Mörder meines Vertrauens - Birgit Vobinger - E-Book

Mörder meines Vertrauens E-Book

Birgit Vobinger

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Beschreibung

Ein romantisches Wochenende im Ferienhaus endet für Dr. Döring und seine Lebensgefährtin mit einem Leichenfund im Garten. Entsetzt stellen die beiden fest, dass es sich um die Vorbesitzerin ihres Hauses handelt. Wer sollte so grausam sein, eine nette alte Dame zu ermorden und sie im Garten zu verscharren. Der Pathologe nimmt die Ermittlungen auf und erkennt schnell, dass er wieder einem Serientäter auf der Spur ist. Gemeinsam mit Hauptkommissar Blum versucht er, hinter das Geheimnis des Täters zu kommen. Wie hängen all die Todesfälle zusammen. Die Zeit drängt. Sie müssen das Geheimnis lösen und den Täter zur Strecke bringen.

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Seitenzahl: 181

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Copyright © 2017 Birgit Vobinger

Alle Rechte vorbehalten

1

  Niemals hätte sie gedacht, dass sich ihr Leben in ihrem Alter noch einmal ändern würde. Einsamkeit war längst zur Normalität geworden. Ihr Mann Egon starb unerwartet vor 12 Jahren. Es gab keine Zeit des Abschieds. Sie hatten Pläne für diesen Tag. Nach der Tristesse des Winters wollten sie den sonnigen Frühlingstag im botanischen Garten genießen. Sie machte schnell die Betten, als Egon noch im Bad war. Ein dumpfes Geräusch ließ sie erstarren. Ein Geräusch, das sich für immer im Gedächtnis einprägen würde. Noch einen Augenblick hielt sie inne, die Ecken der Oberbetten in der Hand. „Egon?“, rief sie. Ihr Herz raste in ihrer Brust. Tief im Innersten wusste sie, dass nun der Moment gekommen war, wovor sie immer schon Angst hatte. Der Tag, an dem sie keine Antwort von ihrem Ehemann bekam. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und ging zitternd zum Bad. Mit jedem Schritt, der sie der Realität näher brachte, ahnte sie, dass nun der Tag gekommen war, vor dem sie sich immer gefürchtet hatte. Sie spürte, dass sie sein Lächeln und seine sanfte Stimme nie wieder erleben würde. Ihre Knie wurden weich, als sie in Richtung lebenslanger Einsamkeit ging. Er lag regungslos auf dem Boden, den Kamm noch in der Hand. Egons Blick war friedlich. Er lag da, als wäre er auf der Badezimmermatte eingeschlafen. Später erinnerte sie sich nicht mehr daran, den Notruf gewählt zu haben. Die Stimmen der Menschen, die in ihrer Wohnung waren, schienen weit entfernt zu sein. Ähnlich einer nachlassenden Vollnarkose. Der Notarzt hatte ihr gesagt, dass Egon vom Tod überrascht wurde und nichts gespürt hatte. Später teilte man ihr mit, das eine Aorta vom Herzen abgerissen sei. Allein zurückgeblieben in erdrückender Stille. Ohne Kinder, ohne Geschwister und ohne Freunde. Der Preis der Zweisamkeit.

Seit einigen Jahren plagte die inzwischen 78 jährige eine starke Arthrose, die es ihr immer schwerer machte, den Alltag zu bewältigen. Das kleine Haus sauber zu halten dauerte den ganzen Tag. An die Gartenarbeit kaum zu denken. Der junge Mann war ein Segen. Die Zeiten, an denen sie auf dem Sofa saß und all die Ecken und Kanten sah, die geputzt werden müssten, waren vorbei. Sie konnte wieder im Garten sitzen und den Tag genießen und der Rasen war bereits gemäht. Er hielt alles in Ordnung. Das Geld war gut investiert. Nach der Arbeit hatte die alte Dame immer ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee für ihren Helfer. Konversation. Wie sehr hatte sie ein einfaches, lockeres Gespräch vermisst. Sie war wieder da, wieder ein Teil der Welt geworden. Er brachte frischen Wind in ihr Leben. Natürlich hatte sie Angst, ihre Sachen zu packen und noch einmal umzuziehen aber die Idee war zweifellos grandios. Eine Wohngemeinschaft mit anderen Senioren war eine perfekte Lösung. Die Angst davor, in ein Altenheim zu müssen, um den Tag um 17 Uhr mit dem Abendessen zu beenden, war vorbei. Eine private Wohngemeinschaft, in der jeder jedem hilft und für den Rest teilte man sich die Kosten für einen Pfleger. Gedankenversunken saß sie auf dem Sofa. Den Teller mit der Donauwelle auf dem Schoß und blickte, mit einem leichten Lächeln zu Egons Bild auf dem Sideboard.

„Du bist mit deinen Gedanken weit weg, oder?“, fragte der junge Mann.

„Wir haben es wirklich getan. Mein Egon hätte mich ausgelacht. Als damals die jungen Leute in eine WG, oder Kommune, gezogen sind, hat jeder gesagt, dass es abartige Typen sind. Jetzt ziehe ich selber in eine.“

„Was ist an einer WG denn abartig?“, fragte der junge Mann schulterzuckend.

Sie nippte noch einmal an ihrem Sekt und schwelgte in Erinnerungen.

„Es gab in den 70ern die Kommune 1. Alles Hippies. Alle liefen nackt herum und hatten“, sie hielt sich die Hand vor den Mund. Das tat sie immer, wenn sie etwas Schlimmes sagen wollte. „Die hatten Gruppensex.“

Der junge Mann lachte, nahm sein Glas und stieß noch einmal mit der alten Dame an. Dann deckte er den Kaffeetisch und legte ein Stück Kuchen auf.

 „Naja, nicht alle WGs haben Gruppensex, aber wer weiß, vielleicht treffen sie ja einen ganz feschen Rentner.“

Die alte Dame kicherte wie ein junges Mädchen und winkte ab. Sie saßen noch ein paar Stunden zusammen und redeten über Vergangenes und über die aufregende Zukunft.

„Ich glaube, ich habe zu viel Kuchen gegessen.“ Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und rieb sich den Bauch. Sie fragte nach den Renovierungsarbeiten. Mahnte zur besonnenen Wahl der Handwerker. Sie nahm ihr besticktes Taschentuch und wischte sich Schweiß von der Stirn. Immer wieder rieb sie sich den Bauch. Ihr Gesprächspartner ignorierte die Symptome der Frau. Es dauerte nicht lange, bis sich die alte Dame vor Schmerzen krümmte. Der Schweiß lief in Strömen über ihr Gesicht. Ihr Bauch rumorte. So schnell es ihr möglich war, suchte sie die Toilette auf. Die Krämpfe wurden unerträglich. Heftiger Durchfall setzte ein. Im letzten Augenblick schnappte sie sich den kleinen Mülleimer, der unter dem Waschbecken stand, und übergab sich. Wankend ging sie zum Wohnzimmer zurück und sank kraftlos in den Sessel.

„Ich glaube, du solltest mir einen Arzt rufen. Ich habe mich gerade übergeben. Mein Bauch schmerzt so und schwindelig ist mir auch.“ Sie wischte sich den Schweiß wieder von der Stirn. „Ich glaube ich habe Fieber. Ob der Kuchen verdorben war? Wie geht es dir? Ist dir auch schlecht? Dann war es der Kuchen.“

Kein Funke Mitgefühl spiegelte sich auf dem Gesicht des jungen Mannes. Er lächelte sogar.

„Nein, mir ging es nie so gut wie jetzt. Ich sollte dir eine Geschichte erzählen.“

„Später. Ich brauche wirklich einen Arzt. Bitte ruf Dr. Bensch an.“

„Du hast keine Ahnung, was hier los ist? Glaubst wirklich an ein verdorbenes Stückchen Kuchen? Ich habe lange auf diesen Augenblick hin gearbeitet. Heute, meine Liebe hörst du mir zu. Hörst dir eine gute Geschichte an. Soviel Zeit habe ich noch. Du wirst alles erfahren und dann“, er machte eine theatralische Pause, „Dann stirbst du.“

   Der pure Hass blickte aus den vertrauten Augen. Pausenlos redete er auf die sterbende Frau ein. Wort um Wort schwand ihre Hoffnung, diesen Tag noch zu überleben. Es würde keine WG geben. Alles Lügen. Alles bis ins Detail geplant um sie heute am Boden zu sehen. Ihre Einsamkeit nahm ein unerwartetes Ende. Erst als es an der Tür klingelte, hörte der Redeschwall ihres Peinigers auf. Sofort presste er der Frau die Hand auf den Mund. Sie wehrte sich und versuchte mit aller Macht sich aus dem unerbittlichen Griff ihres Peinigers zu befreien. Mit dem Fuß trat sie die Kaffeekanne von Tisch. Der Knall des zerschmetternden Glasgefäßes ließ den Peiniger kurz unaufmerksam werden. Für den Bruchteil einer Sekunde gelang es Frau Hindenburg, das Gesicht zu drehen.

„Hilfe!“, schrie sie, bevor er sie wieder im Griff hatte.

„Machen Sie auf!“, rief jemand laut. Kurz danach wurde mit einem lauten Knall die Vordertür aufgebrochen. Der Mann floh zur Hintertür hinaus.

2

2 Monate zuvor

Der Duft der selbst gemachten Pizza eroberte die Wohnung von Kerstin. Peter stand seit einer Stunde in der Küche, um das gemeinsame Abendessen zuzubereiten. Hungrig beobachtete er, wie der Käse langsam zu schmelzen begann. Das Glas Rotwein in der Hand blickte er wieder auf seine Armbanduhr. Es wurde Zeit. Die Sparkasse, bei der Kerstin arbeitete, hatte bereits vor einer Stunde geschlossen. Als er aus dem Wohnzimmerfenster auf den Parkplatz schaute, hörte er, wie Kerstin die Wohnungstür aufschloss.

„Das riecht hier aber lecker!“, rief Kerstin und hing ihre Jacke an die Garderobe. Als sie die Küche betrat, nahm sie Peter in den Arm und gab ihm einen Kuss.

„Du bist ein Schatz. Es ist so schön, nach einem langen Arbeitstag nach Hause zu kommen, alles ist ordentlich, das Essen duftet und ein lieber Mensch wartet. Ich liebe dich.“

„Ich dich auch. Nur werde ich wohl nicht immer nur noch Hausmann sein.“

Kerstin schaute ihn fragend an. Peter hatte heute einen Anruf erhalten. Nachdem er in Sudan wieder für die Behörden gearbeitet hatte, machte man ihm den Vorschlag, wenigstens in Teilzeitbeschäftigung wieder als Gerichtsmediziner zu arbeiten.

„Ist es das, was du wolltest?“

„Auf jeden Fall werde ich nicht wieder so ein Workaholic wie damals. Ich habe denen gleich gesagt, dass ich gerne wieder arbeite, mir mein Privatleben aber wichtiger ist. Ich habe eine 3-Tage-Woche vereinbart. Von montags bis mittwochs übernehme ich die normalen Dienste und ab Donnerstag habe ich frei.“

Kerstin nippte an ihrem Glas Wein und überlegte.

„Das hört sich gar nicht schlecht an. Ich könnte mit unserem Filialleiter sprechen. Es täte mir auch gut, die Stunden zu reduzieren. Finanziell haben wir es ja nun wirklich nicht nötig. Wenn das klappt, könnten wir donnerstags nach Werlow fahren. Dein Haus am See ist so schnuckelig.“

„Unser Haus“, betonte Peter und servierte die duftende Pizza.

Kerstin hatte ihn damals verlassen, weil er nur am Arbeiten war. Nach diesem Schock überdachte der 57 jährige sein Leben und setzte sich zur Ruhe. Er kaufte sich an der Mecklenburger Seenplatte ein kleines Haus am See. Ein Leben für die Arbeit? Diesen Fehler würde er nie wieder machen, auch wenn Dr. Peter Döring, der ehemalige Leiter der Gerichtsmedizin an der Berliner Charité, ein leidenschaftlicher Ermittler war. So war auch er es, der kurz nach seiner Ankunft in Werlow das schreckliche Geheimnis in der Kleinstadt entdeckte. Er hatte den Serientäter gestellt und fast sein Leben dabei verloren. So schrecklich die Taten in Werlow auch waren, er hatte neue Freunde gefunden und vor allem seine Kerstin zurückgewonnen.

„Ja, unser Haus. Ich werde es richtig schön herrichten“.

Kerstins Blick war anzusehen, dass sie in Gedanken bereits ganz bei der Dekoration war. Das war ein Teil an Frauen, den Peter und wahrscheinlich der Rest der Männer, gar nicht verstanden. Warum musste der ganze unnütze Klüngel, sie nannten es Deko, herumstehen. Sein Haus hatte er logisch eingerichtet. Die Töpfe hatte der Hobbykoch praktisch unter ein Regal gehängt. Warum sollte er sich jedes Mal bücken und sie aus dem Schrank holen. Kerstin fand das furchtbar. Die Küchengeräte standen auf der Arbeitsfläche. So konnte er sie gleich nutzen und musste sie nicht erst aus dem Abstellraum zu holen und aufbauen, nur um eine Scheibe Brot zu schneiden. In Kerstins Küche gab es so etwas nicht. Die Arbeitsplatte war leer, bis auf einen dekorativen Obstkorb. Der Korb war stets gefüllt mit Bananen, die sie nicht mochte, Kiwis, die sie nicht vertrug, Orangen, davon bekam sie Ausschlag und Äpfeln, das einzige Obst, das sie aß. Peter hatte sie oft gefragt, warum sie Obst kaufte und später wegwarf. Sieht so viel hübscher aus, hatte Kerstin betont. Peter war gespannt, was seine Liebste mit dem Haus anstellen würde.

*

„Weißt du, was uns Sonja und Ernst so Dringendes mitteilen wollen?“, fragte Peter und nahm für seinen Kollegen eine Flasche Wein aus dem Regal.

Kerstin schüttelte den Kopf. „Normalerweise würde ich sagen, die beiden erwarten ein Kind aber Sonja kann nicht schwanger werden.“

„Wer weiß. Vielleicht hat es ja nur mit ihrem ersten Mann nicht geklappt. Wenn eine Ehe daran zerbricht, nur weil der Nachwuchs ausbleibt. Den Druck hat sie bei Ernst nicht.“

„Tja, wer weiß“, sagte Kerstin und präsentierte stolz den prächtigen Blumenstrauß, den sie für Sonja gekauft hatte.

„Lass uns die U-Bahn nehmen, dann können wir beide ein Gläschen trinken.“

In Berlin war es ratsam, den Wagen stehen zulassen. Wenn man den Stau endlich hinter sich hatte, kamen die Parkplatz Probleme. Berlin verfügte schon lange über ein perfekt durchdachtes öffentliches Verkehrsnetz. Abgesehen von Flugplatzplanungen. Jeder Berliner, wahrscheinlich ganz Deutschland, fragte sich bereits, ob dieses Projekt je abgeschlossen würde. U-Bahnen jedoch fuhren im Minutentakt, kreuz und quer unter Berlins Straßen. Es dauerte kaum 20 Minuten und das Paar erreichte die Freunde, fast am anderen Ende der Stadt.

Sonja öffnete die Haustür. Ihr langes, lockiges Haar reichte bis weit über die Schultern. Ihre großen, blauen Augen strahlten vor Freude. Die Frauen umarmten sich.

„Ist das schön, dich zu sehen“, sagte Sonja.

„Du siehst so glücklich aus. Ich bin ja schon gespannt, was ihr uns erzählen wollt. Sag schon, was gibt es für Neuigkeiten?“

„Kommt erst mal rein“, mahnte Ernst.

Peter erkannte die Wohnung nicht wieder. Ernst war zwar immer ein ordentlicher Mensch. Seine Wohnung sehr modern, aber in kalten Farben, eingerichtet. Sonja hatte nicht nur Farbe in sein Leben gebracht. Die Handschrift einer Frau war in diesem Heim zu sehen. Ernst kam mit einer Flasche Sekt aus der Küche und Sonja holte die Gläser aus dem Schrank.

„Dann lasst uns auf das Ende meines Arbeitszimmers anstoßen.“

„Hörst du auf zu arbeiten?“, fragte Peter erstaunt.

„Nein. In sechs Monaten zieht unser Kind in das Zimmer.“

Kerstin begriff schneller als Peter. Sie umarmte Sonja, die vor Freude anfing zu weinen. Sonja hörte nicht mehr auf, zu erzählen. Sie hatte nicht mehr an eine Schwangerschaft gedacht. Das Thema war für sie abgeschlossen. Dann, bei einer Routineuntersuchung teilte der Arzt ihr die freudige Nachricht mit. Sie hatten es erst vor einer Woche erfahren.

„Hast du denn nichts gemerkt?“

„Nein, das ist ja das Komische. Sogar meine Tage habe ich pünktlich bekommen. Der Arzt sagt aber, es ist alles in Ordnung.“

Die Frauen waren den ganzen Abend beschäftigt. Peter erkannte seine Lebensgefährtin nicht wieder. Sie war aufgeregt. Kerstin hatte nie über Kinder gesprochen. Jetzt war sie 52 Jahre alt, auch wenn man sie höchstens auf 42 schätzte. Gab es schon wieder etwas, was er in ihrer Beziehung nicht bemerkt hatte. Hätte sie gerne eine Familie gehabt? Ihm wäre es egal gewesen. Sie hätte ja einen Ton sagen können. Er nahm sich vor, sie auf dem Heimweg zu fragen.

Die Männer ließen die Frauen mit ihrer Babyplanung alleine und gingen auf den Balkon. Dass Peter wieder an der Charité arbeitete, hatte sich bis ins Chemielabor herumgesprochen.

„Hat Sonja denn schon einen Käufer für ihren Laden in Werlow gefunden?“, erkundigte Peter.

Ernst nickte. „Was meinst du, wer den Käufer vermittelt hat?“

Peter musste nicht lange nachdenken. „Helmut.“

Helmut, der Allgemeinmediziner aus Werlow kannte fast jeden und wusste fast alles über seine Patienten. Er wusste von einer Frau, die dringend einen Neuanfang für ihr Leben brauchte und so fand Helmut mit der Übernahme des Ladens, wäre ja gleich drei Menschen geholfen. Sonja und Ernst konnten in Berlin zusammenleben und Frau Völker hatte eine neue Aufgabe. Der Arzt brachte die Menschen zusammen.

„Ja, der Helmut“, sagte Peter. „Er denkt immer, dass niemand ihn brauchen würde. Wo wäre Werlow denn ohne ihn? Er ist doch die gute Seele der Kleinstadt.“

„Ja“, stimmte Ernst zu. „Helmut ist schon ein besonderer Mensch.“

Ernst und Peter redeten den ganzen Abend über neue Analysegeräte im Labor und aktuelle Fälle in der Gerichtsmedizin.  Peter erzählte von den Abenteuern, die Kerstin und Peter in Sudan erlebt hatten. Die beiden Frauen hatten mit der Babyplanung alle Hände voll zu tun. Das Kinderzimmer wurde bereits in Gedanken eingerichtet.

 Es war nach 1 Uhr morgens, als sich das Paar auf den Weg zur U-Bahn machte. Peter hatte nicht vergessen, was er Kerstin fragen wollte. Sie lächelte und gab ihm einen Kuss.

„Nein, keine Sorge, mir fehlt nichts. Ich freue mich nur für andere.“

Hand in Hand schlenderten die beiden nach Hause.

*

Kerstin blickte ihrem Chef nach, als er wortlos an ihr vorbei in Richtung Büro ging. Sie hatte bereits vor einer Woche den Antrag auf Teilzeit auf seinen Schreibtisch gelegt. Kein Wort hatte er darüber verloren. Sie war sich nicht sicher, wie sie sich in dieser Situation verhalten sollte. Wie lange wartet man ab, bis man das Thema ansprechen sollte? Herr Zumstrull war bei den Kollegen unbeliebt. Seine Sozialkompetenz ließ zu wünschen übrig. Wenn die Kollegen nicht schon jahrelang vorher zusammengearbeitet hätten, wäre die Filiale schon den Bach runter gegangen. Ein neues Team hätte er nicht ans Laufen gebracht.

„Frau Kramer, kommen sie doch bitte in mein Büro“, meldete sich Herr Zumstrull per Telefon. Kerstin folgte der Aufforderung sofort. Sie war nervös. Würde er zustimmen oder ihr den Antrag um die Ohren hauen. Bei Zumstrull konnte man nie sicher sein. Er war ein klassischer Karrieretyp. Der Filialleiter war 38 Jahre alt, single und hatte seinen Master in BWL gemacht. Es ging immer nur um Bilanzen und Boni. Kerstin hoffte also nicht unbedingt auf Verständnis für mehr Privatleben und Freizeit.

„So, Sie möchten nur noch drei Tage pro Woche arbeiten?“ Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und drehte sich Richtung Fenster. Allein für dieses unhöfliche Verhalten hätte Kerstin ihm gerne seinen Locher an den Kopf geworfen.

„Ja, würde ich gerne“, antwortete sie höflich, aber bestimmt.

Eine gefühlte Ewigkeit starrte der Mann aus dem Fenster. Dann drehte er sich um.

„Also gut. Ich mache Ihre Vertragsänderung fertig. Morgen ist Donnerstag und auch der 1. Wir können die Änderung sofort vornehmen.“

Kerstin strahlte vor Freude, bedankte sich und ging. Sie konnte es kaum fassen. Jedes Wochenende ein langes Wochenende.

3

„Bist du sicher, dass du alles hast? Ich kann auch einen Anhänger mieten“, scherzte Peter. Sie wollten ihr erstes Wochenende in Werlow verbringen und Kerstin hörte gar nicht mehr auf, zu packen.

„Das brauche ich alles. Ich will, dass das Haus schön wird.“

„Ich wusste es“, dachte Peter und packte ohne Widerspruch die Kisten ein.

Während der 1 ½ stündigen Autofahrt, fing Kerstin bereits mit der Planung an. Sie redete pausenlos darüber, was man alles verändern könnte. Langsam fuhr Peter den Kiesweg entlang, vorbei an dem kleinen Wäldchen, zu dem weißen Haus. Im Hintergrund sah man bereits den Werlower See. Er war einige Monate nicht mehr hier gewesen. Sofort kamen die Erinnerungen, was damals hier geschah, wieder hoch. Die Haustür knarrte noch immer, als er sie öffnete. Eigentlich hatte er sich bereits nach dem ersten Öffnen, vor einem Jahr, vorgenommen einen Tropfen Öl an das Scharnier zu geben. Er stellte die Kiste auf dem Flur ab und erledigte das umgehend.

„Was machst du?“, fragte Kerstin.

„Wenn ich die Tür jetzt nicht öle, dauert das noch ein Jahr.

„Machst du danach die Heizung an? Es ist kalt hier drin?“

Als Peter alles erledigt hatte und auch die letzte Kiste endlich im Haus angekommen war, ging er auf die Veranda. Mit verschränkten Armen stand er da und blickte, in Gedanken versunken auf den See.

 Bei dem Anblick der Veranda schnürte sich Kerstin die Kehle zu. Hier hatte Peter gelegen. Sie selbst hatte es nicht gesehen, aber man hatte ihr jedes Detail erzählt. In diesem idyllischen Haus wurde er von dem Serientäter niedergestreckt. Fest nahm sie ihn in die Arme.

„Du erdrückst mich ja. Was ist denn los?“

„Wenn ich daran denke, dass du hier fast gestorben wärst, oh Schatz. Ich hoffe, dieser Mistkerl bleibt den Rest seines Lebens im Knast.“

„Er sitzt in der Psychiatrie. Es ist nicht damit zu rechnen, dass er noch mal raus kommt.“

„Stell dir vor, Helmut und Paul wären nicht zu dir gefahren, oder eine ½ Stunde später gekommen. Peter, dann wärst du tot!“

„So sollte man nicht denken. Das ist im Leben immer so. Eine Minute später mit dem Auto losfahren und der Geisterfahrer rauscht in einen rein. Einen Tag später als sonst zur Bank gehen, weil man am Tag zuvor Kopfschmerzen hatte und man steckt mitten in dem Überfall und endet als Geisel. Gut, dass man nicht weiß, wann es einen trifft.“

„Es muss dein Job sein, dass du so nüchtern darüber denkst. Empfindest du eigentlich noch etwas, wenn dir die Toten in die Gerichtsmedizin gebracht werden?“

„Sicher, aber ich breche nicht in Tränen aus, weil jemand gestorben ist. Wer die berufliche Barriere nicht aufbauen kann, bleibt nicht lange. Du kannst nicht mit jedem trauern. Es gibt aber auch Fälle, da fällt es selbst mir schwer.“

„Ich könnte das nicht.“

„Wie ist es denn bei dir. Jemand steht an deinem Schalter und jammert, weint vielleicht sogar, dass er dringend den Kredit braucht oder vom überzogenen Konto noch Geld. Überschreitest du die Grenzen oder zückst dein Portemonnaie? Das geht nicht, das blendest du auch aus.“

„Du hast, wie immer, recht. Ich mache uns jetzt was zu essen.“

Das Paar verbrachte den Abend vor dem Fernseher. Viel bekam Peter jedoch nicht von dem Film mit. Kerstin hatte wieder in den Dekomodus geschaltet. Das Gäste-WC müsste unbedingt neu gefliest werden. Das Grün ginge gar nicht und ob die Töpfe unbedingt unter dem Regal hängen müssten. Abends im Bett gab Peter ihr einen gute Nacht Kuss.

„Schatz richte das Haus so ein, wie du möchtest. Du machst das auf jeden Fall besser als ich. Aber bitte lass wenigstens die Kupferpfanne unter dem Regal hängen.“

„Alle anderen packe ich aber weg.“

Peter schlief mit dem Wissen, dass sie sich in ein paar Tagen beruhigen würde, fest ein.

*

Von ihrem Frühstückstisch aus konnten sie auf den See blicken. Es sollte ein schöner Tag werden. Der Himmel war fast wolkenlos und die Wasserfläche wie gebügelt.

„Was ist eigentlich auf dem Dachboden?“, fragte Kerstin, während sie sich etwas Konfitüre auf ihr Brötchen strich.

„Keine Ahnung. Ich war noch nie oben.“

„Noch nie? Du kaufst ein Haus und hast noch nicht alles gesehen?“

„Bisher brauchte ich den Platz ja nicht. Ich fahre nachher kurz bei Helmut vorbei. Du hast also ausreichend Zeit zum Stöbern.“

„Du kannst gleich fahren, ich kümmere mich um alles. Macht euch einen schönen Tag.“

„Soll ich nicht erst einmal mit aufräumen?“

„Nein, fahr mal ich mach das.“