Blutberg - Ævar Örn Jósepsson - E-Book

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Ævar Örn Jósepsson

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  • Herausgeber: btb
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Ein neuer Fall für Kommissar Árni aus Reykjavík

Im abgelegenen östlichen Hochland befindet sich das umstrittenste Bauprojekt Islands: ein gigantischer Staudamm soll hier entstehen. Wo einst unberührte Natur war, schuften nun Billigarbeiter aus aller Herren Länder unter menschenunwürdigen Bedingungen. Da stürzt eines Morgens ein Felsüberhang in die Tiefe und begräbt sieben Männer unter sich. Doch war es wirklich ein Unfall oder steckt ein grausamer terroristischer Akt dahinter? Als Kommissar Árni und seine Kollegen eintreffen, empfängt sie ein portugiesischer Arbeiter mit den Worten: „Willkommen in Alcatraz …“

Nominiert für den skandinavischen Krimipreis.

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Seitenzahl: 630

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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 – Samstag
Kapitel 2 – Samstag/Sonntag
Kapitel 3 – Sonntag
Kapitel 4 – Sonntag
Kapitel 5 – Sonntag
Kapitel 6 – Sonntag
Kapitel 7 – Sonntag
Kapitel 8 – Sonntag/Montag
Kapitel 9 – Montag
Kapitel 10 – Montag
Kapitel 11 – Montag
Kapitel 12 – Montag
Kapitel 13 – Montag
Kapitel 14 – Montag
Kapitel 15 – Dienstag
Kapitel 16 – Dienstag
Kapitel 17 – Dienstag
Kapitel 18 – Dienstag
Kapitel 19 – Dienstag
Kapitel 20 – Dienstag
Kapitel 21 – Dienstag
Kapitel 22 – Dienstag
Kapitel 23 – Dienstag/Mittwoch
Kapitel 24 – Mittwoch
Kapitel 25 – Mittwoch
Kapitel 26 – Mittwoch
Kapitel 27 – Mittwoch/Donnerstag
Kapitel 28 – Freitag/Samstag
Kapitel 29 – Montag
Kapitel 30 – Montag
Copyright
BUCH: Im abgelegenen östlichen Hochland befindet sich das umstrittenste Bauprojekt Islands: Ein gigantischer Staudamm soll hier entstehen. Wo einst unberührte Natur war, schuften nun Billigarbeiter aus aller Herren Länder unter menschenunwürdigen Bedingungen. Da stürzt eines Morgens ein Felsüberhang in die Tiefe und begräbt sieben Männer unter sich. Der einzige Überlebende glaubt, eine Explosion gehört zu haben. War es vielleicht gar kein Unfall, sondern ein Terrorakt der militanten Umweltgruppe Grüne Armee? Die örtliche Polizei ist mit der Situation überfordert und bekommt Verstärkung aus Reykjavík.
Als Kommissar Árni Eysteinsson und seine Kollegen an dem unwirtlichen Ort eintreffen, stoßen sie auf katastrophale Zustände: Sicherheitsvorkehrungen werden nicht eingehalten, zudem blühen Drogenhandel und Prostitution. Das vermeintliche Jahrhundertprojekt erweist sich mehr und mehr als eine Schlangengrube aus krimineller Energie, Habgier und Rachsucht – zu viele Beteiligte haben Dreck am Stecken. Und die Grüne Armee droht neuerlich mit einem Anschlag …
AUTOR: Ævar Örn Jósepsson, Jahrgang 1963, studierte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg Philosophie und Englische Literatur. Seit 1994 arbeitet er als freiberuflicher Übersetzer und ist als Journalist für zahlreiche isländische Zeitungen und Magazine tätig. Jósepsson lebt in Reykjavík. »Blutberg« ist sein zweiter Roman, der bei btb erscheint.
ÆvAR ÖRN JÓSEPSSON BEI BTB: Dunkle Seelen. Kriminalroman (73476)
Willkommen in Alcatraz …
(Ein portugiesischer Arbeiter in Kárahnjúkar zu einem ausländischen Fernsehberichterstatter, 2004)
Jorge fror. Er fror an Händen, Füßen, am Kopf und im Gesicht. Er fror an Schultern, Waden, Schenkeln, an der Brust und am Arsch. Nicht an den Zehen und Fingern, da hatte er nämlich schon seit langem kein Gefühl mehr, aber an sämtlichen anderen Körperteilen, sogar am Bauch und am Sack war ihm kalt. So etwas hatte er noch nie erlebt, bevor er vor zwei Monaten seine erste Schicht in der Hölle machte. Denn das hier war die Hölle, daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen.
Von Kindesbeinen an war ihm allerdings die Vorstellung eingetrichtert worden, dass es in der Hölle heiß sei. Der Pfarrer, der Lehrer, seine Eltern, Geschwister und Freunde kannten unzählige Geschichten darüber, was diejenigen, die im Diesseits nicht auf dem schmalen und dornigen Pfad der Tugend und Gottesfurcht wandelten, dort unten erwartete. Wie ein roter Faden durchzogen die unsäglichen Qualen des Verdammten in den Verderben bringenden Feuern diese Geschichten, die ansonsten ein beredtes Zeugnis für die lebhafte Phantasie gewissengeplagter Generationen ablegten.
Daheim in Terena war es in der sengenden Mittagssonne nicht schwierig gewesen, an solche Geschichten zu glauben. Er und sein Freund Joaquim hatten sogar einmal ein Experiment gemacht und sich um zehn Uhr morgens nur in der Badehose auf eine Felsklippe an der Südseite der Burg gelegt und dort den ganzen langen, wolkenlosen und brennend heißen Tag verbracht, ohne einen Tropfen Wasser dabei zu haben. Als er endlich nach Hause gekrochen kam, hatte seine Mutter ihm zunächst eine Tracht Prügel angedroht, aber als sie die Brandwunden am ganzen Körper sah, hatte sie es nicht übers Herz gebracht, ihr Wort in die Tat umzusetzen. »Wir wollten herausfinden, wie es in der Hölle ist«, hatte er gerade noch hervorstöhnen können, bevor er das Bewusstsein verlor. Damals war er sieben Jahre alt gewesen. Und jetzt, dreißig Jahre später, stand er hier und wusste es besser. In der Hölle war es kalt. Höllisch kalt. Und finster, ständig finster, oder bestenfalls manchmal grau.
Jorge blickte zum schwer verhangenen Morgenhimmel hoch. Es war schon nach acht, aber nirgends auch nur ein Schimmer von Tageslicht. Irgendjemand hatte versucht, ihm weiszumachen, dass die Sonne hier im Sommer Tag und Nacht vom Himmel herunterschiene, aber das konnte er nicht so recht glauben. Er bezweifelte sogar, ob hier überhaupt jemals Sommer würde. Seit sie hier oben ihre Vertragszeit abbrummten, hatte er nur zweimal die Sonne gesehen, sie schien es gerade mal zu schaffen, über den Horizont zu lugen, doch nur, um gleich anschließend wieder zu versinken. Als wenn sie krank wäre, dachte Jorge. Vielleicht missfiel ihr aber auch einfach nur das, was sie hier oben sah, und sie verspürte nicht die geringste Lust, es anderen zu zeigen. Er konnte ihr das nicht verdenken. Ein Lächeln huschte über die zusammengekniffenen Lippen unter dem eisstarrenden Schnurrbart, das sich aber auf der Stelle in eine Schmerzgrimasse verwandelte, als die vom Frost ausgetrocknete Haut an drei Stellen riss. Es gab ja auch keinen Grund, sich zu amüsieren. Nicht mehr.
In den ersten Tagen hatten er und Joaquim darüber gewitzelt, hatten am Mittagstisch über dieses seltsame, harte und vegetationslose Land gelacht, wo nie die Sonne schien, und über die Dummköpfe, die sich damit abfanden, hier zu leben. Aber jetzt war es nicht mehr komisch, genauso wenig wie der eisige Wind, der manchmal aus allen Richtungen zugleich zu blasen schien und sich weder durch Schutzkleidung noch Hauswände abhalten ließ, sondern überall eindrang, Schnee oder Sand mit sich tragend, und manchmal sogar beides. Mittlerweile schwiegen Joaquim und er beim Essen meistens. Brummten vielleicht mal etwas Unverständliches vor sich hin, aber schwiegen ansonsten. Schlenderten wortlos in den gegenüberliegenden Aufenthaltsraum, um zu rauchen. Spielten schweigend Karten, schlürften den viel zu dünnen Kaffee und machten sich nicht mehr die Mühe, über ihn zu fluchen. Stattdessen stöhnten sie und dachten an zu Hause. Rauchten mehr. Vermieden es, einander in die Augen zu sehen, als würden sie sich gegenseitig die Schuld an der Lage geben, in der sie sich befanden. Oder vielleicht sich selber, Jorge war sich nicht ganz sicher. Und jetzt setzten sie sich nicht einmal mehr am Mittagstisch zusammen.
Wie so vieles andere, was Joaquim und er im Laufe ihres Lebens ausgeheckt hatten, war dieses Island-Abenteuer irgendwie aus Jux und Dollerei über einem Glas Rotwein beim Mittagessen zu Hause in Terena beschlossen worden. Beide hatten sie das Inserat gesehen, beide waren der Meinung gewesen, das sei auf jeden Fall besser als daheim arbeitslos zu sein, beide hatten ihre Familien zurückgelassen und waren zur Hölle gefahren.
Sechs Monate. Für sechs Monate hatte er sich verpflichtet, an diesem grauenvollen Ort zu bleiben. Und erst zwei davon waren abgebüßt, doch es hätten genauso gut zwei Jahre oder auch zwanzig sein können. Und vier Monate standen noch bevor. Eine ganze Ewigkeit.
Bei der Vorstellung durchfuhr Jorge ein noch heftigerer Schauder. Die Erinnerung an heiße, sonnige Tage daheim in Portugal war so fern für ihn, wie er da auf dem Grunde der Schlucht stand und auf den nächsten Kipper wartete, dass es ihm durch den Sinn schoss, sie sei vollkommen unrealistisch. Er schloss die Augen und versuchte in Gedanken, sich unter die Markise vor dem Café Morinho am sonnenüberfluteten Marktplatz mitten in Terena zu setzen, sich das bunte Leben dort vorzustellen, den Lärm, und den Duft von dampfendem Kaffee zu spüren, der sich in der warmen Brise mit dem überwältigenden Duft von Rosen und Bougainvilleen mischte, die die weißgekalkten Häuserwände bedeckten. Je intensiver er diese seine schöne, alte Welt heraufzubeschwören versuchte, desto mehr rückte sie in die Ferne, und zum Schluss gab er es auf, öffnete die Augen und blickte sich um. Die starken Scheinwerfer ringsum kamen nicht gegen Schnee und Finsternis an, die über allem lasten. Durch das heftige Schneetreiben hindurch konnte er kaum bis zur zerklüfteten, senkrechten Felswand auf der anderen Seite der Schlucht hinüberblicken. Er war immer noch am gleichen Ort, und diese Vorstellung fand er niederschmetternd.
Vielleicht würde er nie wieder durch die engen, heißen, gepflasterten Gassen von Terena schlendern, überlegte er, nie wieder seine Frau und seine drei Kinder umarmen, deren Fotos sich auf seinem Nachttisch und in seiner Brieftasche befanden, um ihn daran zu erinnern, dass sie existierten, und dass er ihretwegen hier war. Ihm ging sogar in diesem Augenblick, um sieben Minuten nach acht am Samstag, dem 27. Februar 2005, der Gedanke durch den Kopf, dass er vielleicht nie wieder die Sonne sehen würde. Doch dann schüttelte er den Kopf, verwünschte die eigene Blödheit und Wehleidigkeit, stampfte mit den tauben Füßen auf und rief sich im Stillen ein fast vergessenes Gebet ins Gedächtnis.
Ein Motorengeräusch war zu hören, und Jorge starrte angestrengt in das weiße Dunkel. Er griff nach seiner Schaufel, doch dann hörte er, dass dieses Geräusch nur von einem wesentlich schwächeren Motor herrühren konnte, und nicht von einem Kipper. Er sah die Scheinwerfer auf dem holperigen Weg unruhig tanzen. Das Fahrzeug näherte sich rasch und hielt ein paar Meter von ihm entfernt. Vier Männer stiegen aus, alle trugen Helme. Jorge tastete instinktiv nach dem seinen und setzte ihn auf die Mütze, falls da einer von den Sicherheitsbeauftragten dabei war.
Die vier Männer blieben eine Weile dicht beim Wagen stehen, sie schienen auf etwas zu warten. Kurze Zeit später tauchte noch ein Auto hinten in der Schlucht auf, näherte sich rasch und hielt neben dem ersten. Zwei weitere Männer stiegen in das dichte Schneetreiben hinaus und begrüßten die anderen vier mit Handschlag. Und dann setzte sich die ganze Gruppe in Bewegung und näherte sich Jorge. Keiner von ihnen trug Arbeitskleidung. Jorge begriff nicht, weshalb irgendwelche Leute aus freien Stücken hierherkamen, zumal so früh am Morgen. Er glaubte aber zu wissen, dass es entweder Politiker, Journalisten oder irgendwelche Topmanager von der Baufirma sein mussten, die sich hier umsahen. So etwas kam ziemlich häufig vor. Der Vorderste in der Gruppe quasselte jedenfalls unentwegt und zeigte hierhin und dorthin, während die anderen hinter ihm hermarschierten. Jorge trat unwillkürlich zur Seite, und nickte dem vorderen Mann zu, als sie näher kamen.
Und auf einmal stand alles still.
Irgendwo oben über der Schlucht hörte man ein lautes Krachen, die Männer blieben stehen und sahen alle wie auf Kommando nach oben. Jorge auch.
Einen winzigen Augenblick lang verspürte er den Duft von blühenden Rosen und Bougainvilleen und lächelte seine Frau unter der Markise vor dem Café Morinho an. Sie erwiderte sein Lächeln.
1
Samstag
Es waren ungefähr zwanzig Männer, die da wie orangefarbene Ameisen von Fels zu Fels sprangen, krochen und kraxelten, Spalten ausleuchteten und sich etwas auf Isländisch, Chinesisch, Italienisch, Portugiesisch und Englisch zuschrien. Völlig planlos und unkoordiniert, aber umso emsiger. Manchmal rutschten sie aus und fielen hin, richteten sich aber sofort wieder auf und machten notfalls auf allen vieren weiter; sie bissen die Zähne zusammen und kämpften sich vor. Trotz der bitteren Kälte und des Schnees, der ihnen ins Gesicht peitschte, waren sie in ihren gefütterten Overalls nassgeschwitzt. Manchmal begegneten sich zwei mit Taschenlampen bewaffnete Gestalten auf einem der Felsbrocken, brüllten sich in dem tobenden Sturm etwas zu und schüttelten den Kopf, um dann jeder in seiner Richtung weiterzumachen. Ab und zu polterte oben aus der Schluchtwand über ihnen etwas herunter, kleine und größere Steine, die auf den Bergsturz prallten und in alle Richtungen weitergeschleudert wurden. Trotzdem machten die Männer weiter, genau wie die beiden Bagger, die am Rande des Bergsturzes arbeiteten und unter dem Poltern und Quietschen der zugreifenden Schaufeln einen Felsklotz nach dem anderen wegräumten. Als Erstes kamen die beiden Autowracks zum Vorschein, in denen sich aber anscheinend niemand befunden hatte. Gegen neun fanden sie die beiden ersten Leichen. Die eine hatte zwar noch ein halbes Gesicht, aber das war dann auch beinahe alles, was an einen Menschen erinnerte. Vielleicht noch der Overall, der das wenige, was übrig geblieben war, umschloss. Der andere Tote hatte einen heilen Arm und Schuhe an beiden Füßen. Eine halbe Stunde später fanden sie die dritte Leiche. Sie schien noch relativ unversehrt zu sein, sogar der Helm befand sich noch auf dem Kopf, und alle Extremitäten waren an ihrem Platz. Doch als sie den Geröllhaufen auf dem Bauch entfernt hatten und den leblosen Körper bei den Schultern packten, um ihn aus der Senke herauszuziehen, stellte sich heraus, dass diese Leiche in zwei Teilen transportiert werden musste. In diesem Augenblick löste sich ein mächtiger Brocken oben vom Rand der Schlucht, und die beiden Männer, die den Oberkörper zwischen sich trugen, waren gezwungen, ihre Bürde fallen zu lassen und sich flach auf den Boden zu werfen. Der dritte Mann, der die Beine hinter sich herzog, war so beschäftigt damit, sein Frühstück bei sich zu behalten, dass er auf nichts geachtet hatte. Der Felsbrocken zerschmetterte ihm das linke Bein unterhalb des Knies. Er wurde zusammen mit seiner Last im Krankenwagen abtransportiert, und die anderen setzten entgegen anderslautenden Anordnungen und trotz des tobenden Unwetters die Suche fort, und weitere Helfer stießen hinzu. Sie wussten, dass sich hier an dieser Stelle noch mehr Menschen befunden hatten, und auch wenn im Grunde genommen alles dagegen sprach, bestand immer noch Hoffnung. Keine große zwar, aber immerhin eine Hoffnung, dass da irgendwo zwischen oder unter den Felsen noch jemand am Leben war. Sie gaben erst auf, als sich ein Überhang aus der senkrechten Felswand hoch über ihren Köpfen löste und ein Geschosshagel von faustgroßen Steinen mit solcher Wucht herunterprasselte, dass einer von ihnen, spitz und scharfkantig wie all die anderen, halb in die Scheibe des Führerhauses auf dem Bagger eindrang, während die anderen mit Getöse und fliegenden Funken gegen die gegenüberliegende Schluchtwand donnerten. Erst dann gaben sie sich geschlagen, gehorchten ihren Vorgesetzten, die ihnen immer wieder befohlen hatten, sich in Sicherheit zu bringen, und zogen sich zurück. Das Gelände wurde geräumt und die Bagger zurückbeordert. Jetzt waren die Ingenieure am Zug. Man konnte nichts anderes tun als abwarten. Die Zähne zusammenbeißen und abwarten. Und hoffen, selbstverständlich.
Man kann zu wenig Knoblauch verwenden, man kann genug Knoblauch verwenden, aber es ist theoretisch unmöglich, zu viel davon zu nehmen. So lautet das erste Gebot des Knoblauchglaubens, und diesbezüglich sind sich seine sämtlichen Anhänger in allen Teilen der Welt vollkommen und uneingeschränkt einig. Árni, der als junger Mann auf einer Italienreise zum Knoblauchglauben bekehrt worden war, hatte nie daran gezweifelt. Er war ihm immer treu geblieben. Bis jetzt. Er saß in lachsrosa Boxershorts und Rokkland-T-Shirt an dem kleinen Küchentisch in seiner Wohnung im Pingholt-Viertel, mit einem Messer in der Hand und einem ansehnlichen Häufchen geschälter Knoblauchzehen vor sich auf einem Brett. Und er zweifelte.
»Bist du sicher, dass es vierzig sein müssen?«, fragte er.
»Nein«, antwortete Ásta, »aber weißt du, die Keule ist so groß, dass es ruhig auch fünfzig sein dürfen.« Sie reichte ihm eine weitere Knoblauchzwiebel und putzte die Lammkeule weiter.
»Vierzig sind bestimmt genug«, murmelte Árni und zückte das Messer. Als er seine Kollegen zum Essen einlud, hatte er sich vergewissert, dass keiner von ihnen etwas gegen Knoblauch hatte. Trotzdem. Vierzig Knoblauchzehen für eine einzige Keule … Er kam sich vor wie ein Pastor der Staatskirche, der sich in einen Erweckungsgottesdienst verirrt hat.
»Was?«, fragte Ásta.
»Nichts«, sagte Árni und schärfte sich wieder einmal ein, nicht laut zu denken, wenn andere um ihn herum waren. Er zählte die Zehen ab, die fertig waren. Siebenunddreißig. Er zögerte, holte tief Atem und sagte sich im Stillen das erste Knoblauchgebot vor, wieder und wieder, aber das genügte nicht. Er schloss die Augen, atmete noch einmal tief durch und saugte den Geruch der Knolle ein. Der Knoblauch wirkte sein Wunder, Árnis Sinn kam zur Ruhe und lichtete sich.
Im Gegensatz zu Kant habe ich jetzt die Möglichkeit, die Richtigkeit meines Glaubens zu beweisen oder zu widerlegen, überlegte er. Das war doch eine einmalige Gelegenheit. Er beschloss, sie zu nutzen, öffnete die Augen und machte sich über die Knoblauchzwiebel her, die Ásta ihm gereicht hatte.
»Sechsundvierzig«, sagte er kurze Zeit später. »Ist das nicht genug?« Er stand auf, reichte Ásta das Brett und gab die Schalen in den Eimer für den Biomüll.
»Passt hundertprozentig«, sagte Ásta. Sie legte das Brett auf den Küchenschrank, schlang ihre Arme um ihn und drückte ihm einen stürmischen Kuss auf die Lippen. Árni zog sie mit einem Arm dichter an sich heran und ließ die andere Hand unter der Bluse den Rücken hinaufgleiten.
»Genau das meine ich auch«, murmelte er.
»Wo ist der Cognac?«, fragte Ásta.
»Was für ein Cognac?«
»Ich hatte dich gebeten, Cognac zu kaufen.«
»Hab ich vergessen. Kannst du nicht Whisky verwenden?«
»Natürlich kann ich Whisky verwenden«, sagte sie lächelnd. »Wo ist er denn?«
»Wozu brauchst du Whisky?«
»He, seit wann muss ich dir für meinen Whiskybedarf Rede und Antwort stehen?«, fragte Ásta, tätschelte ihm den schmalen Hintern und kniff in den Rettungsring, der sich oberhalb der Gürtellinie zu bilden begann. »Hol ihn einfach, Jungchen, und zwar ein bisschen dalli.« Sie verpasste ihm einen weiteren Kuss, befreite sich geschmeidig aus der Umarmung und gab die Keule in die siedend heiße Pfanne.
Árni gehorchte etwas enttäuscht und ging ins Wohnzimmer, wo es noch viel zu tun gab. Der Tisch war immer noch in der Verpackung und musste zusammengeschraubt werden, und erst drei von den sechs Stühlen waren benutzbar. Er hatte lange hin und her überlegt, ob er für diesen Abend in eine neue Esszimmergarnitur investieren sollte oder nicht. Die Beziehung zwischen ihm und Ásta war aus Árnis Perspektive im Begriff, etwas anderes und mehr zu werden, als sie bislang gewesen war, und deswegen war er darauf bedacht, gewisse Dinge vorsichtig anzugehen. Wie beispielsweise die Tatsache, dass er irgendwie an Esszimmermöbel herankommen musste. Als er seine Kollegen einlud, war ihm nicht im Traum eingefallen, wie kompliziert und heikel eine derartige Aktion sein könnte.
Die Essecke in dem grün gestrichenen Wohnzimmer hatte leer gestanden, seit Anna, Árnis Exfreundin, vor sechs Jahren mitsamt der Esszimmergarnitur und fast allem, was sie sich in den Jahren ihres Zusammenlebens angeschafft hatten, ausgezogen war. Fest stand, dass am Küchentisch kein Platz für sieben Leute war, auch wenn er ihn ins Wohnzimmer geschoben hätte. Außerdem besaß er einschließlich des alten hölzernen Hockers nur drei Stühle. Ásta hingegen hatte sehr nette Esszimmermöbel, und es wäre natürlich naheliegend gewesen, ihr vorzuschlagen, sie in seine Wohnung zu schaffen. Problematisch dabei war nur, dass dadurch der Eindruck entstehen konnte, er würde sie drängen, und das wollte Árni unter allen Umständen vermeiden.
Als Nächstes hatte er die Idee, sich bei den Leuten in der Wohnung über ihm die Esszimmergarnitur auszuleihen. Auf den ersten Blick fand er auch nichts dabei, doch bevor er bei den Leuten anklopfte, hatte er sich das Ganze glücklicherweise noch einmal durch den Kopf gehen lassen und erkannte die Falle, als er an den nächsten Schritt dachte. Ásta hatte ihn einmal gefragt, weshalb er keine Esszimmermöbel besaß. Daraufhin hatte er geantwortet, dass er keinen Bedarf dafür gehabt hatte. Seitdem Anna aus dem Haus war, hatte er kaum je Leute zum Essen eingeladen, und wenn, dann höchstens zwei auf einmal. Und falls er sich nun eine Esszimmergarnitur ausleihen würde, statt eine zu kaufen, hätte Ásta sich bestimmt gewundert und ihn gefragt, warum er dann nicht jetzt, wo er sie tatsächlich brauchte, eine kaufte. Und was hätte er darauf antworten sollen?
Sie wusste, dass er im Augenblick einigermaßen gut bei Kasse war, denn er hatte seinen Peugeot abgestoßen, was er eigentlich sehr bereute. Aber das Darlehen für den Autokauf, das er damit los war, vermisste er keineswegs. Er hätte aber auf diese Frage außer der Wahrheit keine glaubwürdige Antwort parat gehabt: dass es sich seiner Meinung nach gar nicht lohnte, da sie ja doch bald bei ihm einziehen würde. Was natürlich Drängelei der übelsten Art gewesen wäre, und deswegen eine überaus riskante Antwort.
Die dritte Möglichkeit bestand darin, einfach loszugehen und sich Esszimmermöbel zu kaufen. Árni brauchte gar nicht erst zweimal zu überlegen: Er wusste, dass diese Alternative völlig unakzeptabel war. Damit hätte er nämlich signalisiert, dass er nicht davon ausging, dass Ásta in absehbarer Zukunft zu ihm ziehen würde, und was vermutlich noch schlimmer war, es könnte sogar den Anschein erwecken, als habe er gar kein spezielles Interesse daran.
Zu diesem Zeitpunkt hätte Árni am liebsten die ganze Einladung abgeblasen, um sich aus dieser Zwickmühle zu befreien, in die er sich mit seiner spontanen Anwandlung selbst hineinmanövriert hatte.
Als er endlich die Lösung gefunden zu haben glaubte, erwies sie sich natürlich als unerhört einfach. Er ging sie wieder und wieder im Kopf durch und konnte keinen einzigen Haken daran entdecken. Ásta kam nach der Arbeit zu ihm, und beim Abendessen schritt er zur Tat und ließ den wohlgeübten Satz so unschuldig und natürlich wie möglich in ihr Gespräch beim Abendessen einfließen.
»Ganz schön verrückt«, erklärte er kopfschüttelnd, »dass man sich einen Haufen Leute einlädt und nicht einmal genug Stühle, geschweige denn einen anständigen Tisch besitzt.« Damit führte er schnell den nächsten Happen von dem gebratenen Kabeljau in Curry zum Mund und wartete auf die Reaktion. Die ließ dann auch nicht lange auf sich warten, und er hatte den Bissen noch nicht ganz runtergeschluckt, als ihm aufging, dass dieser Plan durchaus einen großen Haken hatte.
»Tja«, hatte Ásta ganz selbstverständlich geantwortet, »dann musst du dir eben Esszimmermöbel zulegen. Ich habe da neulich welche bei Ikea gesehen, die super hier ins Wohnzimmer passen würden. Die waren auch gar nicht so teuer, vierzigtausend Kronen oder so was, glaube ich.«
Sie hätte ihm genauso gut ganz direkt sagen können, dass sie nicht das geringste Interesse daran hatte, zu ihm zu ziehen. Oder ihm in den Sack treten können. Er hatte aber versucht, es wie ein Mann zu tragen, und irgendetwas dahergemurmelt. Und war am nächsten Tag in der Mittagspause zu Ikea gefahren.
Valdimar rotzte durch das linke Nasenloch zur Tür des Arbeitsschuppens heraus. Die Hütte stand ungefähr hundert Meter von dem Bergsturz entfernt. Er wusste nur zu genau, dass es unverantwortlich war, noch mehr Menschenleben zu gefährden, um die anderen auszugraben, denn immer noch kollerten Geröll und Steine aus der senkrechten Felswand herunter. Ihm blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis diese verdammten Ingenieure das Problem gelöst hatten. Falls er auf eigene Faust weitermachte, würden sie ihn stoppen. Diese Erkenntnis ließ ihn aber nicht zur Ruhe kommen, ganz im Gegenteil. Noch nie in seinem sechzigjährigen Leben hatte er sich so entsetzlich gefühlt und nur selten so machtlos wie in diesen tatenlosen zwei Stunden, die vergangen waren, seit er den Befehl erhalten hatte, mit dem Graben aufzuhören.
Die drei Leichen, die bereits gefunden worden waren, hatte man zur Krankenstation gebracht, ebenso Valdimars Neffen, einen jungen Mann von knapp zwanzig Jahren, den Valdimar aus Südisland hierher gelockt hatte. Valdimar wusste, dass der Junge froh sein konnte, noch am Leben zu sein, er hatte Glück gehabt, dass der Brocken ihn am Bein und nicht am Kopf getroffen hatte. Ihm war aber mehr als klar, dass sein Bruder und seine Schwägerin das vielleicht ganz anders sehen würden. Der Junge mit seinem zerschmetterten Bein war bewusstlos zum Krankenwagen getragen worden, und Valdimar hoffte, dass er inzwischen schon im Krankenhaus von Egilsstaðir war oder besser noch auf dem Weg nach Reykjavík. Aber damit war wohl kaum zu rechnen. Die Straßen waren bestimmt alle unpassierbar, und daran würde sich erst etwas ändern, wenn der Schneesturm nachließ. Bei solchem Wetter wurde gar nicht erst versucht, die Straßen zu räumen. Drei Tote, dachte Valdimar, und mindestens zwei weitere Männer wurden vermisst, wenn er es richtig verstanden hatte. Mindestens. Er griff ein weiteres Mal nach seinem Handy und drückte auf Wahlwiederholung, starrte vor sich hin und wartete, aber auch dieses Mal meldete sich niemand. Mit zittriger Hand steckte er den Apparat wieder ein.
»Es wird schon alles in Ordnung sein mit ihm«, murmelte Valdimar vor sich hin, »alles in bester Ordnung.« Als er ein Auto kommen hörte, wandte er den Blick von den Geröllmassen ab, die von Scheinwerfern erleuchtet wurden. Seine Miene verhärtete sich, als er sah, wer da ausstieg.
»Das ist ja wirklich eine furchtbare Katastrophe, mein lieber Valdi«, sagte der Mann mit unsicherer Stimme und trat in der Schneewehe vor dem Schuppen von einem Bein aufs andere. Er hatte zwar keine Mütze auf dem Kopf, war aber ansonsten wetterfest angezogen. Trotzdem zitterte er.
»Was du nicht sagst, eine furchtbare Katastrophe«, entgegnete Valdimar langsam und rotzte aus dem anderen Nasenloch. Das Geschoss war nicht so kräftig wie erhofft, landete aber an der richtigen Stelle. Der Mann starrte wie hypnotisiert auf den Schleim, der an der dreckigen Stahlkappe seines Schuhs herunterrann, sagte aber nichts. Valdimar trat in das Schneetreiben hinaus und ging vorbei an dem Mann, der ihm zögernd folgte.
»Ich hatte euch vor diesem Grat gewarnt, Ásmundur. Ich hatte dich vor ihm gewarnt.«
»Ich weiß, Valdi, ich weiß. Aber …«
»Ich hatte dich darum gebeten, ihn absprengen zu lassen«, fuhr Valdimar fort, als hätte er das Gemurmel von Ásmundur nicht gehört. »Zweimal mündlich und einmal schriftlich, und das ist alles registriert und dokumentiert. Was glaubst du, was die Verantwortlichen in Reykjavík davon halten werden?« Seine Stimme war hart und schroff, und die Anschuldigung drang Ásmundur nicht weniger scharf durch Mark und Bein als die Kälte.
»Mein lieber Valdi«, sagte er unterwürfig, »dies ist wohl kaum der richtige Augenblick, um nach Sündenböcken zu suchen.«
»Sündenböcke, was du nicht sagst. Mag sein. Die da in Reykjavík finden es immer richtig gut, wenn sie jemandem die Schuld an irgendeinem Schlamassel in die Schuhe schieben können. Dann haben sie selber den Hals nicht mehr in den Schlinge, verstehst du. Ich habe nichts für solche Typen übrig, Ásmundur, nicht das Allergeringste.«
»Valdi …«
»Aber diesmal haben sie zufälligerweise das Recht auf ihrer Seite, diese verdammten Arschlöcher. Was wissen die denn schon über irgendeinen Grat hier in der Einöde, diese feinen Pinkel, die in blankgewienerten Schuhen über Parkettböden wieseln.« Valdimar verstummte und sah zu Ásmundur hinüber, der es im Augenblick aufgegeben zu haben schien, zu protestieren. Stattdessen schwieg er beharrlich, und sein Gesichtsausdruck war ebenso resigniert wie mitgenommen. »Die wissen gar nichts über diesen Grat«, fuhr Valdimar erbarmungslos fort. »Genau das wissen sie über ihn, gar nichts. Aber du, der du angeblich hier als leitender Sicherheitsbeauftragter fungierst, du hast sehr wohl davon gewusst. Und das werden sie zugesteckt bekommen, das kann ich dir versprechen.« Er zog den Kopf ein und stapfte gegen den Wind in das Schneetreiben hinein.
Ásmundur stand noch eine Weile da und sah ihm nach, bevor er sich wieder ins Auto setzte und lange durch die Windschutzscheibe starrte, ohne zu blinzeln. Aber er sah nichts.
»Das geht alles zum Teufel«, murmelte er, »alles ist geradewegs auf dem Weg zum Teufel.« Ásmundur Arason, der Hauptsicherheitsbeauftragte der National Power Company in Kárahnjúkar, ließ den Motor an und fuhr vorsichtig denselben Weg zurück, den er gekommen war.
»Wie ist das eigentlich, wann bekomme ich endlich den Whisky?«, fragte Ásta in der Tür zum Wohnzimmer, und Árni wurde bewusst, dass er ziemlich lange am Fenster gestanden und in das wilde Schneetreiben im Garten hineingestarrt hatte.
»Entschuldige«, sagte er und versuchte zu lächeln, »ich war mit meinen Gedanken woanders.«
»Was ist los? Weshalb bist du so klüterig?« Ihr kaffeebraunes Gesicht sah besorgt aus, und jetzt fiel Árni das Lächeln leichter. Klüterig. Er fand es irgendwie nett, wenn sie so redete. Vielleicht war es eine Art von Rassismus, aber daran war nichts zu ändern.
»Ach, es ist doch immer dasselbe mit diesem Ikea-Schrott«, log er. »Ich hab mich nur selbst bemitleidet, weil ich noch nicht weiter bin. Ich hasse diese verdammte Zusammenschrauberei.« Ásta lehnte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen. Ihre besorgte Miene war gewichen, nun hatte sie die vollen Lippen aufgeworfen, und in den dunklen, fast schwarzen Augen blitzte es.
»Ach, du armes Kerlchen«, sagte sie spöttisch, »ist das vielleicht zu kompliziert für dich? Oder zu schweißtreibend? Soll ich das nicht am besten für dich machen?«
Árni schüttelte den Kopf. »Nein.« Er knüllte das Klebeband zusammen, das er ganz unbewusst von der Verpackung des Tischs abgepult hatte, und griff nach der Whiskyflasche, die in Reichweite auf dem Bücherregal stand. »Das krieg ich schon hin. Ich brauche aber etwas Whisky in den Kaffee.«
»Nimm aber nicht zu viel davon«, sagte Ásta, als er an ihr vorbeiging. »Ich brauche etwas für die Sauce.«
»Ich lass einen Schluck übrig.« Er gab einen Daumen breit in seinen Kaffeebecher, bevor er Ásta die Flasche reichte. Sie spritzte einen ordentlichen Schuss auf die Keule, die in der Pfanne brutzelte, und hielt ein brennendes Streichholz daran. Auch wenn beide darauf gefasst waren und die Flamme fast unsichtbar war, zuckten sie unwillkürlich zurück, als es zischte und die Hitze ihnen entgegenschlug.
»Ich hab noch nie kapiert, wozu das gut sein soll«, erklärte Árni und füllte seinen Becher mit Kaffee auf. »Ändert das irgendwas? Ist das nicht nur Show, um bei Essensgästen in feinen Restaurants Eindruck zu schinden?«
»Vielleicht. Aber Mama macht das auch immer, und ich sehe keinen Grund, das Risiko einzugehen, damit aufzuhören. Tut es dir vielleicht leid um den Whisky?«
»Natürlich«, gab Árni zu. »Der ist gut in der Sauce, aber das da …« Er zuckte mit den Achseln, gab etwas Milch und Zucker in den Kaffee und rührte um. »Das verdampft doch einfach. Pure Verschwendung.«
Ásta ruckte mit dem Kopf, sodass die bunten Perlen in den unzähligen Zöpfchen auf und ab wippten.
»Meinst du wirklich?«
»Nein«, sagte Árni. Er trank einen Schluck. »Mach das noch mal.«
»Was? Flambieren?«
»Nein, das mit dem Kopf.«
Ásta sah ihn einen Augenblick verständnislos an. Dann überführte sie die Keule in den Brattopf, salzte und pfefferte und gab einen ordentlichen Schuss Weißwein über die Knoblauchzehen.
»So«, sagte sie, legte den Deckel auf, setzte den Topf in den Ofen und stellte die Temperatur auf knapp hundert Grad ein. »Jetzt lassen wir das bis zum Abend schmurgeln.«
»Aber es ist doch gerade erst zwölf …«
»Das habe ich dir doch gesagt, sieben Stunden. Anbraten, flambieren, vierzig Knoblauchzehen, Salz und Pfeffer, Weißwein und sieben Stunden bei ganz schwacher Hitze im Backofen. Hast du jemals schlecht bei mir gegessen?«
»Nein, nein, aber …«
»Dann hör auf zu mosern, Junge. Sieh zu, dass du in die Klamotten kommst und diese Möbel da zusammenbaust.«
Es war nicht schwierig, die Entscheidung zu begründen, dass alles, was noch von dem Grat übrig war, abgesprengt werden musste, eine andere Lösung gab es einfach nicht. Die Vernunft sagte ihnen auch, dass es nur Wunschdenken war, sich an die Hoffnung zu klammern, dass der- oder diejenigen, die man noch nicht gefunden hatte, am Leben sein könnten. Die Kälte, die Größe der Felsbrocken und der Zustand der drei Männer, die man gefunden hatte, gaben nicht den geringsten Anlass zu glauben, dass so etwas im Bereich des Möglichen lag. Die Entscheidung war trotzdem nicht einfach gewesen, denn sie bedeutete im gewissen Sinne eine Kapitulation, ein Eingeständnis, dass keine Hoffnung mehr bestand; Vernunft konnte jedoch niemals Hoffnung ersetzen. Zudem war diese Maßnahme auch nicht ungefährlich, denn das, was noch von diesem Grat übriggeblieben war, konnte auch jeden Moment einstürzen. Es war also ziemlich riskant, die Sprengladung anzubringen, nicht zuletzt deswegen, weil man wegen des unaufhörlichen Schneetreibens nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Ásmundur erklärte sich bereit, das zu tun, doch sein Angebot wurde sofort abgelehnt und er höflich darauf hingewiesen, dass es mindestens zwanzig Jahre her war, seit er sich zuletzt mit so etwas abgegeben hatte, und deswegen sei es sicherer, derartige Aktionen von anderen und routinierteren Leuten ausführen zu lassen.
Eine halbe Stunde später erdröhnte die Schlucht von der Explosion, doch der donnernde Nachhall wurde bald vom Toben des Unwetters geschluckt, das sich immer noch zu steigern schien. Drei Bulldozer schoben sich oben vorsichtig bis zur Steilkante vor und beförderten alles, was locker war, nach unten. Nach so genauer Überprüfung, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war, gab das dreiköpfige Team von Ingenieuren zusammen mit Ásmundur und dem Sicherheitsbeauftragten von Impregilo grünes Licht, dass unten auf dem Grunde der Schlucht weitergearbeitet werden durfte.
Valdimar setzte sich ins Führerhaus des einen Baggers und sein jüngerer Sohn Birgir in den anderen. Sie machten sich zügig ans Werk, und die riesigen Baggerausleger, die in das grelle Licht der Scheinwerfer getaucht waren, wirkten beim Ausschwenken wie vorsintflutliche Fabeltiere mit langen Hälsen, die nach etwas Fressbarem scharrten. Valdimar und sein Sohn räumten die riesigen Brocken einen nach dem anderen weg wie Spielklötze. Als sie aber bis zu der Stelle des ursprünglichen Bergsturzes vorgedrungen waren, verlangsamten sie das Tempo, stellten die Arbeit ein und fuhren die Schaufeln hoch. Etwa dreißig Männer und zwei Hunde sprangen aus zwei großen, spezialausgerüsteten Trucks der Rettungsmannschaft heraus, die nach einer schwierigen Fahrt von Egilsstaðir endlich vor Ort eingetroffen war. Die Männer setzten sich Helme auf und nahmen im Gegensatz zu den Leuten, die sich einige Stunden zuvor hier abgemüht hatten, den Erdrutsch sehr gezielt in Angriff. Die meisten warteten mit Schaufeln in der Hand ab, und vier von ihnen kletterten in den Felsbrocken herum, während weitere vier den Fuß des Bergsturzes abschritten. Zwei von der Mitte aus und zwei von den Seiten. Sie leuchteten mit starken Handstrahlern zwischen die Felsbrocken. Die vier Männer auf dem Bergsturz gingen genauso vor, fanden aber ebenfalls nichts, genauso wenig die Hunde, die aufgeregt hin und her rannten. Valdimar und sein Sohn begannen, die äußeren Blöcke wegzuräumen, und die Präzision, die sie dabei an den Tag legten, hätte einem Chirurgen alle Ehre gemacht.
Ihnen folgten die Männer mit den Schaufeln, sie entfernten größere Steine mit der Hand und schaufelten dann das kleine Geröll weg, bis sie auf festen Grund stießen. Diese Prozedur wiederholte sich dreimal, bevor sie auf ein menschliches Bein stießen und schließlich auf den Rest der vierten Leiche.
Valdimar kletterte aus der Führerkabine heraus. Der Tote war schlimm zugerichtet, vor allem der Kopf, doch weder Haare noch Körperbau kamen ihm bekannt vor. Er hastete zum Bagger zurück, griff zu seinem Handy und versuchte ein weiteres Mal, Verbindung zu bekommen. Aber auch dieses Mal meldete sich nach langem Klingeln nur die automatische Voice-Mail. Er steckte den Apparat wieder in die Tasche und wartete ungeduldig auf das Zeichen zum Weitermachen.
Als Árni den sechsten Stuhl schon fast fertig hatte, stand er auf, zündete sich eine Zigarette an und kramte in einem Haufen von CDs, der neben der Stereoanlage lag. Kurze Zeit später fand er das, was er suchte, und Steve Harleys faszinierende Stimme erklang aus den Boxen. Drei Minuten und zwölf Sekunden später kam die Passage, auf die Árni wartete, und er sang mit, aus vollem Hals und total falsch, während er sich abmühte, die letzte Schraube ins letzte Loch zu drehen.
Then she flicked the back of her neck,
defiantly,
and for such gestures one could fall hopelessly
in love
for a lifetime …
Ásta lächelte zwar einen Moment, als sie das Lied hörte, aber wenig später runzelte sie die Stirn. Das war ja alles gut und schön, aber weshalb zum Kuckuck hatte Árni diese Esszimmergarnitur gekauft? Weshalb hatte er nicht widersprochen, als sie ihm das vorschlug, und sie stattdessen gebeten, ihre eigene hierher zu schaffen? Als er sich vor einigen Tagen den Kopf über diese Essenseinladung zerbrach, hatte sie überlegt, ob sie ihm das von sich aus anbieten sollte, es dann aber gelassen. Das wäre zu deutlich gewesen. Und zu viel Drängelei. Und sie wollte ihn nicht drängen. Der erste Anruf, die erste Verabredung waren seine Initiative gewesen. In den anderthalb Jahren seitdem war es immer sie gewesen, die die Initiative ergreifen musste, und jetzt reichte es ihr irgendwie. Nicht, dass sie den Eindruck hatte, als hätte er etwas dagegen, ganz im Gegenteil, manchmal wirkte er sogar zu willens und zu bemüht, es ihr um jeden Preis recht zu machen, als hätte er ständig Angst, etwas falsch zu machen. Was er auch hin und wieder tat, der Gute, und am häufigsten, wenn er sich besonders anstrengte, alles richtig zu machen.
Ásta seufzte und begann, die Muscheln zu säubern. Obwohl Árni nicht sonderlich gut aussah und manchmal fürchterlich lahmarschig sein konnte und ein unverbesserlicher Träumer zu sein schien, war er in vieler Hinsicht ein prima Typ. Er war sowohl lieb als auch rücksichtsvoll und außerdem ein total witziger und intelligenter Mann, mit dem man irgendwie fast über alles zwischen Himmel und Erde reden konnte, vorausgesetzt, dass es ihm gelang, seine eigenen Komplexe zu überwinden. Die hegte und pflegte er aber, und zwar für ihren Geschmack vielleicht ein bisschen zu sorgsam. Außerdem war er einer der ganz wenigen Männer, der tatsächlich Interesse an ihr als Mensch zu haben schien. Bei viel zu vielen anderen hatte sich herausgestellt, dass sie in erster Linie scharf darauf waren »es mal mit einer Schwarzen zu probieren«, wie sich einer von ihnen so geschmackvoll ausgedrückt hatte, dreißig Sekunden, bevor sie ihn achtkantig hinauswarf. Glücklicherweise hatte sie gehört, was dieser Idiot gesagt hatte, noch bevor er irgendetwas mit ihr probieren konnte, aber nicht immer hatte sie so viel Glück gehabt. Manchmal hatte sie sogar einige Wochen gebraucht, bis ihr aufgegangen war, wie ihre Liebhaber über sie dachten, und je länger sie dazu brauchte, desto schmerzlicher war die Erkenntnis.
Obwohl Árnis Mutter sie etwas zweifelnd angeschaut hatte, als er sie zum ersten Mal zur sonntäglichen Lammkeule bei seinen Eltern im Hlíðar-Viertel mitnahm, hatte seine Familie sie sehr nett aufgenommen, und das war mehr, als sie über die Eltern der zwei anderen Männer sagen konnte, mit denen sie davor zusammengelebt hatte. Nun bereitete sie sich darauf vor, seine Arbeitskollegen kennenzulernen. Manchmal ertappte sie sich sogar dabei, dass sie glaubte, ihn zu lieben. Sonst wäre ich ja auch wohl kaum hier, dachte sie, während sie die gereinigten Miesmuscheln in den leeren, heißen Topf warf und darauf wartete, dass sie sich öffneten. Sonst stünde ich doch wohl nicht hier wie ein Idiot und würde mir einen Stress machen wegen seinem Essen und seiner Einladung für die Kollegen. Oder? Er hatte sie schließlich nicht gebeten zu kochen, er war selber gar nicht so schlecht in der Küche, und genau genommen kochte er sogar öfter als sie. Sie hatte es ihm in einem Anfall von Hilfsbereitschaft angeboten, sich ihm sogar regelrecht aufgedrängt. Und bereute es nicht einmal, also war es nicht unwahrscheinlich, dass sie diesen Jungen liebte. Aber es änderte nichts daran, dass die Initiative von ihm ausgehen müsste, falls er tatsächlich wollte, dass sie zu ihm zog – was natürlich schon längst überfällig war, sollte es ihm mit dieser Beziehung wirklich ernst sein. Wenn das aber nicht der Fall war, was er ihr durch diesen Möbelkauf eigentlich ziemlich deutlich zu verstehen gegeben hatte, dann war’s das eben, und sie müsste sich einmal mehr damit abfinden, sich in ihren Beziehungen zu Männern verkalkuliert zu haben, und hoffen, dass es beim nächsten Mal klappen würde. Sie fand das aber keine gute Perspektive.
Man hatte die fünfte Leiche gefunden und sie im Krankenwagen neben die vierte gelegt. Valdimar und sein Sohn arbeiteten sich weiter durch die Gesteinsmassen vor und räumten sie beiseite. Auch wenn die Baggerschaufeln ohne weiteres jede für sich vier Tonnen hätten heben können, ging es hier präzise zu wie bei einer archäologischen Ausgrabung. Valdimar war eben im Begriff, einen Klotz von mindestens zwei Tonnen von einem noch größeren herunterzuheben, als der Mann, der die Aktion leitete, seine Halogenleuchte hin und her schwenkte. Valdimar ließ den Felsbrocken sinken, fuhr den Ausleger hoch und sprang in das Schneetreiben hinaus.
»Was ist los?« Obwohl er eigentlich direkt neben dem Mann stand, musste er fast brüllen, damit der ihn durch das Toben des Sturms verstehen konnte.
»Ich glaube, da drunter ist etwas!«, schrie der Mann zurück und leuchtete zwischen die Felsbrocken. Er gab den Angehörigen der Suchmannschaften ein Zeichen, und zwei von ihnen näherten sich mit den Hunden, die sofort zu schnuppern und zu scharren begannen, als gelte es ihr Leben. »Okay«, brüllte der Mann Valdimar ins Ohr, »da drunter ist offensichtlich jemand! Versuch, diesen verfluchten Stein hochzukriegen, und zwar lieber nach rechts als nach links!« Valdimar starrte angestrengt auf die Stelle, die der Lichtkegel ausleuchtete, sah aber nichts. Trotz der Kälte war er nassgeschwitzt, und das Herz in seiner Brust hämmerte wie nach einem Sprint. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, wusste aber nicht, wie lange er das noch durchhalten würde, es hatte ganz den Anschein, dass seine Reaktionen jedes Mal, wenn sie ihn abstoppten, hektischer würden.
»Bist du sicher, dass da jemand ist?«
»Die Hunde sind es auf jeden Fall.«
»In Ordnung. Ich muss aber erst noch mal hier rechts Platz schaffen.« Er kletterte wieder in seinen Bagger, wischte sich den Schweiß und den schmelzenden Schnee von der Stirn, damit das Wasser ihm nicht in die Augen lief, und griff mit beiden Händen nach dem Schalthebel. Ließ aber gleich wieder los, um sich zur Ruhe zu zwingen. Er schloss die Augen, schlug sich ein paar Mal mit den geballten Fäusten auf die zitternden Knie, streckte die Finger und rieb seine feuchten Hände an den Hosenbeinen ab, atmete tief durch und begann von neuem. Diesmal hörten die Hände in dem Augenblick auf zu zittern, als sie sich um die Schalthebel schlossen. Er musste sich hart am Riemen reißen, um dem Steinhaufen nicht wutentbrannt und rabiat zu Leibe zu rücken, aber er schaffte es. »Einen nach dem anderen«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen, »einen nach dem anderen, mein lieber Valdi«, wiederholte er, als er den Ausleger wieder herabsinken ließ.
Fünf Felsklötze später war er sich ziemlich sicher, den sechsten und wichtigsten entfernen zu können, ohne dass dabei etwas anderes ins Rutschen geriet. Er setzte die Schaufel unten links an der Ecke an und schob den Klotz sehr vorsichtig nach rechts hoch. Dreimal musste er ihn wieder zurück an dieselbe Stelle sinken lassen, bevor es ihm gelang, das Schaufelblatt so unter dem Stein zu platzieren, dass er ihn ganz hochheben und sicher entfernen konnte.
Drei von den Männern beugten sich über die Vertiefung und entfernten zu beiden Seiten kleinere Steine. Valdimar kletterte auf den Felsklotz links daneben und leuchtete ihnen nach besten Kräften, doch seine Hände begannen wieder zu zittern, sodass der Lichtstrahl unruhig hin und her tanzte. Schließlich gab er es auf und schaltete die Leuchte aus. Plötzlich richtete sich einer der drei Männer auf und blickte Valdimar entsetzt an. Sie sahen sich einen Augenblick in die Augen, Valdimar senkte den Kopf, stand eine Weile bewegungslos auf dem Felsen und begann dann, hinunterzuklettern.
»Wusstest du, dass …?«
»Nein«, antwortete Valdimar, »aber ich habe es befürchtet. Er … er hat gestern Abend erwähnt, dass er vielleicht in die Schlucht kommen würde, und ich habe ihn telefonisch nicht erreichen können.« Sein Blick ging hinunter in die Vertiefung, und er sah seinen Sohn, der zwischen groben Felsbrocken lag und halb von Steinen und Geröll begraben war. »Könnt ihr ihn so da herausholen, Ari?«
»Ich glaube, ja«, antwortete der Mann von der Rettungsmannschaft.
»Gut. Ich schicke euch meinen Birgir. Ich möchte, dass er seinen Bruder von hier wegbringt. Ich finde jemand anderen, der seine Maschine übernimmt.« Valdimar drehte sich um und wollte gehen, doch Ari fasste ihn an der Schulter.
»Du willst doch nicht etwa weitermachen, Valdi?«
»Ich muss weitermachen.«
»Aber du … Aber Halldór …«
»Für meinen Dóri kann ich nichts mehr tun. Aber ich kann graben. Hier sind noch mehr als genug von diesen verfluchten Brocken.«
»Aber …«
»Und der Mann, der die Kipper dirigiert hat, ist auch noch nicht gefunden worden, habt ihr nicht gesagt, dass er auch hier drunter sein muss?«
»Ja, aber …«
»Birgir begleitet euch. Behandelt meinen Dóri gut.«
Árni trank einen Schluck von dem lauwarmen Kaffee-Whisky-Gemisch, ordnete die Stühle um den Tisch herum an, rollte die Wellpappe zusammen und brachte sie in den Keller. Bei dem Wetter verspürte er nicht die geringste Lust, das Zeug ins Auto zu tragen und damit zur Deponie zu fahren. Als Nächstes tauschte er Steve Harley mit Bob Marley aus, setzte sich mit seinem Kaffeebecher in einen Sessel und zündete sich eine Zigarette an.
Ásta kam ins Wohnzimmer und trocknete sich die Hände an einem Küchentuch ab. »Sieht prima aus«, sagte sie und nickte mit dem Kopf in Richtung Esszimmergarnitur. »Bist du nicht zufrieden damit?«
Árni betrachtete die Möbel. Sie machten sich wirklich ganz gut dort, passten haargenau in die Ecke, so wie Ásta gesagt hatte, aber von Wohlgefallen konnte bei ihm keine Rede sein. Ein Fünfzigtausend-Kronen-Mahnmal für Ablehnung, dachte er, ich werde es nie genießen können, an diesem Tisch zu sitzen.
»Doch, doch«, sagte er dumpf, »es ist prima.«
Ásta sah ihn argwöhnisch an. »Aber?«
»Kein aber. Es ist prima.« Árni streckte die Hand nach seinem Becher aus und trank einen Schluck, um die Röte zu verbergen, die sein Gesicht überzog. Doch Ásta ließ sich nicht täuschen, sie setzte sich zu ihm auf die Sessellehne und schmiegte sich an ihn.
»Nun tu doch nicht so, was ist los?«
Árni räusperte sich und versuchte, möglichst entspannt zu wirken. »Nein, nein, das ist wirklich prima, und nichts ist los.«
»Okay.« Ásta nahm ihm den Becher aus der Hand und stand auf. »Willst du mehr?«
»Ja, danke«, sagte Árni, der froh war, dass das Verhör zu Ende war. Kurze Zeit später kam sie mit dampfendem Kaffee in einer und der Whiskyflasche in der anderen Hand zurück.
»Am besten mischst du das selber«, sagte sie. Er trank etwas von dem Kaffee, um Platz für den Whisky zu schaffen.
»Danke.«
»Keine Ursache. Schön, dass du mit den Möbeln zufrieden bist.«
Jetzt war es Árni, der bei ihr Untertöne heraushörte, und er stellte den Becher ab. Obwohl er wusste, dass er einen Fehler machte, konnte er sich nicht zurückhalten. »Was ist los?«, fragte er.
Ásta schwieg eine Weile. Öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, schwieg aber weiter.
»Komm schon, was ist los?«
Ásta sah ihn an und traf eine Entscheidung, die völlig konträr war zu dem, was sie vor einer Stunde beschlossen hatte. Manche sind einfach so, dachte sie, die muss man ab und zu treten, damit sie in die Gänge kommen. »Zum Kuckuck noch mal, wieso hast du dir denn eigentlich diese Esszimmergarnitur gekauft?«, fragte sie. Árni starrte sie an. Und wurde rot. Starrte noch ein bisschen mehr. Es half nichts.
»Wieso … aber ich … aber du …«
»Warum hast du mich nicht gebeten, dass wir meine zu dir holen?«
»Aber ich … Du hast mir doch gesagt, ich soll mir eine kaufen. Bei Ikea. Neulich, erinnerst du dich, am Mittwoch …« Er verstummte, nahm einen Zug aus der Zigarette und hustete.
»Und machst du immer alles, was ich dir sage?«, fragte Ásta sanft.
»Ich … ja, nein …« Er geriet ins Stocken und zuckte die Achseln. »Oder doch ja, eigentlich … Ist das schlimm?«
Sie sah ihn an, lange, viel zu lange, wie er fand. Schließlich schüttelte sie resignierend den Kopf.
»Weißt du, das weiß ich wirklich nicht. Ehrlich, ich habe keine Ahnung.« Sie sah Árni immer noch an, doch diesmal konnte er ihrer Miene nichts entnehmen. »Aber ich denke, ich werde das ausnutzen, so lange es möglich ist«, erklärte sie dann. Und lächelte.
Árni war erleichtert. »Komm, lass uns zusammen unter die Dusche gehen. Und anschließend müssen wir noch entscheiden, was es zum Nachtisch gibt, das Problem ist noch ungelöst.« Sie stand auf und reichte ihm die Hand.
Aus irgendwelchen Gründen hatte Árni große Schwierigkeiten damit, sich auf dieses Problem zu konzentrieren.
Es war schon fast halb fünf, als sie den Siebten fanden. Er lag auf dem Rücken in einem großen, fast grottenartigen Hohlraum, der zum Vorschein kam, als sie einen relativ kleinen Felsklotz an der Front des Bergsturzes weggeschafft hatten.
»Das ist, glaube ich, der Mann, der den Kipperfahrern gezeigt hat, wo sie kippen sollen, der Kippmann«, rief Ari, nachdem er den Hohlraum ausgeleuchtet hatte. »Das wär’s dann also, er muss ja wohl der Letzte sein.«
Valdimar schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht. Wir sind zunächst davon ausgegangen, dass es fünf waren, und daraus sind sieben geworden. Es können genauso gut noch mehr sein. Schafft jetzt den armen Kerl da weg, damit wir das vor dem Abend zu Ende bringen können.« Ari öffnete den Mund, um zu protestieren, besann sich aber eines anderen. Er glaubte zu wissen, dass der Kerl sich nichts sagen lassen würde, er hatte wie ein Roboter weitergemacht, nachdem sein Sohn gefunden wurde. Aber jetzt mussten einfach andere übernehmen. Sie hatten vier Stunden lang ununterbrochen Schwerstarbeit geleistet, und es war niemandem zuzumuten, diesem Wetter noch länger ausgesetzt zu sein. Er wandte sich wieder seinen Kameraden zu, die sich anschickten, die Leiche aus dem Hohlraum zu bergen.
»Wir bringen ihn in den Wagen, und dann hören wir auf!«, schrie er. Sie nickten zustimmend. Diese Leiche war nicht so zerschunden wie die anderen; das Gesicht war aschgrau, doch außer ein paar Schrammen an der Stirn und einem Knöchelbruch waren im Schein der Halogenlampe äußerlich keine Verletzungen zu sehen. Sie legten den Mann auf die Bahre und winkten den Krankenwagen herbei, der ganz in der Nähe stand. Ari beugte sich über die Bahre, richtete den Lichtkegel auf das Gesicht des Toten und hob die Augenlider an.
»Verdammt noch mal, her mit dem Krankenwagen, und zwar dalli!«, brüllte er, »ich glaube, der ist noch am Leben.«
2
Samstag/Sonntag
Matthías Jónsson war der Chefingenieur der National Power Company in Kárahnjúkar, ein Mann Mitte vierzig, mit Adlernase und Halbglatze. Der Outdoor-Fanatiker, den es immer wieder in die Berge trieb, saß am einen Ende des Tisches und am anderen Ricardo Valente, der Projektleiter von Impregilo. Er war etwa im gleichen Alter wie Matthías, aber wesentlich kleiner, und wirkte mit seiner schwarzen Mähne und den Bartstoppeln auch sehr viel jünger. Im bläulichen Schimmer des Neonlichts hatte es aber den Anschein, als wären beide gleich blass.
»Eigentlich hätte ich bei dieser Inspektion mit dabei sein sollen«, erklärte Matthías nach unangenehm langem Schweigen. Er sprach ein hartes, stockendes Englisch mit starkem isländischen Akzent.
»Ich auch«, entgegnete Ricardo zögernd, »aber ich hatte anderes zu erledigen.« Sein Englisch klang weicher und melodischer. »Und du?«
Matthías schüttelte den Kopf. »Ich … ich hatte auch … anderes zu tun.« Er strich sich über das schlecht rasierte Kinn, hörte das Knistern, das seine Finger hervorriefen, und starrte auf die Liste vor ihm. Sieben Namen auf einem Blatt, und hinter jedem die Berufsbezeichnung. Mehr nicht. Sieben Namen statt neun. Er wurde etwas gesprächiger. »Wie gesagt, ich hätte natürlich dabei sein sollen«, murmelte er, »aber ich bin trotzdem froh, dass ich es nicht war. Sehr froh.«
Ricardo lächelte schwach. »Ich auch. Selbstverständlich bin ich froh, dass ich nicht auf dieser Liste stehe.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Blatt, das vor ihm lag. »Mit Barei und di Tommasso und … den anderen.« Er bekreuzigte sich unwillkürlich, als er die Namen nannte. Di Tommasso war sein zweiter Mann auf dem Werksgelände gewesen, Barei einer von den zahlreichen Topmanagern bei Impregilo. Beide waren bei dem Bergsturz ums Leben gekommen.
Matthías runzelte die Stirn. »Barei. Ich hab dich schon die ganze Zeit fragen wollen, was er dort mit denen zu suchen hatte? Was wollte er überhaupt hier?«
»Nichts Besonderes, glaube ich«, antwortete Ricardo achselzuckend. »Das Projekt inspizieren, sich mit den Gegebenheiten vertraut machen.« Obwohl er es in keinster Weise anklingen ließ, hatte er sich dieselbe Frage auch schon gestellt. Barei war völlig unerwartet vor drei Tagen in Kárahnjúkar aufgetaucht, ohne sein Kommen vorher anzukündigen, und die Antwort, die Ricardo Matthías gegeben hatte, war dieselbe, die er von Barei erhalten hatte. Überzeugt hatte sie ihn nicht. Leute wie Barei besuchten die im Bau befindlichen Projekte nur in Ausnahmefällen, und dazu mussten gewichtige Gründe vorliegen. Und schon gar nicht so einen Ort wie diesen und zu dieser Jahreszeit, wo das Wetter notorisch schlecht war. Nein, Ricardo war sich ziemlich sicher, dass da etwas anderes dahintersteckte, und er hatte di Tommasso im Verdacht. Dieser Verdacht hatte sich noch verstärkt, als er Bareis Namen auf der Liste der Toten entdeckte. Am Abend vorher hatte der nämlich kein Wort darüber verloren, dass er an einer Inspektionsfahrt teilnehmen würde.
»Ich hatte keine Ahnung, dass er beabsichtigte, mitzufahren«, sagte er nach einer Weile. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre es vielleicht anders gekommen.«
Matthías sah ihn fragend an. »Ich meine, dann wäre ich selbstverständlich auch mitgefahren«, erklärte Ricardo achselzuckend. »Und wenn ich mitgefahren wäre, dann wären sie – wir – vielleicht an einer anderen Stelle gewesen, als der Bergsturz niederging. Wären später losgefahren oder vielleicht irgendwo aufgehalten worden, wer weiß?«
»Vielleicht«, stimmte Matthías ihm nachdenklich zu. »Vielleicht aber auch nicht. Es hat wohl kaum Sinn, darüber zu spekulieren.«
»Ich weiß. Aber trotzdem …«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Matthías mit einer zustimmenden Handbewegung und stöhnte. »Wie gesagt, es hat keinen Sinn, darüber zu spekulieren. Sechs Tote und einer in Lebensgefahr. Irgendeiner von diesen armen Teufeln, der auf die Kipper wartete, soweit ich das verstanden habe. Aber ich weiß nicht, das Ganze ist doch irgendwie absurd. Dass genau diese Leute in genau dieser Absicht und genau in diesem Augenblick genau an diesem Ort gewesen sind.« Er rieb sich die kahlen Schläfen, bevor er sich auf die Ellbogen stützte und fortfuhr. »Beinahe zu absurd, um ein Zufall zu sein. Was meinst du?«
Ricardo starrte Matthías eine ganze Weile forschend an, bevor er antwortete. »Ja, meiner Meinung nach ist das ein unglaublicher Zufall. Aber er ist nun einmal passiert. Und wenn es kein Zufall war, weiß ich nicht, was sonst dahinterstecken könnte. Es sei denn, du willst über Schicksalsmächte sprechen?«
Matthías schüttelte den Kopf. »Nein, an die glaube ich nicht.«
»Was meinst du dann?«
»Ach, ich weiß nicht.«
Ricardo nickte. »Vielleicht solltest du lieber einfach schweigen.«
»You lucky bastard, Árni! Wie hast du das geschafft, Mensch?« Guðnis schleimiges Grinsen, als er sich mit einem Glas in der Hand an den Küchenschrank lehnte, sagte eigentlich alles, aber damit Árni kapierte, wovon er redete, fasste er sich zur Sicherheit noch in den Schritt. Árni schüttelte den Kopf und rührte weiter in der Mars-Schokolade auf dem Herd, die im Wasserbad vor sich hin schmolz. »Ich hätt’s schon immer mal gern mit’ner Negerin probiert«, fuhr Guðni unverblümt fort, »hab gehört, dass die richtig fucking crazy zwischen den Beinen sein sollen. Stimmt das?«
Árni konnte nur mit Mühe seine Wut im Zaum halten. Wäre es jemand anderes gewesen als Guðni, hätte er bestimmt versucht, einen von den drei Tricks anzuwenden, die er nach den fünf Judo-Trainingsstunden, zu denen er sich letztes Jahr nach Weihnachten aufgerafft hatte, schon fast beherrschte. Aber weil es Guðni war, ließ er es bei einem Achselzucken bewenden. Nicht aus Feigheit, auch wenn der Kerl ihm bestimmt mit dem ersten Hieb die Nase gebrochen und mit dem nächsten k.o. geschlagen hätte. Auch nicht, weil sie Kollegen waren, und noch weniger, weil er etwa glaubte, dass Guðni nur so großschnäuzig daherredete, in Wirklichkeit aber ein echt netter Kerl war. Ganz im Gegenteil, er wusste nur zu genau, was für ein rassistischer und faschistischer Macho Guðni war, und dass es genauso hoffnungslos wäre, dem Sturm draußen mit den Fäusten zu Leibe rücken zu wollen, wie die Vorurteile aus Guðnis Schädel herauszuprügeln. Außerdem wollte Árni dem Kerl auch nicht den Gefallen tun, sich mit ihm anzulegen. Es war allseits bekannt, sowohl bei der Kriminalpolizei als auch bei denen, mit denen sie sich am häufigsten abgeben musste, dass Guðni sich nie köstlicher amüsierte, als wenn es ihm gelang, sein Gegenüber zu provozieren. Wenn ihm jemand Kontra gab, war das nur Wasser auf seine Mühle. Diese Eigenschaft kam ihm zwar unter gewissen Umständen in seiner Arbeit zugute, war aber ansonsten nicht von Vorteil für ihn, weder am Arbeitsplatz noch anderswo.
»Einmal war ich sogar fast schon auf einer drauf«, sagte Guðni mit Bedauern. »In Amsterdam. Echt ein Rasseweib, Beine bis zu den Titten und Titten bis zum Nabel. Hatte bloß nicht genügend Kohle, sie hat nur cash genommen, verstehst du.« Guðni grunzte. »No creditcards, nono, only cash, Mister«, hat sie gesagt. Aber als ich mit cash zurückkam, waren bei ihr die Vorhänge zugezogen. Ich hatte keinen Bock zu warten, habe einfach die Nächstbeste gevögelt. Die kam aus Japan oder aus China, auf jeden Fall hatte sie Schlitzaugen. Erstklassiger Service bei der, eine absolute Fachkraft. So ein Service fehlt hier in Island total, das ist doch was ganz anderes als diese dünn gesäten und sündhaft teuren Schicksen hier.«
»Furchtbar, dieser Unfall da in Kárahnjúkar«, sagte Árni und rührte heftiger im Topf herum, als erforderlich war.
»Ja, furchtbar«, murmelte Guðni. Er holte sich einen Stumpen aus der Schachtel in seiner Brusttasche, steckte ihn in den Mundwinkel und begann, darauf herumzukauen. Gelächter aus dem Wohnzimmer glich das Schweigen aus, das sich über die Küche legte, während er nach Feuer suchte, um den Stumpen anzuzünden. »Aber was sagst du, Amigo, ist sie so ein bisschen horny, vielleicht irgendwie kinky?« Árni kapitulierte, legte den Schneebesen weg und sah Guðni wutentbrannt an.
»Unheimlich«, erklärte er, »man kriegt keine Ruhe vor ihr: Leder, Latex, Fesseln, die ganze Palette, den ganzen Tag und bis in den frühen Morgen. Ich bin total fertig, weiß überhaupt nicht, wie ich ihren Erwartungen nachkommen soll. Ich fresse Viagra wie bekloppt, aber das nützt auch nichts, okay? Können wir vielleicht jetzt über was anderes reden?«
Guðni zog die Brauen hoch und hob beschwichtigend die Hände. »Hey, sorry, Kumpel, sorry. Ganz relaxt, okay?«
»Und möglichst auf Isländisch.«
»Allright. Über etwas anderes reden, auf Isländisch.« Guðni kratzte sich am Bauch, der sowohl das Hemd als auch den Hosenbund zu sprengen drohte. »Das Essen war verdammt lecker, auf jeden Fall die Keule. Für Muscheln bin ich ehrlich gesagt nicht so zu haben, aber die Keule war fucking brilliant. Echt genial, meine ich«, korrigierte er sich und blinzelte Árni zu. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du kochen kannst.«
Árni griff wieder zum Schneebesen und rührte weiter.
»Ich kann zwar kochen«, entgegnete er, »aber das Essen heute Abend geht ganz auf Ástas Konto. Alles außer der Sauce, die ich hier fabriziere.«
Guðni schnalzte mit der Zunge. »Ey, genau wie ich gesagt habe, you lucky bastard. Ist das nicht das Mädchen, das du vor zwei Jahren vernehmen musstest? Die Freundin von dieser Computertussi, die umgebracht wurde?«
Árni nickte. »Ja, das ist sie.«
Guðni nickte ebenfalls. »Wie ich gedacht habe. Irgendwie konnte ich mich an den Namen erinnern.« Er zog die Nase hoch, öffnete den Schrank unter der Spüle und spuckte ein paar durchweichte Tabakfetzen in den Mülleimer. »Ásta, komischer Name für so eine Negerin. Hast du sie damals gleich gevögelt?«
»Wer hat wen wann gevögelt?«, fragte Katrín, die genau in dem Moment mit einem Glas Rotwein in der Hand in die Küche gestürmt kam, als Árni den Schneebesen auf Guðnis Glatze niedergehen lassen wollte.
Árni antwortete nicht, sondern schüttelte nur den Kopf und rührte wie besessen weiter. Guðni öffnete den Mund, doch bevor er noch ein Wort herausbringen konnte, packte Katrín ihn beim abgewetzten Schlips und zerrte ihn aus der Küche hinaus ins Wohnzimmer.
»Komm schon, du Drecksack«, sagte sie, »lass den Kleinen in Ruhe.«
Anschließend kehrte sie wieder in die Küche zurück. »Der verdammte Kerl ist unerträglich«, sagte sie, »und manchmal mehr als das.« Árni murmelte etwas Zustimmendes, nahm den Topf vom Herd, und rührte kräftig weiter. Katrín trank einen Schluck Rotwein. »Kommst du nicht bald wieder rein?«
»Ja«, sagte Árni, »ich komme gleich.« Er goss die Schokoladensauce in eine Schüssel, holte eine kleine Schöpfkelle und einen großen Löffel aus der zweitobersten Schublade, nahm die Schale mit Erdbeeren aus dem Kühlschrank und das Eis aus dem Gefrierfach. »Ich komme sofort.«
»Furchtbar, dieser Unfall da oben in Kárahnjúkar«, sagte Katrín, um etwas zu sagen.
»Ja, furchtbar«, pflichtete Árni ihr bei. Er stürzte das Eis aus der Verpackung auf eine Platte und reichte sie Katrín. »Nimmst du das bitte mit ins Wohnzimmer?«
Elf Personen waren um einen Tisch mit weißer Kunststoffplatte herum versammelt: zehn Männer und eine Frau; fünf Isländer, fünf Italiener und ein Schwede; sieben Ingenieure, drei Techniker und ein Betriebswirt. Ihre Gesichter waren im kalten Schein der Neonbeleuchtung ebenso weiß wie die Tischplatte oder die nackten Wände, und niemand sagte einen Ton, obwohl vier der Anwesenden im Konferenzzimmer, wo absolutes Rauchverbot herrschte, wie die Schlote rauchten. Sogar Matthías, der auch jetzt wieder Ricardo am anderen Ende des Tisches gegenübersaß, verspürte das starke Bedürfnis, eine Zigarette von seinem Sitznachbarn zu schnorren, obwohl er vor einem Vierteljahrhundert aufgehört hatte zu rauchen. Andere waren schon aus weit geringerem Anlass eingeknickt, dachte er, während er über die Ereignisse des Tages und die Lage, in der sie sich jetzt befanden, nachdachte. Und die war selbstverständlich katastrophal, egal, von welcher Perspektive aus man das betrachtete. Nicht zuletzt nach außen hin.