Paul muss weg - Birgit Vobinger - E-Book

Paul muss weg E-Book

Birgit Vobinger

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Beschreibung

Karla hat es nicht leicht an der Realschule Osnabrück. Sie wäre froh, sich auf den Unterricht konzentrieren zu können und ihren lange geplanten Verlauf ihres weiteren Lebens in die Tat umzusetzen. Es scheint aber alles schief zu laufen. Tyrannei durch die Schulleitung und besonders durch Pauls Eltern. Zeit für die junge Lehrerin, sich zur Wehr zu setzen. Sie muss eine Lösung finden, aber eines ist ihr klar. PAUL MUSS WEG! Ihre Pläne wachsen ihr über den Kopf und sie tritt von einem Fettnäpfchen ins nächste. Als dann auch noch ihr Schüler verschwindet, steckt sie mitten in den polizeilichen Ermittlungen.

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Seitenzahl: 337

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Paul muss weg!

1 Gegenwart

In den letzten Monaten hatte Karla ihre neue Umgebung angenommen. Was ihr zunächst fremd und angsteinflößend erschien, gab ihr heute Sicherheit. Dr. Hafner begrüßte Karla lächelnd und wies sie an, es sich bequem zu machen. Sie hatte bereits viel Zeit in dem Raum verbracht. Jeder Psychotherapeut wusste, dass das Setting der Beratung von essenzieller Bedeutung war. Auch Gernot Hafner achtete stets auf eine angenehme Atmosphäre. Es standen immer duftende Blumen auf dem Tisch. Bei ihren Gesprächen tranken sie oft eine Tasse Kaffee. Der Raum strahlte eine gewisse Geborgenheit aus. So fühlte sie sich auch, geborgen.

„Ist es nicht schön, was wir im letzten halben Jahr erreicht haben?“

Karla lächelte. Lange war es ihr unmöglich zu lächeln. Die 28-jährige Frau hatte Sorgenfalten bekommen. Die letzten Monate hatten sie altern lassen. Nun war sie endlich auf dem Weg in ein normales Leben, wenn man es so nennen konnte, zurückzufinden.

„Ich habe etwas mitgebracht. Wir sollten in der Gruppe etwas malen, dass uns sehr am Herzen liegt. Ich habe das hier gemalt“, sie gab dem Psychiater das Bild.

„Sie haben unsere Sitzung gemalt? Das freut mich. Es zeigt mir, dass Sie gerne hier sind. Das wiederum bedeutet, Sie sind bereit an den Problemen zu arbeiten.“

„Bin ich. Wie Sie gesagt haben. Ich bin der Meister meiner eigenen Probleme.“

„Sie haben mir damals Ihre Situation als großen Bullshit beschrieben. Wie sieht es heute aus?“

„Ach, was soll ich sagen. Ich habe Ralf verziehen. Ich war bestimmt auch nicht einfach. Ich habe es vielleicht mit meiner Planung ein wenig übertrieben. Ich lebe in der Zukunft auch mal spontan, das habe ich mir vorgenommen.“

„Das finde ich sehr schön. Man sollte auch immer etwas spontan sein. Wie stehen Sie zu dem, was Sie getan haben?“

„Ich habe mich zu sehr einschüchtern lassen. Ich muss mir erlauben, mal einen Fehler zu machen.“

„Warum weichen Sie meiner Frage aus? Wir können über alles sprechen. Würden Sie alles so wiederholen, wie Sie es getan haben? Ist es das, was Sie mir versuchen zu sagen?“

Karla lächelte.

„Ihnen ist bewusst, dass wir auch an Themen arbeiten müssen, die Ihnen im Augenblick noch schwerfallen? Sie möchten eines Tages wieder nachhause, in den Beruf zurück und das Leben wieder genießen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als langsam einen Schritt weiterzugehen. “

Karla blickte zu dem Strauß Blumen, der auf dem Tisch stand. Sie stand auf und roch an ihm.

„Wie herrlich die duften. Wissen Sie, die Gesangsstunden finde ich auch sehr schön. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so viel Freude am Singen hätte.“

Dr. Hafner öffnete eine Mappe und zog ein DIN-A4-Blatt hervor. Er schob es Karla zu. Sie blickte nur kurz auf den Zettel und wandte den Blick ab.

„Erinnern Sie sich an das Bild? Sie haben es damals angefertigt. Es ist zwar nur eine Kopie und daher viel kleiner, aber es ist von Ihnen.“

Karla blickte stumm zur Seite.

„Ich möchte, dass Sie mir zu morgen ein Bild malen. Malen Sie bitte Ihre Gefühle, die Sie jetzt haben, da ich Ihnen Ihr Bild gezeigt habe. Werden Sie das für mich tun?“

Karla nickte und verließ den Raum.

2 Damals

Die Küche duftete nach frischem Kaffee und aufgebackenen Croissants. Karla stand früher auf als gewöhnlich. Schon gestern hatte sie vermutet, dass heute der eine Tag sein würde. Der besondere Tag, auf den sie, seit mehr als 10 Jahren hingearbeitet hatte. Wahrscheinlich schon viel länger, vermutlich ihr ganzes Leben, aber vor 10 Jahren war der Plan bis ins kleinste Detail durchdacht. So war Karla. Sie brauchte immer einen Plan, war zielstrebig und organisiert. Bis heute.

Mit einem Lächeln zündete sie die Teelichter an, zupfte die Tischdecke zurecht und musterte den perfekt gedeckten Frühstückstisch. Das Glück hatte sie auf ihrer Seite. Ausgerechnet heute hatte sie etwas mehr Zeit. Mittwochs musste die Lehrerin erst zur zweiten Stunde. Normalerweise war sie schon auf dem Weg zur Schule, bevor ihr Mann Ralf aus dem Badezimmer kam. Ralf arbeitete bei der Sparkasse und musste erst kurz vor 9 Uhr aus dem Haus.

„Guten Morgen, noch hier?“ Erstaunt blickte er auf die Uhr. „Musst du nicht zur Schule?“

Karla biss sich auf die Lippen und zappelt vor Aufregung.

„Schatz, du hast so schön gedeckt, aber ich habe nicht viel Zeit. Wenn ich das gewusst hätte. Wenn du ein gemeinsames Frühstück möchtest“, er blickte erneut auf seine goldfarbene, teuer aussehende Armbanduhr, „Du hättest ja was sagen können.“

Karla zog den Stuhl vom Tisch und griff die starken Arme ihres Mannes. Immer wenn sie das tat, spürte sie, wie durchtrainiert er war. Die vielen Squashstunden mit seinem Freund und das Krafttraining sah man ihm an. Sie drückte ihn auf den Küchenstuhl.

„Schatz, was soll das? Ich muss los!“

Karla ignorierte seine Aussage. Sie quiekte vor Freude. „Schatz, heute ist es endlich soweit!“ Sie viel ihm um den Hals. Sanft und sichtlich irritiert löste er sich aus ihrer Umarmung.

„Und was ist heute?“

Strahlend holte sie den Teststreifen hervor und zeigte ihn Ralf. Er zuckte mit den Schultern.

„Und?“

„Schau doch nur, zwei Streifen.“

„Und? Das bedeute was?“

„Das ist doch mein LH-Test. Ich bin so weit, Dummkopf, mein Eisprung steht an. Endlich können wir Finn-Lukas zeugen. Heute wird dein Sohn gezeugt. Das ist doch furchtbar aufregend.“

Ralf sagte nichts. Musste er auch nicht. Karla hörte gar nicht mehr auf, zu plappern. Goss den Kaffee ein, legte ein Croissant auf den Teller und redete und aß.

„Was möchtest du heute Abend denn essen? Du kannst dir was aussuchen. Nur ich dachte, Wein gibt es nicht zum Essen, auch kein Bier. Wir wollen Finn-Lukas doch nicht angedudelt zeugen. Ach, ich bin aufgeregt. Komm heute nicht so spät nachhause.“

Ralf nickte, legte die Serviette beiseite und fuhr zur Arbeit.

Mit einem Lächeln räumte sie schnell das Nötigste auf, bevor sie sich ihre Schultasche schnappte und sich auf den Weg machte. Die zweite Stunde begann um 8:30 Uhr. Normalerweise brauchte sie nur 20 Minuten von Georgsmarienhütte bis zum Schölerberg, aber man wusste nie, wie sich die B51 in Nahne staute. Karla war lieber ein paar Minuten zu früh da, als auf den letzten Drücker über den Schulhof zu hasten. „Man muss einen kleinen Stau eben einplanen“, sagte sie immer. Es gab auch nicht viele Ausreden, die sie akzeptierte, wenn ein Schüler zu spät kam. Sie war organisiert und zielstrebig. Karla ging nie unvorbereitet in den Unterricht. Jede Stunde war bis ins Detail ausgearbeitet. Sie arbeitete noch so, wie sie es im Referendariat gelernt hatte. Ihre Kollegen sagten immer, dass ein derartiges Theater nur in der Prüfungsphase, nie aber im Alltag durchzuhalten wäre. Ja, sie saß nachmittags stundenlang an den Unterrichtsvorbereitungen. Abends führte sie noch Telefonate mit den Eltern, aber es ging ja immerhin um die Kinder, wer schaut da schon auf die Uhr. Die junge Frau gab alles, um ihre Schüler optimal auf ein geordnetes Leben vorzubereiten. Theoretisch!

 Praktisch jedoch wurde sie mit den Schülern nicht fertig. Ihre Klasse machte ihr das Leben schwer. Sie schaffte kaum, den Unterrichtsstoff durchzubekommen, geschweige denn, Ruhe in die Gruppe zu bringen. Die Sechstklässler gingen über Tische und Stühle. Auch ihre Freundin und Kollegin Marianne war Karlas Meinung. Man hatte sie bei der Klassenzusammensetzung nachteilig behandelt und ihr zu viele auffällige Kinder zugeteilt. Aber sie würde es schaffen.

*

Freudig parkte sie ihren roten VW-Lupo, wie immer, auf dem Lehrerparkplatz. Der dritte Einstellplatz, direkt unter der großen Linde. Den Lehrern wurden keine festen Einstellplätze zugewiesen, aber es hatte sich ergeben, dass sie immer genau hier parkte. Als sie das Lehrerzimmer in der ersten Etage betrat, wurde sie auch schon von der Konrektorin angefaucht.

„Wo zum Teufel haben Sie denn gesteckt?“, zischte Frau Eisenhuber.

Karla zuckte mit den Schultern. „Wieso? Ich habe heute erst zur zweiten Stunde und die beginnt erst in 15 Minuten.“

„Dann hätten Sie mal besser auf der Homepage nachgesehen. Frau Seifert ist krank. Sie hatten die Vertretung für Französisch. Aber nein, sie schauen ja nicht nach. Jetzt muss der Kollege im Nebenraum ihre Klasse mit beaufsichtigen.“

„Französisch? Schon wieder? Sie wissen aber schon, dass ich die Sprache gar nicht spreche? Nach dem Wort merci hört es bei mir schon auf.“

„Na, dann können Sie ja froh sein, dass Frau Seifert den Unterricht so gut plant. Vorbereitete Unterlagen liegen in ihrem Fach. Jetzt machen sie schon, dass sie runterkommen.“

Karla ging niedergeschlagen zu ihrer Klasse. Ständig hackte die Eisenhuber auf ihr rum. Vielleicht, weil Karla erst 28 Jahre alt und schlank war. Die Konrektorin war Mitte 40, leicht übergewichtig und versuchte die überzähligen Pfunde durch asymmetrische, sehr weite Kleidung zu kaschieren. Vielleicht war sie auch neidisch. Vor ein paar Wochen hatte sie sie nachmittags zufällig mit Ralf in der Innenstadt getroffen.

 „Bestimmt hat die mir einen so gutaussehenden Ehemann nicht zugetraut. Sie konnte ihren Mann nicht halten. Wer bleibt auch schon bei dieser Ziege!“, dachte Karla.

Sie hörte die Klasse schon von Weitem.

„Schön, dass du da bist“, sagte der Kollege, der gerade wieder nach den Rabauken schauen wollte. Mit einem Lächeln der Verzweiflung nickte sie und ging in die Klasse.

„Hey, hey! Setzt euch bitte hin und seid ruhig. Ihr könnt doch hier nicht so einen Lärm machen!“

„Jennifer! Höre bitte auf, den Mohammed mit Papierkugeln zu bewerfen! Setzt euch auf eure Plätze! Und Mohammed, solche Gesten mit deinem Mittelfinger will ich hier nicht mehr sehen. Das gehört sich nicht. Holt eure Mathesachen heraus und beruhigt euch. Paul drehe dich um, hier vorne spielt die Musik.“

Paul drehte sich um. „Wieso soll ich das? Wir haben noch kein Mathe und Musik höre ich auch nicht.“

„Paul, es reicht. Seit Wochen machst du hier einen Zirkus. Reiß dich zusammen und sei nicht so frech, sonst rufe ich deine Eltern an und erzähle denen, wie du dich hier aufführst!“

„Na und? Machen Sie doch! Mir doch sowas von schnuppe.“

 Lukas, der beste Freund von Paul, fing laut an zu lachen. Karla reichte es. Sie nahm das Klassenbuch und trug Pauls Störung ein.

„Wer sich jetzt nicht endlich benimmt, landet gleich neben Paul mit einem Eintrag. Jetzt holt eure Mathesachen raus!“

Martin, ein zierlich wirkender Junge mit haselnussbraunen Augen, meldete sich wortlos. Karla fragte ihn, was er sagen möchte.

„Frau Schmidt-Schilling, es ist doch 8:20 Uhr. Wir haben doch Französisch. Mathe haben wir um 8:30 Uhr.“

„Du hast ganz recht Martin. Aber die Frau Seifert ist krank und wir fangen heute etwas eher mit Mathe an. Die meisten von euch haben ein paar Extraminuten sehr nötig.“

Martin fing an, leicht hin und her zu wippen. Der Autist konnte in die Klasse gut integriert werden, solange nicht zu viele Änderungen seinen geplanten Tagesablauf durcheinanderbrachten. Leider verlangte der Schulalltag stets eine Umplanung. Sei es nur die Vertretung, weil ein Lehrer krank war, wie heute. Karla redete ruhig auf ihn ein. Eigentlich hatte Martin immer eine Betreuerin bei sich, die gelernt hatte ihn zu beruhigen, aber die junge Frau war krank. Er akzeptierte die Änderung und legte seine Mathesachen auf den Tisch. Unerwartet sprang Mohammed auf und hastete zu Jennifer rüber. Er schubste sie von ihrem Stuhl und fing eine Prügelei an. Dieser kurze Moment, an dem Karla sich nur auf Martin konzentriert hatte, reichte schon wieder aus, dass Jennifer Papier warf und Mohammed überschäumte.

„Hört auf! Auseinander! Ich trage euch ins Klassenbuch ein!“

„Oh, da hab ich aber Angst!“, rief Paul.

„So jetzt ist es aber zappenduster. Ich gehe zum Rektor!“

Wütend hastete Karla die Treppe zum Lehrerzimmer rauf. Sie begegnete niemandem. Alle Kollegen waren im Unterricht. Sie ging rechts den schmalen Gang entlang. Der dicke Teppichboden verschluckte jedes Geräusch ihrer erregten Schritte. Es war still. Am Ende des Flures war das Rektorzimmer von Herrn Naujox. Karla war nicht gerne bei dem 56-Jährigen. Der große, dünne Mann war unnahbar. Seine großen, tief liegenden Augen wirkten stechend und machten ihr Angst. Sie hatte sich schon oft gefragt, wie er zu zwei Kindern gekommen sein könnte. Er war der Mann, den man sich nicht liebevoll mit Frau und Kind vorstellen konnte. Als sie die angelehnte Tür zum Rektorzimmer erreichte, hielt sie kurz inne. Hatte sie ihren Namen gehört? Karla drehte sich um, ob noch jemand auf dem Flur war. Es war niemand zu sehen. Sie lauschte an der Tür.

„Ferdinand, die Schmidt-Schilling hat heute schon wieder die Vertretungsstunde verpasst. Sie hätte in der ersten Stunde hier sein müssen!“, sagte Frau Eisenhuber.

„Hattest du es denn gestern schon auf den Vertretungsplan geschrieben?“

„Nein. Frau Seifert hat mir gestern Abend eine WhatsApp geschrieben und sich abgemeldet. Ich habe es sofort um kurz nach 10 auf unsere Homepage gestellt.“

„Na ja, sie wird nicht mehr nachgesehen haben. Es war ja schon spät.“

„Ich kann ja nichts dafür, dass die kein WhatsApp hat. Dann hätte ich ihr geschrieben.“

Karla nickte vor der Tür. So unnahbar Naujox auch war. Er hatte doch gerade Verständnis gezeigt. „Zeig es der Eisenhuber! Man kann ja schließlich nicht jeden Morgen um 6 aufstehen und auf die Homepage der Schule gehen, sich einloggen und auf den Vertretungsplan sehen, damit man im Zweifelsfall noch schnell zur Schule hasten kann.“

„Aber Gabriele, ich muss dir trotzdem zustimmen. Ich bin mit der Schmidt-Schilling alles andere als zufrieden. Bist du mal vor ihrer Klasse entlang gegangen, als sie Unterricht hatte?“

„Furchtbar. Ich hatte neulich im Nebenzimmer Französisch. Zweimal bin ich rüber gegangen und habe sie aufgefordert, ruhiger zu sein.“

„Ich hatte vor einer Woche auch schon einen Anruf von Frau Meiners. Ihr Sohn Paul ist in ihrer Klasse. Sie ist mit Karla Schmidt-Schilling keineswegs zufrieden. Sie meinte, sie würde auf ihrem Sohn herumhacken.“

„Kann ich mir vorstellen. Wenn sie keine Ruhe in den Unterricht bekommt, sucht sie sich einen Sündenbock heraus. Ich habe Paul im Unterricht gesehen. Er ist lebhaft, ja, ein Junge halt.“

„Frau Meiners hat mir gegenüber erwähnt, wie viel sie der Schule über den Förderverein zukommen lässt. Sie meinte, dass sie die Zuwendungen auch einstellen könnten, wenn ich das Problem nicht lösen würde,“ sagte der Rektor.

Karla wurde vor der Tür kreidebleich. Sie hörte doch tatsächlich, wie der Mann sie absägen wollte.

„Und wenn wir Paul in die Parallelklasse versetzten?“, fragte Gabriela Eisenhuber.

„Habe ich vorgeschlagen. Das hat Frau Meiners abgelehnt. Paul mag seine Klasse. Stören würde nur Frau Schmidt-Schilling. Wenn ich das richtig sehe, haben wir zu den Sommerferien eine Lehrerauslastung von über 90 %. Ich werde sie an die Hauptschule abordnen, da ist immer Bedarf.“

Beide lachten.

Karla sank in die Knie. Ihr Tag hatte so schön angefangen. Sie traute ihren Ohren nicht.

„Ich muss hier weg“, dachte sie und ging zur Sekretärin.

Frau Mellenthin blickte über ihre riesige Brille, als Karla das Sekretariat betrat.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte die streng wirkende 49-Jährige.

Karla hielt sich den Bauch, als hätte sie Schmerzen. Blass war sie nach dem, was sie gerade gehört hatte, sowieso.

„Sie sind ja ganz blass. Geht es Ihnen nicht gut?“

„Bitte melden Sie mich ab. Ich habe mich gerade schon übergeben und solche Bauchkrämpfe. Ich glaube, ich habe einen Magen-Darm-Infekt. Können Sie jemanden in meine Klasse schicken. Ich hätte vorhin schon fast auf mein Pult gebrochen. Ich habe es, “sie würgte theatralisch“, gerade noch zur Schülertoilette geschafft.“

„Sicher, sicher. Gehen Sie bloß, sonst stecken Sie mich noch an.“

Karla ging, zerbrechlich wirkend, zu ihrem Auto. Tränen liefen unentwegt über ihre Wangen. Sie bemühte sich so sehr, ihren Job gut zu machen. Die Stunden, die sie damit verbrachte, den Unterricht vorzubereiten, waren kaum noch zählbar. Statt Anerkennung für ihren Einsatz musste sie nun hören, dass man sie absägen wollte. 

Schluchzend fuhr sie vom Parkplatz. Die Straße verschwamm unter ihren Tränen. Zutiefst verletzt von dem, was sie gerade gehört hatte, wollte die junge Frau nur noch nachhause, sich in ihrem Nest verkriechen.

„Diese beiden gemeinen Idioten dürfen mir meinen Tag nicht verderben. Hoffentlich kommt Ralf heute schnell nachhause. Der wird mich ganz festhalten und dann wird alles wieder gut. Dann soll doch dieser doofe Paul auf eine andere Schule gehen. Ich mag den sowieso nicht und seine blöden Eltern schon gar nicht. Wenn ich erst einmal schwanger bin, dürfen die mich nicht abordnen und dann werde ich mich andauernd krankmelden. So wie die Seifert, die fehlt ja auch immer. Dann hole ich mir eben WhatsApp und werfe die Eisenhuber morgens um 3 Uhr aus dem Bett.“

Ohne auf den Verkehr zu achten, fuhr Karla weinend und in Selbstgespräche vertieft Richtung Georgsmarienhütte. Im letzten Moment sah sie den Hund, der direkt vor ihr über die Straße lief. Mit einem lauten Aufschrei wich sie aus und krachte in einen Mazda 2, der auf dem rechten Parkstreifen stand. Das war endgültig zu viel. Mit über dem Lenkrad verschränkten Armen sank sie in sich zusammen und heulte lautstark los. Sie schaltete weder die Warnblinkanlage ein, noch stieg sie aus, um ein Warndreieck aufzustellen. Sie heulte und heulte. Ein Passant, der alles mit angesehen hatte, eilte zu der jungen Frau, öffnete die Fahrertür und fragte, ob alles in Ordnung sei. Verheult sah sie ihn an.

„Ich habe meinen Unterricht immer gut vorbereitet. Kaum einer engagiert sich so für die Schule wie ich.“

„Was reden Sie? Ich will wissen, ob Sie verletzt sind. Soll ich einen Unfallwagen rufen?“

„Die Meiners kann mich mal. Die kann mit ihrem Geld nicht alles kaufen!“

„Sind Sie betrunken? Was reden Sie? Ich rufe jetzt die Polizei.“

Es dauerte nur einige Minuten, bis mit lauter Sirene, der Peterwagen und der Rettungswagen ankamen.

Karla saß noch immer am Steuer ihres Kleinwagens und redete wirres Zeug. Ihr Gesicht war vom Heulen mittlerweile rot verquollen. Die Polizisten machten sofort einen Alkoholtest. Karla hatte aber nichts getrunken. Der Rettungswagen zog es vor, sie zur Vorsicht mitzunehmen. Man legte ihr eine Infusion und gab ihr ein leichtes Beruhigungsmittel. Noch auf dem Weg zum Marienhospital fing sie sich langsam wieder.

„Da war doch der Hund. Ich wollte den Hund doch nicht überfahren. Da bin ich ausgewichen. Ich wollte ja nicht in den Wagen fahren. Das war doch keine Absicht.“

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ist doch nur ein Blechschaden. Das kann jedem passieren“, sagte der Sanitäter mit sanfter Stimme und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Sie können mich hier rauslassen. Mir geht es wieder besser.“

„Nun mal langsam. Sie bleiben ein paar Minütchen im Krankenhaus, bis Sie wieder stabil sind und dann können Sie heimfahren.“

„Sie verstehen nicht, heute ist ein wichtiger Tag. Der wichtigste Tag meines Lebens. Ich darf nicht zu spät kommen und was ist denn da in dem Beutel? Oh je, sind das etwa so hammerharte Medikamente? Das geht jetzt aber wirklich nicht!“ Karla versuchte, sich die Infusionsnadel aus dem Arm zu ziehen.

„Das lassen Sie mal schön bleiben.“ Der Sanitäter hatte schon mit derartigen Versuchen gerechnet.

„Lassen Sie die Nadel schön da, wo sie ist. Das ist nur Ringerlösung mit einem kleinen Beruhigungsmittel.“

„Sie verstehen das nicht, Doktor. Ich darf so etwas heute nicht nehmen.“

„Und warum nicht?“, fragte er lächelnd.

Karla wurde etwas rot. Sollte sie einem wildfremden Mann erzählen, was sie und ihr Ehemann heute machten? Andererseits, warum nicht? Sie waren schließlich verheiratet und es ist eine sehr ehrenvolle Aufgabe, eine Familie zu gründen und sich darum zu kümmern. Karla holte tief Luft und erzählte dem Sanitäter, wie der Plan war.

„Und? Geht das noch, mit den ganzen Medikamenten?“

„Keine Sorge, was ich Ihnen gegeben habe, kann ich sogar Frauen in den Wehen geben. Ich hoffe, Sie werden planmäßig heute schwanger und zeigen es der Rektorin!“

Dann öffnete sich die Tür des Krankenwagens und Karla wurde zur Untersuchung in die Klinik gebracht. Nach zwei Stunden wurde sie entlassen, nahm den Bus und fuhr nachhause.

Das Beruhigungsmittel, das die Ärzte ihr gegeben hatten, wirkte noch immer. Je näher der Bus Georgsmarienhütte kam, desto klarer konnte sie über den misslungenen Tag nachdenken.

„Der Unfall hätte wirklich jedem passieren können. Der Sanitäter hatte doch recht. Ist ein Blechschaden und kaum der Rede wert. Eigentlich ist sogar die Schulleitung schuld daran. Wenn die mich nicht so aufgeregt hätten. Morgen können Paul und Konsorten mich mal kennenlernen. Denen werde ich zeigen, wer das Sagen hat. Ich lasse mir meinen Tag von denen doch nicht verderben. Ich werde alles schön herrichten und alles, wie geplant, weiter machen. Ralf und ich werden etwas gutes Essen und dann ...

Karla lächelte bei dem Gedanken, wie sie ihren Tag beenden würden. Sie stieg in Oesede aus, holte noch schnell ein paar saftige Steaks und frischen Salat. Als sie in die kleine Seitenstraße einbog, sah sie Ralfs Wagen in der Einfahrt stehen. Verwirrt schaute sie auf die Uhr. Wenn er direkt nach der Arbeit heimkam, war es 17 Uhr, aber das schaffte er fast nie.

„Er hat sich freigenommen. Er ist ein solcher Schatz. Bestimmt wartet er mit einem Strauß roter Rosen auf mich. Ich werde nichts von dem Unfall oder der Arbeit erzählen. Das kann ich morgen noch.“

Beschwingt lief die junge Frau hinauf zur ersten Etage, schloss die Tür auf und rief ihren Mann.

„Schatz, das ist ja super, dass du schon da bist.“

Sie ging ins Schlafzimmer. Ralf stand am Schrank und holte einen Stapel T-Shirts hinaus. Karla nahm sie ihm ab und legte sie auf das Bett.

„Es ist schön, dass du dir freigenommen hast.“

Er nahm seine Oberhemden, mit samt den Kleiderbügeln, aus dem Schrank und legte sie ebenfalls auf das Bett.

„Schatz, was suchst du denn? Kann ich helfen? Soll es ein ganz bestimmtes Hemd sein? Vielleicht ist es ja in der Wäsche?“

„Karla“, sagte er mir dunkler Stimme. „Karla, es tut mir wirklich leid. Ich wollte nicht, dass du, na ja. Wieso bist du eigentlich so früh hier?“

„Wieso früh? Es ist halb zwei durch? Was soll der Koffer auf dem Bett? Oh nein, sag nicht, du musst schon wieder dienstlich weg. Wir wollten doch heute…“

„Ich wollte schon weg sein, bevor du heimkommst.“

„Und wohin?“ Karla war verwirrt. Was wollte ihr Mann ihr sagen? Sie spürte, wie ihr speiübel wurde. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Am liebsten hätte sie in die Hände geklatscht, um damit die Zeit anzuhalten. Das würde ihr die Zeit verschaffen, die sie benötigte, um das Folgende noch abzuwenden. Verängstigt lehnte sie sich an die Schlafzimmerwand. Sie wollte nichts mehr hören. Sie konnte nicht noch mehr ertragen an diesem grauenvollen Tag.

„Schatz, ich werde dich verlassen. Ich habe die Scheidung eingereicht. Die Papiere liegen auf dem Küchentisch. Es tut mir leid, aber ich träume nicht deinen Traum von Finn-Lukas und in zwei Jahren Anna-Sofia.“

„Möchtest du lieber mit Kindern noch warten? Darüber kann man doch reden.“

„Es ist nicht nur das. Schau dich an. Du legst keinen Wert mehr auf Style. Du trägst seit Jahren deinen ausgebollerten, selbst gestrickten Pullover. Deine Schuhe! Ein Orthopäde würde dich loben aber dann der Dame auf High Heels nachsehen. Die Frisur! Eben schnell ein Gummiband und schon ist der Zopf fertig? Wir passen nicht mehr zusammen.“

„Ich kann doch was anderes anziehen, wenn du willst. Du hättest ja was sagen können.“

„Karla! Es ist vorbei. Ich habe eine andere Frau kennengelernt.“

Schweigend stand sie an der Wand, sah zu, wie er den Koffer schloss und aus dem Haus ging.

„Tut mir leid. Den Rest hole ich ein anderes Mal.“

Die Zeit schien stillzustehen. Sie stand an der Wand, gefangen in einem Vakuum. Nicht mehr fähig einen Gedanken zu fassen. Als sie schließlich weinend auf die Knie sank, war es draußen bereits dunkel.

3

Es herrschte reges Chaos im Lehrerzimmer. Eigentlich sollte man doch annehmen, dass sich nach einer gestressten Unterrichtsstunde alle Lehrer nach Ruhe sehnten. Ein Außenstehender würde eher schweigende oder höchstens leise sprechende Lehrkräfte erwarten. Vielleicht gab es so etwas an anderen Schulen, aber hier nicht. Das Land hatte kein Geld für Schallschutz ausgegeben, was den Lärmpegel nahezu explodieren ließ. Alle eilten, mit einer Kaffeetasse und einem Brötchen in der Hand von, Kollege zu Kollege. Ständig rief jemand „Oh, gut, dass ich dich sehe, ich brauche noch …“ oder „Dein Schüler XY hat schon wieder dieses oder jenes gemacht.“ So stürmte auch der Englisch Lehrer zu Marianne Rüttgers.

„Hast du die Englischarbeit für die 7 schon erstellt?“

Die Junglehrerin sah den Kollegen fragend an. „Englischarbeit? Ich?“

„Sag nicht du hast es vergessen. Auf der letzten Fachkonferenz hatten wir die Arbeiten verteilt und du hast Nr. 3. Du weißt aber schon, dass wir übermorgen schreiben?“

„Sorry, das habe ich völlig vergessen. Ich mache die heute fertig und bringe sie dann morgen mit.“

„Marianne, das ist aber ganz schön knapp. Wir wollten uns die noch vorher ansehen und dann müssen die noch kopiert werden. Du weißt, wie voll es immer am Kopierer ist.“

„Ich werde sie dir heute noch per E-Mail schicken, ok?“

„Hat jemand etwas von Karla Schmidt-Schilling gehört?“, rief die Konrektorin quer durch das Lehrerzimmer. Für einen Moment herrschte erholsame Stille. Alle sahen sich an und schüttelten die Köpfe. Marianne war mit Karla befreundet aber bei diesem Trubel hatte sie nicht bemerkt, dass sie fehlt. Die beiden hatten häufig darüber gesprochen, dass Frau Eisenhuber etwas gegen junge Lehrerinnen hätte. Zwar hatte sie keine Ahnung, warum Karla fehlte, aber instinktiv wusste die Freundin, dass sie sie in Schutz nehmen müsste.

„Ja, Entschuldigung ich war schon auf dem Weg zu Ihnen. Sie hat sich bei mir abgemeldet“, rief Marianne durch den Raum. Schon stieg der Geräuschpegel wieder bis ins Unfassbare. „Hoffentlich kommt Karla jetzt nicht in den Raum geplatzt“, dachte Marianne. Sie musste unbedingt den Englischlehrer loswerden, der noch immer auf sie einredete, dass man sich aufeinander verlassen können muss etc. Sie musste Karla unbedingt auf dem Handy anrufen und ihr sagen, dass sie krank sei.

Der erste Gong ertönte und rief Schüler und Lehrer auf, sich zu den Klassenräumen zu begeben. Kurz darauf kam der Rektor, Herr Naujox aus dem Büro.

 „Meine Damen und Herren“, herrschte er diejenigen an, die sich noch nicht auf den Weg gemacht hatten, „Beim nächsten Klingeln, ist die Stunde vorbei!“

Karla hetzte den Gang entlang. Unter dem einen Arm ihre viel zu voll bepackte Schultasche, unter dem anderen einen Stapel Kurztests für den Englisch Unterricht und ihr Smartphone am Ohr. Es klingelte, aber Karla ging nicht ans Telefon.

„Handys sind in der Schule verboten“, rief eine Schülerin aus der fünften Klasse.

„Du hast ja recht, aber das ist ein Notfall.“

Es klingelte weiter. Schließlich sprang die Mailbox an.

„Karla, ich bin´s, ich habe dich für heute bei Frau Eisenhuber krankgemeldet, wie du mich gebeten hast. Weißt du also Bescheid? Ich melde mich später.“

*

„Ferdinand, wir müssen da eine andere Regelung finden. Ich kann den Vertretungsplan nicht vernünftig erstellen, wenn sich die Kollegen nicht rechtzeitig abmelden.“

„Was war denn, Gabi?“

„Heute ist mir zufällig aufgefallen, dass die Schmidt-Schilling noch nicht da ist. Aber kommt eine Krankenmeldung? Nein, natürlich nicht. Erst als ich im Lehrerzimmer durch die Menge rufe, wird mir mitgeteilt, dass man sie krankmelden wollte.“

„Was meinst du, hast du einen Vorschlag, wie man das ändern kann?“, fragte Naujox.

„Am besten wäre, dass sich jeder, der sich abmelden will, bis morgens um 7 Uhr telefonisch abgemeldet haben muss. Entweder nimmt Frau Mellenthin bereits die Krankenmeldung entgegen oder aber der Anrufbeantworter zeichnet auf.“

„Das hört sich vernünftig an. Wir werden es bei der nächsten Dienstversammlung auf die Agenda setzen.“

*

Marianne hatte mehrfach versucht, ihre Freundin ans Telefon zu bekommen. Sie machte sich Sorgen. Es war ungewöhnlich, Karla war telefonisch stets erreichbar. Marianne spürte, dass etwas passiert sein musste. Nach der sechsten Stunde hatte sie frei. Die sportliche junge Frau, die bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad von Haste zum Schölerberg fuhr, beschloss nach Georgsmarienhütte zu fahren. Der Weg war nicht leicht. Schließlich galt es, den Harderberg zu überqueren. Kaum hatte man trotz der Steigungen Fahrt aufgenommen, wurde man durch die Autobahnauffahrten ausgebremst, da sie für Radfahrer kaum einsehbar waren. An jeder Auffahrt musste man anhalten und sich den Hals verbiegen, um sicherzugehen, dass kein Auto mit über 100 km/h angerast kam. Dann konnte man endlich am Berg wieder anfahren. Aber all diese Mühen nahm Marianne gerne auf sich, um sicherzugehen, dass es ihrer Freundin gut ging.

Der kleine Lupo stand in der Einfahrt. Sie war also zu Hause. Marianne klingelte und klingelte aber die Tür blieb verschlossen. Sie spürte, wie ihr Herz anfing zu pochen. Die Frauen hatten jede einen Hausschlüssel der anderen, falls sie sich einmal aussperren oder den Schlüssel verlieren würden. Nun war es an der Zeit diesen einmal zu benutzen. Marianne schloss auf.

„Karla? Bist du da?“

Keine Antwort aber ihre Jacke hing an der Garderobe und die Schuhe standen darunter.

„Karla, Süße, ich bin´s Manne? Wo steckst du?“ Sie öffnete eine Tür nach der anderen. Schließlich fand sie ihre Freundin im Schlafzimmer. Die Augen geöffnet, an die Decke starrend. Marianne ging zu ihr und setzte sich auf den Rand des Bettes. Sie legte ihre Hand auf Karlas Arm, aber die reagierte nicht.

„Karla, was ist mit dir? Du machst mir Angst. Sag doch was! Was ist denn? Soll ich einen Arzt rufen?“

Karla sagte kein Wort. Manne legte ihr die Hand auf die Stirn, um zu prüfen, ob sie Fieber hätte, aber alles schien in Ordnung zu sein. Sie ging in die Küche und kochte einen Tee.

„Hier, trink das, dann geht es dir besser.“

Karla ignorierte sie.

„So es reicht, ich rufe jetzt Ralf auf der Arbeit an. Vielleicht kann der mir ja sagen, was du hast.“

„Neiiin!“ Plötzlich hörte Karla nicht mehr auf, zu weinen. Tief vergrub sie sich in die Arme ihrer Freundin und schluchzte, dass es Marianne das Herz brach.

„Du meine Güte was ist denn nur passiert?“

„Er ist weg. Manne, er ist weg, für immer. Er hat die Scheidung eingereicht. Er hat eine andere!“

Marianne war fassungslos. Sie hatte die Ehe der beiden immer für perfekt gehalten. Karla war immer so glücklich. Sie freute sich so auf ihre Zukunft, die Kinder, irgendwann ein Haus mit Garten.

„Eine andere? Hast du vorher nichts gemerkt? Wie lange geht das denn schon?“

Karla schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“

„Trink den Tee und versuche ein wenig zu schlafen. Ich bleibe erst einmal bei dir. Ich nehme deinen Wagen und hole mir ein paar Klamotten. Ich fahre bei deiner Hausärztin vorbei und versuche eine Krankenmeldung zu bekommen. Ich bringe auch ein paar Flaschen Wein mit, die können wir brauchen.

Nach zwei Stunden war Marianne wieder zurück. Sie hatte es geschafft. Sie hatte der Ärztin erklärt, was passiert war, dass Karla mit einem Nervenzusammenbruch zu Hause läge. Die Medizinerin hatte eine Krankenmeldung bis zum Ende der Woche und ein Rezept über ein Beruhigungsmittel ausgestellt. Das verschaffte Karla Zeit, sich zu sammeln, ohne dass sie in der Schule irgendwelche Erklärungen abliefern müsste, warum sie so blass und verweint aussähe.

Am Abend hatte Marianne es wenigstens geschafft, dass Karla mit ins Wohnzimmer ging. Im Schlafanzug saß sie auf dem Sofa und trank Rotwein. Endlich kam alles aus ihr heraus. Wie sie sich darauf gefreut hatte, ihre Familie zu gründen und wie der Tag schließlich tatsächlich verlaufen war. Oft musste sie lange Pausen beim Reden machen, weil sie weinte, oder versuchte nicht schon wieder weinen zu müssen. Marianne schwieg und hörte ihrer Freundin zu. Ab und zu nahm sie ihre Hand oder streichelte ihr über die Schulter. Es war bereits nach Mitternacht, als die Frauen zu Bett gingen.

*

Andrea wurde immer um ihre Küche beneidet. Sogar ihre Freundinnen, denen Geldsorgen völlig unbekannt waren, schoben Andreas Kochkunst immer auf die Ausstattung. Der Raum hatte fast 40m². Der Herd war als großer Block in der Mitte des Raumes. Neben den vier Induktionsplatten gab es noch zwei Gasplatten. Andrea war fest davon überzeugt, dass einige Gerichte besser auf der Gasflamme zubereitet wurden. In dem Block befand sich auch die Spüle. Es gab einen Wasserhahn, der permanent etwa 90°C heißes Wasser lieferte. Selbstverständlich war auf der Granitarbeitsplatte ausreichend Platz zum Schnippeln und Schneiden. Einige Schränke waren in die Wand integriert und passten sich damit dem Raum an. Am Panoramafenster, das den Blick über den prächtigen Garten ermöglichte, war eine Sitzgelegenheit mit Barhockern. Hier konnte Andrea den Kaffeeautomaten bedienen, sich einen Latte Macchiato genehmigen und aus dem Fenster sehen. Zweifellos wurde in dieser Küche nicht einfach nur gekocht. Hier wurde Essen kreiert. Die Meiners waren reich. Werners Bauunternehmen lief sehr gut. Andrea hatte es nicht nötig arbeiten zu gehen. Werner war auch strikt dagegen, dass Andrea arbeiten gehen würde. Der äußere Eindruck war für seine Firma wichtig. Wenn Andrea arbeiten würde, sähe es so aus, als hätten sie es nötig.

 Werner betonte immer: „Nichts aus diesen vier Wänden geht nach draußen! Immer gut aussehen! Immer qualitativ hochwertige Sachen. Nie Streit in der Öffentlichkeit!“

Solange sich die Familie daranhielt, war alles in Ordnung. Andrea trainierte im Fitnessraum jeden Tag mindestens zwei Stunden. Das zahlte sich aus. Sie war gertenschlank, aber nicht dürr. Die Muskulatur zeichnete sich deutlich, aber grazil ab. Selbst zuhause war Andrea immer adrett gekleidet. Immer gut geschminkt und die langen, welligen, blonden Haare frisiert. Einmal hatte sie keine Lust dazu gehabt, sich hübsch zu machen. Sie ließ ihre Jogginghose an, war ungeschminkt und die Haare mit einem Gummi zu einem einfachen Zopf gebunden. Werner kam nachhause und fand seine Frau, in legerer Kleidung, beim Kochen. Es gab einen handfesten Streit. Er schimpfte, dass er keine Lust hätte zu einer Frau heimzukommen, die aussähe, als wäre sie einer Abrissbude aus Berlin Marzahn entflohen. Andrea war der Kanarienvogel in seinem goldenen Käfig.

Heute stand sie perfekt gestylt, mit einem kurzen Rock und hochhackigen Schuhen in der Küche und bereitete die Vorspeise zu. Räucherlachs mit Apfelstückchen und Frühlingzwiebeln. Das Roastbeef stand im Backofen und wurde bei 80°C schonend gegart. Der Tisch war gedeckt und sie freute sich auf einen Abend mit Werner. Sie hörte den Audi Q8 vorfahren. Andrea öffnete die Flasche Weißwein und schenkte beiden ein Glas ein. Sie waren heute allein. Paul übernachtete bei Lukas. Das Paar konnte sich einen romantischen Abend machen. Werner kam, gab seiner Frau einen Begrüßungskuss und flitzte die Treppe nach oben.

„Schatz? Wo willst du hin? Das Essen ist fertig.“

„Liebling, es ist Mittwoch. Hast du das vergessen? Mittwochs gehe ich zum Tennis.“

„Ja, weiß ich, aber Paul ist bei Lukas, ich habe gekocht. Ich dachte, wir machen uns einen gemütlichen Abend. Sag doch heute mal ab.“

„Absagen? Nein, das geht nun wirklich nicht. Du hast ja Ideen!“

„Dann geh später, dass Essen ist, fertig.“

„Stell es weg für morgen. Ich esse im Club eine Kleinigkeit.“

Andrea war sprachlos. Ihr Mann hatte nur seine Sporttasche geholt und fuhr bereits wieder die Einfahrt runter. Sie stand da. Traurig, allein und versetzt. Andrea schaltete den Ofen aus und stellte den Fisch in die Kühlung. Ihr war der Appetit vergangen. Sie nahm sich die Flasche Weißwein, setzte sich auf den Barhocker in der Küche und schaute in den Garten.

*

Am nächsten Morgen radelte Marianne mit heftigen Kopfschmerzen, bedingt durch den „Tröster-Wein“, von Oesede nach Osnabrück. Sie gab die Krankenmeldung von Karla direkt bei Frau Eisenhuber ab.

„Die ganze Woche? Was hat sie denn? Ist ja nicht, dass wir hier überbesetzt sind. Und das, wo noch der Schul-TÜV praktisch vor der Tür steht.“

„Grippe. Ich war gestern bei Frau Schmidt-Schilling. Die Ärmste hat fast 40 Grad Fieber.“

„Nun, wie dem auch sei. Ich habe Sie für die Vertretung in Mathe in der dritten Stunde und Bio in der Vierten eingetragen, Ihren Sportunterricht kann der Kollege Strosik parallel mitbetreuen. Der ist sowieso in der Halle nebenan.“

„Ich wollte heute aber mit dem Cooper Test anfangen.“

Achselzuckend antwortete die Konrektorin gleichgültig: „Beschweren Sie sich nicht bei mir, sondern bei all den Kollegen, die sich wegen jeder Kleinigkeit krankmelden.“

Marianne ging zur Klasse von Karla. Es war unerwartet ruhig vor der verschlossenen Tür. Normalerweise ging es, wenn die Schüler unbeaufsichtigt waren, recht lebhaft zu. Ein fremder Mann in einem teuer aussehenden Sakko und einem Aktenkoffer unter dem Arm stand etwas abseits.

„Guten Morgen Frau Schmidt-Schilling? Mein Name ist Dr. Peter Korte, Rechtsanwalt.“

„Nein, mein Name ist Rüttgers. Frau Schmidt-Schilling ist krank. Kann ich Ihnen helfen?“

„Nein, ich wollte an dem Unterricht von Frau Schmidt-Schilling teilnehmen.“

„Warum?“

„Die Eltern von Paul Meiners haben mich beauftragt, den Unterricht zu beobachten.“

„Wie bitte? Warum das denn?“

„Nun, ich soll nur prüfen, ob der Sohn gerecht behandelt wird. Meine Mandanten sind der Auffassung, dass Frau Schmidt-Schilling etwas gegen Paul hat. Wie sehen Sie das Verhalten gegenüber Paul?“

„So ein Blödsinn. Frau Schmidt-Schilling ist eine tolle Lehrerin aber mal unter uns, die Meiners sollten einfach mal anfangen, ihren verzogenen Bengel zu erziehen. Der ist aus meiner Sicht auch unerträglich.“

Es interessierte den Anwalt kein bisschen. Er schaute nicht einmal von seinem Smartphone auf, als er seine Aktentasche unter den Arm klemmte und ging.

Marianne erlebte, was ihr Karla schon über ihre Problemschüler erzählt hatte. Es gelang ihr nur mit viel Mühe, Paul und seinen Freund Lukas unter Kontrolle zu bringen.

„Dieser Paul ist wirklich völlig verzogen und die Eltern blicken es nicht. Stattdessen schicken sie Karla noch einen Rechtsverdreher auf die Hacken. Das darf ich ihr auf keinen Fall erzählen. Karla ist sowiesoschon am Boden“, dachte sie.

*

„Paul, war heute unser Anwalt im Unterricht von deiner Lehrerin?“, fragte Andrea.

Der Junge zuckte nur gelangweilt mit den Schultern und ging in sein Zimmer. Andrea hastete die Treppe hinauf. Paul knallte die Zimmertür hinter sich zu. Wütend riss die Mutter die Tür auf.

„Verdammt nochmal, Paul, ich habe dir schon oft genug gesagt, dass du nicht wegrennen sollst, wenn ich mit dir rede und das Türenknallen geht gar nicht!“

Der Junge reagierte nicht. Er legte sich auf sein Bett und spielte mit seinem I-Phone.

„Hast du mir eigentlich zugehört? Ich werde mit Papa reden. Dann kannst du aber was erleben!“

„Ja, ist ja gut. Nein, ich habe deinen blöden Anwalt nicht gesehen. Da war keiner.“

Andrea ging wieder nach unten.

„Werner, der Junge ist sowas von frech. Du musst mal ein Machtwort mit ihm sprechen! Das geht so wirklich nicht weiter. Und der Anwalt, den du engagiert hast, war nicht in der Schule.“

„Andrea, ich habe dir schon oft gesagt, nerve mich bitte nicht mit diesem Kleinkram. Du bist zuhause und musst nicht mehr schaffen als ein Kind zu erziehen. Du musst nicht einmal den Haushalt machen, dafür haben wir eine Putzfrau. Wir haben einen Gärtner. Willst du jetzt noch eine Nanny? Wirklich?“

„Werner ich will keine Nanny. Ich will, dass wir an einem Strang ziehen. Wenn ich Paul was sage, weiß der Bengel genau, dass du es ihm erlauben würdest, nur um deine Ruhe zu haben.“

„Ach, das ist doch Quatsch. Du bist nur teilweise zu unentspannt. Er ist ein Junge. Jungen machen solche Sachen, habe ich auch.“

Andrea wandte sich ab und ging zum Telefon. Nach kurzem Klingeln meldete sich der Anwalt.

„Ich dachte sie wollten heute in der Schule meines Sohnes vorbeischauen, um dieser Lehrerin auf die Finger zu schauen?“

„Ich war da, aber die Frau ist krank. Ich kann es gerne nächste Woche noch einmal probieren.“

„Krank? Lehrer müsste man sein. Ich weiß nicht wie häufig die sich krankmelden.“

„Ja, ich glaube da haben sie recht, Frau Meiners.“

*

Es war gut, dass Marianne bei ihrer Freundin übernachtete. Sie war zu deprimiert, um allein zu sein. Jeden Abend fragte sie aufs Neue, ob es nur eine Phase sei und Ralf zurückkäme. Aber Marianne hatte ihre Zweifel. Wie lange hatte Ralf schon ein Verhältnis? Sie selbst lag lange wach und überlegte, wie sie ihre Freundin aus ihrer Lethargie holen könnte. Als Marianne am Samstagmorgen wach wurde, drang ein Duft von Kaffee und frischen Brötchen bis ins Gästezimmer. Im Schlafanzug ging sie in die Küche. Karla war aufgestanden, hatte den Tisch gedeckt und war bereits beim Bäcker gewesen, um frische Brötchen und Croissants zu holen. Fragend sah sie Karla an.

„Na, Schlafmütze, können wir frühstücken.“

„Geht es dir besser?“

„Ja. Ich lasse mir von dieser Sparkassenschlampe meinen Mann nicht wegnehmen. Was hatte Ralf gesagt? Mein Outfit passt ihm nicht. Nun gut, das kann ich ändern. Meine Schuhe? Von mir aus, dann lerne ich, auf High Heels zu laufen. Soll der Idiot doch sehen, auf was er verzichtet.“

„Los, gib mir fünf!“, sagte Marianne und die beiden Frauen schlugen siegessicher ihre Handflächen aneinander.