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Sie war wunderschön! Die junge Frau auf der Bank. Viel zu sommerlich angezogen für diese Jahreszeit. Kein Wunder, dass sie so blass ist. Warum zittert sie nicht? Stefanie ist tot! Sie hat keinen Tropfen Blut mehr im Körper. Hauptkommissar Carsten Rolle und seine neue Kollegin Lena Speck nehmen die Ermittlungen auf. Dem Osnabrücker Team wird schnell bewusst, dass Stefanie nicht das letzte Opfer des Bluträubers sein wird. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Von
Birgit Vobinger
Copyright © 2025 Birgit Vobinger
Alle Rechte vorbehalten
Die Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen oder Orten sind nicht beabsichtigt. Die Wirkung genannter Substanzen ist fiktiv, bitte nicht nachmachen!
Blut.Schön!
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15 (vier Wochen später)
Es war ein sonniger Novembertag. Die klare Luft und der strahlend blaue Himmel luden den Hundebesitzer zu einem Spaziergang ein. Er hatte es nicht weit, um mit seinem Dalmatiner ins Grüne zu kommen. Manfred Zurheide wohnte an „Die Eversburg“, nur wenige Meter bis zum Stichkanal. Früh morgens ließ der Frührentner Frodo nur schnell in den Garten und frühstückte ausgiebig mit seiner Frau. Nach dem Mittagessen wusste der Hund genau, dass nun seine Stunde gekommen war. Sein Herrchen würde die Leine nehmen und mit ihm zum Kanal gehen. Er durfte freilaufen, schnuppern und überall seine Duftmarken setzen. Aufgeregt zappelte der Hund, bis Manfred endlich die Tür öffnete. Es gab Tage, an denen man seinen inneren Schweinehund überwinden musste. Besonders der November zeigte sich gewöhnlich traurig und nasskalt. Heute brauchte der Rentner nur eine leichte Übergangsjacke und sogar eine Sonnenbrille. Ein herrlicher Tag. Nach wenigen Metern ging er den kleinen Pattweg bis zur Wasserkante herunter, um seinen gewohnten Weg zu gehen. An der linken Flussseite brauchte er etwa 20 Minuten bis zur nächsten Brücke, überquerte sie und ging an der rechten Seite wieder zurück. Auch wenn er diesen Weg jeden Tag ging, wurde es nie langweilig. Man traf auf viele Menschen. Nicht nur die Hundebesitzer, die, wie er, seinen festen Rhythmus hatten. Man traf Spaziergänger, mit denen man wegen des Hundes ins Gespräch kam. Natürlich traf man auch auf Menschen, für die der Anblick eines Vierbeiners sofort eine Stresssituation bedeutete. Die Saison der Angler des NWA war langsam vorbei. Nur noch vereinzelte traf man hie und da einen. Heute Mittag waren Manfred und Frodo allein. Keine Menschenseele zu sehen, an solch einem Tag. Nicht weit entfernt von der Brücke, lief Frodo plötzlich bellend auf die junge Frau, die auf der Bank saß, zu. Manfred erschrak. Gedankenverloren war er, die Sonne im Gesicht genießend, hinter seinem Hund hinterherspaziert.
„Oh, bitte entschuldigen Sie. Haben Sie keine Angst, der Hund tut wirklich nichts! Frodo, aus! Frodo hierher!“
Manfred schrie seinen Hund an, aber der reagierte nicht. Der Dalmatiner blieb vor der jungen Frau stehen und hörte nicht auf sie anzubellen.
„Frodo! Froooodoooo! AUUUS!“
Eigenartig war nur, dass die Frau sich nicht bewegte. Manfred war noch weit entfernt aber jeder, der von einem fremden Hund angebellt würde, würde reagieren. Menschen die Angst vor Hunden hatten würden längst den Besitzer anschreien. Andere, die Erfahrung mit den Vierbeinern hatten, reagierten auf andere Weise. Es kam nichts. Keine Reaktion. Eiligen Schrittes hatte der Rentner die Bank erreicht. Er griff Frodo am Halsband und leinte ihn sofort an.
„Bitte verzeihen Sie mir. Sicher denken Sie das sei eine Ausrede, aber er macht so etwas sonst nicht.“
Frodo hatte sich beruhigt. Manfred sah die Frau an und erschrak bis aufs Mark. Er kannte den Grund, warum sie nicht reagierte. Ihr Gesicht war weiß, wie eine Wand und ihre Augen waren geschlossen. Sie trug ein leichtes Sommerkleid und hielt einen Strauß bunter Blumen in den Händen. Sein Herz schlug wie wild in seiner Brust. Nicht nur, weil er so schnell zu seinem Hund gehetzt war, sondern weil er spürte, dass er einen toten Menschen vor sich hatte. In der Hoffnung, sich geirrt zu haben, sprach er sie noch mehrmals an, aber die erhoffte Reaktion blieb aus. Manfred gab die Hoffnung auf.
„Mädchen, du bist doch noch so jung“, sagte er zu sich selbst, während er den Notruf wählte.
Die letzte Tür auf der rechten Seite hatte der nette Polizist am Eingang gesagt. Leicht zu finden, dachte Lena, dennoch war der Weg nicht leicht. Schritt für Schritt spürte sie, wie sie nervös wurde. Vor der Tür des Hauptkommissars hielt sie inne. Hauptkommissar Carsten Rolle und Hauptkommissar Werner Führig stand an der Tür. Von der Personalabteilung hatte Lena erfahren, dass Werner Führig in den Ruhestand gegangen sei und sie seine Nachfolgerin würde. Ein gestandener Kommissar wurde gegen eine blutjunge Anfängerin ausgetauscht. Lena hatte von spektakulären Fällen auf der Akademie gehört. Bei so einigen Fällen wurden die Namen Carsten Rolle und Werner Führig genannt. Sie war sich sicher, dass Hauptkommissar Rolle mehr als unglücklich darüber sein würde, sie als Anfängerin, als Greenhorn an die Seite zu bekommen. Lena wunderte sich über sich selbst. Sie war ehrgeizig, zielstrebig, sehr sportlich und wirkte auf viele Menschen eher burschikos. Ihre Freunde würden ihre Angst nicht für möglich halten. Dennoch stand sie vor der Tür und traute sich nicht anzuklopfen.
„Ist Carsten nicht da?“, fragte eine Polizistin, die mit einem Stapel Akten den Gang entlangging.
Lena sah sie an. „Ich weiß nicht, ich habe noch nicht angeklopft.“
„Ah, verstehe. Nervös? Du bist die Nachfolgerin von Werner?“
Schweigend nickte Lena.
„Vor Carsten musst du keine Angst haben. Er ist sehr nett.“
„Tja, ich soll Werner Führig ersetzen? Als Anfängerin?“
„Du sollst ihn nicht ersetzen. Das kann niemand, denn Werner ist eben Werner. Du sollst die frei gewordene Stelle besetzen und das als, wie heißt du eigentlich?“
„Lena.“
„Genau. Du besetzt die Stelle mit Lena. Lena mit all ihren Stärken und Schwächen. So, wie wir alle unsere Stärken und Schwächen haben und genau das macht uns zu einem unschlagbaren Team. Also, Lena, tief einatmen, anklopfen und rein in den Job.“
„Danke, du hast mir sehr geholfen. Du kannst einem wirklich Mut machen.“
„Na, das will ich mal hoffen, ich bin die Psychologin im Team.“
Energisch klopfte sie an.
„Ja, bitte!“
Lena betrat den Raum. Durch das große Fenster, gegenüber der Tür, war das Büro angenehm hell. Die beiden Schreibtische standen an der rechten und linken Seite des Zimmers. Dadurch konnte jeder Beamte vom angenehmen Licht profitieren, ohne dass sich die Sonne auf dem Monitor spiegelte.
Carsten Rolle war ein äußerst attraktiver Mann. Der 57-Jährige war etwa 1,90m groß und muskulös.
„Guten Morgen, kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.
Seine tiefe und zugleich beruhigende Stimme ließ sie erschaudern. Erst als Carsten die Augenbrauen hochzog, um anzudeuten, dass er auf eine Antwort wartete, reagierte Lena.
„Hallo, ich bin Lena. Die Neue. Die Anfängerin, die Ihnen zugeteilt wurde. Also ich bin Lena Speck.“
„Lena Speck? Ehrlich?“
Verwundert nickte Lena, fragend.
„Haha, das ist wohl ein Scherz der Personalabteilung. Jungs! Ihr könnt reinkommen!“, rief er zur verschlossenen Tür.
„Das ist kein Scherz“, sagte Lena zögernd. „Ich bin wirklich die Neue.“
„Das glaube ich Ihnen ja. Aber wie heißen Sie?“
„Lena Speck.“
Carsten setzte sich und hielt sich die Hand an die Stirn.
„Tja, dass wird ja lustig, wenn wir ermitteln.“
Lena zuckte mit den Schultern.
„Wenn ich uns vorstellen darf. Wir sind die Kommissare Speck und Rolle. Die Speck-Rolle.“
Beide fingen laut an zu lachen und das Eis war gebrochen.
*
Anna fuhr direkt nach der Frühschicht zu Marktkauf. Carsten und sie waren heute Abend mit ihren Freunden verabredet und es fehlte noch einiges. Andrea und ihr Mann Ralf wollten um 19 Uhr zum Essen kommen und die vier liebten ein gut gebratenes Rumpsteak. Da Marktkauf das begehrte Fleisch diese Woche schon für knapp 19 Euro pro Kilo anbot, beeilte sich Anna. Sie freute sich auf den gemeinsamen Abend. Anna und Andrea hatten schon zusammen die Schulbank gedrückt. Damals war es noch die Realschule Eversburg. Mittlerweile ist daraus ein riesiger Komplex geworden. IGS nannte sich die Schule jetzt. Integrierte Gesamtschule. Trotz ihrer tiefen Verbundenheit hatten sich die Leben der beiden Frauen unterschiedlich entwickelt. Anna und Carsten hatten keine Kinder. Beide gingen in ihren Berufen auf. Er als Kriminalhauptkommissar und sie als Krankenschwester. Sie liebten es zu Reisen. Andrea wurde schon kurz nach dem Realschulabschluss mit ihrem ersten Sohn schwanger. Sie arbeitete zwar immer stundenweise in einem Büro, war aber mit Leib und Seele Hausfrau und Mutter. Das Paar hatte drei Kinder, auf die sie sehr stolz sein konnten. Ralf verdiente als Informatiker gutes Geld. Sie könnten sich, besonders jetzt, wo die Kinder schon erwachsen sind, ferne Reisen leisten, aber für die Familie gab es nur die Ostsee. Jedes Jahr derselbe Ort, dasselbe Ferienhaus, stets für zwei Wochen. Carsten hatte den beiden schon oft vorgeschlagen, sich ein Ferienhaus zu kaufen, sie würden sowieso immer dorthin fahren, aber das lehnten sie ab. Carsten vermutete, dass sich Ralf nicht an größere Investitionen herantraute. Auch ein Eigenheim besaß das Paar nicht. Sie hatten eine große, ganz bezaubernde Mietwohnung mit einer schönen Terrasse. Die hohe Miete für dieses Objekt reichte schon für eine Finanzierung eines Eigenheims aber jede Diskussion war zwecklos. Das Einfamilienhaus von Carsten und Anna war bereits seit ein paar Jahren abbezahlt. Sie hatten mit 30 Jahren gebaut und beide waren mit 50 bereits schuldenfrei. Ein Blick auf die Uhr verriet Anna, dass sie sich etwas beeilen musste. Die Freunde würden in zwei Stunden kommen und sie musste noch etwas aufräumen und alles vorbereiten. Das Carsten früher von der Arbeit kommen würde, um ihr zu helfen war schier aussichtlos. Im Innersten hoffte Anna, dass er überhaupt zum Essen erscheinen würde. Ein neuer Fall bei dem Eile geboten war, hatte schon so manch einen Abend platzen lassen. Aber es war schon 16 Uhr und es hatte noch keinen Anruf gegeben. Die Chancen standen gut.
*
Die Tür zum Büro öffnet sich ohne ein Klopfzeichen.
„Carsten, wir haben eine Tote am Kanal“, sagt die Polizeibeamtin, ohne von Lenas Anwesenheit Kenntnis zu nehmen.
„Eine Leiche am Kanal?“
„Ja, wir haben gerade den Anruf bekommen. Ich habe dir hier die Adresse aufgeschrieben. Die Notärztin vor Ort geht von einem Gewaltverbrechen aus.“
Carsten nahm den Notizzettel und bedankte sich.
„Gleich an deinem ersten Tag ein Gewaltverbrechen? Dann lass uns mal fahren.“
Lena spürte, wie Nervosität in ihr aufstieg. Sicherlich hatte sie immer davon geträumt, große Fälle zu lösen, aber nun war sie auf dem Weg zu einem Tatort. Ihrem ersten Tatort. Ihr spektakulärer Fall bedeutete gleichsam, dass jemand heute sein Leben verloren hatte. Nein, freuen konnte sie sich nun nicht mehr. Die Realität sah anders aus. Ein Mensch war tot. Wer weiß, auf welch grausame Weise er seine letzten Momente erleben musste. Nun gab es Familienmitglieder, Ehepartner und womöglich Kinder, die jemanden verloren hatten. Zum ersten Mal dachte sie darüber nach, ob es eventuell besser gewesen sei, weiter Jura zu studieren. Sie könnte Mandanten vertreten, die mit der gebuchten Reise unzufrieden seien oder die zu Unrecht aus ihrem Job entlassen wurden. Aber sie war, jung und naiv, nun auf dem Weg, in die Fratze des Todes zu blicken. Von Haste bis zum Kanal brauchten sie nur 15 Minuten. Carsten hatte keine Sirene eingeschaltet. Er meinte, dass der Täter schon weg sein und die Tote tot. Wozu also die Eile? Carsten parkte den BMW an der Seite auf einem Grünstreifen. Lena eilte übereifrig den Pattweg hinunter, streifte sich Einmalhandschuhe über und wollte zu der Parkbank eilen, auf der die Tote saß.
„Wow, wow, wow. Nun mal langsam, junge Dame!“, rief Carsten und hielt Lena gerade noch am Arm fest.
Erstaunt sah die junge Kommissarin ihren Vorgesetzten an.
„Lena, wir haben noch keinen Zutritt. Erst wenn die KTU uns diesen gewährt. Ich weiß, im Film sieht das immer anders aus. Die Kommissare stapfen durch den Tatort, die Handschuhe nicht einmal richtig angezogen und fangen an zu ermitteln. Fakt ist aber, die Realität sieht anders aus. Erst die Kollegen der Kriminaltechnik. Wenn alle Spuren gesichert sind, geben sie uns Bescheid.“
„Sorry. Ich habe keine Ahnung, was mich geritten hat. Das haben wir auf der Akademie auch gelernt.“
„Mach dir keine Gedanken. Der erste Tatort lässt jeden einfach alles vergessen, was man vorher aus dem FF konnte. Da drüben ist die Notärztin. Mit der reden wir.“
Carsten stellte Lena und sich vor. Er vermied es, Speck und Rolle zu sagen. An den Gedanken musste er sich noch gewöhnen. Die Notärztin, eine gedrungen wirkende Frau mittleren Alters hatte auf die Beamten gewartet.
„Wie ist Ihr erster Eindruck?“, erkundigte sich Carsten.
„Als ich den Puls der jungen Frau am Hals ertasten wollte, schob ich das Halstuch etwas an die Seite. Es befindet sich ein Holzstück im Genick der Toten. Ich vermute, dass wenn man sie entkleidet, eine Art Holzgestell auf ihrem Rücken finden wird. Der Täter konnte sie so stabilisieren, damit sie aufrecht sitzen bleibt.“
„Konnten Sie schon eine vorläufige Todesursache feststellen?“
„Pallor und Algor mortis sind stark ausgeprägt. Nach Erstasten der Carotis konnte ich feststellen, dass der Rigor mortis bereits fortgeschritten ist. Weitere Untersuchungen habe ich nicht vorgenommen, da ich den Tatort nicht kontaminieren wollte.“
Lena hatte nicht alles verstanden. Ihr Blick war unmissverständlich.
„Entschuldigen Sie. Ich meinte damit, dass die Tote eine deutliche Leichenblässe und eine Leichenkälte aufweist. Die Totenstarre hat bereits eingesetzt. Bei den Temperaturen gehe ich davon aus, dass sie mindestens schon 8 Stunden tot ist.“
Einer der Rettungssanitäter winkte der Ärztin zu, dass sie kommen sollte. Sie entschuldigte sich, und brach zu ihrem nächsten Einsatz auf. Mit Blaulicht und eingeschalteter Sirene rauschten die Einsatzwagen davon. Lena blickte ihnen noch einen kurzen Moment nach.
„Kann man das abends einfach abschütteln? Mittags eine Tote auf einer Bank sitzend. Der nächste Fall vielleicht ein überfahrenes Kind auf dem Schulweg. Abends dann noch ein tödlicher Herzinfarkt und der Familienvater ist nicht mehr da.“
„Du hast recht. Wenn die Tage immer so aussähen, bräche man daran zusammen. Du vergisst aber auch die Momente, an denen du Menschen in ihrer Not hilfst. Als meine Nachbarin stürzte und sich die Schulter brach, war sie sehr dankbar, als man ihr eine Spritze gegen die Schmerzen gab und sie ins Krankenhaus begleitete. Daran muss man sich festhalten.“
Carsten und Lena gingen zu dem Hundebesitzer, der im Einsatzwagen der Polizei saß und wartete. Die Kommissare stiegen in den Bulli und schlossen die Tür hinter sich.
„Guten Tag“, grüßte Carsten, „Ich bin Hauptkommissar Rolle und das ist meine junge Kollegin Kommissarin Lena Speck.“
Es hatte geklappt. Der Mann fing jedenfalls nicht an zu lachen.
„Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie warten ließen. Wir mussten erst mit der Notärztin sprechen. Sie sehen ja, wie schnell sie zum nächsten Einsatz gerufen wurde. Sie sind?“
„Zurheide, Manfred.“
„Herr Zurheide, Sie haben die Tote auf Ihrem Spaziergang mit Ihrem Hund gefunden?“, fragte Lena.
Der Rentner war verstört über das Erlebte. Carsten war bewusst, dass er in dieser Situation kaum eine annehmbare Aussage erwarten konnte. Er öffnete die Tür des Bullis und gab dem Kollegen ein Zeichen, dass der Hund des Rentners ins Fahrzeug kommen sollte. Hastig sprang der Dalmatiner in den Wagen, rutschte mit den Hinterläufen weg, fing sich sofort wieder und sprang an seinem Herrchen hoch.
„Ein toller Hund. Wie heißt er?“, wollte Carsten wissen.
„Das ist mein Frodo. Ein richtig lieber Kerl ist das.“
Carsten beugte sich zu dem Hund rüber und streichelte ihn.
„Was für ein gesundes und glänzendes Fell. Man könnte meinen der hat Lackspray drauf.“
„Nein, das hat er nicht. Frodo bekommt aber nur das Beste zu fressen und täglich ein Ei. Das Ei ist gut für sein Fell.“
„Ach, das wusste ich gar nicht. Hat er seinen Namen aus Herr der Ringe oder hieß er schon so, als er vom Züchter kam?“
Der Rentner lachte. „Nein, der Name in seinen Papieren ist Bruno vom Klosterberg. Aber meine Enkelin übte gerade für ihr Seepferdchen und hatte einen kleinen Tauchring. Auf den hatte der kleine Bruno es abgesehen. Er war ganz verrückt nach diesem Ring. Dann hieß es, er sei der Herr der Ringe und schnell wurde sein Name Frodo.“
„Eine tolle Geschichte. Der Name ist viel besser als Bruno von dem Klosterberg. Sagen Sie Herr Zurheide, wer hat die junge Frau zuerst gesehen, Frodo oder Sie?“
„Ach, es war der Frodo. Er lief vor, wie er es immer macht. Schnuppert und setzt Duftmarken. Das er jemanden anbellt, kenne ich nicht. Ich bin immer mit ihm in der Hundeschule. So ein Verhalten legt der Hund nie an den Tag. Vor der jungen Frau blieb er stehen und hörte nicht auf, sie anzubellen. Gerufen habe ich, aber er hat immer weiter gekläfft.“
Einen Moment hielt er inne und sah aus dem Fenster. Lena wollte gerade eine Frage stellen, aber Carsten gab ihr ein Zeichen, dass sie ruhig sein sollte. Man muss einem Menschen auch eine Pause geben, wenn er sie brauchte.
„Das arme Ding. Ich habe eine Tochter in etwa demselben Alter. Was wird denn nur aus ihren Eltern? Das kann man doch nicht wegstecken. Eltern sollten nicht ihre Kinder begraben.“
Den Blick nach unten gerichtet wischte er sich heimlich die Tränen aus dem Gesicht.
„Wir wissen nicht, ob sie noch Eltern hat, aber wir werden alles tun, damit wir den Täter oder die Täterin finden. Mein Kollege sagte mir, dass Sie die junge Frau gegen 13 Uhr gefunden haben?“
Manfred Zurheide nickte.
„Ja, ich gehe mit Frodo nach dem Mittagessen immer hier spazieren.“
„Gehen Sie früh morgens auch hier lang?“
„Nein, abends aber um 22 Uhr eine kurze Runde, damit Frodo noch mal sein Geschäft machen kann. Morgens nicht, da lasse ich ihn nur in den Garten zum Pinkeln.“
Lena notierte, dass die Tote zwischen 22 Uhr und 13 Uhr abgelegt worden sei.
„Frodo hat die Frau angebellt. Hat er sie angesprungen?“
„Nein! Er stand vor ihr und hat gebellt. Ich bin, so schnell es ging, zu ihr gerannt um habe mich entschuldigt und Frodo am Halsband gepackt und mit ihm geschimpft. Da habe ich gemerkt, dass sie gar nicht reagiert. Sie saß nur so da. Eine schöne Frau. Durch die große Sonnenbrille konnte ich ihre Augen nicht sehen. Ich dachte erst, dass sie mich ansehen würde. Aber sie saß nur da. Sie bewegte sich keinen Millimeter und ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so weiß im Gesicht war. Ich habe gedacht, dass sie vielleicht eingeschlafen wäre. Ist ja so herrlich sonnig heute. Ich meine, es ist November, überlegen Sie mal. Sie saß auf der Bank und hatte diesen hübschen Blumenstrauß in den Händen. Ich glaube, mir war klar, dass sie nicht schlief. Ich habe ihre Hand berührt. Haben Sie sie auch berührt?“
Carsten schüttelte den Kopf.
„So kalt. Das arme Ding war ja so kalt. Das kam bestimmt nicht davon, dass sie nur dieses dünne Sommerkleid anhatte. Ich glaube es ist die Todeskälte gewesen.“
„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Haben Sie jemanden bemerkt oder Frodo vielleicht?“
Traurig schüttelte Manfred den Kopf.
„Manfred! Um Gottes Willen, was ist denn passiert? Nein, lassen Sie mich los! Wo ist mein Mann?“, rief eine aufgebrachte Frau.
Frau Zurheide hatte ihren Mann bereits vermisst. Längst hätte er von seinem Spaziergang zurücksein müssen.
„Das ist Martha, meine Frau.“
Carsten gab dem Rentner seine Karte und bat ihn, sich zu melden, wenn ihm noch etwas einfallen würde. Manfred verließ den Bulli und ging zu Martha. Es hatten sich zahlreiche Schaulustige versammelt. Carsten nahm, so unauffällig es ihm möglich war, sein Handy und filmte die Passanten.
„Gut möglich, dass sich der Täter hier unter den Gaffern befindet.
*
Die Kriminaltechniker hatten, noch bevor die Schaulustigen aufgetaucht waren, den Bereich mit Absperrband gesichert. Über die Leiche hatten sie schnell ein Tuch geworfen. Sobald Gaffer auftauchten, wurden die Handys gezückt und Fotos und Filme gemacht. Es heißt immer, dass die Bilder in den sozialen Netzwerken auftauchten. Martin Boberg, der Einsatzleiter der KTU nannte es nicht Soziale Netzwerke, sondern Asoziale Netzwerke. Ein solches Verhalten, sich am Leid anderer Menschen zu ergötzen war im höchsten Maße asozial. Seine Kollegen hatten bereits damit begonnen ein Zelt um die Tote aufzubauen. Entgegen den Darstellungen in Filmen, stapften die Kommissare nicht am Tatort umher bis der Rechtsmediziner auftauchte, der wenigstens zum Teil einen Schutzanzug trug. Carsten und Lena hatten keinen Zutritt zum Fundort. Auch sie konnten den Kollegen in ihren weißen Papieranzügen und mit den Kapuzen und den Handschuhen nur aus der Ferne bei der Arbeit zusehen. Das Zelt beschützte das Opfer vor den Blicken Fremder. Martin Boberg und sein Team gingen hinein. Sie machten unzählige Fotos und sammelten hunderte von möglichen Beweismitteln. Zu guter Letzt entkleideten sie die Tote. Martin verließ das Zelt und ging zu Carsten. Er hielt ihm einen Anzug hin.
„Hier, zieh den an und komm mal mit. Wir haben im Zelt alles gesichert. Das solltest du dir ansehen. Carsten folgte dem Einsatzleiter. Die junge Frau war vollständig entkleidet. Ihre Kleidung, sogar der Blumenstrauß, den sie in den Händen gehalten hatte, waren in Tüten verpackt. Sie saß noch immer auf der Bank. Um ihren Hals, die Brust und um die Taille befand sich hellgrünes Klebeband.
„Schau mal auf ihrer Rückseite. Man hat ihr ein Gestell aus Dachlatten gemacht. Dieses Holzkreuz hat man ihr mit Panzerband am Körper festgeklebt. Das hellgrüne Panzerband gab es vor einiger Zeit bei Lidl. Ich habe mir dort auch welches gekauft. Dort haben wir Spuren eines Rollstuhls gefunden. Man hat ihr nach dem Tod das Kreuz umgeschnallt, sie hübsch angezogen, frisiert und geschminkt. Fällt dir auf, wie perfekt sie ist? Ich denke, dass man sie mit einem Rollstuhl hierhergeschoben hat. Wer würde dem Beachtung schenken? Achtest du immer darauf, wenn dir jemand entgegenkommt und einen Rollstuhl schiebt? Also ich nicht. Man könnte sich sogar gemeinsam auf die Bank setzen, also die Tote bleibt im Rollstuhl sitzen, bis die Luft rein ist. Dann hebt man sie auf die Bank und geht. So einfach ist das. Durch das Kreuz im Rücken wird sie schön sitzen bleiben. Ich möchte nicht wissen wie viele hier vorbeigegangen sind und keine Notiz von der Frau mit der Sonnenbrille und den Blumen in der Hand genommen haben.“
„Was sind das für blaue Flecken in ihren Armbeugen?“
„Tja, die kommen von Infusionsnadeln. Entweder war sie vor kurzem noch in Behandlung, Blutabnahme oder Infusion, die ein Anfänger gelegt hat, oder es stammt vom Täter. Was mir aber besonders auffällt, ist die enorme Blässe.“
„Stimmt“, meinte Carsten, „Ich habe schon viele Tote gesehen aber die hier ist wirklich weiß wie ein Laken.“
„Wer sie wohl ist? Ich werde ihr Bild durch die Datenbank vermisster Personen schicken.“
„Nicht nötig. Das ist Stefani Martens.“ Martin zeigte Carsten den eingetüteten Personalausweis der Leiche. Carsten machte ein Foto mit seinem Handy vom Ausweis.
„Hältst du mich auf dem Laufenden?“
Martin nickte. „Klar, wir sind hier so gut wie fertig. Ich habe das Bestattungsunternehmen benachrichtigt. Sie wird direkt nach Oldenburg gebracht. Die Gerichtsmediziner werden sich bei dir melden.“