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Mitten in der ägyptischen Wüste stößt das Ausgrabungsteam um Peter Conrad auf ein riesiges Gräberfeld. Schnell wird den Archäologen klar, dass hier einiges nicht zusammenpasst. Die Mumien lassen sich nicht datieren und zeigen Anzeichen von schweren Erbkrankheiten. Und auch die religiösen Inschriften, mit denen der Fundort übersät ist, geben Rätsel auf. Während Ägyptologin Lisa Franks Hinweise entdeckt, dass bereits die Nazis hier unter höchster Geheimhaltung gegraben haben, wird ein Mitarbeiter des Teams erstochen aufgefunden. Zur gleichen Zeit wird Ost-Berlin von einer Mordserie erschüttert, die den Volkspolizei-Hauptmann Josef Keller mit einer Verschwörung konfrontiert, deren Ursprung in Zeiten des Dritten Reiches liegt und anscheinend mit den Ereignissen in Ägypten in Zusammenhang steht. Nach einem Überfall auf das Grabungshaus können Peter und Lisa aus Ägypten fliehen. Doch das ist erst der Anfang einer tödlichen Jagd nach einer Geheimgesellschaft im geteilten Berlin.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
INFORMIUM
Tödliches Experiment
STILLER & STILLER
Für Johanne und Luise.
INFORMIUM
Tödliches Experiment
Barry & Dana Stiller
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit schriftlicher
Genehmigung des Herausgebers wiedergegeben werden. Alle Ereignisse, Personen, Orte,
öffentlichen und privaten Einrichtungen, Behörden, Firmen und Markennamen in
diesem Roman sind entweder frei erfunden oder werden fiktiv verwendet.
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Umschlag- und Autorenfoto: Seelhammer Photographie | www.seelhammer.de
Alle Abbildungen, Fotografien, Karten und Illustrationen,
sofern nicht anders vermerkt: Stiller & Stiller
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter
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Herausgeber: Jochen Seelhammer, Raiffeisenstr. 20, 57577 Hamm
Der Titel ist als E-Book bei der tolino media GmbH & Co. KG,
Albrechtstr. 14, 80636 München erschienen.
ISBN 978-3-752-10737-1
© 2016 by Stiller & Stiller
Ägyptische Wüste, Oase Faiyum
Wie jeden Morgen folgte er dem großen Hauptgraben, um zu seinem Heim zu gelangen. Durch den Staub und Dreck von Jahrhunderten war der Boden dort weicher als auf den harten Steinplatten außerhalb des Hohlweges. Er hatte keine Ahnung, wer dieses architektonische Meisterwerk von scheinbar endlosen Wegen mit seinen unglaublich vielen Verzweigungen gebaut hatte. Soweit seine Erinnerung zurückreichte, gab es diese gleichmäßig breiten Gräben. Letztlich brauchte es ihn auch nicht zu kümmern, Hauptsache, er kam schnell zum Ziel und verlief sich nicht – obwohl diese Gefahr bei näherer Betrachtung kaum bestand. In seiner Umgebung kannte er jedes Sandkorn. Und falls er den Weg in seine Behausung nach den nächtlichen Streifzügen einmal doch nicht mehr fand, konnte er sich jederzeit eine neue Bleibe suchen. Genaugenommen war eh eine Bude in dieser Gegend wie die andere. Gedanken an Schlaf und Gemütlichkeit nachhängend setzte er seinen Weg nach Hause fort.
Auf die letzte große Kurve seines Heimatgrabens freute er sich immer besonders, auch wenn er noch so müde Beine hatte. Mit Schwung und Geschwindigkeit hinein, durch das subtile Zusammenspiel von Schwer- und Fliehkraft auf Kurs gehalten. Das war sein morgendlicher Spaß, bevor er schlafen ging. Ob die Baumeister der Vergangenheit diese Steilkurven extra für solche Typen wie ihn angelegt hatten? Wahrscheinlich nicht, der Aufwand schien ein wenig übertrieben für das bisschen Nervenkitzel. Trotzdem musste man sich nach dem Sinn so mancher Grabenanlage fragen. Zum Beispiel endeten Wege plötzlich, so als seien die Erbauer nicht fertig geworden. Doch das war unwahrscheinlich, denn diese Sackgassen waren teilweise sehr lang, und am Ende fehlte oft nur ein kurzes Stück bis zum nächsten Hohlweg. Außerdem waren diese Endstücke oft perfekt gerundet und genauso glatt poliert wie die Seitenwände der Gräben. Warum sollte man so bauen?
Noch absonderlicher erschienen die in sich geschlossenen Anlagen. Einige führten in konzentrischen Halbkreisen über das Felsplateau oder bildeten schlichte parallele Geraden. Andere liefen in komplizierten Windungen durch den Fels oder wiesen ein wechselndes Muster von Zickzack-Linien auf. Zudem waren diese abgeschlossenen Grabensysteme in der Regel etwas schmäler als die großen Hauptgräben für die langen Distanzen. Doch allen war gemeinsam, dass sie nicht an andere Gräben anschlossen. Man kam nur in sie hinein, indem man aus den Hauptverkehrsgräben an der richtigen Stelle herauskletterte und ein Stück Plateau überquerte. War man einmal in diese Gräben hineingeklettert, konnte man nur zwischen Anfang und Ende hin- und herlaufen. Natürlich ließen auch hier weder die Form des Grabenweges noch die Enden den Zweck der Anlage erahnen. Bei den geschlossenen Hohlwegen konnte man wenigstens endlos im Kreis rennen, zugegebenermaßen nicht der übelste Zeitvertreib. Fitness brachte es allemal.
Darüber hinaus boten die v-förmigen Vertiefungen im Gestein einen gewissen Sichtschutz, der bei ihm zu einem diffusen Geborgenheitsgefühl führte. Rational betrachtet billigte er den Gräben allerdings kaum echte Sicherheitswirkung zu. Im Gegenteil, einem möglichen Angreifer konnte man vielleicht schlechter ausweichen, wenn man die Verkehrsgräben benutzte; aber wer wusste sowas schon genau. Einer seiner Brüder meinte einmal, man solle sich über Dinge, die nicht zu ändern sind, auch keine allzu aufwendigen Gedanken machen. Vermutlich kam man mit einer Portion Fatalismus ganz gut durchs Leben – doch er war eben ein Grübler.
So vieles hatte sich in letzter Zeit geändert. Es war laut, hektisch, heiß und viel zu hell geworden, und etliche seiner Bekannten waren auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen. Manche verschwanden einfach, andere fand man zerquetscht auf dem Felsplateau. Die, die mit abgetrennten Gliedmaßen oder herausquellenden Därmen eine kurze Weile überlebten, erzählten immer die gleiche Geschichte, bevor sie starben: Ohne Vorwarnung hatte sie ein monströser Gegner aus dem Nichts attackiert. Nachdem er ihnen die tödlichen Verletzungen beigebracht hatte, entschwand der Mörder schnell und spurlos. Eine Chance hatte man niemals. Erstaunlicherweise kam es nur am Tag zu solchen Überfällen; er hatte von keinem Opfer gehört, das in der Nacht ermordet worden war.
Aber es gab zwischen Morgendämmerung und Sonnenuntergang noch andere Bedrohungen als den großen Killer. Weniger tödlich, doch dafür umso häufiger anzutreffen. Ihm selbst war dieser Angreifer in den letzten zwei Wochen sechsmal über den Weg gelaufen. Auch dieser Feind tauchte plötzlich auf, und nach einem heftigen Schlag musste man sich, meist nach einer kurzen Bewusstlosigkeit, aus dem Dreck kämpfen und seinen Weg erneut antreten. Völlig schwindelig, verwirrt und mit unsäglichen Kopfschmerzen irrte er dann umher, bis er schließlich sauer und übermüdet nach Hause fand.
Am besten lief man bei Tageslicht gar nicht mehr draußen herum. Aber woher sollte man so genau wissen, wann es hell wurde? Die morgendliche Dämmerung war schon immer das Signal, den Heimweg anzutreten. Dass man also in der Morgensonne sein Zuhause erreichte, ließ sich nicht so leicht ändern – und eigentlich wollte er das auch nicht.
Warum war das Leben nur so verrückt geworden? Jeden Tag grübelte er, zu einer Erkenntnis kam er nie. Und doch wurde er das Gefühl nicht los, dass seine geliebten Verkehrsgräben irgendwie Mitschuld an dieser Misere trugen. Hoffentlich blieb er wenigstens heute verschont.
Faiyum
Donnerstag, 27. Oktober 1988
Mit einem routinierten Schwung pinselte Lisa den Staub aus einer sorgfältig gemeißelten Namenskartusche und fegte dabei einen kleinen, schwarzen Mistkäfer weg. Er fiel in den Sand zu ihren Füßen und kam strampelnd auf dem Rücken zu liegen. Einen Moment überlegte sie, ob sie dem Käfer auf die Beine helfen sollte. Oder zertrat sie ihn besser, bevor er in ihren Sandalen auftauchte und einen Anfall von Ekel verursachte? Sie unternahm nichts; der Skarabäus tat ihr fast leid. Was wusste das arme Tier schon von der Schufterei grabender Archäologie und dem quälenden Hunger nach Erkenntnis, für die sie die Hitze, das schlechte Essen und das miserable Grabungsleben auf sich nahm?
Für dieses Insekt war sie mit Sicherheit nur ein Störenfried und die eingravierten Hieroglyphen höchstens ein Hindernis auf dem Weg zur nächsten Mahlzeit. Sei froh, dass du dir keine Fragen nach Sinn oder Unsinn stellen kannst, dachte sie. Dann fuhr sie fort, den mit altägyptischen Zeichen übersäten Steinblock für eine genaue Dokumentation sauber zu pinseln.
Lisa blinzelte gegen die Sonne, sah auf den rundum beschrifteten Sandstein und seufzte. Das Licht schien so grell, dass bunte Ringe hinter ihren Augenlidern tanzten. Die Hitze kochte sie in ihrer langärmeligen Bluse und der weiten, khakifarbenen Arbeitshose, aber ohne lange Kleidung war es noch weniger erträglich. Nicht nur wegen des schnell eintretenden Sonnenbrandes, sondern auch wegen der Blicke und Tuscheleien der arabischen Grabungshelfer.
Schicksalsergeben stapfte die junge Frau um ihr Studienobjekt herum, bis die Morgensonne in ihrem Rücken stand und ihr langer Schatten quer über die Schriftzeichen fiel. Besser. Mit einem frischen Papier auf dem Zeichenbrett und gespitztem Bleistift machte sie es sich so bequem, wie es der kieselige Sandboden zuließ, und begann zu kopieren.
Die Hieroglyphen gingen ihr leicht von der Hand, denn sie kannte die meisten auswendig. Solche, die ihr bisher selten untergekommen waren, schlug sie sorgfältig in ihrer Gardiner-Zeichenliste nach. Lisa hatte sich fest vorgenommen, auf ihrer ersten Grabung keine Fehler zu machen. Wenn sie so gut arbeitete, dass der berüchtigt pedantische Bergen nichts an ihrer Arbeit auszusetzen fand, konnte sie ziemlich sicher sein, endlich einen Fuß in die Tür der Ägyptologie gesetzt zu haben. Sie dürfte kaum Schwierigkeiten haben, bei weiteren Ausgrabungen angestellt zu werden und später eine Stelle in Forschung oder Lehre zu finden. So malte sie es sich wenigstens aus. Sie war höchst erstaunt gewesen, als der Grabungsleiter des Professors sie vor zwei Monaten ansprach. Ihre Stärke lag ganz klar im philologischen Bereich. Sie besaß ein Talent für alte Sprachen und Schriftsysteme, und normalerweise waren das nicht die Leute, die man zu einer jungen Grabung wie dieser mitnahm. Schließlich wusste niemand, wie viele beschriftete Objekte überhaupt zu bearbeiten sein würden.
Lisa gab dem großen Steinquader grinsend einen kameradschaftlichen Klaps. Nun hatte sie ihre ersten Schriftzeichen schon nach weniger als einer Woche gefunden...
Den Vormittag hindurch und nach der üblichen fünfstündigen Mittagspause kam sie gut voran. Im Verlauf des späten Nachmittags erlahmte ihr Eifer, aber sie war mit dem Ergebnis ihrer Arbeit zufrieden. Sie hatte drei Seiten des Quaders vollständig kopiert und mit Thomas’ Hilfe fotografisch dokumentiert. Die Einmessung mit dem Theodoliten hatten sie und Paul am Vortag erledigt, nachdem Lisa bei der ersten Begehung des Grabungsabschnittes auf die Oberkante des Steinquaders gestoßen war. Eben als sie erwog, sich an die vierte Seitenfläche zu begeben, tönte ein Ruf über die Grabungsfläche. Irgendetwas unverständlich Arabisches, das das Ende des Arbeitstages verkündete. Mit spitzem Mund zog Lisa eine letzte, gerade Kartuschenkante, klappte die Schutzfolie auf die Zeichnung und warf ihre Arbeitsgerätschaften in den Koffer. Die Sonne stand tief und verfärbte sich bereits rot. Wie das Morgenlicht zog auch die Dunkelheit hier schnell herauf. Vor der Abfahrt zur Unterkunft musste die Grabungsmannschaft noch die profanen Aufgaben erledigen, die jede Ausgrabung begleiteten: Reinigen und sorgfältiges Wegschließen der Werkzeuge. Die technische Ausrüstung, den Stromgenerator sowie den tragbaren Toshiba T1100 verluden sie auf die Jeeps, um sie ins sichere Grabungshaus mitzunehmen. Die Gerätschaften hatten mehr gekostet als der Arbeiterlohn für die ganze Saison, und Ersatz konnten sie in Ägypten kaum beschaffen. Außerdem enthielten sie am Ende des Tages die gesammelten Messdaten, und wenn die verlorengingen...
Lisa musste ihren Gerätekoffer heute selbst zum Jeep schleppen. Ihre Mappe mit den Zeichnungen trug sie unter den Arm geklemmt. Mit der freien Hand nahm sie im Vorübergehen noch ein paar Maßbänder und zwei Grabungskellen mit. Je eher sie hier fertig wurden, desto früher durften sie alle sich in die Schlange vor der Dusche einreihen. Möglichst bevor das Wasser in der aufgeschnittenen Tonne auf dem Dach der Mannschaftsunterkunft kalt oder aufgebraucht war.
Neben dem Jeep stand Peter Conrad, der sich lauthals mit einem der älteren Arbeiter unterhielt. Der Grabungsleiter sah in seiner weiten Armeehose und dem staubigen Hemd nicht anders aus als die Studenten, dachte Lisa. Sie wusste über ihn nur, dass er Anfang dreißig war und an seiner Doktorarbeit in der Anthropologie schrieb. Außerdem war er als wortkarg bekannt. Bei ihr hinterließ das den Eindruck, als hätte er eigentlich Besseres zu tun, als sich mit Studenten abzugeben. Von einigen Kommilitoninnen hatte sie gehört, dass er ganz in Ordnung war, aber die zählten nach Lisas Meinung zu den Suppenhühnern. Die studierten bloß, um innerhalb der nächsten Semester einen Mann in guter Position mit solidem Einkommen abzugreifen. Ihr Typ war dieser Conrad jedenfalls nicht. Er war nur unwesentlich größer als sie und insgesamt etwas schmal. Athletisch hatte Suppenhuhn Inga gemeint, die vor zwei Jahren an einer von Bergens Grabungen hatte teilnehmen dürfen. Lisa schnaufte, als sie an das Gespräch zurückdachte.
Sie war jetzt nah genug, um den aufgebrachten Tonfall des Vorarbeiters zu hören. Bestimmt ging es um die donnerstägliche Auszahlung der heimischen Grabungshelfer. Sie machte einen scharfen Bogen in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden.
»Lisa!« Peter unterbrach seinen arabischen Redeschwall. Dem Unausweichlichen folgend wandte sie sich ihrem Chef zu. Man konnte eigentlich nicht übersehen, dass sie schwitzte, bepackt war wie ein Lastesel und am liebsten nicht stehengeblieben wäre. Aber dieser Conrad übersah es mit Leichtigkeit.
Peter sah die Studentin mit einem entnervten Gesichtsausdruck über das Geröll stolpern. Mit schlechtem Gewissen fiel ihm ein, dass er sie und den vermutlichen Türsturz völlig vergessen und den ganzen Tag nicht nachgesehen hatte, wie sie zurechtkam. Dabei wusste er, dass es seine Aufgabe als Grabungsleiter war, gerade auch den Anfängern unter die Arme zu greifen.
»Na, Lisa, wie sieht’s aus? Bist du mit dem Bauschutt durch?«, fragte er darum bemüht, interessiert zu klingen. Es gelang ihm wohl nicht, jedenfalls sah diese Lisa aus, als hätte sie gern Unflätiges geantwortet. Mahmad brummte auf Arabisch etwas über aufsässige Westlerinnen; und nicht zum ersten Mal teilte Peter die Meinung seines Vorarbeiters. Er behielt seine Ansichten allerdings für sich, weil sich viele der Männer sowieso feixend das Maul zerrissen.
»Nicht ganz. Ich hab’ die Kopien soweit fertig. Morgen muss ich die Unterseite kontrollieren.«
»Eingemessen ist aber alles?«
Wieder dieser beleidigte Blick. Lisa ging ihres Weges.
Peter ärgerte sich – über den Auftakt, den diese Saison nahm, und sich selbst.
Als er eine halbe Stunde später in seinem Zimmer saß, war es vor seinem Fenster bereits stockdunkel, eine ägyptische Nacht wie die meisten. Wirkliche Ruhe herrschte jedoch selten. Vom Summen der Mücken, die um den undichten Wassertank hinter dem Grabungshaus schwärmten, bis zum steten Gemurmel der Grabungsmannschaft gab es viele Geräuschquellen. Peter bezweifelte nicht, dass sich das wenigstens im Bezug auf seine Mitarbeiter geben würde. In drei Monaten würden sie so wenige Worte wechseln, dass man ihre Truppe für den Ausflug einer Taubstummenschule halten könnte. Vielleicht passierte das in diesem Jahr schneller als sonst, denn es war ein gemischter Haufen, in dem es unablässig brodelte. Besonders dieser Thomas Meller schien ein Talent zu haben, für Unruhe zu sorgen. Seit dem ersten Tag stritt er mit der einzigen ägyptischen Studentin von der Kairoer Universität. Worum es dabei ging, wusste Peter nicht und wollte es auch nicht unbedingt wissen. Er hatte genug Grabungen erlebt, wo die Chemie einfach nicht stimmte. Entweder schlugen sie sich die Köpfe ein, oder nach zwei Wochen sprach niemand mehr miteinander. Schön, sollte ihm recht sein.
Peter starrte noch immer aus seinem kleinen Fenster, das er mit Mückennetz ausgeklebt hatte. Geistesabwesend beobachtete er, wie sich eine dicke Spinne durch eine lose Ecke in sein Zimmer drückte. Es klopfte an seiner Tür. Hastig zog er den Stapel Dokumentationen vor sich, den er eigentlich durcharbeiten musste, und rückte seine Brille zurecht.
»Herr Conrad?«
Wer denn sonst? Sein geheimer Zwillingsbruder? Er wünschte, er hätte wenigstens abends seine Ruhe, aber das Grabungsleben war zwangsweise geselliger, als es ihm lieb war.
»Ach, Hilla.«
»Ja, ähm. Ich wollte nur nochmal nachfragen, wie Sie das hier mit dem Tagebuch handhaben. Ich meine, das ist ja überall anders...«
Peter unterdrückte ein Seufzen und erklärte der Studentin ein weiteres Mal, wie sie die Formulare auszufüllen und jeder Schnittleiter Beschreibungen anzufertigen hatte. Er wusste nicht, welchen Beschluss er mehr bereute. Die vorlaute Lisa oder die langsame Hilla mitgenommen zu haben. Wobei er bei genauer Betrachtung nicht wirklich eine Entscheidung getroffen hatte. Sein Doktorvater hatte ihm beide Studentinnen empfohlen und keinen Zweifel daran gelassen, dass seine Empfehlung etwas Obligatorisches enthielt.
Nun saß er hier drei volle Monate fest. Er war sich schon jetzt im Klaren, dass er mit seiner Dissertation nicht wesentlich weiterkommen würde, denn es gab einiges zu tun. Das Grabungsareal umfasste eine pharaonenzeitliche Stadt, die sich einst über mehrere Hektar erstreckt hatte. Vor zwei Jahren waren sie bei einer Magnetprospektion auf die zahlreichen Mauerzüge gestoßen. Seither war bis auf ein paar Sondierungsgruben noch nicht viel freigelegt worden, doch mit seinem untrüglichen Instinkt witterte Peters Doktorvater, Professor Bergen, sofort ein neues Tätigkeitsfeld für sein Institut. Peter konnte die Begeisterung seines Professors für diesen Fundplatz nicht gänzlich nachvollziehen, obwohl er seit der ersten Begehung mit dem Projekt vertraut war. Er hatte nichts gegen Siedlungsarchäologie, nein. Er fand nur eben Bestattungen, gleich ob in Mastabas, Pyramiden oder Schachtgräbern, tausendmal faszinierender. Aber die meisten vielversprechenden Fundorte waren längst fest in der Hand der Amerikaner. Es war ein Leid, dass es in Ägypten einfach zu viele Ausgräber gab. Jedes Land dieser Erde, das es sich leisten konnte, führte Grabungen hier durch – man musste die unfreundliche Haltung der Einheimischen beinahe verstehen.
Vor Sonnenaufgang waren die Archäologen auf den Beinen, tappten halbschlafend über die staubigen Flure hin zum spärlichen Frühstück oder gleich zu den wartenden Jeeps. Ihre Fahrer begrüßten sie mit einem mürrischen Salam Aleikum, was insofern seltsam war, als sie zu den wenigen Kopten gehörten. Am heiligen Freitag der Muslime mussten die als Einzige arbeiten. Auf die restlichen zwei Dutzend Grabungshelfer würden die Forscher heute verzichten und eigenhändig weitergraben. Die meisten Archäologen nutzten diesen Tag, um kleinere Befunde sorgfältig freizulegen und zu fotografieren, Zeichnungen zu beenden oder Bodenprofile zu putzen.
Kurz bevor die sengende Mittagshitze das Ende des Arbeitstages einläutete, hörte Peter plötzlich aufgeregtes Schwatzen aus Richtung der Grabungsfläche. Er saß unter einem Sonnensegel und verschaffte sich gerade einen Überblick über die zahllosen Scherbenfunde der letzten Tage. Keramik, nichts als endlose Keramik. Natürlich stellten Gefäße eine wichtige Informationsquelle für Archäologen dar. Sie halfen bei der Datierung und gaben Hinweise auf Handelsverbindungen sowie Lebensumstände der damaligen Benutzer. Manche Ur- und Frühgeschichtler machten ganze Kulturen an einzelnen Stilelementen von Töpferwaren fest, wenn schriftliche Überlieferungen fehlten. Peter ging das eindeutig zu weit. Was er sich jedoch nicht vorstellen konnte, war, dass sich irgendjemand ernsthaft für dröge Keramik begeisterte. Ausgräber wollten Waffen, Schmuck, Werkzeuge oder Kleidung finden, nicht das Geschirr der Vorfahren – auch, wenn das niemand offen zugab.
Erst überhörte er das laute Geschnatter. Als es sich aber nicht legte, stand er schließlich auf und stapfte über die großflächige Ausgrabungsstätte in Richtung des Aufruhrs. Als er sich der Gruppe näherte, die mitten in einem der abgesteckten Grabungsschnitte beisammen stand, würdigte ihn kein einziger auch nur eines Blickes. Alle redeten durcheinander, sodass er sich mit den Ellbogen durch die Studenten zwängen musste. Die tadelnden Worte blieben ihm im Halse stecken. Zu seinen Füßen ragte etwas aus dem graugelben Sand, das zunächst wie achtlos verstreuter Müll wirkte, weil es im Wind flatterte wie eine Plastiktüte. Erstaunt folgte sein Blick dem länglichen Objekt, dessen Ende sich in ein paar dünnere, spröde Stecken teilte, die mit ausgetrocknetem Leder umwickelt zu sein schienen.
»So, jetzt treten alle zurück. Hilla, nein, du kannst da bleiben und weiterputzen, man sieht ja noch fast gar nichts.« Peter kommandierte, ohne nachzudenken. Die Entdeckung eines Leichnams sollte einen Archäologen in Freude versetzen, aber aus irgendeinem Grund fühlte er nichts als Anspannung. Ehe er sich neben Hilla in die Hocke sinken ließ, hörte er jemanden seinen Namen rufen.
»Jetzt nicht, Lisa!«, antwortete er abwesend und senkte sein Gesicht bis auf wenige Zentimeter an das Objekt heran. Kein Zweifel, er blickte auf einen menschlichen Unterarm. Die Knochen waren noch beinahe vollständig mit Haut umhüllt, die wie rissiges Pergament wirkte. Und zum Humerus, dem Oberarmknochen, hin flappten leinene Fetzen. Er fragte sich, was unter dem Sand folgen mochte, eine Schulter? Ein Torso?
»Herr Conrad!« Drängender als zuvor.
Genervt stand Peter auf, warf einen vernichtenden Blick in die Runde der murmelnden Studenten.
»Herr Meller, hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, Lisa zu sagen, dass sie und ihr Türsturz momentan nicht Mittelpunkt dieser Grabung sind? Entweder gibt sie jetzt Ruhe, oder sie wäscht den Rest der Woche Scherben!«
Thomas trottete mit einem schadenfreudigen Grinsen in Lisas Richtung davon. Als er nach ein paar Minuten zurückkam, war sein Grinsen wie weggewischt.
»Herr Conrad, Sie sollten doch zu Lisa hinübergehen. Sie hat etwas sehr Seltsames gefunden.«
Ihr Fund war in der Tat äußerst merkwürdig. Nachdem sie den Türstein mit viel Mühe und einer provisorischen Hebelkonstruktion aus Schalungsbrettern umgekippt hatte, blickte sie auf eine glatte, halbrunde Schale. Eine Schädelkalotte, an der noch blonde Haarsträhnen klebten.
Freitag, 28. Oktober 1988
»Hören Sie mich, Peter?« Bergens Stimme wurde halb vom Rauschen der Satellitenleitung verschluckt. Ägypten war nicht das Ende der Welt, aber die Technik hatte eine Tendenz, sich zu verweigern, als wüsste sie, dass sie hier nichts verloren hatte. Wider besseres Wissen überprüfte Peter die Verbindung der Parabolantenne mit dem Satellitentelefon, das sie Bergens guten Beziehungen zur Inmarsat verdankten. Trotz seines konservativen Grabungsstils war Bergen schon immer ein Freund neuer Technologien gewesen, die ihm die Arbeit erleichterten. So hatte er seine Bekanntheit genutzt und der UN-Organisation, die sich mit der Verbesserung der Sicherheit in der Seeschifffahrt beschäftigte, vorgeschlagen, auf seinen Grabungskampagnen eines der ersten an Land einsetzbaren Geräte zu testen.
»Hallo, Professor.« Wie beiläufig erzählte Peter, dass er ein paar Daten der Grabungsergebnisse per Satellit schicken würde, zu denen er gern Bergens Meinung hätte. Sein Professor merkte sofort, dass er mit etwas hinterm Berg hielt.
»Was hast du denn da? Ich höre doch, dass etwas passiert ist.« Peter grinste in sich hinein, schwieg und drückte in seinem Transferprogramm auf ENTER. Bergen erkundigte sich nach den Fortschritten, nach der Laune der Arbeiter, dem Verhältnis zur ägyptischen Antikenbehörde und dem Umgangston der örtlichen Polizei. Wonach er nicht fragte, waren seine Studenten.
»Soweit alles normal. Aber unsere Mädels liegen sich ständig in den Haaren«, bemerkte Peter ungefragt.
Bergen schnaubte in einer Mischung aus Herablassung und Resignation. »Das Essen ist schlecht, die Betten zu hart, und Heimweh haben sie«, äffte er weinerlich. »Entschuldige, Peter. Ich weiß, dass du dich mit diesen Dingen herumärgern musst. Ich begreife nur nach all den Jahren noch immer nicht, was sich diese jungen Leute...« Bergen verstummte.
»Nachricht angekommen?«, fragte Peter leutselig. Er konnte die Überraschung seines Professors förmlich durch die Leitung spüren.
»Ich kann am Sonntag in Kairo sein, spätestens am Montag bei euch.«
»Das ist nicht nötig–«
»Wirklich unglaublich, völlig unglaublich! Wir sehen uns am Montag, und bis dahin kein Wort zu den ägyptischen Behörden. Du weißt, wie es ist. Wenn einer im Kulturamt etwas wittert, dann haben wir schneller den verehrten Kollegen Al-Wass und unsere internationale Kollegenschaft auf dem Hals, als wir gucken können.« Mit einem Schnappen war die Verbindung unterbrochen. Peter starrte verblüfft auf den Hörer.
Er hatte noch nie eine solche Reaktion beim eher behäbigen Bergen erlebt, geschweige denn, dass sein Professor je in einer Blitzaktion auf eine Grabung geeilt wäre. Andererseits war eine gut erhaltene Mumie im ägyptischen Wüstensand inzwischen eine kostbare Seltenheit. Zu viele Generationen von Grabräubern, Schatzsuchern, Hobbyarchäologen und Rucksackabenteurern hatten das Land geradezu umgepflügt. Der Traum jedes Ausgräbers vom ungestörten Befund blieb in Ägypten heutzutage allzu oft einer. Insgeheim beneidete Peter die Altamerikanisten, die nicht selten im mittelamerikanischen Dschungel auf beinahe unversehrte Mayabauten stießen oder ganze Gräberfelder in Peru fanden.
Neben seinem Hauptfach Anthropologie hatte er selbst einige Semester lang die Archäologie Amerikas im Nebenfach studiert. Die Kalendersysteme der Maya, die bizarren religiösen Bräuche, die Schöpfungsmythen der Azteken und das Staatswesen der Inka faszinierten ihn auch jetzt noch. Es erfüllte ihn mit Bitterkeit, dass er nicht an den Anforderungen des Fachs, sondern an den Ethnologen gescheitert war, die diesen Fachbereich okkupiert hatten. Diese Leute wollten nicht die objektiven Erkenntnisse gewinnen, die ihm so wichtig waren. Meist interessierten sich nicht einmal die Professoren für eine möglichst wahrheitsgetreue Rekonstruktion der Vergangenheit. Viele Völkerkundler wollten bloß Geschichten von friedliebenden indigenen Völkern erzählen. Selbst wenn sie dazu Daten verbiegen, Funde ignorieren und Datierungen uminterpretieren mussten, die sie wegen fehlender Grundkenntnisse ohnehin niemals nachvollziehen konnten.
Peter war zutiefst überzeugt, dass auch Archäologen zwingend über fundierte mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügen müssten. Die Ethnologen, die er im Laufe des Studiums kennengelernt hatte, waren für ihn schlicht Dummköpfe, wenn nicht gar Fälscher. Im besten Falle waren diese verklemmten Völkerkundler naive Geschichtenerfinder mit einem schlechten Gewissen und einem utopischen Bild vom präkolumbischen Gutmenschen. Tausende abgeschlagene Köpfe nebst Knochen der Opfer, die die Stufen heruntergeworfen worden waren und sich – passend zu den spanischen Überlieferungen – am Fuße der großen Pyramide fanden, verwandelten sich bei ihnen in Unfallopfer oder ähnliche Lächerlichkeiten. Dass die Azteken wahre Kannibalismusexzesse mit religiöser Rechtfertigung abhielten, um den dramatischen Mangel an tierischem Eiweiß irgendwie abzumildern, leugneten viele Ethnologen schlicht. Quellen, die den Brauch belegten, hochwertige Fleischstücke wie Oberschenkel für die Priesterkaste zu reservieren, ignorierten sie kurzerhand. Oder sie taten sie bequem als Erfindung der Spanier ab.
Ein Student, der einem allzu harmonischen Indianerbild entgegen hielt, dass auch die Maya als extrem kriegerische Stadtstaaten organisiert gewesen seien und – aus heutiger Sicht – menschenverachtende Kriegsbräuche pflegten, konnte schnell mit einem unterschwelligen Rassismusvorwurf mundtot gemacht werden. Als Nächtes wurde dann regelmäßig der Umgang der spanischen Eroberer mit den indigenen Völkern Amerikas ins Spiel gebracht. Damit war endgültig jede aufkeimende Diskussion beendet.
Für Peter Conrad waren diese befremdlichen und teilweise schockierenden Bräuche der frühen Mesoamerikaner ein Umstand, der seinen Forschergeist herausforderte. Er wollte nachvollziehen, welches Weltbild und welches Bild vom Menschen diese Kulturen entwickelt hatten. Ihn interessierte, wie man zu der Einstellung gelangen konnte, dass Menschenopfer richtig und notwendig für die Gesellschaft waren. Doch nach all seinen Erfahrungen mit den Völkerkundlern fand er es folgerichtig, sich aus der Altamerikanistik zu verabschieden. Damals fokussierte er sein Interesse auf eine andere Kultur, die – nach dem Wertekodex der westlichen Welt – ebenfalls ein seltsames Bild vom Universum und der menschlichen Existenz besessen hatte. Peter war von der Altamerikaforschung in die Ägyptologie gewechselt. Und als Anthropologe mit fundierten Kenntnissen zur altägyptischen Geschichte konnte er auch weiterhin auf archäologische Grabungen hoffen. Erstaunlicherweise gab es unter den Ägyptologen kaum solche Sozialträumer wie in der Ethnologie, die Märchen liebten und ihr höchstes Glück als Experte in einer leichtverdaulichen Geschichtsdokumentation fanden.
Peter schob die aufwühlenden Gedanken an seine Studienzeit beiseite und betrachtete die Polaroid-Aufnahmen, die er heute von den beiden mumifizierten Menschen gemacht hatte. Morgen musste alles genauestens eingemessen und gezeichnet werden, ehe sie die Überreste mit größter Vorsicht ins Grabungshaus transportieren konnten. Dann endlich würde Peters Stunde als Anthropologe schlagen. Es würde ihm sicherlich gelingen, Alter und Geschlecht der Toten zu bestimmen, vielleicht würde er sogar Hinweise auf die Todesursache finden.
Da sich seine Dissertation mit einer breit angelegten Vergleichsstudie ägyptischer Mumien befasste, hatte er inzwischen ein gutes Auge für diese besonderen Leichen. Schon auf der Grabungsfläche war ihm daher der große Unterschied zu den Mumien aufgefallen, mit denen er sich normalerweise beschäftigte. Es gab keinerlei Indizien für Einbalsamierung oder Grabbeigaben, und das hieß wohl, dass sie es mit natürlich mumifizierten Leichnamen zu tun hatten. Peter musterte eingehend das Polaroid und schüttelte den Kopf. Das waren eindeutig keine Bestattungen.
Als er zum Abendessen ging, fand er seine Mannschaft in altbekannter Zwietracht vor. Lisa und Hilla schienen sich zu streiten. Layla, die ägyptische Studentin, und die zwei jungen Männer warfen hitzige Kommentare in die Diskussion ein.
»Denkst du, da fällt ein massiver Türsturz auf jemanden, und niemand merkt das?«
»Was glaubst du denn, wie sein Schädel unter den Steinblock gekommen ist?«, erwiderte Lisa.
»Oder ihrer«, brummte Paul dazwischen.
»Ihr was?«
»Ihr Kopf, Hilla. Auch Frauen können sich Steinquader auf den Kopf fallenlassen«, erklärte Thomas süffisant.
»Ich bezweifle, dass hier irgendjemandem irgendetwas auf den Kopf gefallen ist, mit Ausnahme von dir vielleicht!«
Peter musste lachen.
Montag, 2. Februar 1942
Mit einem nachdenklichen Kopfschütteln klappte Gruber die Akte mit der Bezeichnung VRILBORN auf und fragte sich zum hundertsten Mal, wie man dieses unselige Vorhaben ordentlich zu Ende bringen könnte. Schließlich durfte man das Leben tausender deutscher Volksgenossen nicht einfach so beenden, nur um der Geheimhaltung willen. Sein Gewissen jedenfalls rebellierte – und das kam in letzter Zeit zu häufig vor.
Er war jetzt seit über drei Jahren Leiter aller als geheim eingestufter Vorgänge des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in der Wilhelmstraße 68. Ihm hätten deshalb wesentlich größere Räumlichkeiten sowie mehr Personal als seine Sekretärin und ein Assistent zugestanden. Aber er glaubte an die Bewegung und die Tugenden, die sie als typisch deutsche propagierte; und Anton Gruber war darauf bedacht, sich nicht von Macht korrumpieren zu lassen. Ihm waren die Prunksucht, die Ausschweifungen, die oft aus Bequemlichkeit geborene Skrupellosigkeit und die protzigen Kanzleibauten vieler seiner Parteigenossen zuwider. Wozu brauchte ein Göring zum Beispiel solche Prachtgemächer – sicherlich nicht, um seine Arbeit zu tun. Und weshalb duldete der Führer diese Auswüchse von Dekadenz eigentlich? Trotz seiner Repräsentationspflichten und den gewaltigen Aufgaben, vor denen er stand, war der Führer immer recht bescheiden geblieben und hatte sich mit seiner gesamten Kraft der Bewegung und dem Dienst am deutschen Volk verschrieben.
»Kommen Sie herein«, antwortete Gruber auf den einfachen, kräftigen Klopfer an die schwere Eichentür seines nüchternen Dienstraums.
Es war Standartenführer Rosengart-Bölkow, der Gruber in seinen Gedanken unterbrach, der Ressortleiter der Rabiex, wie die Abteilung für rassische und biologische Experimente intern hieß. Die Rabiex war eine Einrichtung, die formal dem Reichserziehungsministerium unterstellt war, aber weitgehend autonom arbeitete. In den offiziellen Strukturdiagrammen der Behörde tauchte sie überhaupt nicht auf. Gruber hatte keine Ahnung, ob Reichsminister Rust über den Zweck dieser Organisation im Bilde war und ob er bezüglich ihrer Tätigkeiten unterrichtet wurde. Thematisch hatte ihre Arbeit jedenfalls wenig mit dem Aufgabenbereich des Erziehungsministeriums gemein, und niemand wusste mit Sicherheit, von wem die Rabiex ihre Befehle erhielt. Schon des Öfteren hatte Gruber sich gefragt, ob er froh sein sollte, dass er strikte Weisung hatte, bei einigen Projekten Rosengart-Bölkows Organisation in Anspruch zu nehmen. Manches Mal wollte er gar nicht so genau wissen, wie bestimmte Befehle von den Leuten der Rabiex ausgeführt wurden...
»Heil Hitler, Gruppenführer.«
»Nehmen Sie Platz, Bölkow. Wollen Sie etwas trinken? Ich habe noch einen ganz hervorragenden Cognac, von unserem Westausflug ‘40.« Eigentlich zog Gruber es vor, Dienstgespräche in einer betont sachlichen Stimmung zu führen; aber bei so heiklen Unterhaltungen wie heute bevorzugte er eine entspanntere Atmosphäre. Schließlich ging es hier nicht um eine dieser lächerlichen Schulbuchdiskussionen, bei denen die Frage anstand, ob man die Nase zukünftig nicht besser als Gesichtserker bezeichnen sollte, da ‚Nase‘ ja aus dem Lateinischen käme. Ob ‚Gesicht‘ und ‚Erker‘ nun rein germanische Ursprünge hatten, konnten die beteiligten Korinthenkacker natürlich auch nicht so genau sagen...
Rosengart-Bölkow nahm das Angebot dankend an, und nachdem sie beide den ersten Schluck genossen hatten, kam Gruber zur Sache.
»Die Akte Vrilborn macht mir große Sorgen, mein Freund.« Er klappte die dünne Mappe zu und tippte mit seinem Füllfederhalter auf den mit VERSCHLUßSACHE – STRENG GEHEIM beschrifteten Deckel. »Wie verfahren wir in dieser Angelegenheit weiter, was schlagen Sie vor?«
Rosengart-Bölkow sprach, als lese er eine Rede vom Blatt ab. »Die Neuigkeiten aus Ägypten sind nicht gut, wir werden wohl kaum über den Halfaya-Pass hinauskommen. Alexandria können wir komplett vergessen. Und auf Unterstützung durch die Italiener konnten wir ja noch nie bauen. Unsere Expedition weiter im Süden ist jetzt schon in Gefahr, entdeckt zu werden. Wenn die Engländer unsere Leute hochnehmen – und das scheint mir nur eine Frage der Zeit – wäre es besser, wenn von unseren Untersuchungen vor Ort keine Spur mehr zu entdecken ist. Andernfalls steht das gesamte Unternehmen auf dem Spiel. Wir stecken noch in den Kinderschuhen, und wir werden noch viel Zeit brauchen, bis erste Resultate kommen. Der Rest der Welt wird über uns herfallen, wenn unser Vorhaben bekannt wird.« Der Leiter der Rabiex machte eine kurze Pause. »Aber wir müssen erfolgreich sein. Und wir werden erfolgreich sein, Gruppenführer. Und dann werden alle die, die heute gegen uns hetzen, für ewig vor uns im Staub liegen.« Als Gruber ihn nur verwundert ansah, fuhr Rosengart-Bölkow fort: »Also habe ich Obersturmbannführer Löffler befohlen, das Lager sofort abzubrechen, die Spuren zu beseitigen und schnellstmöglich nach Berlin zurückzukehren. Ich habe den Rücktransport durch die Einheit Rhön bereits in die Wege geleitet. Löffler und seine Truppe sollten übermorgen zurück sein.«
»Sie haben völlig eigenmächtig die Aktion abgebrochen?«
»Es gab aus meiner Sicht keine Alternative, um Schaden von unserem Volk abzuwenden«, erwiderte Rosengart-Bölkow unterkühlt.
Gruber machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Jaja. Schon gut, Bölkow, Sie haben vollkommen richtig gehandelt. Wie Sie wissen, genießen Sie mein vollstes Vertrauen, und ich finde Ihre selbständige Arbeitsweise nach wie vor gut. Aber in Zukunft wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich bei so wichtigen Schritten wenigstens unterrichten.«
»Selbstverständlich, Herr Gruppenführer. Ich werde Sie natürlich ausführlich informieren, sobald unsere Leute aus Ägypten zurück sind.« Rosengart-Bölkow atmete hörbar aus; ob aus Erleichterung oder unterdrückter Empörung, konnte Gruber nicht feststellen. Er neigte zur zweiten Alternative. Er hielt den schnell aufgestiegenen Standartenführer für linientreu, extrem ehrgeizig und skrupellos. Er hütete sich, ihn zu maßregeln, obwohl er rein formal sein Vorgesetzter war.
Für einen Moment war es absolut still im Dienstraum des SS-Gruppenführers. Gruber griff wortlos zu seinem Cognac, schwenkte das Glas einige Male und leerte es. Nach einer Minute des Nachdenkens, tippte er erneut mit seinem Füllhalter auf den Aktendeckel.
»Dann besprechen wir die weitere Vorgehensweise, wenn wir einen Bericht von Löffler haben und die Lage besser einschätzen können. Nehmen Sie das hier bitte wieder an sich.« Er reichte Rosengart-Bölkow die Akte. »Wir treffen uns am kommenden Freitag, ich würde sagen um zehn hier in meinem Dienstzimmer.«
Rosengart-Bölkow nickte kurz und vollführte einen Hitlergruß, der einiges an Forschheit vermissen ließ. Noch ehe der Standartenführer sich umdrehte, blickte Gruber ihn ernst an.
»Informium darf so nicht scheitern.«
Montag, 31. Oktober 1988
Als Professor Bergen drei Tage später in Ägypten ankam, hatte sich die Grabung für Peter in einen wahren Alptraum verwandelt. Wenn auch einen aufregenden, wissenschaftlich wohl einzigartigen Alptraum. Was sollten sie bloß mit so vielen Mumien anfangen? Sie konnten sie kaum sachgerecht verwahren. Mittlerweile war er froh darüber, dass sein Doktorvater darauf bestanden hatte herzukommen, denn was sie seit ihrem Telefonat entdeckt hatten, überstieg Peters archäologische Fähigkeiten bei Weitem.
Bergen erreichte das Dorf Qarun am Rand der fruchtbaren Oase von Faiyum spät am Abend mit dem ausgedienten Militärjeep, den Peter schon am Vortag nach Kairo zum Flughafen geschickt hatte. Sein Professor sah älter aus als seine achtundsechzig Jahre, und auch sein gewöhnlich volles Gesicht wirkte beinahe abgehärmt. Als läge ihm etwas auf der Leber, was nichts mit ihren Funden zu tun hatte. Aber auf eine entsprechende Nachfrage hin zog der Forscher nur die buschigen Augenbrauen in die Höhe und versicherte, dass alles in bester Ordnung sei.
»Ich will nur hoffen, dass für meine Grabung hier dasselbe gilt«, stichelte er.
Als Peter mit ihm am nächsten Morgen zur Grabungsfläche aufbrach, sah man Carl Bergen nur noch das Hochgefühl an, das er immer ausstrahlte, sobald er einen Fuß auf diesen geschichtsträchtigen Boden setzte. Vielleicht hatte er sich ja alles auch bloß eingebildet, und Bergen vertrug die Hitze nicht mehr, dachte Peter.
Das Areal, das für die archäologischen Forschungen abgesperrt worden war, lag gut drei Kilometer vom Grabungshaus entfernt auf einer höher gelegenen Geländestufe, die den Faiyumsee nach Norden hin einrahmte. Bergen lenkte den Jeep eigenhändig die zunehmend steile Schotterpiste hinauf und schenkte dem malerischen Sonnenaufgang jenseits des Birket Qarun keine Beachtung.
Sie erreichten die Grabungsfläche eine gute halbe Stunde, bevor die Arbeiter und das Grabungsteam dort erscheinen würden. Bergen liebte es, allein über seine Grabungen zu stolzieren wie ein Feldherr über das Schlachtfeld nach einem Sieg. Er parkte schwungvoll neben dem ersten Suchschnitt, stieg aus dem Wagen und ließ seinen Blick schweifen. Ein paar verstreut liegende Testschnitte waren mit Flatterband markiert, damit keiner der Dorfbewohner, die unerlaubt aber beständig auf dem Gelände herumwanderten, verunglückte oder Funde zertrampelte. Vier zehn mal zehn Meter messende Zonen im südlichen Teil der Siedlung waren mit Pflöcken und Draht umzäunt – die eigentlichen Grabungsflächen, an denen die Studenten momentan arbeiteten.
Die Morgensonne stand noch so niedrig, dass die eingetieften Grabungsabschnitte im Schatten lagen, als Peter seinen Professor nun herumführte. Die Aufregung ließ ihn hastig zwischen den Planquadraten wechseln.
»Langsam, Peter, langsam.« Bergen wischte sich über die hohe Stirn. Der Schweiß klebte ihm seine kurzen, hellgrauen Haare an den Kopf.
»Entschuldigen Sie, Professor. Es gibt so vieles, was ich Ihnen zeigen muss.«
»Aber wir haben Zeit, und alles, was ich jetzt nicht richtig sehen kann, muss ich mir später noch einmal angucken.« Bergen blinzelte ihn in seiner höchst eigenen Weise an, und Peter wusste, dass der Mann einen Scherz hatte machen wollen. Für Professor Carl Bergen war es schier unvorstellbar, dass es Menschen gab, die sich Dinge mehr als ein Mal ansehen mussten, um sie im Gedächtnis zu behalten.
In sämtlichen Grabungsflächen ließen sich mittlerweile die Straßenzüge anhand der angrenzenden Hausgrundrisse sehr gut ausmachen. Die tiefer liegenden Ziegellagen, die sie nun freilegten, hatten nicht so stark unter dem jahrtausendelangen Getrampel der Nachfahren ihrer Erbauer gelitten. Und so konnte man vielerorts die Hauseingänge auf der Straßenseite, die großzügigen Einraumwohnungen und die Ausgänge in die Hinterhöfe erkennen. An einigen Stellen reihten sich in schmalen Räumen kreisrunde Verfärbungen aneinander, die von eingetieften Vorratsgefäßen stammen mussten. Peter wusste, dass ihnen nur wenige Zentimeter fehlten, ehe sie das ehemalige Bodenniveau erreicht haben würden und damit die Oberkanten der großen Gefäße. Sie ähnelten verblüffend ihren berühmten, griechischen Verwandten, nur dass die Ägypter die Idee zweitausend Jahre früher gehabt hatten.
Durch die beschränkte Ausdehnung der quadratischen Grabungsflächen wurden viele Gebäude nur angeschnitten, die Straßen endeten im Sand. Es war noch zu früh, um sich völlig sicher zu sein, aber nach den Abschnitten der Gassen und Häuser, die sich bislang abzeichneten, glaubte Peter, dass es sich um eine planmäßig angelegte Siedlung handelte. Auch auf den Karten der Magnetmessungen sah es aus, als verliefen alle Wege parallel oder rechtwinklig zueinander, ganz so, wie es die ordnungswütigen Römer später gemacht hatten. Bedauerlicherweise hatten sie bisher nur eine ungefähre Vorstellung von der Ausdehnung des gesamten Siedlungsareals. Begehung und Prospektion deuteten eine Größe von wenigstens acht Hektar an. Sie hatten seit ihrer Ankunft rund um das eigentliche Grabungsareal Testschnitte angelegt, quadratische Gruben, deren Inhalt Aufschluss darüber geben sollte, bis wohin sich die besiedelte Fläche genau erstreckte. Zu Peters Erstaunen hatte ein solcher Schnitt südlich, in gut hundert Metern Entfernung zur angenommenen Siedlungsgrenze, überhaupt keine Funde zutage gefördert. Nicht einmal die außerhalb einer Siedlung typischen Müllgruben mit Knochen oder Keramikresten waren vorhanden. Wie konnte es sein, dass die Bewohner so nah bei ihrem Dorf keinerlei Spuren hinterlassen hatten?
»Meine Güte, meine Güte«, murmelte Bergen. Dann sagte er eine lange Weile nichts mehr, während er wie ein Schlafwandler über die mit roten Fundmarkern übersäten Fundflächen tappte. Sie waren in den vergangenen Tagen dazu übergegangen, auf der Grabungsfläche diese farbigen Kunststofffähnchen an die Position bereits geborgener Mumienfunde zu setzen. Es kam nicht infrage, die empfindlichen Überreste tagelang der prallen Sonne und dem sandhaltigen Wind auszusetzen. Aber so hatten sie immerhin die Möglichkeit, sich vor Ort an die ursprüngliche Lage zu erinnern, ohne Pläne konsultieren zu müssen.
Peter wusste, dass es keine gute Idee war, Bergen bei seiner ersten Inaugenscheinnahme zu stören. Und er wusste auch, dass Bergen in weniger als einer halben Stunde zu einer Hypothese gekommen sein würde, auf die er vermutlich niemals käme. Also ersparte er sich die Peinlichkeit, seine eigenen Theorien zu offenbaren, und setzte sich abwartend auf einen größeren Steinblock am Rand von Schnitt eins.
»Das können unmöglich alles Mumien gewesen sein. Mumienteile – vielleicht. Aber vollständige Mumien? Peter...«, lächelte Bergen mit erhobenen Augenbrauen und Zeigefinger. »Du erlaubst dir doch einen Scherz?«
»Bislang konnten wir zwölf natürlich mumifizierte Leichname identifizieren, und keiner von ihnen ist unvollständig bis auf die kleineren Finger- und Fußknochen.«
»Unglaublich. Das ist absolut einmalig. Das...«, Bergen stockte einen Moment, als dämmere ihm die wahre Bedeutung des Gesehenen, »...ist ein Alptraum! Wenn die Presse Wind davon bekommt, dann stehen morgen diese aufdringlichen Kamerateams von National Geographic, BBC und Co. und – noch viel schlimmer – die Herren aus Kairo vor der Tür!« Bergen wischte sich mit seinem großen Stofftaschentuch erneut die Stirn und schnaufte aufgebracht. Peter wunderte sich wieder einmal, weshalb der ältere Mann niemals Grabungskleidung trug. Er tauchte immer in Jeans und Pullover auf, gleich ob er eine Tagung oder einen Tagebau besuchte.
»Dieser Al-Wass wird uns den Firman entziehen, sobald er weiß, dass es hier wirklich etwas zu finden gibt. Ich könnte den Kerl...« Zwischen Bergen und dem Verwalter der ägyptischen Altertümer war eine Art Privatkrieg entbrannt, für den niemand so recht die Ursache kannte. Peter teilte Bergens Urteil über den Mann – übereifrig, parteiisch, geltungssüchtig und noch nicht einmal besonders bewandert (was kein Wunder war, falls die Gerüchte stimmten, dass Al-Wass selbst einmal Grabräuber gewesen war). Nur half es nichts, denn an der Behörde vorbei ging in Ägypten eben nichts, wenn man Archäologie betreiben wollte.
Eine Stunde später saßen Bergen und Peter in dem Arbeitsraum des momentan verlassenen Grabungshauses. Zwei Tassen ägyptischen Kaffees standen beinahe ungetrunken auf dem langen Arbeitstisch. Bergen studierte die farbigen Pläne und ließ sich von Peter die exakte Lage der eingezeichneten Objekte beschreiben. Dabei unterließ er es nicht, seinen Ärger über das ungenügende Gedächtnis seines Doktoranden mit spitzen Bemerkungen kundzutun, wenn dieser eine Information nicht sofort präsent hatte.
»Ich verstehe nicht, wie du das nicht mehr so genau wissen kannst! Du bist gerade halb so alt wie ich! Versuch endlich, dich zu erinnern.«
»Die Fotos liegen auf meinem Schreibtisch, ich könnte ja–«
Bergen machte eine unwirsche Handbewegung. »Wo sind die Funde?«
»Teils hier, teils im Waschzelt. Sie müssen sie sehen. Diese Inschriften!«
»Hat sich Fräulein Franks schon mit ihnen befasst?« Bergen sah Peter prüfend über den Rand seiner Halbmondgläser hinweg an. »Sie muss momentan auf der Grabung helfen, damit wir die zusätzlichen Arbeiter beaufsichtigen können.«
»Höre ich da eine gewisse Antipathie? Sie ist gut, Peter. Benimm dich nicht wie ein Kind.«
»Professor Bergen, ich–«
»Es war nur ein Rat. Ich weiß, dass Fräulein Franks dir mehr Widerworte geben dürfte, als du das gewohnt bist, aber das ist vollkommen egal, denn wir werden sie hier brauchen.«
»Herr Professor, es hat Sie noch nie interessiert, was ich von Ihren Grabungsstudenten halte. Trotzdem vielen Dank für die Erklärung.« Peter griff nach der Kaffeetasse und verbarg seinen Ärger hinter ihr.
Mittwoch und Donnerstag vergingen in hektischer Aktivität. Bergen übernahm keineswegs die Leitung der Grabung, sondern lediglich Lisas Arbeitermannschaft samt ihrem Grabungsschnitt. Peter durfte sich weiterhin allein mit den unangenehmen Organisationsaufgaben sowie der Bändigung der Arbeiter und der Bearbeitung der explosionsartig anwachsenden Dokumentation herumschlagen. Bergen veranlasste, dass Lisa in das ehemalige Abstellkämmerchen hinter Hillas provisorischem Restaurierungslabor zog. Dort befasste sie sich nun von früh bis spät mit den Hieroglyphentexten, die teils auf Papier gepaust, teils in Form von beschrifteten Gegenständen zu ihr gebracht wurden. Sie schob Fragmente hin und her, und allmählich glaubte sie zu wissen, weshalb sie bei der Entzifferung keinen Schritt weiterkam. Zuerst war ihr nur die extrem kleinteilige Zerstörung der Inschriften aufgefallen. Der fast vollständige Türsturz, den sie noch selbst auf der Grabungsfläche hatte freilegen dürfen, trug den einzigen größeren Textabschnitt. Und der war denkbar unspektakulär, ein gängiger Paragraph aus dem sogenannten Totenbuch.
Aber das, was sie seither gefunden hatten, waren kaum mehr als drei, vier Zeichen auf einem Fragment oder Teilstück unzerstörter Wand gewesen. Und Lisa wunderte sich. Sie entdeckten ja nicht wenig Textmaterial. Im Gegenteil. Wo so zahlreiche Reste von Inschriften auftauchten, da mussten einst zigtausende Schriftzeichen existiert haben, sonst wäre bei der gründlichen Zerstörung noch erheblich weniger erhalten geblieben. Nur gab es dermaßen viele Wiederholungen, dass sich schwer zusammenhängende Passagen rekonstruieren ließen. Zudem war alles, was sie bisher entdeckt hatten, thematisch ähnlich, was die Arbeit zusätzlich verkomplizierte. Lisa nahm den Bonnet zur Hand, ein Standardwerk zur ägyptischen Religionsgeschichte, in dem die verschiedenen heiligen Texte vorgestellt wurden, vom Amduat, über das sogenannte Totenbuch bis hin zu den Sargtexten. Sie begann nach Übereinstimmungen, nach seltenen Ausdrücken und chronologischen Hinweisen zu suchen. Aber sie kam einfach nicht weiter. Mit dem, was ihr bislang zur Verfügung stand, war es aussichtslos, den Quelltext identifizieren zu wollen.
Am frühen Abend, nachdem er gutgelaunt von der Ausgrabungsfläche zurückgekehrt war, sich geduscht und ein Stündchen geschlafen hatte, berief Carl Bergen sein »Mitarbeiterbriefing« ein. Wie alle wussten, liebte es der alte Ausgräber, sich dabei durch die Verwendung von Begriffen aus Marketing, Juristerei und Betriebswirtschaft über die »verweichlichten Schnösel« lustig zu machen. Genauso entsprach es seiner Liebe zur Provokation, den »ängstlichen Pinseläffchen« auf seiner Expedition erst einmal mit dem Klappspaten zu zeigen, wie man die »Deckschichten« beseitigt. Natürlich hätte er jeden Einfältigen auf der Grabung, der sich daran ein Beispiel nahm und dabei einen Befund zerstörte, am Besanmast aufgehängt.
Bergens Credo war einfach: Sei besser als gut und mach keine Fehler, dann kannst du auch nach Herzenslust das arrogante Arschloch spielen. Ihm imponierten Studenten, die eine große Klappe riskierten, weil sie wussten, dass sie im Recht waren und man ihnen selten am Zeug flicken konnte. So war es eigentlich kein Wunder, dass er die vorlaute, aber nach seiner Meinung in Sachen ägyptische Hieroglyphen brillante Lisa Franks protegierte, obwohl sie über keinerlei Grabungserfahrung verfügte.
Eine oft erzählte Anekdote berichtete, dass er auf die Anmerkung eines früheren Grabungsleiters, er sei nicht so richtig teamfähig und man könne nur schlecht mit ihm zusammenarbeiten, mit der Bemerkung geantwortet hatte, man solle ja auch nicht mit ihm, sondern für ihn arbeiten.
Freitag, 28. Oktober 1988
Den Zettel mit der gekritzelten Nachricht in der Faust stand der Mann in der ägyptischen Dunkelheit. Der Mond löste sich eben aus den Kronen der Palmen, die den Rand der kultivierten Zone markierten.
Ein kalter Wind fuhr in seine Jacke, und verärgert wandte er ihm den Rücken entgegen. Wenn die Wichtigkeit der Angelegenheit es erforderlich machte, dass er mitten in der Nacht hier herauskam, dann hätte er angenommen, dass man ihn wenigstens nicht warten ließ. Er wusste ja nicht einmal, wer ihn hierher bestellt hatte. Aber letztlich war er nur ein kleines Licht in der Hierarchie von Forschern und Gelehrten, die dem großen Ziel zuarbeiteten, und dessen war er sich stets bewusst.
Die Flamme mit den Händen schützend entzündete der Archäologe eine Zigarette und drehte sich einige Male auf der Stelle. Er sah jedoch noch immer nichts außer den Schatten der Schuttberge, die sie in den letzten Wochen aufgehäuft hatten, und den finsteren Silhouetten der Grabungszelte. Er bemerkte weder das kurze Aufblitzen des Mündungsfeuers noch den Mann, der ihn erschoss.
Montag, 7. November 1988
In den vergangenen vier Tagen hatten sie auf der Grabung sieben weitere Leichname geborgen, und Bergen musste zugeben, dass sie nicht mehr lange weiterarbeiten konnten, ohne die Behörden zu benachrichtigen. Wenn rein zufällig ein Beamter der ägyptischen Altertümerverwaltung auf einen Besuch erschien, würden ihre Karrieren ein frühes Ende finden – jedenfalls, was Grabungskampagnen in Ägypten anging. Nicht so sehr, weil ihr Vorgehen eigentlich kriminell war, sondern weil Al-Wass nur auf einen falschen Schritt von Bergen oder seinem Team lauerte. Und dass Bergen jetzt persönlich hierher auf die Ausgrabung geeilt war, musste in Kairo längst bekannt sein. Die Gemeinde der archäologisch tätigen Ägyptologen war einfach zu klein für Geheimniskrämerei. Peter fand Bergens Verhalten äußerst seltsam. Ihr Institut hatte erst in diesem Jahr wieder eine unbefristete Grabungserlaubnis bekommen, und schon setzte Bergen alles aufs Spiel. Er nahm eine ähnliche Verwunderung auch bei Hilla und Paul wahr, die sich des Risikos ebenfalls bewusst waren. Die Einzige, die von der allgemeinen Besorgnis unberührt schien, war Lisa Franks, und Peter fragte sich, ob die Studentin kaltschnäuziger oder bloß naiver war als die anderen.
Viel Zeit, um sich den Kopf zu zerbrechen, hatte Peter in den vergangenen Tagen jedoch nicht gehabt. Er war täglich etliche Stunden mit der Erstbeschau der mumifizierten Leichname beschäftigt gewesen. Und obwohl es eine unter diesen Umständen anstrengende, wissenschaftlich nicht besonders befriedigende Arbeit war, war sie notwendig. Er wusste genau, dass Bergen darauf bestand, diese vorläufigen Untersuchungen vorzunehmen, weil sie wahrscheinlich nicht noch einmal die Gelegenheit dazu bekommen würden. Die menschlichen Überreste wurden auf der Grabungsfläche vorsichtig auf Bretter gebettet, mit Holzwolle gestützt und mit einem festen Rahmen umbaut, ehe man sie ins Grabungshaus fuhr. Peter hatte drei Tische für seinen provisorischen Untersuchungsraum kapern können. Layla, die ihm bei der Erstbeschau assistierte, befreite die nächsten beiden Körper behutsam von dem schützenden Bretterrahmen, während Peter sich seine Instrumente bereitlegte.
Die pergamentene, rissige Haut der ersten Mumie glitt unter dem Latex seines Handschuhs durch wie ein hartgetrocknetes Fensterleder. Es war allein dem ariden Klima zu verdanken, dass die menschlichen Überreste der Verwesung entgangen waren. Peter konnte tatsächlich nirgendwo Hinweise auf eine absichtliche Mumifizierung oder sonst eine Behandlung nach dem Tod finden. Muskulatur und Sehnen zeichneten sich stellenweise wie gespannte Seile ab. Fleisch und Fett waren in der extremen Trockenheit längst zu den wasserlosen Zellbestandteilen zusammengeschrumpft. Deshalb sahen sich Mumien auch so ähnlich, dachte Peter, während er Layla die Maße diktierte. Im Tod hatten sie alle dieselbe, skelettöse Figur, eine gekrümmte Haltung, die tiefdunkel verfärbte Haut und dieses zähneentblößende »Lächeln«. Im Leben hatten die zwei Toten hier auf seinen Tischen mit Sicherheit so verschieden ausgesehen wie er und Lisa.
»Mumie AK 3-11 ist die eines Mannes, Körperlänge etwa 1,75 m. Die Erhaltung entspricht den taphonomischen Bedingungen, das heißt einer natürlichen Mumifikation in ungestörtem Befund.«
Layla trat näher an den Untersuchungstisch heran und notierte den Kopfumfang und die Längen der Gliedmaßen, die Peter diktierte.
»Bis auf vier fehlende Fingerknochen ist der Leichnam vollständig. Einzige Auffälligkeit im Bereich der Halswirbelsäule.« Peter richtete die Gelenkneonlampe auf diese Körperzone und tastete vorsichtig mit den Fingern nach der Stelle, die wie ein zerfleddertes Hundespielzeug aussah.
»Dem Schaden an der Haut nach zu urteilen handelt es sich um einen ante mortem zugefügten Schnitt, der als Todesursache in Betracht kommt.« Er nahm sich die Lupe und eine lange Pinzette. »Der Schnitt scheint durch die Kehle bis auf die Halswirbelsäule gedrungen zu sein. Eine mikroskopische Untersuchung der Schnittspuren ist empfehlenswert, in sechsfacher Vergrößerung lassen sie sich jedoch schon gut erkennen.«
Laylas beinahe schwarze Augen folgten jeder seiner bedächtigen Bewegungen. »Der wurde auch umgebracht«, stellte sie fest.
Peter nickte nur. Bei den meisten Mumien hatten sie zweifelsfrei einen gewaltsamen Tod diagnostizieren können.
»Störe ich?« Lisa lugte vorsichtig um die halbgeöffnete Tür in das Untersuchungszimmer.
Peter meinte fast, sie ein wenig blass um die Nasenspitze werden zu sehen, und schüttelte schadenfreudig den Kopf. »Nein, komm ruhig rein. Der Professor wird sowieso gleich hier sein.« Es war beinahe wieder Zeit für die tägliche Lagebesprechung.
Lisa warf Layla ein kurzes Lächeln zu, das diese aber nicht erwiderte. Die ägyptische Studentin war ausgesprochen ernst und umgab sich mit einer Aura der Unnahbarkeit. Nicht einmal mit Peter hatte sie mehr als ein Dutzend Sätze gewechselt. Thomas und Paul drückten sich mit einem gemurmelten Gruß hinter Lisa durch die Tür.
»Herbe Fritte«, verkündete Thomas mit einem Blick auf Peters Untersuchungsobjekt. Der verzog den Mund, ließ die Arme sinken und räumte seufzend seine Werkzeuge zurück auf das Tablett. Bevor er Thomas eine passende Antwort geben konnte, wurde die Tür aufgestoßen.
»Ah, alle schon versammelt! Ich gratuliere dir zu der Disziplin auf dieser Grabung, Peter.« Bergen stand frisch geduscht in der Tür und rieb sich die Hände.
»Nun, Hilla fehlt«, bemerkte Lisa.
»Nein, nein, Fräulein Roth ist anderweitig beschäftigt. Peter, bitte unterrichte uns jetzt von deinen bisherigen Ergebnissen.«
»Sie wurden alle ermordet?« Lisa sah Peter an, als hätte sie noch nie etwas so Dämliches gehört. »Das ist doch völlig unmöglich.«
»Na, Sie werden Peters Expertise fürs Erste Glauben schenken müssen, Fräulein Franks. Er ist das Nächste an einem Anthropologen, was wir in der näheren Zukunft bekommen werden.«
»Vielen Dank, Professor.«
»Na, Peter. Fräulein Franks’ Skepsis spricht ja durchaus von Sachverstand. Und wüsste ich nicht, dass du so eine haarsträubende Behauptung nicht ohne guten Grund aufstellen würdest, würde ich selbst Fräulein Franks wohl beipflichten.«
Peter verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich in dem ungemütlichen Flechtstuhl zurück. Er hatte keine Lust auf Bergens Spielchen.
»Ich habe an den Mumien überhaupt nichts gesehen, was wie Verletzungen aussah«, fuhr Lisa fort und sonnte sich in Bergens scheinbarer Zustimmung. Peter wusste aus eigener Erfahrung nur zu genau, wie dünn das Eis war, auf das sie sich gerade begab. Im Grunde war sie ihm nicht einmal unsympathisch, doch einen kleinen Rüffel von Professor Bergen konnte ihr vorlautes Mundwerk durchaus vertragen.
»Peter, hörst du mir eigentlich zu?«, hakte Lisa nach.
»Also... ja. Der überwiegende Teil der Mumien weist tiefe Schnitt- beziehungsweise Stichwunden in verschiedenen Körperregionen auf, vor allem im Hals- und Brustbereich. Ich kann natürlich noch keine abschließende Analyse bieten, aber bei den meisten Individuen konnte ich Schnittmarken auf den darunter liegenden Knochen nachweisen.«
»Es hat also jemand alle Menschen in diesem Ort erstochen?«, fragte der sonst so stille Paul.
»Nein. Eher die Kehle durchgeschnitten.« Peter fuhr mit dem Finger über seinen Hals.
»Du sprachst vom überwiegenden Teil der Mumien«, unterbrach Bergen Peters dramatische Darbietung.
»Nun ja, ich bin mir sicher, dass wir bei den übrigen zum gleichen Schluss kämen, wenn wir wenigstens röntgen könnten.«
»Das sind reine Spekulationen, Peter«, sagte Lisa kopfschüttelnd.
Bergen blickte amüsiert zwischen Lisa und Peter hin und her. Er machte keinerlei Anstalten, Partei zu ergreifen.
»Denk mal nach, Lisa. Alles andere ergibt doch überhaupt keinen Sinn, betrachtet man die Mumien im Zusammenhang mit den Befunden. Wir haben sämtliche Leichen dort gefunden, wo offensichtlich einst Flure oder Straßenzüge waren. Außerdem gehören alle Mumien stratigraphisch in dieselbe Phase. Wie willst du das erklären, wenn nicht durch einen Massenmord?«
Lisa runzelte die Stirn. »Aber–«
»Angenommen«, fuhr Peter rasch fort, »sie wären nicht alle mehr oder weniger zum gleichen Zeitpunkt getötet worden, glaubst du vielleicht, die Dorfbewohner hätten Tote überall in ihren Straßen und Häusern herumliegen lassen? Es gibt nur dieses eine Szenario, das Sinn ergibt. Irgendjemand hat die gesamte Dorfbevölkerung an einem einzigen Tag ausgelöscht.« Es war eine gespenstische Szenerie, die unwillkürlich vor Peters innerem Auge entstanden war, während er die Mumien untersucht hatte.
Lisa war noch immer nicht überzeugt. »Weshalb sollte jemand so etwas tun? Und wer?«
»Das ist jetzt aber ein bisschen viel von Peter verlangt, finden Sie nicht, Fräulein Franks?« Bergen sah beinahe vergnügt aus.
»Nein, ich meine–«
»Ich denke«, schnitt Bergen ihr das Wort ab, »wir können zumindest eines mit ziemlicher Sicherheit sagen: Es hat keine kriegerische Auseinandersetzung stattgefunden. Wir haben weder Waffen noch Panzerungen oder anderes militärisches Gerät gefunden. Irgendwelche Anzeichen von Kampfverletzungen, Peter?«
Der verneinte, und Bergen nickte gewichtig. »Wir haben nicht einmal ein Messer gefunden, mit dem man jemanden hätte ermorden können. Da hilft nur eines. Wir gehen tiefer. Ab morgen werden alle Suchschnitte vollständig auf das mustawa al-mumiya abgetieft, also das Mumienniveau wie unsere Arbeiter es so treffend getauft haben. Und wisst ihr, was das heißt?«
»Dass wir niemals fertig werden?«, schlug Lisa vor.
Bergen funkelte sie mit seinen eisblauen Augen an, verkniff sich aber eine Entgegnung.
Freitag, 4. November 1988
Als Oberleutnant Peter Kosminsky den Zündschlüssel abnahm, löste das Prasseln des Regens ansatzlos das Geknatter des Zweitaktmotors ab.
»So ein Mistwetter, aber was erwartet man im November in unseren Breiten. Na los, dann lassen Sie uns mal reingehen.« Hauptmann Keller schlug den Kragen seines Regenmantels hoch und zog die altmodische Schiebermütze tiefer ins Gesicht. Oft hatten sich die Kollegen im Revier über seine Opamütze mokiert, auch Kosminsky. Jetzt konnte er sich bei dem Gedanken, dass das Trommeln auf dem Autodach gleich auf der Hinterhauptsglatze seines Assistenten weiterging, ein Grinsen hinüber zum Fahrersitz nicht verkneifen. Er öffnete die Tür des Streifenwagens und trat in eine knöcheltiefe Pfütze, die sich im Rinnstein gebildet hatte, seit der Regen am frühen Morgen begonnen hatte. »So ein verdammter Mist!«, entfuhr es ihm, als das eiskalte Wasser in seine Halbschuhe strömte.
»Trösten Sie sich, Chef, bei mir wird langsam die Frisur feucht.«
»Jaja«, murmelte Hauptmann Keller und betrachtete seine nassen Füße als eine kleine Strafe für die Vorfreude auf Kosminskys Durchnässung.
Die Gegend um die Robert-Siewert-Straße, in die sie heute Abend gerufen worden waren, lag direkt am Tierpark. Sie war vor allem bei älteren Leuten beliebt, nicht zuletzt wegen ihrer zentralen Lage. Das hier war zwar nicht Berlin-Mitte, aber trotzdem kein Viertel, in dem man eine marode Kanalisation vermuten würde. Mit den raumgreifenden Schlaglöchern, die mittlerweile zum normalen Straßenbild gehörten und immer öfter zu Reifen- und Aufhängungsschäden an den Einsatzfahrzeugen der Volkspolizei führten, hatte er sich abgefunden. Mit den Schlägen, die sein Rückgrat malträtierten, konnte Keller sich nicht anfreunden. Etwas anderes als die miserable Federung des alten Wartburg 353 sollte er sich doch im Laufe von fast vierzig Dienstjahren verdient haben. »Ich hätte gedacht, dass die wenigstens zur Vierzigjahrfeier die Straßen in Ordnung bringen...«, machte er seinem Ärger Luft. Sein Partner Kosminsky reagierte, wie üblich, nicht auf Kellers Kritik an den Zuständen in ihrer Republik.
»Hier ist es, Chef, ganz hinten durch, dritte Etage.« Oberleutnant Kosminsky stand bereits im Hauseingang eines Altbaus, der erstaunlicherweise die alliierten Bombardements und zuletzt die Häuserkämpfe mit der Roten Armee ohne massiven Schaden überstanden hatte. Fast schien es, als hätten die folgenden vier Jahrzehnte Vernachlässigung in der Deutschen Demokratischen Republik dem Gebäude mehr geschadet. Überall waren die Zeichen schleichenden Verfalls zu sehen. Der von Abgasen verdreckte Fassadenputz war an vielen Stellen abgeplatzt und überließ das blanke Mauerwerk Regen, Hitze und Frost. Der Hinterhof passte in das trostlose Bild; abgesacktes Kopfsteinpflaster, tiefe Pfützen und ein scheinbar uralter Haufen Bauschutt.
Der Tatort lag im Hinterhaus. Als Keller die letzten Stufen der durchgetretenen Holztreppe erstieg, konnte er schon das kräftige Organ von Leutnant Sarno hören. Der liebte es, mit lauten und meist völlig überflüssigen Anweisungen die Tatortuntersuchung zu erschweren und den Kollegen mit seinen abstrusen Theorien über den Ablauf einer Tat auf die Nerven zu gehen. Trotzdem war er nicht unbeliebt auf dem Revier; denn was er an kriminalistischem Handwerkszeug und Kombinationsgabe vermissen ließ, glich er durch Beflissenheit und Beharrlichkeit aus. Wenn man Sarno eine langweilige Beschattung oder einen Wochenenddienst nur genügend schmackhaft machte, durfte man sich in der Regel sicher sein, diese Bürde loszuwerden.
Mit einem tiefen Seufzen betrat Keller die Wohnung. »Guten Tag, Genosse Sarno, dann berichten Sie mal.«
»Guten Tag, Genosse Hauptmann. Also angerufen hat uns der Nachbar von oben drüber, der heißt Walter Meier, weil er einen Schuss gehört hat. Hier auf der Etage wohnt sonst niemand mehr. Also, der Zeuge Meier hat dann im Treppenhaus nachgeschaut, konnte aber nicht feststellen, woher der Schuss gekommen war. Dann ist er erstmal zum Fernsprecher und hat uns angerufen. Das war so gegen 18 Uhr 25. Dann hat er noch einmal im Treppenhaus nachgeschaut und gesehen, dass die Tür zur Wohnung des Opfers einen Spaltbreit offenstand. Reingegangen ist er aber nicht. Als er wieder in seiner Wohnung war, hat er nur noch gehört, wie unten die Haustür zugefallen ist. Der Zeuge Meier ist sich aber ganz sicher, dass er sie zuvor geschlossen hatte.«
»Sonst nichts, keine richtigen Zeugen, hat denn niemand etwas gesehen?«
»Nein, hier wohnt sonst nur noch eine alte Frau im Erdgeschoss. Aber die hat sich gar nicht rausgewagt. Na ja, und für die Frau vom Meier gilt dasselbe, die hat sich auch nicht aus der Wohnung getraut. Den Schuss hat sie allerdings ebenfalls gehört.«
»So ein Mist – was ist denn überhaupt passiert?«, forderte Keller unwirsch.
Ohne zu antworten, ging Sarno durch die Diele voraus und blieb im Türrahmen zur Küche stehen. Keller und Kosminsky bot sich ein ungewohnter Anblick. Morde, besonders so brutale wie dieser hier, waren in der Hauptstadt der DDR durchaus nicht an der Tagesordnung. Jedenfalls nicht so alltäglich wie in West-Berlin und der BRD, wenn man der Aktuellen Kamera und den Nachrichtensendungen im Westfernsehen Glauben schenken durfte.
Der Mann saß am Küchentisch, den Kopf auf die Arme gelegt, als sei er eingeschlafen. Die riesige Blutlache rings um seinen Kopf allerdings berichtigte diesen Eindruck. In seinem kurzgeschorenen Nacken war ein blutiges, kleines Loch zu sehen, dafür fehlten große Teile des Gesichtes, weil sie auf der Tischplatte und dem gegenüberliegenden Spülstein lagen.
»Der Tote heißt Helge Dietrich, geboren 1921 in Rendsburg, in der heutigen BRD.«
»Ich weiß, wo Rendsburg ist«, unterbrach Keller den Leutnant. »Wär’ er bloß im Westen geblieben, dann hätte er sich das hier erspart – und uns auch. Machen Sie weiter, Genosse Sarno.«
»Ja also, da gibt’s nicht viel. Aufgesetzter Schuss im Nacken. Der massiven Verletzung des Gesichtes nach zu schließen vermutlich ein Hohlmantelgeschoss. Nichts, was man so bekommen kann oder beispielsweise ein Jäger zur Verfügung hätte – wir von der K übrigens auch nicht. Ich würde denken, solche Munition wird eher im militärischen oder vielleicht im terroristischen Umfeld benutzt. Das wäre ja dann eher was für das Kommissariat 9, nicht für uns. Hm... ja, aber wir haben das Geschoss noch nicht gefunden; die Spurensicherung ist noch dran.«
Keller hörte Sarnos langatmigen Ausführungen kaum noch zu. Ihn beschäftigte die Frage, was ein anscheinend harmloser, alleinstehender Rentner, der in recht ärmlichen Verhältnissen lebte, anstellen musste, damit er zur Zielscheibe einer Terrorgruppe oder eines Geheimdienstes oder was auch immer wurde. Denn eines war klar: Das hier war keine Streiterei unter Betrunkenen, bei der sich ein Schuss gelöst hatte, oder ein missglückter Wohnungseinbruch. Das hier war eine Hinrichtung mit professionellem Werkzeug und wenigen Spuren durch jemanden, der genau wusste, was er tat – und das sicherlich nicht zum ersten Mal.