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Der Gerichtsmediziner Dr. Döring trifft während seines Urlaubs, in Sudan, auf die Osnabrücker Familie Brümmer. Als plötzlich die 14 jährige Tochter Julia spurlos verschwindet, weiß er, dass er schnell handeln muss. Die vielen Jahre, die er in diesem Land gelebt hat, haben ihn gelehrt, dass die Spuren im Wüstensand schnell verschwinden. Durch seine Beziehungen zum Auswärtigen Amt treibt er die Ermittlungen voran. Gemeinsam mit Kommissar Fricke sucht er nach dem Mädchen. Als dann noch das Ehepaar überfallen und die Mutter entführt wird, wird ihnen klar, in was für ein Wespennest sie gestoßen haben. Die Spuren der Menschenhändler reichen von Sudan bis nach Osnabrück. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
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Seitenzahl: 227
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Die Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen oder Orten sind nicht beabsichtigt.
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-2693-7
Heiß brannte die Wüstenluft in Danielas Lungen. Jedes Zeitgefühl längst verloren, kauerte sie auf dem staubigen Boden der kleinen Hütte. Die unverglasten Fenster waren mit Jutesäcken verhangen. Bedrohlich wie ein Schwert durchschnitt ein Lichtstrahl diagonal den Raum. Schweißperlen liefen an ihrem schmutzigen Körper herunter und malten Striche auf ihre makellose, weiße Haut. Geistesabwesend massierte Daniela sich die Schläfen, um die unerträglichen Kopfschmerzen zu lindern. Zeit hatte an Bedeutung verloren.
Unentwegt redete die alte, dunkelhäutige Frau wild gestikulierend auf das Mädchen ein. Wiederholt schlug die Sudanesin Danni ins Gesicht, wenn sie es wagte, den Blick abzuwenden. Kraftlos ergab sie sich ihrem Schicksal. Wann hatte die 19-Jährige zuletzt Tageslicht gesehen? Es ging alles so schnell. Die Deutsche wusste weder, wo sie sich derzeit befand, noch ob Niko, ihr Freund noch lebte. Vor Verzweiflung zitternd legte sie den Kopf auf ihre Knie und fing an zu weinen. „Was, wenn sie Niko getötet haben? Lass mich aus diesem Albtraum aufwachen.“
Vor sechs Monaten hatte sich die 19-Jährige, nach bestandenem Abitur für unschlagbar gehalten. Nach wochenlangem Lernen wollte sie, wie viele ihrer Klassenkameraden ein Jahr lang die Welt bereisen, bevor der Ernst eines Studiums sie in die wirkliche Welt zurückholen würde. Nach dem Film "Die Mumie", stand fest, dass ihr Ziel Afrika heißen würde. Vergeblich hatten ihre Eltern versucht, ihr die Reise auszureden. Schließlich vertrauten sie auf Niko, der bereits mit seinen Eltern einige exotische Reisen unternommen hatte und mit seinen 22 Jahren vernünftiger war als Daniela.
Mit nur einer Stunde Verspätung landete der Airbus in Hurghada, der Touristenhochburg am Roten Meer. Mit ihren Rucksäcken bepackt, wartete das Pärchen auf den Reisebus, der sie nach Luxor, am Nil bringen sollte. Weitere 280km mit einer geschätzten Fahrtzeit von 4 ½ Stunden durch die Arabische Wüste standen ihnen bevor. Laut dröhnte exotisch klingende Musik aus dem Radio. Müde lehnte Daniela ihren Kopf an die Scheibe des Busses und schaute in die schwarze Nacht. Dann erblickte sie den einzigartigen Sternenhimmel. Hier machte die Milchstraße ihrem Namen alle Ehren. Die Erschöpfung vom Flug verschwand. Daniela presste, wie ein aufgeregtes Kind, ihr Gesicht an die Scheibe des Fahrzeugs.
Morgens um zwei Uhr bezogen sie ihre Kabine auf dem Kreuzfahrtschiff, das sie innerhalb einer Woche zu den Bauwerken der Pharaonen bringen würde. Am folgenden Morgen hatte das Schiff in Edfu angelegt. Daniela stand in der Sonne und fixierte das Bild des Königs, auf dem ca. 60m hohen Pylon. Der gigantische Horus Tempel zeigte Daniela, wie winzig und unbedeutend jeder einzelne Mensch eigentlich war. Die Begeisterung blieb, egal ob sie in Assuan oder Abu Simbel waren.
„Ich will nie wieder nach Hause. Ich liebe dieses Land“, schwärmte Daniel und umarmte Niko fest.
Von Abu Simbel aus fuhren die beiden weiter Richtung Sudan. Sie überquerten die Grenze bei Whadi Halfa. Der Sudan war, im Gegensatz zu Ägypten, touristisch weitestgehend unberührt. Wenn sie geahnt hätten, welch jähes Ende ihr Traum hier nehmen würde, hätten sie keinen Fuß über die Grenze gesetzt.
Ein sehr freundlicher sudanesischer Lkw-Fahrer bot sich an, sie bis Karthum mitzunehmen. Die Straßen waren beschwerlich. Oft reihte sich Schlagloch an Schlagloch oder der Weg war von Wüstensand verschüttet. Das Überwinden selbst kurzer Distanzen erforderte Stunden. Niko sah das kleine Hotel, im Stadtzentrum, dem Souq al Arabi, zuerst. Es war kein typisches Touristenhotel. Niemand öffnete dem Gast die Tür. Die Lobby war nicht klimatisiert. Nur ein Deckenventilator über der schlichten Rezeption sorgte für eine kleine Brise. Das Zimmer war spartanisch, mit einem Bett und einem Schrank, eingerichtet. Die Bettwäsche war alt und abgegriffen. Das Zimmer roch muffig. Fragend schaute Niko zu seiner Freundin, ob sie mit dieser Einfachheit leben könnte, aber sie winkte nur ab und betonte, dass es alles zu einem Abenteuer gehöre.
„Für 5 Euro pro Nacht können wir kein Sheraton erwarten.“
Aufgeregt lehnte sich Danni aus dem Fenster und schaute auf den Basar. Der Straßenlärm der 2 Millionen Stadt dröhnte durchs ganze Zimmer.
„Ich gehe nur duschen und ziehe mir was Luftiges an, dann müssen wir auf den Basar gehen“, sagte sie.
Sie zog es vor, Badelatschen während des Duschens anzulassen. Sie Silikonkasten waren verschimmelt, die Armaturen rostig. Es gab nur kaltes Wasser aber nach der unerträglichen Hitze, war es sehr erfrischend.
Niko beobachtete, wie der Luftstrom ihres Föhns die langen blonden Haare umherwirbelte. Das weiße, kurze Kleid betonte die schlanke Taille. Langsam strich er mit seiner Hand vom Knie aufwärts ihren Oberschenkel hinauf. Daniela haute ihm auf die Finger.
„Später Schatz. Jetzt will ich erst auf den Souq.“ Schließlich gab er sich mit einem Kuss zufrieden und sie machten sich auf den Weg.
Die Händler nutzten jeden Zentimeter aus, um ihre Waren zu präsentieren. Von allen Seiten riefen die Verkäufer. Einige kamen direkt auf das Paar zu und drängten zum Kauf der Waren. Der Geruch von Gewürzen hing in der Luft. Einige Händler pfiffen Daniela nach und boten Niko 100 Kamele für sie. Ihr Lächeln zeigte, wie sehr ihr der Ruhm gefiel. Immer wieder schüttelte sie ihre langen Haare. Beflügelt von dem Gedanken die schönste Frau auf dem Basar zu sein, inhalierte sie die heiße Luft des Sudans um sich jeden Augenblick einzuprägen. Die Gassen wurden immer enger. Mühelos konnten die Männer dem sorglosen Paar folgen. Erst als ein hämmernder Schmerz Danielas Kopf fast zerbersten ließ, erblickte sie, während sie in sich zusammensackte, ihren Freund auf dem Boden liegend. Daniela verlor das Bewusstsein.
Nur langsam kam sie wieder zu sich. Es war heiß, die Luft staubig. Durch den fäkalen Gestank musste sie sich übergeben. Wie viel Zeit war vergangen? Stunden oder Tage? War es Tag oder Nacht? Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis. Immer wieder rief die 19 Jährige lautstark um Hilfe. Der plötzliche Lichtschein, der das Zimmer durchflutete, als die Tür geöffnet wurde, blendete. Sie konnte nur einen Umriss erkennen. Jemand kam, stellte ihr wortlos einen Krug mit Wasser und eine Schüssel Ful auf den Boden, und ging. Das sudanesische Gericht aus gekochten Saubohnen mit Öl, Tomaten Zwiebeln und Falafel sollte ihre einzige Mahlzeit am Tag bleiben. Wo war Niko? Was hatten sie mit ihm gemacht?
Danni hatte keine Ahnung, wie lange sie sich schon in diesem Kerker befand, aber sie wusste, dass niemand nach ihr suchen würde. Erst kurz vor dem Überfall hatte sie ihre Mutter angerufen und ihr erzählt, wie schön alles sei. So schnell würde sie mit keinem Anruf mehr rechnen. Sie hatte ihrer Mutter beim letzten Telefonat gesagt, wie schwer es ist eine Telefonzelle aufzutreiben. Wann würde die Mutter ihre Tochter vermissen? Plötzlich öffnete sich wieder die Tür. Ein Mann packte sie am Arm und zerrte sie hinter sich her. Mit einem Ruck wurde die junge Frau in ein Zimmer geschubst. Dort warteten zwei sudanesische Frauen, die ihr die Kleider auszogen, sie wuschen und ihr ein afrikanisches Kleid gaben. Danni flehte die Frauen an, ihr zu helfen aber sie verstanden sie nicht. Bekleidet mit einem schlichten orangen Kleid und einem weißen Schleier, der das Haar verdeckte, zerrten die Frauen Daniela in die Küche. Der dunkelhäutige Mann, mit grauem Vollbart, saß bei einer Tasse Tee am Tisch und nickte zustimmend. Dannis Augen suchten jeden Winkel des Zimmers ab, bis sie an einem Gegenstand wie gebannt innehielt. Der Kalender an der Wand zeigte ihr, dass sie bereits seit zwei Wochen in Gefangenschaft war.
Der Mann hatte sie mit einem Kleinlaster in dieses Dorf gebracht, Geld kassiert und verschwand. In Gedanken vertieft saß sie nun auf diesem staubigen Boden des einfachen Hauses. Daniela träumte mit offenen Augen von Niko. Davon wie er sie ansah, sie berührte, seine Hände an ihrem Körper herunter glitten. Sie hatte sogar das Gefühl ihn zu riechen, doch eine Ohrfeige holte sie in die graue Wirklichkeit zurück. Die sudanesische Frau, mit dem sonnengegerbten Gesicht, die seit Stunden auf sie einredete, war immer noch da. Ängstlich sah sich Daniela um. Auch die vier anderen älteren Frauen befanden sich noch in dem kleinen Haus. Man brauchte kein Sudanesisch-arabisch zu sprechen, um zu verstehen, dass Daniela verheiratet werden sollte. Der erste Teil der Hochzeit war bereits mit dem Kaufpreis abgeschlossen. Der Menschenhändler, der sie vom Souq geholt hatte, konnte für die blonde Frau einen guten Preis erzielen. Nun befand sich die Deutsche mitten im zweiten Akt. Die älteren Frauen zogen sich mit der Braut zurück, um ihr zu zeigen, wie sie ihren Ehemann beglücken konnte.
„Ich muss hier raus. Ich muss einen Weg finden - Niko finden.“
Die Älteste, die Somo, schubste Danni, spreizte ihre Schenkel und sah sich Danielas Genitalbereich an. Wild mit den Armen gestikulierend rief sie die anderen Frauen zu sich. Alle vier betrachteten kopfschüttelnd Daniela. Zutiefst beschämt, versuchte sie sich zu bedecken.
Die Somo verließ aufgeregt das Haus, rannte vorbei an den einfachen Hütten, den staubigen Weg entlang, bis sie zu dem großen Haus kam. Sie lief über die Terrasse, an der sich Säulen, die große Papyruspflanzen darstellten, befanden. Energisch klopfte sie an die massive Holztür des großen, weißen, Hauses. Die Somo kniete vor dem hochgewachsenen, dunkelhäutigen Mann nieder.
„Fahrad bin Abdul, verzeih mir, dass ich dich aufsuche“, sagte die Somo und blickte ehrfürchtig auf den Boden.
„Somo. Was willst du? Warum bist du nicht bei meiner Braut und bringst ihr alles bei?“
Den Blick auf den Boden gesenkt, berichtete sie ihrem Herrn, dass seine Braut weder beschnitten noch unversehrt sei, und schlug vor sie zu töten.
Zornig stand Fahrad bin Abdul auf. Das Weiße in den Augen, des 1,90 m großen Mannes stach aus dem dunkelbraunen Gesicht hervor. Es war Danielas blondes, lockiges, langes Haar, an das er dachte, als sich ein Lächeln auf sein Gesicht legte und wie sehr seine Freunde ihn darum beneiden würden. Er hatte viel Geld für das Mädchen bezahlt.
„Was redest du alte Frau! Was du gesehen hast, ist von mir. Ich kaufe eine Ziege auch nicht, ohne zu prüfen, ob sie Milch geben kann“, sagte er, um nicht seine Ehre zu verlieren.
„Aber Herr, sie ist nicht beschnitten!“
„Ich weiß, dafür ist noch Zeit oder willst du einen Mann um seine Hochzeitsnacht bringen? Du weißt doch selbst, wie lange es braucht, bis die Wunden verheilen. Jetzt sei still und bereite sie vor.“
Verständnislos ging die 60 Jährige zu der ärmlichen Hütte zurück.
„Heute, wenn sie schlafen, werde ich fliehen. Ich werde bestimmt nicht diesen Mann heiraten“, dachte Daniela.
Die Frauen hatten sich auf Matten ein Lager aufgeschlagen. Nach kurzem Warten, fing die Erste leise an zu schnarchen. Erst als die Deutsche sicher war, dass alle fest eingeschlafen waren, bahnte sie auf Zehenspitzen ihren Weg in die Freiheit.
Vorsichtig stieg sie über Nesrin hinweg bis zu Laila, die an der Tür schlief. Fast hätte Daniela aufgeschrien, als die Hand von Laila auf ihrem Fuß landete. Ohne zu atmen, zog Danni vorsichtig ihren Fuß beiseite, öffnete einen Spaltbreit die Tür und lugte hinaus. Niemand zu sehen. Ohne nachzudenken, rannte sie los. Vorbei an den Lehmhäusern mit ihren Wellblechdächern, vorbei an den Ziegen und dem kleinen Brunnen. Sie rannte durch die kalte Wüstennacht. Gerade als sie einen Hauch von Triumph in sich verspürte, hörte sie die Stimmen hinter sich. Man hatte ihre Flucht bemerkt. Ihre Muskeln schmerzten und die Seitenstiche ließen sie kaum mehr atmen aber sie musste es schaffen.
„Lauf weiter, lauf doch. Nur noch bis zum Gebüsch, da kannst du dich verstecken“, motivierte sie sich selbst. Ein Schlag von hinten ließ sie zu Boden gehen. Daniela brach zusammen. Im Kopf hörte sie ihren eigenen Herzschlag, bevor sie schließlich das Bewusstsein verlor.
„Habe heute eine Überraschung für Dich“, tippte Martin in sein Mobiltelefon und sendete seiner Frau die SMS. Für seine Überraschung hatte er während seiner Mittagspause eine Flasche Sekt gekauft und sie in der kleinen Büroküche kaltgestellt.
„Überraschung? Ich freue mich schon“, lautete die Antwort.
Martin fuhr seinen roten Zafira in die Garage. Mit großen Schritten hastete der sportliche 35 Jährige die Stufen zu seiner Mietwohnung hinauf. Er streifte sein kurzes, braunes Haar nach hinten und öffnete die Tür. Hannah würde völlig aus dem Häuschen sein. Heute würde sie ihren Mann von einer Seite kennenlernen, die sie noch nicht kannte. Häufig beschwerte sie sich über seine Sparsamkeit, über fehlende Spontanität. Martin war sich sicher, dass sie absolut sprachlos sein würde. Nach dieser Überraschung müsste er sich die Vorwürfe nie wieder anhören. Sein Herz pochte wie beim ersten Date.
„Schatz, ich bin zu Hause! Hannah! Julia!“
Er öffnete die Kinderzimmertür. „Julia?“ Das Zimmer war leer und unaufgeräumt wie immer. Martin ging zum Wohnzimmer. „Hannah?“ Doch auch hier fand er niemanden. Weder seine Frau noch seine Tochter waren zu Hause. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.
Hallo Schatz,
Bin mit Anne zum Badminton. Dein Essen steht in der Mikrowelle. Freue mich auf die Überraschung.
Hannah
Wütend knüllte der Industriekaufmann die Nachricht zusammen und warf sie auf den Tisch. War es zu viel verlangt, gemeinsam mit der Familie zu speisen und über den Tag zu reden? Konnte sie noch nicht einmal zu Hause bleiben, wenn er schon eine Überraschung ankündigte? Nachdenklich saß er am Küchentisch und sah kopfschüttelnd die Flasche Sekt an. Das hatte er als Kind nicht kennengelernt. Wenn der Vater heimkam, stand das Essen auf dem Tisch. Seine Mutter zog nicht mit irgendwelchen Frauen um die Häuser. Er hatte nie erlebt, dass sich sein Vater Essen aufwärmen musste. Hannah hatte seinen Vater, der mit vierzig an einem Herzinfarkt gestorben war, nie kennengelernt. Seine Mutter hatte sie jedoch gekannt. Es war zwei Jahre her, als auch sie, viel zu früh starb. Er war überzeugt davon, dass Anne versuchte die Ehe der beiden zerstören wollte. Anne war seit Jahren geschieden und hatte sich zu einer Männerhasserin entwickelt. Oft hatte er Hannah gebeten, den Kontakt zu ihr abzubrechen.
„Was ist falsch daran, zu arbeiten, zu sparen und für die Zukunft vorzusorgen?“, dachte er. „Ist man deshalb gleich ein Langweiler?“
Enttäuscht stellte er die Flasche Sekt in den Kühlschrank, ging in das Wohnzimmer und setzte sich vor das Fernsehgerät. Er schaltete durch die Programme. Die Sender übertrumpften sich gegenseitig mit Wiederholungen und Unterhaltungsmüll. Talkshows und Gerichtssendungen gefolgt von Kochsendungen. Schließlich präsentierte das Reisemagazin exotische Ziele. Niedergeschlagen legte er die Flugtickets, mit der er Hannah überraschen wollte in den Wohnzimmerschrank.
Nach zwei Stunden wurde endlich die Wohnungstür geöffnet. „Hannah, bist du es?“, rief er.
„Nö ich“, antwortete seine 14 jährige Tochter, die sich, als sie das Wohnzimmer betrat, fest auf ihr Handy konzentrierte. Sie war wie gewöhnlich dabei irgendjemandem eine Kurznachricht zu schreiben. Seit sie sich bei WhatsApp angemeldet hatte, legte sie ihr Telefon überhaupt nicht mehr an die Seite.
„Kannst du mir mal erzählen, wo du herkommst? Es ist gleich acht.“
Das blonde Mädchen würdigte den Vater keines Blickes und meinte nur das sie chillen war. Er hasste diesen Begriff. Seines Erachtens war es nur die moderne Umschreibung für faul und sinnlos in der Gegend abzuhängen.
„Hast du wenigstens deine Hausaufgaben gemacht?“
„Mache ich nachher.“
„Gleich, später und habe ich vergessen. Das sind wohl die meist gebrauchten Wörter. Die Hausaufgaben werden jetzt und nicht nachher gemacht. Haben wir uns verstanden? Erst die Arbeit ...“
„Ja, ja, dann das Vergnügen. Kapiert. Also chillen ist Arbeit. Hab' ich fertig und jetzt kommt Mathe. Dann war ja alles paletti.“
„Mein liebes Fräulein, ab jetzt werden erst die Hausaufgaben gemacht, bevor Du das Haus verlässt. Ansonsten bist Du Dein Handy los, ist das klar?“ an dem Gesichtsausdruck ihres Vaters, der langsam überkochte, erkannte der Teenager, dass Deeskalation angesagt war. Schnell steckte sie ihr Telefon in ihre Jeans, setzte sich auf die Sesselkante von Martin und umarmte ihn.
„Sorry Dad, ich hab' dich lieb. Sei nicht böse. Was kann ich tun, damit du nicht sauer bist?“, Julia rollte mit ihren großen blauen Kulleraugen und hoffte, dass Martin, wie sonst auch, dahinschmolz. Aber aus irgendeinem Grund klappte das heute nicht. Er drückte sie sanft zurück und wies sie an ihre Schulaufgaben zu erledigen. Er hielt die Hand auf und widerwillig legte Julia ihr Smartphone hinein.
Julia beherrschte seit einigen Monaten den Gesichtsausdruck pubertierender Jugendlicher, folgte aber den Anweisungen des Vaters. Während in den Nachrichten weiter steigende Benzinpreise angekündigt wurden, kam Hannah vom Sport. Die schlanke Frau kickte ihre Turnschuhe quer durch das Zimmer, ließ sich auf das Sofa fallen, legte ihre Füße auf den Tisch und meinte:
„Bin ich fertig. Die Anne hat mich heute voll abgezockt. Nicht ein Spiel habe ich gewonnen.“
Martin schaute sie teilnahmslos an. Hannah stutzte, dann sprang sie auf, ließ sich auf Martins Schoss fallen und umarmte ihn.
„Oh ich habe ganz die Überraschung vergessen! Was ist es denn?“
„Das ist jetzt nicht Dein Ernst, oder? Du hältst es nicht einmal für nötig zu Hause zu bleiben, wenn ich Dir vorher eine SMS schreibe. Irgendwann, wenn Dir nichts Besseres mehr einfällt, kommst Du an und erwartest, dass sich wie immer alles um Dich dreht.“ Martin schüttelte enttäuscht den Kopf und wandte den Blick ab.
„Ach Bärchen. Nun brumm' doch nicht. Was kann ich tun, damit du wieder lachst?“
Sie zog eine Schnute und kraulte Martin den Kopf. Hannah hatte nicht nur die blonden Haare und die blauen Augen an ihre Tochter vererbt. Sie hatten auch die gleichen Deeskalationsmethoden. Sie hatte es wieder einmal geschafft. Er konnte seiner Frau nie lange böse sein.
„Ja, du kannst was tun. Geh´ duschen. Du stinkst nach Schweiß.“
Lachend verließ die junge Frau das Wohnzimmer. Sie hatte ihn wieder einmal um den Finger gewickelt. Martin nahm schnell die Flasche Sekt aus dem Kühlschrank, holte die guten Sektgläser aus der Vitrine und stellte alles bereit.
Nur in ein Handtuch gewickelt kam die 32 Jährige ins Wohnzimmer zurück.
„Hab' ich Sehstörungen? Aber Herr Brümmer. Sie haben doch nicht etwa Geld für diese – wie sagst du immer? Völlig überteuerte Juppybrause, ausgegeben?"
Mit einer Handbewegung deutete er Hannah an abzuwarten und holte Julia aus ihrem Zimmer. Die gute Nachricht wollte er beiden präsentieren. Neugierig versammelte sich die Familie und schaute den Vater gespannt an. Sie drängten ihn, endlich zu sagen, wieso Sekt auf dem Tisch stand. Martin ließ den Korken knallen und füllte die schäumende Brause in die Gläser. Mit erhobenem Glas erzählte er von der enormen Prämie, die er bekommen hatte. Freudig umarmte Hannah ihren Mann und fragte nach der Höhe der Summe.
Nach einem kurzen Augenblick der Euphorie wurde sie ruhiger. Sie kannte Martin. Mehr als die Kosten der Flasche würde er nicht verschwenden. Mit Sicherheit war sein erster Weg zum Sparbuch um alles fest anzulegen.
„Kriege ich ein Pferd. Oh, Papa bitte“, schnell fiel Julia ihrem Vater um den Hals.
„Ein Pferd? Spinnst du? Weißt du überhaupt, was der Unterhalt kostet? Nein, ich habe den Wagen abbezahlt. Wir hatten noch 2500 Euro auf dem Kredit. Ich habe ihn gleich abgelöst.“
Die Enttäuschung war den Mädels ins Gesicht gemeißelt, wie die Zehn Gebote auf den Steintafeln. Martin kostete den Triumph aus.
Gerade als Julia sich bockig umdrehte, und beschloss lieber an den Hausaufgaben weiter zu machen, sagte Martin: „Naja, mit dem Rest habe ich eine Reise gebucht.“
Aufgeplustert wie ein Hahn, ging er an den Schrank und holte die Prospekte heraus. „Wir drei fliegen in den Sommerferien für zwei Wochen in den Sudan. Zwei Wochen im Nobelhotel Ali Pascha, direkt am Meer mit eigener Tauchbasis.“
Hannah kreischte vor Freude. „Schatz! Tauchen? Ehrlich? Tauchen? Oh, ich freu' mich so.“
„Su ... was? Wo soll das denn sein?“, fragte Julia und zog die Mundwinkel fast bis auf die Schultern runter.
„Nicht zu fassen. Wie heißt der Erdkundelehrer? Ich sollte ihm erlauben euch für jede Träumerei, Quatscherei oder so, einen kräftigen Schlag in den Nacken geben. Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen, sagt man. Hol deinen Atlas und schau nach!“, meinte Martin.
Bockig holte das Mädchen das Schulbuch.
Hannah setzte sich aufs Sofa. Sie zweifelte, ob es im Sudan nicht zu gefährlich sei. Martin setze sich auf die Lehne, strich ihr das Haar zurück und erklärte ihr, dass er sich erkundigt hatte. Beim Auswärtigen Amt wurde der Norden, bei Port Sudan für ungefährlich eingestuft. Nur der Süden bei Darfur sollte nicht bereist werden.
Hannah liefen die Tränen vor Freude, als sie die traumhaften Fotos aus dem Prospekt sah. „Oh Schatz, ich liebe dich“, wiederholte sie immer wieder und küsste ihren Mann.
„Das ist in Afrika, habs' gefunden“, sie blickt zu ihren Eltern, „Das ist ja widerlich. Hört mit der Knutscherei auf“, beschwerte sich Julia. „Kann ich Jana mitnehmen?“
„Bist du verrückt?“, lehnten beide Eltern gleichzeitig ab, „Hast du eine Ahnung, was das kostet?“
„Was kostet es eigentlich?“, wollte Hannah wissen.
„5500Euro für 14 Tage. Ich habe 15000 Euro bekommen. Bleiben also immer noch 2000 Euro Taschengeld und natürlich was fürs Sparbuch. So kurzfristig habe ich aber nur noch einen Umsteigeflug bekommen. Es geht ja schon nächste Woche los.“
Der Drucker lief auf Hochtouren und auf Martins Schreibtisch türmten sich die Aufträge, die er vor seinem Urlaub noch bearbeiten wollte. Sein Arbeitsplatz war gut strukturiert, sauber und ordentlich. Im Gegensatz zur Arbeitsauffassung seines Kollegen. Mit einem Becher Kaffee in der einen und einem Brötchen in der anderen Hand stand Schröder am Fenster und beobachtete den Regen. Es störte ihn nicht, dass sein Schreibtisch vor Arbeit überquoll.
„Du hast es gut. Du liegst morgen schon in der Sonne und wir können hier schuften“, murmelte Kai mit vollem Mund und nahm noch einen Schluck aus der Tasse.
„Ja, du siehst wirklich gestresst aus. Hauptsache du schaffst alle Brötchen bis zum Feierabend.“
Martin beachtete den verwirrten Blick nicht, nahm einen Stift aus dem Tischorganizer, unterzeichnete die Papiere und verließ das Büro. An den Laderampen herrschte reges Treiben.
„Morgen. Hier sind die Papiere. Ist der LKW schon beladen?“
„Ja, ich haben alles. Fehlen nur Papiere. Wann müssen ich sein in Spanien?“, fragte der dunkelhäutige Fahrer.
„Barcelona, morgen früh um 7:00Uhr. Ihr müsst euch ranhalten. Fahrtzeit 14 ½ Stunden. Ihr dürft nicht mehr als 3 ½ Stunden verlieren.“
Der Speditionskaufmann wandte sich ab und machte sich auf in Richtung Büro. Gerade, als er die Tür öffnete, rief Kramer Junior ihn zu sich und wies ihn freundlich an, in dem modern eingerichteten Büro Platz zu nehmen. Martin ahnte, dass es um seinen Urlaub ginge. Normalerweise gab Kramer Junior nur im Vorbeigehen Anweisungen, aber Zeit, sich mit seinen Angestellten zusammenzusetzen, nahm er sich nur selten. Zögernd setzte er sich in den schwarzen Ledersessel.
„Herr Brümmer, ich sehe sie ahnen schon, worum es geht?“
„Ich kann es mir denken“, erwiderte mit einem missbilligenden Unterton.
„Nun ja, wir alle müssen Opfer bringen. Malke & Sohn ist nun einmal ein großer Auftrag. Sie brauchen auf den Urlaub ja nicht zu verzichten. Verschieben sie ihn einfach ein paar Tage.“
„Opfer hast du doch noch nie gebracht. Du hast doch die Firma von Papi übernommen“, dachte er. Martin verbrachte täglich mehr Stunden im Büro als sein Sonnenstudio gebräunter Chef in den Designer – Klamotten. Seine sportive Erscheinung zeigte, dass er reichlich Zeit für Squash oder Ähnliches hatte. Um sich blickend suchte Martin nach den passenden Worten. Als er das Bild an der Wand sah, dass Kramer auf seinem Segelboot zeigte, wäre ihm fast endgültig der Geduldsfaden gerissen.
„Nein Chef, nicht schon wieder. Wir haben gebucht, unser Flieger geht morgen schon. Schröder ist da, und solange Sie im Haus sind, kann ja nichts schiefgehen.“
Einen Moment lang zögerte Kramer. Bei Martin hatte er nicht mit Gegenwehr gerechnet. Bisher hatte er alles hingenommen, was ihm aufgetragen wurde.
„Schröder ist eine Pfeife, dass wissen sie so gut wie ich. Entweder schaffen sie es bis zu ihrem Abflug den Auftrag abzuwickeln oder verschieben.“
Niedergeschlagen verließ Martin das Büro seines Chefs. „Dieser Arsch. Wenn Schröder seinen Job nicht kapiert, dann soll er ihn rausschmeißen. Gibt genug Leute, die auf die Stelle warten.“
Er knallte die Unterlagen wütend auf seinen Schreibtisch.
Ohne den Blick aus dem Fenster zu wenden, meinte Schröder, dass er sich das unbedingt ansehen sollte. An der Bushaltestelle stände eine Frau, die von einem Auto, dass durch eine riesige Pfütze gefahren sei, total nass gespritzt worden war.
„Das ist mir so was von scheißegal!“
„Ist was?“, fragte Schröder.
„Ob was los ist? Lern' mal deinen Job. Ich kann deinetwegen die Nacht durcharbeiten. Der Chef hat mir gesagt, dass du keine Ahnung hast, und wollte meinen Urlaub streichen. Langsam reicht es mir.“
Geschockt setzte sich Kai in Zeitlupe auf einen Stuhl am Fenster. Seine Kaffeetasse ließ er langsam auf seinen Oberschenkel sinken.
„Das hat er gesagt? Ich mache doch meine Arbeit. Andauernd mache ich länger, nur damit alles fertig wird und er sagt, ich mache meinen Job nicht?“
„Ja, länger bleiben tust Du aber wie viele Vorgänge bearbeitest Du? Du brauchst doch für alles die dreifache Zeit.“
„Hat er gesagt, dass er mich rausschmeißt? Was soll ich denn dann tun? Wir haben gerade die Eigentumswohnung am Schölerberg gekauft und Nicki braucht eine Zahnspange, ...“
„Nein, hat er nicht. Sorry, ich war halt sauer. Packst du mit an?“ Martin bereute seine Äußerungen, als er das geschockte Gesicht seines Kollegen sah. Er wollte Kai nicht verletzen, nur wäre er ihm als Nachbar statt als Kollege, lieber. Nicht direkt angrenzend aber dieselbe Straße wäre für Martin in Ordnung.
Schröder nickte. „Klar, du wirst Deinen Flieger nicht verpassen.“
Martin rief zu Hause an und erklärte Hannah, was geschehen war und dass sie die Koffer alleine packen sollte. Prompt fing sie an zu jammern, dass sie noch mit Anne weg wollte und das für sie zu viel Arbeit sei.
„Hallo? Kommst du klar? Ich komme später, weil ich arbeiten muss, nicht weil ich was unternehmen will. Dann musst Du Anne eben mal absagen.“
„Na toll und wann kommst du? Du weißt genau, wie früh es losgeht.“
„Hannah, wir brauchen bis Frankfurt vier Stunden. Wenn wir um 7 Uhr losfahren, sind wir immer noch rechtzeitig da. Also mach' alles fertig. Wenn ich komme, geht’s gleich los.“
„Ja gut.“
Die Männer gaben ihr Bestes. Stunde um Stunde wurden Papiere gewälzt und die Logistik geplant. Endlich um 6:00 Uhr druckten die letzten Frachtpapiere und Martin machte sich auf den Heimweg.
Erschöpft von dem langen Tag schloss Martin kurz nach sechs Uhr morgens die Wohnungstür auf. Skeptisch blickte er auf die fünf Koffer, die auf dem Flur standen. Hannah kam aus dem Wohnzimmer und tippte theatralisch mit dem Zeigefinger auf die Uhr.
„Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr“.
Martin hob einen Koffer nach dem anderen prüfend hoch, um das Gewicht zu schätzen.
„Sag mal Schatz, hast du die Koffer gewogen? Es scheint mir als wären es mehr als 60kg.“
Hannah zuckte mit den Schultern. „Ich hab' nur das Nötigste eingepackt.“
Kommentarlos holte er die Personenwaage aus dem Bad, wog zunächst sich selbst und stieg dann jeweils mit einem Gepäckstück gemeinsam auf die Waage. Seine Frau hatte es geschafft, 85kg des Nötigsten zu verstauen.
„Das sind 25kg zu viel. Weißt du, dass dieses ach so notwendige Zeugs über 100 Euro extra kosten?“
Er öffnete die Koffer und schüttelte den Kopf.
„Hannah, du brauchst also tatsächlich acht Paar Schuhe und 26 T-Shirts für zwei Wochen? Willst tatsächlich vier dicke Bücher lesen. Und du Julia? Das kann doch nicht wahr sein.“