Heathrow Airport die Neuankömmlinge schließlich in die große Eingangshalle.
»Hier, mein Gott. Bist du blind?«
Die empörten Worte auf Deutsch lenkten Peter Conrads Blick nach links in die Menge der Wartenden. Eine junge Frau rollte mit den Augen und winkte ihm — wohl nicht zum ersten Mal — energisch zu.
»Lisa?« Natürlich war das Lisa Franks, aber er hätte sie vielleicht nicht erkannt, wenn sie ihm zufällig auf der Straße begegnet wäre. Sie hatten sich zuletzt vor... er rechnete zurück, zehn Wochen gesehen.
»Peter?«, ahmte sie seinen verblüfften Tonfall nach. Dann grinste sie und trat auf ihn zu. »Du siehst aus, als hätte ich dich gerade noch rechtzeitig aus deinem Unibunker gerettet.«
Conrad lachte unwillkürlich auf. Sie hatte ja keine Ahnung. Aber das war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt für dieses Gespräch. »Wenn du das sagst. Ich bin aber nicht derjenige von uns, der aussieht, als wäre er in eine Vorher-Nachher-Show geraten.«
»Stimmt. Du siehst eindeutig mehr nach Vorher aus, oder noch was davor.« Franks musterte ihn hochgradig unbegeistert und entschied sich dann offenbar, dass ein Handschlag als Begrüßung vollkommen ausreichte.
»Zu meiner Verteidigung–«, wollte Conrad ansetzen, aber sie winkte nur ab. Das Gedränge war noch enger geworden, und jetzt schob sich eine japanische Reisegruppe um sie herum.
»Hat Zeit, Peter. Und du bist nicht wegen deines modischen Stilgefühls hier. Ich weiß, das kommt überraschend. Lass uns erstmal von hier verschwinden.«