4,99 €
Ägyptologiestudentin Lisa Franks, schon immer fasziniert von Verschwörungstheorien und parawissenschaftlichen Ideen, taucht neugierig in die Welt des technologiekritischen Vereins Der Schutzbund e.V. ein. Doch was als hippieeskes Campingabenteuer in den Alpen beginnt, endet in einem Albtraum, als zwei Menschen grausam getötet werden. Franks hat zu viel gesehen, und der Mörder weiß es. Peter Conrad, Anthropologe und Dauerstudent, hatte die tragischen Ereignisse längst vergessen, die sich sechs Jahre zuvor bei der Erforschung eines Tesla-Labors in Jugoslawien zutrugen. Und auch an die Schädel mit den unerklärlichen Veränderungen hat er lange nicht mehr gedacht. Aber als Lisa Franks jetzt bei ihm Hilfe sucht, holt ihn die Vergangenheit ein: Kann es sein, dass zwischen dem obskuren Schutzbund und den Toten von damals eine Verbindung besteht? Auf der Suche nach der Wahrheit geraten Conrad und Franks in ein Ränkespiel skrupelloser Wissenschaftler und militärischer Geheimdienste. Zu spät wird ihnen klar, dass auch ihr Leben auf dem Spiel steht...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2019
Ägyptologiestudentin Lisa Franks, schon immer fasziniert von Verschwörungstheorien und parawissenschaftlichen Ideen, taucht neugierig in die Welt des technologiekritischen Vereins Der Schutzbund e.V. ein. Doch was als hippieeskes Campingabenteuer in den Alpen beginnt, endet in einem Albtraum, als zwei Menschen grausam getötet werden. Franks hat zu viel gesehen, und der Mörder weiß es.
Peter Conrad, Anthropologe und Dauerstudent, hatte die tragischen Ereignisse längst vergessen, die sich sechs Jahre zuvor bei der Erforschung eines Tesla-Labors in Jugoslawien zutrugen. Und auch an die Schädel mit den unerklärlichen Veränderungen hat er lange nicht mehr gedacht. Aber als Lisa Franks jetzt bei ihm Hilfe sucht, holt ihn die Vergangenheit ein: Kann es sein, dass zwischen dem obskuren Schutzbund und den Toten von damals eine Verbindung besteht?
Auf der Suche nach der Wahrheit geraten Conrad und Franks in ein Ränkespiel skrupelloser Wissenschaftler und militärischer Geheimdienste. Zu spät wird ihnen klar, dass auch ihr Leben auf dem Spiel steht...
Für die Phiale
Romane von STILLER & STILLER
Kommissar-Keller-Krimis:
INFORMIUM – Tödliches Experiment
GREEN MAMBA – Schatten des Todes
Peter-Conrad-Reihe:
DIE ERSTEN – Peter Conrads erster Fall
BLUT – Peter Conrads zweiter Fall
MASCHINE – Peter Conrads dritter Fall
MASCHINE – EIN FALL FÜR PETER CONRAD
Barry & Dana Stiller
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit schriftlicher
Genehmigung des Herausgebers wiedergegeben werden. Alle Ereignisse, Personen, Orte,
öffentlichen und privaten Einrichtungen, Behörden, Firmen und Markennamen in
diesem Roman sind entweder frei erfunden oder werden fiktiv verwendet.
Umschlaggestaltung: Mighty-C.
Umschlagfotografie: Seelhammer Photographie | www.seelhammer.de
Autorenfotos: Seelhammer Photographie | www.seelhammer.de
Alle Karten und Illustrationen: Stiller & Stiller
Sie finden Stiller & Stiller bei Facebook unter @StillerBooks
Sie finden Stiller & Stiller im Internet unter www.stillerstiller.com
Bilbiografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter
dnb.dnb.de abrufbar.
Herausgeber: Jochen Seelhammer, Raiffeisenstr. 20, 57577 Hamm
Der Titel ist als E-Book bei der tolino media GmbH & Co. KG,
Albrechtstr. 14, 80636 München erschienen.
© 2019 by Stiller & Stiller
BARRY & DANA STILLER
MASCHINE
Seit fast einer Woche war sie nun hier, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob dem eine gute Idee zugrunde lag. Ihre Neugier, ihr Faible für okkulte Geschichten und Verschwörungstheorien hatten ihr letztlich keine Wahl gelassen und sie—nach einem dreitägigen 'Info-Seminar' in Hamburg—schließlich ins Hochgebirge der Tiroler Alpen gebracht. Hier oben war die Luft dünner als auf Meereshöhe, aber deutlich weniger verseucht, wie ihr Rainbow eindringlich versichert hatte.
Alles hatte vor etwa einem Monat seinen Anfang genommen. Eine Kommilitonin aus der Ägyptologie hatte ihr begeistert davon berichtet, dass schon zu Beginn des Alten Reiches vor fast fünftausend Jahren Magnetismus und Elektrizität bekannt gewesen und mitnichten Erkenntnisse der letzten hundert Jahre seien. Den ersten Teil hatte Lisa Franks mit einem Schulterzucken als nicht besonders aufsehenerregend abgetan—schließlich war es leicht vorstellbar, dass man den Kompasseffekt schon erkennen konnte, wenn man einen Eisennagel auf ein schwimmendes Holzplättchen legte und beobachtete, wie sich dieses 'Floß' in einer wassergefüllten Schale langsam zum magnetischen Nordpol hin ausrichtet. Den Teil mit der Elektrizität hatte sie ohne weiteres Nachdenken als Spinnerei eines leicht zu begeisternden Erstsemesters eingestuft.
Als Trixi daraufhin zu Bedenken gab, dass die Ägypter von Anfang an größten Aufwand betrieben hatten, um möglichst viel Bernstein in die Finger zu bekommen, und dass 'sehr zuverlässige Quellen' dokumentierten, dass das Volk der Pharaonen äußerst interessiert an den elektrischen Phänomenen gewesen sei, wurde sie hellhörig. Nachdem ihre Kommilitonin dann die sogenannte Bagdad-Batterie und ihren vermuteten Verwendungszweck als Hilfsmittel zur Galvanisierung von Metallgegenständen ins Spiel gebracht hatte, machte Lisa sich in der Bibliothek des Institutes schlau und stellte fest, dass man den Zweck des 1936 gefundenen Tongefäßes, welches als eben jene Bagdad-Batterie in die Geschichte der Archäologie eingegangen war, kaum überzeugender erklären konnte.
Wie sich bald herausstellte, war Trixi—oder Beatrice, wie die italienische Studentin mit richtigem Namen hieß—weniger an der wissenschaftlichen Erklärung von Phänomenen interessiert. So wie sie es sich erklärte, hatten die frühgeschichtlichen Völker Fähigkeiten, die dem heutigen 'Zivilisationsmenschen' in einer 'durchindustrialisierten' Gesellschaft vollkommen abhanden gekommen waren. Die alten Ägypter hätten sich nicht mit Elektrizität beschäftigt, weil ihnen an einer Energiequelle gelegen gewesen sei, für die sie keinerlei Verwendung hatten. Vielmehr hätten sie schnell bemerkt, dass bestimmte Erscheinungen, wie beispielsweise die elektrische Aufladung einer größeren Menge von Bernstein, 'Auswirkungen auf das Bewusstsein' haben konnte. Und auf die Frage, warum sich ausgerechnet die frühägyptische Kultur mit den Auswirkungen elektrischer Ladungen beschäftigte, obwohl Bernstein vor Ort überhaupt nicht vorkommt, sondern über Tausende von Kilometern vom damaligen Ende der Welt hergeschafft werden musste, hatte Beatrice eine–wie Lisa fand–schlüssige Theorie: Die Völker an der Ostseeküste hätten die Auswirkungen elektrostatisch aufgeladener Bernsteinklumpen nur sehr selten beobachten können, weil die Luft an der See zu feucht war. Das extrem trockene Wüstenklima Ägyptens hingegen habe isolierende Wirkung, und so bliebe die Energie so lange im Bernstein, bis ein leitfähiges Material, zum Beispiel schwitzige Haut oder ein Stück Metall, für einen kleinen Entladungsblitz sorgte.
Was ein elektrostatisch aufgeladener Klumpen urzeitlichen Baumharzes nun mit dem menschlichen Bewusstsein anstellen würde, konnte Beatrice nicht erklären. Sie wisse nur, dass wissenschaftliche Experimente aus jüngster Zeit einen deutlichen Zusammenhang zwischen energetischer Aufladung und abnormen Bewusstseinszuständen bei 'empfänglichen' Personen bewiesen hätten.
Es musste das Wort 'energetisch' gewesen sein, welches Lisa dazu verleitete, lauthals zu lachen und die Frage zu stellen, ob das Auftreten von 'abnormen Bewusstseinszuständen' bei bestimmten Leuten nicht eher mit der Verabreichung bewusstseinsverändernder Substanzen im Zusammenhang stand.
Jedenfalls hatte Beatrice seit dieser Aussage kein Wort mehr mit ihr gewechselt; leider völlig vorhersehbar und aus Beatrices Sicht auch noch gerechtfertigt, wie Lisa fand. Sie ärgerte sich darüber, denn gerade, als die Beobachtung eines alltäglichen Vorganges nicht mehr naturwissenschaftlich erklärt werden sollte, sondern die unaufhaltsame Reise in die unergründlichen Weiten der Esoterik antrat, hatte sie es gründlich vermasselt. Wahrscheinlich hatte sie sich durch ihre kurze Unbeherrschtheit um einen spannenden Diskurs gebracht, der das Potential von Aliens, Vegetarismus, Homöopathie, Schamanismus, Kreationismus oder anderen Religionen hatte.
Wie ein farbiges Band aus Grün und Blau zog die Landschaft vorbei. Eine endlose Schleife aus wolkenlosem Himmel und dunklen Nadelwäldern, gelegentlich unterbrochen von kleineren umgepflügten Ackerflächen und scheinbar abgegrasten Wiesen. Doch es waren keine Tiere zu sehen und niemand arbeitete auf den Feldern, obwohl vereinzelt landwirtschaftliches Gerät herumstand. Und selbst die erstaunlich gut ausgebaute Landstraße, die sich in beständigem Auf und Ab und mit großzügigen Bögen durch die eintönige Landschaft schlängelte, schien von der einheimischen Bevölkerung—sofern es sie in dieser Region überhaupt in nennenswertem Maße gab—kaum benutzt zu werden. Wenn er sich nicht verzählt hatte, dann waren ihnen in der vergangenen Stunde sieben PKWs, ein Motorrad und ein maroder Lastwagen entgegengekommen. Aber woher sollten auch Leute kommen—und wohin sollten sie denn fahren? Abgesehen von einigen verlassen aussehenden Gehöften war ihnen eine Stadt, oder wenigstens ein Dorf, genauso wenig begegnet wie eine Tankstelle. Lediglich gepflegt und gleichförmig aussehende, jedoch von keinem Reisenden besuchte Rastplätze zogen in Abständen von einigen Kilometern an den verschmierten Fenstern vorbei.
Er lehnte den Kopf an die Scheibe der Beifahrertür und bemühte sich, trotz allem die Augen offen zu halten. Was romantischere Gemüter als idyllisch beschrieben hätten, fand er einfach nur todlangweilig. »Mann, Mann, ganz schön viel Gegend hier«, murrte Conrad lauter, als er beabsichtigt hatte.
Doktor Jobisca Jovanovic, der momentane Fahrer und gleichzeitig Ausgrabungsleiter ihres Teams, blickte mit rollenden Augen kurz zu seinem Beifahrer, enthielt sich aber jeden Kommentars.
»Aber eine schöne Gegend«, schob der Anthropologe linkisch nach.
»Ist schon gut, Peter. Uns ist allen bekannt, was du von unserem Slowenien hältst, dem schönsten Teil des großartigen Jugoslawien. Das sage ich immerhin als Serbe.« Er klopfte eine neue Morava aus der Packung und zündete sie mit seinem kitschig verzierten Benzinfeuerzeug aus angelaufenem Silber an. »Aber gehst du in euren Bayerischen Wald, sieht es genauso aus.«
Conrad wedelte affektiert mit dem linken Arm, hustete gekünstelt und kurbelte die Seitenscheibe ein wenig herunter. »Wie weit ist es denn noch?«
»Mir ist langweilig!«, krakeelte Johanna von hinten. »Wie lange ist es noch?«
»Ich muss groß«, legte Sascha nach.
Der ganze Bus lachte, und als Ferdinand Holzer, den man wegen seiner technischen Kenntnisse auf diese Grabungskampagne mitgenommen hatte, jammerte: »Ich hab mir in die Hose gemacht«, konnte auch Conrad nicht mehr ernst bleiben und stimmte in das anhaltende Gelächter ein.
Nach weiteren fünfzig Minuten, in denen sich Topographie und Vegetation praktisch nicht verändert hatten—außer, dass die Überlandstraße schlechter wurde und seit rund dreißig Kilometern die adretten Rastplätze ausblieben—steuerte Jovanovic den rostigen T2 des Archäologischen Institutes der Universität Belgrad auf einen Feldweg aus hartgetrocknetem Schlamm, der in die dichten Wälder auf der rechten Seite führte. Das Fahrwerk des alten Volkswagens krachte und quietschte alarmierend, sodass der Grabungsleiter seufzend bremste und den Wagen fortan im zweiten Gang dahinrumpeln ließ.
Wenn das so weitergeht, wird es dunkel, bevor wir auf der Fläche ankommen, dachte Conrad genervt. »Josbisca, hast du mal eine Zigarette für mich?«
»Du rauchst?«, wunderte der sich und hielt dem Deutschen die Packung Moravas entgegen. »Vorhin hast du noch gehustet.«
»Als Archäologe hat man den Vorteil, dass man seine Laster kampagnenweise ausleben kann. Und auf der Jugoslawien-Grabung rauche ich, habe ich gerade beschlossen«, erklärte er. Außerdem werde ich in dieser Rostlaube permanent zugequalmt. Da kann ich auch gleich selber rauchen. »Zudem sind die Fluppen bei euch so schön billig.«
Jovanovic steckte sich selbst eine weitere Zigarette an. »Wir haben hier die meisten Tabakfabriken in Europa, und die verarbeiten nur den besten Tabak aus dem Orient. In welchem Land gibt es sonst Hunderte Marken für jeden Geschmack; vom Vorsitzenden bis zum Arbeiter?«, dozierte der Serbe. »In Jugoslawien muss man Zigaretten rauchen, mein Freund.«
Conrad gab ihm das schwere Feuerzeug zurück. »Danke Josbisca.«
»Kannst mich Josef nennen, oder Jupp. Das machen alle Deutschen so.«
»Jupp... gefällt mir«, erwiderte Conrad, während er an der Morava zog und darauf achtete, beim Paffen zu bleiben und möglichst wenig Rauch in die Lunge zu ziehen. Trotzdem musste er husten, was 'Jupp' mit einem Lächeln quittierte.
Nach einer Viertelstunde auf der Buckelpiste meldete sich Sascha Schramm von der hintersten Bank. »Bist du dir sicher, dass wir hier noch richtig sind?«
Jovanovic hob beschwichtigend beide Hände, während der VW Transporter den tiefen Spurrillen folgte, die wohl die Fahrzeuge von Waldarbeitern hinterlassen hatten. »Keine Sorge. Wir sind gleich am Haus, das wir als Unterkunft nutzen. Da können wir schlafen heute Nacht.«
»Ach, ich dachte, wir fahren direkt raus zur Ausgrabungsfläche.« Schramm klang enttäuscht.
»Machen wir auch. Aber vorher bringen wir unsere Sachen in die Unterkunft. Heute wird nichts mehr gearbeitet.«
Conrad fragte sich noch immer, wieso die Partner-Universität Berlin ihn als Anthropologen für diese Deutsch-Jugoslawische Grabungskampagne empfohlen hatte. Er wusste nur, dass es um ein rund hundert Jahre altes Industrieobjekt ging, das einem gewissen Gordon Lemarque gehört hatte. Natürlich hatte er die Bibliothek der Universität bemüht, aber über den Mann war dort nichts bekannt. Der Tipp von Reinhard Kammler, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter in der Physik, führte ihn in die Bib der TU Berlin. Dort erfuhr Conrad zumindest, dass Lemarque der Sohn eines französischen Vaters und einer englischen Mutter, sein Fachgebiet die Elektrotechnik und er einige Zeit bei Nikola Tesla beschäftigt gewesen war. Es folgten noch ein paar Literaturverweise, die zum größten Teil ins Leere führten, weil die Bibliothek nicht über die richtigen Quellen verfügte. Die einzig nachprüfbare Quellenangabe war eine wissenschaftliche Publikation, die ausschließlich aus Integralen und anderen Berechnungen zu bestehen schien und von der Conrad nicht einmal die Einleitung auch nur ansatzweise verstand.
Sein Doktorvater Professor Bergen hatte jedoch kein Zaudern akzeptiert und ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass diese Kampagne seiner Karriere von Nutzen sein könnte, wenn er es nur richtig anstellte. Oder eben nicht. Ob diese kaum verhohlene Anweisung tatsächlich nur fachliche Gründe hatte oder Bergen einen alten Freund unterstützte—was Conrad vermutete, da der Professor eigentlich Ägyptologe war—war nicht klar. Doch wenn es dazu führte, dass es mit seiner Dissertation voran ging, dann sollte es ihm letztlich recht sein. Trotzdem war er mit einer gehörigen Portion Skepsis nach Jugoslawien gereist. Zugegeben, die Vorabinformationen zur Kampagne waren spärlich und merkwürdig, aber es bestand von außen betrachtet keinerlei Grund zur Sorge. Und doch war ihm aus irgendeinem Grund nicht wohl bei dem Vorhaben...
Der nördlichste Landesteil der 'Förderalen Republik', Slowenien, hatte bis zum Zusammenbruch des Kaiserreichs unter habsburgischer Herrschaft gestanden. Trotz einiger lokaler Konflikte wegen des gegen Ende des Jahrhunderts aufkeimenden Nationalbewusstseins, hatte es in dieser Zeit keinen Bürgerkrieg und keinen Angriff von außen gegeben. Massengräber oder Ähnliches waren hier also nicht zu erwarten. Genauso wenig rechnete er mit mumifizierten Leichen, seinem Spezialgebiet. Vielleicht war die zeitliche Angabe aber auch eine Finte gewesen, und es ging tatsächlich um einen Fundplatz aus mittelalterlicher Zeit oder—noch besser—aus dem Neolithikum. Er würde bald erfahren, warum um diese Kampagne so eine Geheimniskrämerei betrieben wurde.
Schleierhaft erschien Conrad auch die Anwesenheit von Ferdinand Holzer. Nicht, dass der nicht nett wäre und durch seine naturwissenschaftliche Prägung andere Gesprächsthemen auf den manchmal arg langen Abenden einer Ausgrabung ermöglichte. Doch er hatte keinerlei Ahnung von archäologischer Arbeitsweise, was bedeutete, dass man jeden Handgriff im Blick haben musste und von ihm fairerweise kein sebstständiges Arbeiten erwarten konnte. Holzer war Elektrotechniker, studierte aber mittlerweile Physik. Das Studienfach passte immerhin zum Objekt, aber Conrad bezweifelte, dass man den Studenten vor Ort benötigen würde. Bei einer Notgrabung an der Autobahn nahm man schließlich auch keine Straßenbauer mit. Und selbst wenn die Funde fachliche Unterstützung erforderlich machen sollten... Auf einer Ausgrabung wurde praktisch keine wissenschaftliche Auswertung der Funde gemacht, da wurde gesichert, konserviert, archiviert und dokumentiert. Natürlich gab es medienwirksame Kampagnen, die mit sechsstelligen Budgets ausgestattet waren und teils über Jahre gingen; dort fand manchmal eine kontinuierliche Auswertung statt, aber nicht bei einer drei- bis vierwöchigen Nummer mit einem halben Dutzend Studenten, wie er sie aktuell vor der Brust hatte. Und wenn es um kniffelige Altersbestimmungen ging, dann war man mit einer erfahrenen Laborkraft (oder in der ältesten Altsteinsteinzeit mit einem Geologen) besser bedient. Klar, Holzer würde mit einer Radiokarbondatierung—wobei Conrad bezweifelte, dass sich ein entsprechendes Labor in der näheren Umgebung fand—keine Probleme haben. Aber auch in diesem Fall galt: Naturwissenschaftliche Altersbestimmung findet nicht auf der Grabungsfläche statt. Er konnte sich einfach keinen Reim auf all das machen. Nur eines war sicher: Fräulein Meppen, die Institutssekretärin hatte es geschafft, ihm diese 'spannende Kampagne' mit 'garantiert gewinnbringenden Erkenntnissen' für seine gerade begonnene Doktorarbeit schmackhaft zu machen (sicherlich aufs Detaillierteste von Professor Carl Bergen instruiert), um ihn auf eine einmonatige Fahrt ins Blaue zu schicken...
Jovanovic knuffte ihn mit dem Ellenbogen in die Seite und beendete seine Grübelei. »Da vorne ist unser Hotel, Leute. Braucht ein bisschen Renovierung, ist aber sehr gemütlich.« Er kurvte durch das Eingangstor, dessen schmiedeeiserne Flügel vermutlich längst bei einem Schrotthändler waren oder bei einem einheimischen Bauern als Stalltüren zweckentfremdet weiterlebten, und ließ den ursprünglich blau-weiß lackierten Transporter neben dem verwilderten Buschwerk, welches das alte Herrenhaus umrahmte, ausrollen. Mit viel Kraft und lautem Knarzen betätigte er überflüssigerweise die Handbremse und zog den Zündschlüssel ab. »Darf ich bitten auszusteigen, meine Herrschaften? Und nehmt euer Gepäck mit. Werkzeug bleibt im Wagen.«
Conrad betrachtete missmutig das marode Gemäuer, behielt seine Meinung aber vorerst für sich. Das Haus sah fürchterlich aus. Wenn Häuser mit Rissen in den vor vermutlich hundert Jahren hellgrün gestrichenen Außenmauern, durch die man die ganze Hand stecken konnte, hierzulande lediglich als renovierungsbedürftig galten, dann wollte er sich nicht ausmalen, wie ein Gebäude aussehen mochte, für das das Prädikat 'sanierungsbedürftig' ausgerufen wurde.
Natürlich ließ sich die schwere hölzerne Eingangstür nicht vollständig schließen, was die Frage nach einem Schlüssel überflüssig machte.
»Außer Bären kommt hier sowieso niemand vorbei«, erklärte Jovanovic feixend, als er Conrads Blick bemerkte.
»Na, wenn weiter nichts passieren kann, dann ist ja alles in bester Ordnung«, murmelte der Doktorand.
Im Inneren des für hiesige Verhältnisse großen Hauses sah es kaum besser aus. Der einst vorhandene Dielenboden war bis auf wenige Bretter entfernt worden und gab den Blick auf gestampften Lehm frei. Selbstredend gab es kaum intakte Fensterscheiben; man konnte schon froh sein, wenn Bretter das fehlende Glas ersetzten. Vergeblich blickte Conrad sich nach einer Möglichkeit um, seine persönlichen Sachen zu verstauen. Es gab weder Schrank, noch Sessel oder Tisch—und seinen extra für diese Kampagne neu angeschafften Schlafsack musste er wohl auf einer der schätzungsweise zehn rostigen Metallliegen ausbreiten, die jemand bereits an den Wänden des hohen Zimmers aufgestellt hatte, das rechter Hand vom Flur abging.
»Ich schlafe in dem Zimmer ganz hinten«, verkündete der Grabungsleiter in einem Ton, der keinen Widerspruch erlaubte.
»Lass mich raten, da gibt es eine abschließbare Zimmertür, einen Boden und ein Bett«, raunte Johanna Günsche dem Elektrotechniker zu.
»Ja, und vermutlich Strom.«
»Meinst du echt?«, fragte die Studentin mit großen Augen.
»War ein Witz. Aber im Ernst: Ich habe nichts dergleichen gesehen. Schau dich um. Wenn wir Pech haben, gibt es hier weder ein Bad noch warmes Wasser.«
»Da geh mal fest von aus«, schaltete sich der üblicherweise dauerfröhlich gestimmte Schramm ein. »Ich wette, in diesem Loch gibt es noch nicht einmal kaltes Wasser. Das ist doch einfach nichts weiter als eine verlassene Ruine in einem einsamen Wald, in der seit der Kaiserzeit keiner mehr gelebt hat.«
»Von Ratten und Mäusen einmal abgesehen«, ergänzte Holzer.
»Und vergesst nicht die Bären, Leute.« Alle Blicke richteten sich auf Conrad, der resignierend die Schultern hob. »Was soll's. Wenn es mir zu blöd wird, muss ich eben draußen zelten–so sehr ich es auch hasse.«
»Dein Bär wird sich freuen«, frotzelte Schramm.
Conrad winkte ab und suchte den Ausgrabungsleiter in dem Raum auf, den dieser so schnell für sich reklamiert hatte. »Ist das dein Ernst?«
»Was erwartest du?«, fragte Jovanovic, während Conrad das Zimmer durch die tatsächlich intakte Tür betrat. »Die Universität hat kein Geld, und hier in der Gegend gibt es kein Hotel oder eine Pension.«
»Das verlangt auch keiner, aber ein... Blockhaus oder eine kleine Datsche, in der es wenigstens Waschmöglichkeiten und elektrischen Strom gibt, habe ich—und ich denke, ich spreche da auch für die anderen—irgendwie schon erwartet.« Er blickte sich um. »Du hast hier zumindest einen Fußboden, einen Stuhl und einen Tisch.«
Der Serbe reagierte nicht und kramte in seinem Seesack.
»Ich meine das ernst, Jupp. Das ist ein dreckiges Loch, eine verlassene Ruine. So lässt sich doch keine Grabungskampagne durchführen.«
Jovanovics bislang so jovialer Ton wurde unerwartet frostig, während er weiter nach irgendetwas suchte. »Was willst du? Wir haben einen Generator und genug Sprit. Mit dem können wir Licht machen; auf der Fläche werden wir das bestimmt brauchen. Und am Abend machen wir sowieso Feuer. Da kann jeder seinen Kochtopf drüber halten. Hinter dem Haus gibt es einen Bach. Und wenn jemand zum Arzt muss, haben wir auch noch ein Auto. Also, was?« Er drehte sich zu ihm um. »Ihr habt hoffentlich alle Zelte dabei wie geplant. Wer nicht im Haus schlafen will, muss das nicht machen.«
Conrad war zu perplex, um auf die plötzlich schroffe Art des Grabungsleiters etwas Passendes zu erwidern. »Ich dachte ja nur, man könnte sich vielleicht nach etwas anderem umschauen... Bisher lief ja auch alles reibungslos...«
»Genau, bis jetzt gab es auch kein Problem, Peter.« Jovanovic bedeutete ihm, das Zimmer zu verlassen. »Merk dir: Ich bin ein Gemütsmensch, aber Schnaps ist Schnaps und Arbeit ist Arbeit. Ich hoffe das ist allen klar.«
Kochend vor Wut und unablässig den Kopf schüttelnd stapfte Conrad zurück in den 'Schlafraum'. »Der Arsch hat das alles vorher gewusst, und der meint das ernst mit dieser Bruchbude. Ach, und außerdem: Wasser oder Strom gibt es natürlich nicht, falls euch das noch nicht klar ist.« Er trat gegen eine der rostigen Liegen, woraufhin diese promt auseinander brach.
»So ein blöder Wichser«, murmelte Günsche.
»Ich verstehe das nicht. Der war doch die ganze Zeit über richtig nett«, sagte Schramm.
»War, Sascha! Du sagst es«, stellte Holzer klar. »Bis jetzt hatte der Arsch ja auch noch keinen Grund, pampig zu werden.«
»Wenn mir das zu blöd wird, setze ich mich in den Bulli und bin weg«, verkündete Conrad, immer noch wütend umhergehend. »Ich sag euch dann Bescheid.« Er trat erneut gegen das kaputte Metallgestell. »Wieso steht hier eigentlich ein Dutzend von diesen rostigen Schrottgestellen?«
»Weil nächsten Donnerstag noch fünf Studenten von mir aus Belgrad dazukommen werden.« Niemand hatte Jovanovic bemerkt, der mit einem Mal im Rahmen des türlosen Raums stand. »Ihr werdet sehen, ihr werdet euch gut verstehen. Und betrachtet es doch einfach so: Wann bekommt ihr im Westen schon einmal die Gelegenheit, jeden Abend ein großes Lagerfeuer zu machen und selbstgeschossenes Wild darüber zu braten, ohne dass ihr im Gefängnis landet?«
Nach einer halben Stunde hatte Jovanovic die zwei Studenten und Holzer, der wie Conrad an einer Doktorarbeit schrieb, offensichtlich davon überzeugt, dass die Situation nicht so schlimm war und man das Ganze unter dem Abenteueraspekt sehen musste. Conrad hingegen hatte seine Meinung kaum geändert, ließ sich aber nichts anmerken. Er würde den ersten Besuch der Ausgrabungsstelle und den Abend abwarten.
Wenigstens war seine Sorge bezüglich ihrer Verpflegung verschwunden, denn in einem abschließbaren Metallcontainer hinter dem Haus gab es genügend Vorräte für die nächsten zwei bis drei Wochen; selbst, wenn sich ihre Zahl vor dem Wochenende verdoppeln würde. Außerdem befand sich hier, oberhalb des erwähnten Bachlaufes, eine unerwartet gemütliche Terasse, auf der auch ein gemauerter Feuerplatz angelegt worden war... Man würde sehen.
Um kurz vor sechs rief Jovanovic zum Aufbruch. Bevor es dunkel wurde, wollte er seinen deutschen Grabungsteilnehmern noch eine kurze Einweisung in den Fundplatz geben, bevor sie morgen mit den ersten Arbeiten beginnen würden. Keiner der vier Grabungsteilnehmer wusste bisher mehr über die Fundstelle, als Conrad im Vorfeld von Fräulein Meppen erfahren hatte, und so war das Interesse groß.
Weil man heute keine Gerätschaften oder Werkzeuge mehr auf der Fläche brauchte, marschierte der kleine Trupp auf dem unbefestigten Weg, der am Haus vorbeiführte, etwa einen Kilometer weiter in den Wald hinein.
Vor der Gruppe tat sich eine weite Lichtung auf, in deren Zentrum sich ein verfallenes Backsteingebäude imposanter Größe befand. Der Bau erinnerte Conrad an die dreischiffigen Fabrikhallen der Gründerzeit und bestand aus einem hohen Erdgeschoss mit großen Fensterflächen, in dem sich üblicherweise die Produktion abspielte, und einem aufgesetzten Mittelschiff, in dem Verwaltung und Chefetage untergebracht waren. Auf dem Dach befanden sich mehrere turmähnliche Aufbauten, von denen nur noch die Metallskelette erhalten waren. Von dort, wo sie standen, erkannte man Eisenbahnschienen, die in einer zugewachsenen Schneise im Wald verschwanden und durch ein großes Schiebetor in den roten Ziegelbau führten.
»Beinahe drei Wochen haben wir gebraucht, um das Gelände von Brombeerengestrüpp, mannshohen Gräsern und kleinen Bäumen zu befreien«, verkündete Jovanovic stolz. »Jeden Abend haben wir dort hinten im Feuerlöschteich das ganze Zeug verbrannt. Natürlich erst, nachdem wir uns versichert hatten, dass die Betongrube fundleer war und lediglich den Humus der vergangenen hundert Jahre enthielt. Wenn ihr also dort verbrannte Überreste findet oder Holzkohle, dann ist die rezent«, setzte er augenzwinkernd hinzu.
Keiner erwiderte etwas auf seine Ausführungen. Alle schienen—wie Conrad—mit dem Versuch beschäftigt, sich einen Reim auf dieses seltsame Grabungsareal zu machen.
»Was ihr dank unserer bisherigen Aufräumarbeiten vor euch sehen könnt, ist das Hauptgebäude der Lemarque-Fabrik, in der Gegend damals besser bekannt unter der Bezeichnung Zeche Prometheus.«
»Wer ist eigentlich wir?«, fragte Günsche mit teilnahmsloser Stimme.
Man merkte dem Grabungsleiter an, dass er diese Frage nicht erwartet hatte. »Meine Studenten«, erwiderte er einsilbig und stapfte los in Richtung des Eisenbahntors.
Schramm und Holzer grinsten und bezeugten der Kommilitonin mit hochgestreckten Daumen ihren Respekt.
»Gut gemacht, Johanna«, flüsterte Conrad. »Trotzdem werde ich ihm den Gefallen tun, denn ich würde jetzt brennend gern wissen, was an dieser alten Fabrikhalle so toll ist, dass mich die Uni hier hinschickt.«
Jovanovic hatte das Lemarque-Gebäude fast erreicht, als Conrad, der mit den Studenten am Rand der Lichtung stehengeblieben war, rief: »Hey, Chef, was machen wir hier? Solche Ruinen aus der Industrialisierung gibt es bei uns in Wuppertal zu Dutzenden!« Der Serbe sollte merken, dass die Wogen aus Conrads Sicht längst nicht so gut geglättet waren, wie er offensichtlich glaubte.
Der Professor blieb stehen, drehte sich um und wartete, bis die kleine Gruppe aufgeschlossen hatte. »Das ist die Lemarque-Fabrik, Leute!«
Conrad wollte Jovanovic noch nicht vom Haken lassen, obgleich er bemerkte, dass Holzer ein Licht aufging. Bevor der Student zu einer Erklärung ansetzte, musste Conrad seine Provokation zum Abschluss bringen: »Was ist denn ein Lemarque?«
Jovanovics Gesichtsfarbe nahm einen dunkleren Ton an, aber er hatte seine Emotionen im Griff, als er auf die offensichtliche Provokation antwortete: »Ich habe vergessen, dass ihr keine richtigen Wissenschaftler, sondern nur Geisteswissenschaftler seid...« Er blickte zu dem Doktoranden der Physik. »Gordon Lemarque war ein bekannter Physiker. Zu Beginn seiner Karriere hat er fast fünf Jahre als Assistent für Nikola Tesla gearbeitet. Den kennt aber wohl jeder, oder?« Er wartete das wissende Nicken aller ab, bevor er fortfuhr: »Als Tesla gegen 1900 in die Vereinigten Staaten auswanderte, eröffnete Lemarque sein eigenes Unternehmen und ließ sich genau hier nieder.«
»Aha«, murmelte Schramm. Der Rest schwieg, immer noch wenig beeindruckt.
Jovanovic seufzte, sichtlich enttäuscht, dass auch die Verbindung zu dem berühmten kroatischen Ingenieur kaum die Begeisterung der Studenten weckte. »Mann, Mann. Ferdinand, wenigstens du solltest Gordon Lemarques Forschungen kennen.«
Der Angesprochenen zuckte mit den Schultern. »Tesla und seine Arbeit kenne ich natürlich. Lemarque... Der Name sagt mir was, aber was der Mensch gemacht hat? Nicht die geringste Ahnung.«
Der Ausgrabungsleiter brummte etwas, das Conrad nicht verstand, und bedeutete ihnen zu folgen.
Im Inneren der großen Halle war es dunkler, als er erwartet hatte, denn praktisch alle noch vorhandenen Scheiben waren blind, und die Rückseite des Gebäudes besaß keine Fenster. Nachdem sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte er enttäuscht, dass die gesamte Fabriktechnik—was auch immer hier produziert worden war—schon vor langer Zeit demontiert und fortgeschafft worden war. Dass hier einst große Maschinen gestanden hatten, ließ sich nur noch anhand von Betonsockeln und den beeindruckenden Gewindebolzen erkennen, an denen sie damals verankert waren. Nicht einmal Werkbänke oder ähnliche Einrichtungsgegenstände waren vorhanden. Die anscheinend so bedeutende Fabrik von Gordon Lemarque war nichts weiter als eine leergeräumte und dem Verfall überlassene Produktionshalle aus der Jahrhundertwende, deren Boden mit Schutt und verrostetem Metallschrott bedeckt war. Das einzige erwähnenswerte Innenleben des Gebäudes bestand aus einer stählernen Freitreppe, mitten im Raum, die ehemals in drei Etappen in das obere Stockwerk geführt hatte, das schätzungsweise acht Meter über ihnen lag. Allerdings war nur noch das untere Drittel der Treppe erhalten, und das in einem wenig vertrauenerweckenden Zustand. Der obere Teil lag verbogen neben der baufälligen Stahlkonstruktion im Bauschutt.
»Lemarque hat sein Geld hauptsächlich mit der Fabrikation von Transformatoren und modernen Wechselstromgeneratoren für die Energiewirtschaft verdient. In dieser Halle wurden sie produziert«, startete Jovanovic endlich seine Erklärung. »Lemarques Produkte genossen bis zum Ende des Kaiserreiches einen hervorragenden Ruf, aber schon nach dem Ersten Weltkrieg begann im neugegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen der Niedergang seiner Firma. Das junge SKS-Königreich, beziehungsweise SHS, wenn man unsere Schreibweise berücksichtigt, war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und die Rahmenbedingungen für unternehmerische Tätigkeiten verschlechterten sich zusehends. Doch zu dieser Zeit hatte sich Lemarque bereits intensiv der Forschung zugewandt und beschäftigte sich immer mehr mit dem, was man heutzutage abschätzig als 'Parawissenschaften' bezeichnet. Lemarque starb bereits in den dreißiger Jahren—die meisten Quellen gehen von 1936 aus—und zu diesem Zeitpunkt wurde das Werksgelände auch aufgelassen. Als es dann zum Zweiten Weltkrieg kam und das Land 1941 besetzt wurde, war die Transformatorenfabrik längst eine verfallene Ruine. Nach dem Krieg wurde dann schließlich die heutige Sozialistische Republik Jugoslawien gegründet; und infolge der anfänglichen Nähe zum großen Bruder Sowjetunion wurden die noch übrig gebliebenen Produktionsmittel abmontiert, in Züge verfrachtet und weit nach Osten transportiert, wo sie fortan für die Produktion von Motoren für Elektrolokomotiven eingesetzt wurden. Ob das heute immer noch so ist, ist mir nicht bekannt, aber für unsere–«
»Das sagt uns immer noch nicht, was hier für uns von Interesse ist«, schnitt Ferdinand Holzer ihm das Wort ab.
»Geduld. Ich bin gleich mit der Einleitung am Ende.« Jovanovic zog eine Morava aus der Packung und ließ sich Zeit beim Anzünden. »Wenn ihr besser vorbereitet wärt, hätte ich gleich zum Punkt kommen können«, schob er leise hinterher. »Wenigstens von unserem Physiker hatte ich mehr erwartet...«
»Was soll das heißen?«, empörte sich Conrad. »Ich habe, weiß Gott, versucht, mehr über dieses Projekt in Erfahrung zu bringen, aber die Universität, oder vielmehr die Leitung unseres Instituts, hat aus dieser Kampagne ein riesiges Geheimnis gemacht. Und ich denke, den anderen ging es ganz genau so. Das hast du doch hoffentlich schon bemerkt. Und so wichtig kann dein Lemarque wohl nicht sein, wenn selbst Ferdinand kaum etwas über ihn weiß.«
Jovanovic hob abwehrend die Hände. »Alles in Ordnung, Leute. Ich jedenfalls habe diese Geheimniskrämerei nicht verlangt. Ich habe lediglich durchblicken lassen, dass man mich bei Rückfragen möglichst nicht über mein Institut kontaktieren soll.« Er nahm einen tiefen Zug. »Außerdem sind wir, wie gesagt, mit dem Vorspann zu Lemarque fast durch. Viel mehr habe ich euren Professoren auch nicht erzählt, als ich um fachliche Verstärkung gebeten habe. Damit wir uns nicht falsch verstehen... Die gesamte Aktion ist sozusagen inoffiziell, komplett unter dem Radar meiner Universität. In Belgrad würde man es kaum billigen, dass ich Wissenschaftler aus dem Westen hinzuziehe. Hängt mich also nicht hin, wenn ihr—was ich nicht glaube—irgendwann Kontakt mit offiziellen Vertretern habt. Trotzdem halte ich mein Vorgehen für gerechtfertigt. Aber ihr werdet noch früh genug verstehen, was ich meine...«
»Deswegen diese Baracke als Unterkunft«, folgerte Günsche.
»Genau, Johanna. Ich konnte natürlich nicht den regulären Weg gehen. Man hätte Fragen gestellt und, was noch schlimmer wäre, uns bei jeder Bewegung auf die Finger geschaut.«
Conrad wollte etwas erwidern, doch Jovanovic gab ihm zu verstehen, dass er noch nicht fertig war. »Als Erstes möchte ich klarstellen, das die Situation von vorhin, hmm... unglücklich war. Ich gebe zu, dass die Umstände nicht so spurlos an meinem Nervenkostüm vorübergehen, wie es vielleicht anfangs den Anschein hatte. Doch noch einmal: Das richtet sich nicht gegen euch.«
Conrad und die anderen nahmen seine verklausulierte Entschuldigung schweigend entgegen.
»Ich habe neben Archäologen mit Bedacht einen Anthropologen und jemanden mit guten Kenntnissen in der Elektrotechnik angefragt. Dazu erfahrt ihr später mehr. Ich würde sagen bei einem ordentlichen Feuer, tschechischem Pils und gegrilltem Schwein.«
»Angenommen«, ergriff Conrad das Wort. »Aber ein wichtiger Teil deiner Geschichte steht noch aus.«
Jovanovic deutete auf das Skelett der halb eingestürzten Treppe, die früher durch das Dach der Halle ins Obergeschoss geführt hatte. »Da liegst du vollkommen richtig, Peter. Unser Interesse gilt, unter anderem, tatsächlich dem Raum über unseren Köpfen. Doch worum es geht bei dieser Unternehmung, erzähle ich euch nachher—jedenfalls alles, was ich bisher durch meine eigenen Nachforschungen herausfinden konnte. Für den Moment sollten wir jedoch den Heimweg antreten. Es wird bald dunkel, und ohne geeignete Bergsteigerausrüstung kommen wir nicht da hoch. Außerdem möchte ich euch, wie ich schon gesagt habe, vorher so genau ins Bild setzen, wie es mir möglich ist.«
»Kommt man nicht durch eine Außentreppe oder etwas Ähnliches da oben rein«, meldete sich Sascha Schramm das erste Mal, seit sie in der Halle waren, zu Wort.
Doktor Jovanovic schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Es gibt keine Treppe oder Feuerleiter oder so etwas, was außen am Gebäude nach oben führt. Und selbst, wenn man die gut sechs Meter bis zur Dachrinne der Fabrikhalle erklettert, hat man absolut nichts gewonnen. Man steht vor einer durchgängigen Ziegelwand, die bis heute weitestgehend unbeschädigt ist.« Er führte die Gruppe ohne weitere Erklärung aus der ehemaligen Produktionshalle zum Rand der Lichtung und blieb stehen. »Man kann das aufgesetzte Obergeschoss auch von hier nicht ganz sehen, aber es fällt schon auf, dass keine Fenster oder sonstige Unterbrechung in der Mauer zu erkennen sind. Ihr könnt mir glauben, dass das auch auf der anderen Seite so ist. Eine durchgängige Ziegelmauer.«
»Tatsache«, murmelte Conrad.
»Der einzige Weg in das Obergeschoss führt durch die Öffnung in schätzungsweise acht Metern Höhe in der Hallendecke—und das hat seine Gründe, wie ihr noch feststellen werdet.«
»Das ist doch völlig verrückt!«, entfuhr es Günsche.
»Exakt. Und falls jemand auf die schlaue Idee kommt, man könnte über das Dach in den Ziegelsteinbunker eindringen, dem sei gesagt, dass auch dieses intakt ist und aus Spannbeton besteht.« Jovanovic lächelte schief. Holzer setzte zu einer Antwort an, doch der Grabungsleiter winkte ab. »Ich habe Hunger und Durst, Freunde. Alles Weitere beim Essen.«
Lange hatte Lisa Franks überlegt, wie sie vorgehen sollte, um mehr über diese Elektro-Smog-Leute zu erfahren; letztlich hatte sie eine Kommilitonin angesprochen, die ihr wegen ihres sonderbaren Verhaltens geeignet erschien. Die junge Frau erfüllte neben der obligatorischen Grundvoraussetzung, niemals ihre Kopfbedeckung abzunehmen, noch einige andere Kriterien, von denen Lisa annahm, dass sie zur Gemeinschaft der Aluhüte passen könnten. So saß die Auserkorene während der Vorlesungen immer etwas abseits, offenbar darauf bedacht, keinen direkten Sitznachbarn zu haben. Sie setzte sich niemals in die Nähe des Overheadprojektors, des Videoschranks oder eines anderen elektrischen Gerätes, und sie ging niemals nah an ihnen vorbei, sondern wählte im Zweifelsfall den deutlich längeren Weg hinter den obersten Sitzreihen, um den Vorlesungssaal zu verlassen. Wenn sich jemand mit einem dieser sündhaft teuren mobilen Computer in ihrer Nähe niederließ, wechselte sie sogar während der Veranstaltung den Sitzplatz.
Was die Ägyptologin endgültig von der Eignung des Untersuchungsobjektes überzeugt hatte, war die Beobachtung, dass das 'Aluhutmädchen', wie sie in Lisas Gedanken hieß, nicht das mensaeigene Besteck aus Metall benutzte, sondern stets ein stabiles Kunststoffbesteck bei sich führte, das sie nach dem Essen sorgfältig mit einer Serviette abwischte und in ein ledernes Etui steckte. Vielleicht werden über das komplexe Netz von Wasserleitungen aus Metall ja auch Gehirnstrahlen und energetische Felder transportiert, hatte Franks damals feixend gedacht.
Vor drei Wochen hatte sie sich schließlich ein Herz gefasst und sich an den Tisch begeben, an dem das Aluhutmädchen gerade mit den akribischen Vorbereitungen für ihr vegetarisches Mittagessen begann. »Hallo, ist hier noch frei?«
Die Angesprochene musterte sie mit einem ausdruckslosen Gesicht und zuckte dann mit den Schultern, sagte aber nichts.
Herzlichen Glückwunsch, dachte Lisa, das wird eine harte Nuss. Sie nahm einen Schluck Mineralwasser (sie hielt das für die unverfänglichste Alternative) und begann damit, die Spaghetti auf ihre Gabel zu drehen. Wie sollte sie das Gespräch mit einer mürrischen Schnecke beginnen, die den Blick nicht von ihrem Essen hob? »Ganz schön warm geworden, was?«, versuchte sie es, zog die juckende Wollmütze vom Kopf und legte sie neben ihren Teller.
Das Aluhutmädchen blickte auf, starrte ihr für einige Sekunden in die Augen und widmete sich dann wieder ganz ihrem spärlichen Mahl aus Salatblättern und ein paar rohen Möhren.
Franks seufzte aufwendig. »Dir ist die Mütze wohl nicht zu warm?«
Erneut dieses abschätzende Starren und die folgende Beschäftigung mit dem Essen.
War sie zu aufdringlich gewesen, hatte sie auch diese Gelegenheit vermasselt?
»Doch, schon«, murmelte die Studentin zu Franks' Überraschung.
Darauf bedacht, die Situation möglichst unverdächtig zu halten, aß Lisa schweigend ihre Nudeln. Erst nach einer Minute machte sie einen neuerlichen Versuch. »Ist so eine Art Schutz, oder?«
Wieder dieser Blick.
»Gegen Hautkrebs und so. Man liest ja in letzter Zeit so viel darüber.« Sie beschloss, aufs Ganze zu gehen. »Wenn du mich fragst, dann hat das mit der Sonne nichts zu tun. Ich glaube, die setzen irgendwelche Gifte frei, um die angebliche Überbevölkerung zu beseitigen.«
Nach einer weiteren kurzen Abwägung taute das Aluhutmädchen endlich auf. »Was glaubst du, warum die das Wasser völlig unnötigerweise mit extra Kohlensäure versetzen?« Sie klackerte mit ihrem Plastikmesser gegen Lisas Wasserglas. »Wenn du dich gegen die schützen willst, solltest du besser darauf achten, was du zu dir nimmst.«
Franks schob das Getränk auf den leeren Platz neben sich. »Okay, und was schlägst du als harmlosere Lösung vor? Ich meine, hier könnte doch überall was drin sein.«
Die Studentin tippte gegen ihre mitgebrachte Keramiktasse. »An der Theke gibt es umsonst heißes Wasser. Das ist wahrscheinlich auch nicht ganz sicher, aber immerhin abgekocht. Ist auf jeden Fall das mit Abstand Harmloseste, was es hier gibt.« Sie biss ein Stück von der mittlerweile vierten Karotte ab. »Wenn du willst, dann kannst du ja Teeblätter dazutun. Aber nimm nur welche, von denen du die Herkunft lückenlos kennst. Ich mache das so, ist das kleinste Übel.«
»Hört sich nach einer guten Idee an.« Etwas Sinnvolleres fiel Franks nicht ein.
»Aber nimm bloß keinen Zucker!«
»Aha...«
»Das ist Industriezucker. Angeblich aus weißen Rüben gewonnen und in komplizierten chemischen Prozessen tausendfach raffiniert.«
»Nee, das will keiner zu sich nehmen«, stimmte Franks zu. »Ich bin übrigens Lisa.«
Die Mützenträgerin ignorierte die ausgestreckte Hand. »Laura-Estelle«, antwortete sie, nachdem sie erneut ihren Taxierungsblick angewendet hatte. »Aber alle nennen mich Rainbow.«
Es dauerte zwei Tage meistenteils unverbindlicher Unterhaltung und interessierter Fragen, bis Franks der Meinung war, genügend Vertrauen aufgebaut zu haben, um wieder auf Rainbows Kopfbedeckung anzuspielen. »Aber ich bin immer noch neugierig, was es mit den Mützen auf sich hat. Das ist doch kein Zufall, dass ich in letzter Zeit immer mehr Studenten sehe, die ihre Kopfbedeckung praktisch niemals absetzen.«
Rainbow stöhnte genervt. »Ist wahrscheinlich so ein Modetrend nehme ich an, was weiß ich denn?«
»Aber nicht bei dir, Rainbow«, demonstrativ nahm Franks ihre neue Mütze aus dünnem T-Shirt-Stoff ab und legte sie zusammengenknüllt neben ihren Tee. »Jetzt komm schon, du setzt sie niemals ab. Wovor schützt die, wenn nicht vor der UV-Strahlung?«
»Ja, genau, vor der Strahlung«, murmelte Laura-Estelle alias Rainbow.
»Du meinst, die laufen hier alle deswegen Tag und Nacht mit Strickmützen durch die Gegend?« Überspann den Bogen jetzt nicht, Lisa, ermahnte sie sich.
»Die meisten sind Spinner. Modetrend, wie ich schon gesagt habe. Das gibt sich wieder, nächstes Semester ist was anderes dran.«
Sie setzte alles auf eine Karte. »Rainbow, du tust nichts ohne gründliche Überlegung, so viel habe ich schon mitbekommen; und selbst mir kannst du nicht weismachen, dass man sich in geschlossenen Räumen, weit entfernt von jedem Fenster, vor der ultravioletten Strahlung der Sonne schützen muss—und zwar nur auf dem meistens von dichtem Haarwuchs geschützen Kopf, zumindest bei Frauen. Außerdem schirmen die Glasscheiben sowieso das meiste ab.«
Rainbow lehnte sich unter lautstarkem Ausatmen zurück und setzte für einen Moment wieder ihren unangenehmen Röntgenblick ein. »Also schön, Lisa. Ist dir eigentlich klar, dass wir die ganze Zeit bestrahlt werden? Wahrscheinlich nicht. Wenn dich wirklich interessiert, was tatsächlich vorgeht in diesem Staat, dann gebe ich dir den Tipp, dich beim Schutzbund gründlich informieren zu lassen. Wenn du danach noch tiefer... einsteigen willst, reden wir weiter. Aber sei gewarnt: Wenn du erst einmal eingeweiht bist, ist die Welt für dich nicht mehr das, was sie vorher war. Es gibt dann kein Zurück mehr.« Mit dieser Warnung stand sie auf, ließ ihren Teebecher auf dem langen Tisch stehen und verließ die Cafeteria des Ethnologischen Instituts.
Gegen zweiundzwanzig Uhr hatten sich alle Grabungsteilnehmer satt gegessen und den Durst mit importiertem Pilsener gestillt. Die Sonne war vollständig untergegangen und man genoss es, größtenteils schweigend in das prasselnde Feuer zu blicken.
Schließlich hielt Conrad es nicht mehr aus. »Ich denke, es ist an der Zeit, uns diese Kampagne ein wenig schmackhafter zu machen, Jupp.« Er bemühte sich, einen möglichst versöhnlichen Ton anzuschlagen. Wie er bereits erfahren hatte, schaltete der Serbe auf mürrische Einsilbigkeit, wenn er sich irgendwie angegangen fühlte.
Jovanovic fischte sich eine Zigarette aus der Packung und bot Conrad die letzte an, die der nach kurzem Zögern nahm. »Die offizielle Geschichte der Transformatorenfabrik des Gordon Lemarque habe ich euch erzählt, was jetzt kommt, ist der Grund unserer Expedition.« Er gab Conrad Feuer, zündete seine eigene Zigarette an und ließ eine erstaunliche Wolke entweichen. »Es ist wohl einer dieser mysteriösen Zufälle, dass sich in fast fünfzig Jahren niemand näher mit dem oberen Stockwerk auf dem Dach der Fabrik beschäftigt hat, obwohl der Zugang nach oben nie wirklich versperrt war. Seit der Auflassung 1936 und der späteren Demontage hat einfach keiner einen Gedanken an dieses abgelegene Gebäude verschwendet. Und der Großteil der Bevölkerung war sowieso mit anderen Dingen als dem kulturellen Erbe beschäftigt. Wenn ihr euch fragt, warum ausgerechnet ich mich dafür interressiere... Nun, ich bin gewissermaßen mit der Lemarque-Fabrik, der Zeche Prometheus, aufgewachsen.«
»Dieses verfallene Haus hier...«, wunderte sich Günsche.
»Jawohl, Johanna. Wir sitzen auf der Terrasse meines Elternhauses.«
Für einige Augenblicke schwiegen alle, dann fuhr Jovanovic fort: »Die Gegend hier war schon immer dünn besiedelt und praktisch jeder, der keinen großen Hof besaß—es gab hier genau einen—arbeitete damals in der Lemarqueschen Transformatorenfabrik. Doch nur eine Handvoll Menschen hat je das obere Stockwerk betreten. Jene Mitarbeiter, die Lemarque in sein fensterloses Büro gerufen hat, das direkt am Treppenaufgang lag, wussten nichts Außergewöhnliches zu berichten. Abgesehen von der merkwürdigen Bunkeratmosphäre sei es ein normales Büro gewesen, in dem neben Lemarque selbst nur noch sein Assistent, Prokurist, Buchhalter und Mädchen für alles, Lloyd Raymond Ward, am gegenüberliegenden Schreibtisch arbeitete. Alle Wände waren bis zur Decke mit Regalen bedeckt, die lückenlos mit Aktenordnern und Fachliteratur gefüllt waren. Eine Sekretärin gab es genauso wenig, wie einen Besprechungsraum. Bis auf ein paar Ausnahmen fand jeglicher Kontakt der Arbeiter mit dem Firmenchef in der Produktionshalle statt. Selbst seine Geschäftspartner empfing er dort; und wenn ein ruhigerer Platz für Verhandlungen gesucht wurde, zog er sich mit seinen Gästen außerhalb der Mittagszeit in die dann leere Firmenkantine zurück.«
»Kein Wunder, dass der pleite gegangen ist«, murmelte Holzer.
»In der Tat, diese Vermutung ist nicht unbegründet und wird von vielen geteilt. Lemarque war nicht gerade ein geborener Geschäftsmann und schon gar kein Mann, der sich in der Öffentlichkeit wohlfühlte oder sich in Kreisen schwerreicher Industrieller adäquat bewegen konnte. Er galt zeitlebens als genialer Spinner—ähnlich wie sein Vorbild und Mentor Nikola Tesla.« Nach einem letzten Zug warf er die Morava in die Glut und legte Holz nach. »Zurück zu dem geheimnisumwitterten Aufbau der Fabrikhalle. Wie man sich denken kann, wurde bereits sehr früh über das fensterlose 'Penthouse' auf dem Dach spekuliert. Die meisten gaben sich jedoch mit Lemarques Wunderlichkeit zufrieden und hielten das dunkle Obergeschoss für seine Wohnung, was sicherlich der Wahrheit entsprach. Allerdings habe ich Grund zu der Annahme, dass nur der nach vorne—zum Tor, durch das die Eisenbahnschienen führen—gerichtete Teil, Lemarque als Wohnung diente–«
»Wer will denn in einem fensterlosen Loch wohnen?«, machte Schramm seinen Zweifeln Luft.
»Trotzdem war es so, Sascha. Gordon Lemarque war unbestritten ein seltsamer Kauz, und es ist auch ein Teil unserer Forschungsarbeit herauszufinden, was seine Beweggründe waren.« Der Professor kramte eine neue Packung Morava aus der Innentasche seines unglaublich abgenutzten und beuligen Jacketts. »Selbst wenn jemand ein Wohnen ohne Tageslicht bevorzugt, so muss man sich fragen, warum er zwei Teile daraus machen sollte; unterbrochen durch einen zentralen Büroraum.«
Es war Holzer, der den Gedanken aufgriff. »Sie meinen, in der anderen Hälfte war etwas... anderes? Ein geheimes Labor vielleicht?«
»Exakt, Ferdi. Genau das ist nach meiner Meinung der Fall. Ich fand die verbreitete Ansicht, Lemarque habe seine Forschungsaktivität komplett eingestellt, als er sich von Tesla trennte und sein eigenes Unternehmen gründete, von Anfang an völlig absurd.« Jovanovic stocherte im Feuer, zog eine Flasche Pilsener aus dem halbleeren Kasten und trank sie in einem Zug. »Deswegen war ich der Meinung, dass ich jemanden zur Unterstützung brauche, der sich auf Lemarques Forschungsgebiet hinreichend auskennt.«
Holzer wollte antworten, aber er kam nicht dazu.
»Komm schon, Jupp, das ist noch nicht alles«, drängte Conrad ungeduldig.
»Nun ja, wie das so ist... Letztes Jahr kam mir der Gedanke, ich müsse doch einmal schauen, was aus der alten Transformatorenfabrik geworden ist. Wie sich herausstellte, hatte sich kaum etwas verändert. Es grenzte an ein Wunder, aber nicht einmal die Jugendlichen der Gegend hatten den verlassenen Platz entdeckt, und so ist das alte Gemäuer bis heute in Vergessenheit und somit von Vandalismus und Schmierereien verschont geblieben. Als ich die kaputte Treppe mitten in der Fabrikationshalle sah, fielen mir die alten Gerüchte um Lemarques Privatgemächer wieder ein. Ihr könnt mir glauben, es war nicht leicht, mit einer wackelig verlängerten Holzleiter, zwei Seilen, ein wenig Kletterausrüstung aus Vorkriegstagen und leidlich unterdrückter Höhenangst in den alten Büroraum zu gelangen. Zu meiner größten Überraschung waren die Räumlichkeiten im hinteren Teil durch eine beinahe modern wirkende Stahltür verschlossen. Entweder hatte jemand all die Jahre den Schlüssel und hat Sorge getragen, dass die Tür geschlossen blieb, oder sie war es, seit Gordon Lemarque sein Gebäude Mitte der dreißiger Jahre verlassen hat. Der vordere Teil stellte sich tatsächlich als Wohnung mit Bunkeratmosphäre heraus und war unverschlossen. Sicherlich von Anfang an, denn Schloss, Tür und Rahmen waren unbeschädigt. Die völlig zugestaubte Einrichtung war sehr spärlich, doch scheinbar einigermaßen vollständig. Jedenfalls passte es zu meinem Bild von Gordon Lemarque. Nur von all den persönlichen Dingen, Dokumenten, Unterlagen, Notizen—und auch Hinweisen auf seine Forschungsarbeiten—die man in einem Wohnbereich vermuten würde, gab es keine Spur. Wie es aussah, hat Lemarque diese Sachen mitgenommen oder vernichtet. Ebenso leergeräumt waren sämtliche Regalwände des Bürobereichs. Keine Spur von seinen Aktivitäten.«
»Wir sind also wegen des abgeschlossenen Traktes im hinteren Teil des Dachaufbaus hier«, resümierte Conrad.
Jovanovic nickte. »Es war einer der Auslöser für meine weiteren Unternehmungen. Da Lemarque praktisch über Nacht verschwand und es keine Berichte gab, dass im Vorfeld irgendetwas weggeschafft worden war—und dazu wären sicherlich mehrere Fuhren über die schmale Holperpiste, die an unserer Unterkunft vorbeiführt und auf der wir selbst zum Firmengelände gelangt sind, erforderlich gewesen—bin ich mir sicher, dass sich einiges, was aus Wohnbereich und Büro verschwunden ist, noch irgendwo auf dem Gelände befinden muss.«
»Zum Beispiel in dem abgeschlossenen Teil«, schlug Günsche vor.
Jovanovic schüttelte den Kopf. »Ich glaube das kaum. Was sollte das für einen Sinn haben? Wenn die Sachen im Wohnbereich nicht bleiben konnten, dann waren sie auch im anderen Teil nicht sicher. Auch nicht hinter einer Stahltür. Deshalb—und weil ich sowieso weder Gerätschaften, noch geeignetes Personal für das Aufbrechen der Stahltür habe—habe ich die Erforschung dieses Komplexes bis auf Weiteres verschoben. Da muss jemand mit Erfahrung und einem Schweißbrenner ran... Nein, wenn Lemarque den Großteil seines Lebenswerkes nicht vernichtet hat, dann hat er es ganz bestimmt hier auf dem Gelände versteckt–«
»Deswegen die Rodung der Lichtung!«
»Wieder richtig, Ferdi. Ich habe ein halbes Dutzend Studenten, die mein Vertrauen genießen und geeignet erschienen, rekrutiert und mit ihnen das gesamte Gelände in der vorlesungsfreien Periode gesäubert und prospektiert.«
Die Studenten warteten gespannt auf das Ergebnis dieser Untersuchung.
»Und?«, brach Conrad das Schweigen.
Der serbische Archäologe zögerte. »Nicht viel. Aber es gibt hinter der großen Haupthalle noch einen weiteren Bau, wesentlich kleiner, der die Dieselgeneratoren beherbergt hat, die das Fabrikgelände mit Strom versorgt haben. Das war nicht unüblich, denn mit der Zuverlässigkeit des Stromnetzes war es damals noch nicht weit her; abgesehen davon lag diese Industrieanlage weitab jeder Hochspannungstrasse. Und so wie ich Lemarque einschätze, hätte der sein Werk vermutlich auch dann nicht angeschlossen, wenn es möglich gewesen wäre. Nun, egal. Wichtig ist, dass zu diesem Generatorraum ein weiterer Löschteich mit schätzungsweise zwanzig Quadratmetern Fläche gehört. Nur dass dieses Betonbecken mit mindestens vier Metern wesentlich tiefer ist, als der ebenfalls undichte Hauptlöschteich, in dem wir das Gehölz verbrannt haben.«
»Deswegen braucht man aber immer noch keinen Anthropologen.«
»Nein, deswegen nicht...« Jovanovic warf seine Kippe in die hellorange Glut und zog aus der Innentasche seines abgewetzten Jacketts die linke Hälfte eines menschlichen Unterkiefers.
»Verstehe«, murmelte Conrad.
Der Schutzbund gegen Elektro-Smog e.V., wie der von Rainbow erwähnte Verein mit vollständiger Bezeichnung im Register geführt wurde, hatte seinen Sitz in Hamburg. Weil sie in diesem Semester keine ansprechende Ausgrabungskampagne an Land gezogen hatte und weil die Einführungsseminare wöchentlich stattfanden—wie sich bei einem kurzen Anruf herausstellte—schien Lisa Franks der Besuch einer solchen Veranstaltung eine willkommene Abwechslung. Dass diese dreitägigen Wochenendseminare kostenlos waren, erleichterte ihr die Entscheidung zudem erheblich.
Es war schon erstaunlich, wie eine bestimmte Vorstellung von der Gesellschaft eine scheinbar normale Studentin in das verwandeln konnte, was Franks bei Laura-Estelle (hatte sie eigentlich einen Nachnamen?) beobachtet hatte. Das Aluhut-Mädchen war so misstrauisch, dass man kaum zu ihr vordringen konnte. Sie fühlte sich verfolgt, überwacht und beeinflusst durch Drogen, die in der Luft waren, die sie atmete. An ein halbwegs unbeschwertes Leben war nicht zu denken. Doch laut eigener Aussage war Rainbow nicht allein, und das bestärkte sie selbstverständlich in ihrem Weltbild. 'Mehr Menschen, als du denkst, haben schon verstanden, was vor sich geht, uns sich uns angeschlossen. Aber sie alle sind vorsichtig, in der Regel vorsichtiger als ich. Uneingeweihten geben sie sich nicht zu erkennen', hatte sie erklärt. Man schütze sich am besten, indem man unentdeckt in der anonymen Masse der ahnungslosen Bevölkerung mitschwimme. Wenn man einmal auf dem Radar von 'denen' sei, habe man so gut wie keine Chance. Dass Rainbow bei alledem ruhig und rational wirkte, machte diese Verschwörungstheoretiker—jedenfalls ging Franks fest davon aus, dass sie genau das waren—noch interessanter.
Schon am darauffolgenden Wochenende machte sie sich mit der Bundesbahn auf den Weg von Bonn nach Hamburg. Das Angebot des Schutzbundes, ihr eine vereinseigene und deshalb 'garantiert sichere' Unterkunft für einen Unkostenbeitrag von fünfzig Mark pro Übernachtung zur Verfügung zu stellen, lehnte sie geistesgegenwärtig mit der Begründung ab, sie übernachte bei einer Freundin, die ihre Wohnung in Eigenregie strahlensicher gemacht habe. Dass dieser Vorschlag des Schutzbundes sie misstrauisch gemacht hatte, weil sie ein raffiniertes Geschäftsmodell vermutete, das die kostenlose Seminare durch 'sichere' Unterkünfte gegenfinanzierte, ließ sie nicht durchblicken... Außerdem waren hundert Deutsche Mark für ein Wochenende ziemlich happig, wie sie fand. Sicher hätte ihre Mutter die Kosten übernommen, doch die würde viele Fragen stellen, und dieser Preis war Lisa entschieden zu hoch. So buchte sie sich für ein Fünftel der Summe in einer Jugendherberge in der Nähe des Veranstaltungsortes ein; sie war zuversichtlich, auch dort auf Aluhüte zu treffen, denn—Überzeugung hin oder her—soweit sie wusste, waren die meisten von ihnen ebenfalls Studenten, die nicht über unbegrenzte finanzielle Ressourcen verfügten. Das Wochenende würde sicher spannend werden...
Aus Kostengründen hatte Franks keinen Intercity genommen und war in der Nacht gereist. Zwei Stunden vor Seminarbeginn war sie am Hamburger Hauptbahnhof angekommen und hatte anschließend die S-Bahn Richtung Wandsbeck genommen. Nachdem sie in der kleinen Jugendherberge eingecheckt hatte, waren ihr noch fast sechzig Minuten bis zum Seminarbeginn geblieben, und der Veranstaltungsort war nur schätzungsweise zehn Gehminuten entfernt. Das würde für ein schnelles Frühstück aus Kaffee und zwei Croissants und für ein kurzes Telefonat mit Peter Conrad reichen. Nach kurzer Überlegung jedoch hielt sie es für fruchtbarer, das Gespräch mit dem Freund erst zu führen, wenn sie etwas Spektakuläres zu erzählen hatte—dass dies sicher schon am ersten Abend der Fall sein würde, daran hatte sie keine Zweifel—schließlich hatte Peter keine Ahnung, was sie in den letzten Wochen getrieben hatte. Ihr war aber jetzt schon klar, dass er sich darüber amüsieren würde, dass sie ihrer Faszination für Verschwörungen nachgegeben hatte, obwohl sie ihm gegenüber beharrlich abstritt, für so etwas empfänglich zu sein. Ihr fiel ein, dass auch sie nicht wusste, woran der Berliner Anthropologe derzeit arbeitete, sah man einmal von seiner zähen Doktorarbeit ab. Er hatte irgendetwas von einer Stadtgrabung erzählt, für die er eventuell Untersuchungen im Labor der Universität machen sollte, wusste aber selbst noch nicht einmal, um welche Zeitstellung es gehen sollte und ob das Projekt überhaupt stattfinden würde.
Das Seminarzentrum des Schutzbundes erwies sich als ein leergeräumtes Großraumbüro im ersten Stock eines schmucklosen Gewerbegebäudes, soweit man das von der gegenüberliegenden Straßenseite aus beurteilen konnte. Das Erdgeschoss schien aus nichts anderem als einem Dutzend Garagen mit Wellblechtoren zu bestehen. Auf dem Dach über der Büroetage gab es einen wahren Antennenwald und einige kleine Aufbauten aus Beton. Im ersten Moment war sie enttäuscht, doch was hatte sie erwartet? Der Verein genoss in der Gesellschaft sicherlich keine allzugroße Unterstützung, und genauso wenig in der Politik—wenn man einmal von den Grünen absah, vielleicht. Und die hamburgische Wirtschaft würde den Verein wahrscheinlich am liebsten auflösen... Mit einem Seufzen drückte sie gegen die Haustür und stellte fest, dass sie geschlossen war. Verwundert betätigte sie die unscheinbare Wohnungsklingel mit der akkurat handgeschriebenen Bezeichnung 'Info-Zentrum'.
Mit einem lauten Knacken erwachte die Gegensprechanlage zum Leben: »Guten Tag. Sie wünschen?«
»Äh, zum Seminar des Schutzbundes gegen Elektro-Smog möchte ich«, antwortete Franks verdattert. »Wissen Sie nichts davon? Man hat mir diese Adresse mitgeteilt, da bin ich ganz sicher.«
Die Antwort kam erst nach einigen Sekunden, in denen der Lautsprecher vor sich hin knisterte. »Das ist korrekt. Können Sie sich ausweisen?«
Mit genervt hochgezogenen Brauen sah Franks sich nach einer Überwachungskamera um, konnte aber nichts entdecken. »Lisa Franks. Ich habe mich angemeldet für das Wochenendseminar.«
»Sind Sie auf Empfehlung hier oder sind Sie anders auf uns aufmerksam geworden?«, fragte die tonlose Frauenstimme.
Sie wusste, dass es kontraproduktiv war, aber deswegen ließ sich ihr Zorn noch lange nicht unterdrücken. »Seid ihr bescheuert, ihr Freaks! Ich bin hier, um euer verdammtes Aufklärungsseminar zu besuchen. Rainbow schickt mich. Wie lange wollt ihr mir eigentlich noch mit eurer elektrischen Gegensprechanlage die Birne verstrahlen?«
Einen Augenblick später öffnete sich die Eingangstür mit einem leisen Klicken.
»Die haben aber ganz mächtig einen an der Mütze«, murmelte Franks leise, während sie die Treppe ins Obergeschoss nahm, und grinste über den gelungenen Kalauer.
An der Tür aus weißem Resopal begrüßte sie eine dickliche Blondine, die beinahe einen Kopf kleiner war als sie. »Du musst entschuldigen«, erklärte die farblose Stimme, »wir müssen uns schützen. Bevor man sich versieht, schleusen die einen Maulwurf ein, der uns dann von innen überwacht. Alles schon da gewesen.«
Franks verdrehte die Augen. »Du musst das gelbe Einhorn sein«, flüsterte sie verschwörerisch, während sie die kleine Türsteherin mit dem verdutztem Gesichtsausdruck zurückließ.
Das Auffälligste an dem kahlen Raum war die komplette Auskleidung mit Unmengen engmaschigem Metallgitter. Sogar über den Fenstern hatte man ein feines Drahtgeflecht angebracht, das Lisa von außen aber nicht aufgefallen war. Kopfschüttelnd blickte sie zu dem Drahtverhau, der die gesamte Decke überzog. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass eine massige Gestalt schnell auf sie zuhielt.
Eine riesige Pranke streckte sich ihr entgegen. »Ich bin Baldur von Schaffensberger, zweiter Vorsitzender des Bundes.« Der Mann war glatzköpfig, trug einen beeindruckenden Vollbart und einen zu engen, billig aussehenden schwarzen Anzug. »Unter dem Teppich ist natürlich eine geschlossene Stahlblech-Abschirmung, falls du dich fragst.«
»Ja, natürlich.« Sie entschloss sich zu lächeln und ergriff seine Hand. »Lisa. Lisa Franks. Rainbow hat mir den Tipp gegeben, mich bei euch zu informieren.« Sie ließ die Pranke los und sah sich kurz um. »Man weiß ja überhaupt nicht mehr, was man noch machen soll«, schob sie nichtssagend hinterher.
Der Koloss erwiderte das Lächeln. »Da hast du vollkommen Recht. Aber dafür gibt es ja uns.«
»Hier kann man wenigstens mal den Kopf frei machen.« Schon wieder ein toller Scherz, freute sie sich. Sie nahm ihre Mütze ab, die sie schon am Vorabend mit Alufolie ausgekleidet und erst beim Verlassen der Jugendherberge aufgesetzt hatte. »Man schwitzt ja ganz schön unter der Abschirmung.«