Wer ohne Sünde ist - Ævar Örn Jósepsson - E-Book

Wer ohne Sünde ist E-Book

Ævar Örn Jósepsson

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  • Herausgeber: btb
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Die skelettierte Leiche eines Mannes wird in einem Sessel vor laufendem Fernseher gefunden. Offenbar ist der Mann schon seit über einem Jahr tot. Kommisssar Árni und seine Kollegen von der Kripo Reykjavík stehen vor einem Rätsel. Der Tote war Mitglied einer fanatischen Sekte, angeführt von einem charismatischen Fernsehprediger. Die obstruse Lehre verspricht den einzig wahren Weg zu Gott und der Erlösung von den Sünden. Für das Opfer scheint sich dies auf grausige Weise erfüllt zu haben.

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Ævar Örn Jósepsson

Wer ohne Sünde ist

Kriminalroman

Aus dem Isländischenvon Coletta Bürling

Auch den hartgesottenen Kriminalbeamten der Polizei Reykjavík geht es an die Nieren, als sie die übel zugerichtete Leiche eines Mannes vor laufendem Fernseher finden. Offenbar ist der Mann schon seit über einem Jahr tot. Kommissar Árni und seine Kollegen stehen vor einem Rätsel. Der Tote war Mitglied einer fanatischen Sekte, angeführt von einem charismatischen TV-Prediger. Dieser verspricht seinen Anhänger, den wahren Weg zu Gott und Erlösung von den Sünden zu kennen. Für das Opfer scheint sich dies auf grausige Weise erfüllt zu haben. Und der Fernsehprediger, der so erfolgreich im Sender seines Bruders auftritt, ist keinesfalls der Saubermann mit christlichen Werten, für den er sich ausgibt.

Ævar Örn Jósepsson, Jahrgang 1963, studierte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg Philosophie und Englische Literatur. Seit 1994 arbeitet er als freiberuflicher Übersetzer und ist als Journalist für zahlreiche isländische Zeitungen und Magazine tätig. Jósepsson lebt in Reykjavík. »Wer ohne Sünde ist« ist sein dritter Roman, der bei btb erscheint.

Ævar Örn Jósepsson bei btb:Dunkle Seelen. Kriminalroman (73476)Blutberg. Kriminalroman (73858)

Die isländische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Sá yđar sem syndlaus« bei Uppheimar, Reykjavík.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2011

Copyright © 2006 by Ævar Örn Jósepsson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagfoto: © Wilfried Krecichwost / Corbis

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

KR ∙ Herstellung: BB

ISBN 978-3-641-05620-9

www.btb-verlag.de

Meinem Vater gewidmet,der nie Druck auf mich ausübte,

I Ostern 2005

1 Samstag

Die letzten Tage im Leben von Ólafur Áki Bárðarson waren zwar in gewissem Sinne ungewöhnlich, doch im Prinzip unterschieden sie sich nicht im Geringsten von den zweitausend Tagen, die ihnen vorangegangen waren.

Am Karfreitagabend setzte er sich in seinen amerikanischen Lazy-Boy-Sessel, trank einige nicht übermäßig starke Gin Tonics, rauchte und hatte den Alpha-Sender eingeschaltet. Gegen halb drei leerte er sein sechstes Glas, schaltete den Fernseher aus und erhob sich mühsam aus dem tiefen Sessel. Er wankte durch die Wohnung, löschte überall das Licht und ging zu Bett. Wachte sechs Stunden später auf, übel gelaunt und unausgeschlafen, und wie gewöhnlich mit steifem Hals und schmerzhaftem Harndrang. Letzterer zwang ihn aus dem Bett und ins Bad, eine Räumlichkeit, die mit Reinlichkeit nur wenig gemein hatte. Nachdem er die Blase unter krampfartigen Anstrengungen entleert hatte, ohne allzu viel daneben zu pinkeln, legte er sich wie immer noch einmal ins Bett. Dort wälzte er sich wie gewohnt eine Viertelstunde von einer Seite auf die andere, doch dann kapitulierte er und stand auf, um die Kaffeemaschine anzuwerfen. Vier Tassen Wasser, vier Löffel Kaffee.

Sieben Minuten später beendete die Maschine ihre glucksenden und röchelnden Geräusche, und etwa zur gleichen Zeit hatte Ólafur auch seinen Morgenhusten hinter sich gebracht. Er holte Milch aus dem Kühlschrank und nahm Zucker vom Küchentisch. Nach der ersten Tasse Kaffee und der ersten Zigarette bestrich er zwei Scheiben Roggenbrot mit Butter, belegte sie mit Käse und verdrückte sie zur nächsten Tasse. Zur dritten und vierten schluckte er zwei Schmerztabletten, rauchte drei weitere Camel und blätterte in den Tageszeitungen, in denen nichts stand, was seine Aufmerksamkeit auf sich zog, abgesehen von einer Nachricht aus dem Heiligen Land. Wieder mal ein typisches Beispiel dafür, wie die Journalisten hierzulande ständig Partei für die Gottlosen ergriffen, dachte er.

Aus alter Gewohnheit hörte sich Ólafur die Mittagsnachrichten an, bekam aber nur wenig von dem mit, was gesagt wurde. Danach ging er wieder ins Bad, um den Kaffee loszuwerden, und zog anschließend im Schlafzimmer ohne zu überlegen dieselben Sachen an, die er bereits seit zwei Tagen trug. Er wollte ja schließlich nirgendwohin. Einigermaßen in die Gänge gekommen, stellte er eines von den Fertiggerichten für einsame Isländer in die Mikrowelle, Hackbällchen mit brauner Sauce und Kartoffelpüree. Das hatte er ungefähr jeden dritten oder vierten Tag getan, seit er in diese Wohnung in einem Hochhaus in Krummahólar eingezogen war, nachdem ihn Sigurlaug vor knapp sechs Jahren aus dem Haus geworfen hatte. Die Hackbällchen schmeckten ihm einfach.

Ein paar Minuten später saß er bereits wieder in seinem Lazy Boy, hatte das Essen auf einem Tablett vor sich stehen und daneben einen halben Liter Cola. Im Alpha-Sender predigte gerade irgendein Amerikaner. Das fand er alles andere als gut, denn wie so oft machten die sich nicht die Mühe, das, was die Gottesmänner aus den Vereinigten Staaten zu sagen hatten, zu untertiteln, und mit Ólafurs Englischkenntnissen war es nicht allzu weit her. Warum können die nicht unseren Meister zeigen, dachte er, da weiß man, was man hat. Eine halbe Stunde später wurde seine Bitte erhört. Meister Magnús höchstpersönlich, der geistige Führer der heiligen WAHRHEIT, erschien in imposanter Gestalt auf dem Bildschirm und erhob seine unnachahmlich inspirierte Stimme. Schon jetzt freute sich Ólafur auf den morgigen Tag.

Die Osterpredigten des Meisters waren berühmt bis über die Kreise der WAHRHEIT hinaus, wie die Gemeinde meist genannt wurde, sowohl von denen, die des Segens teilhaftig geworden waren, zum Licht gefunden zu haben, als auch von den anderen, die immer noch in der Finsternis nichtiger Eitelkeit und auf dem Pfad des Verderbens wandelten, wie der Meister es so zutreffend ausgedrückt hatte. Berühmter war nur noch der Meister selbst. Er wurde immer Meister oder Meister Magnús genannt – obwohl, wie Ólafur fand, nicht wenige diese Ehrenbezeichnung reichlich leichtfertig in den Mund nahmen, einige sogar mit kaum verhohlenem Spott. Die Strafe dafür würde sie am Jüngsten Tag, wenn nicht sogar schon vorher ereilen, so viel stand fest.

Gegen drei bereitete sich Ólafur eine Schnitte mit Rollwurst und Senf zu, die er sich zu einer außerordentlich interessanten Sendung auf Alpha zu Gemüte führte. Ari, der Direktor des Senders und Bruder von Meister Magnús, unterhielt sich mit einem jungen Mädchen, das vor kurzem durch die Gnade Gottes aus den Abgründen und Verstrickungen von Drogen und Depressionen erlöst worden war.

»Wunder jeden Tag«, murmelte Ólafur, »Wunderwerke an jedem gesegneten Tag des Herrn.« Nachdem er die Schnitte verzehrt hatte, griff er nach der Camel-Schachtel, musste aber feststellen, dass sie leer war. Zu seinem großen Bedauern war auch keine Schachtel mehr in der Stange, die er in der Küche aufbewahrte. Das brachte ihn darauf, seine Ginvorräte zu kontrollieren, und es stellte sich heraus, dass sie ziemlich dürftig waren. Er sah auf die Uhr – der Alkoholladen würde in einer Viertelstunde schließen. Ólafur war kein Freund von Eile, aber wenn es darauf ankam, konnte er ausgesprochen fix sein. Er schlüpfte in seine alten bequemen Mokassins, zog die verschlissene blaugraue Windjacke an, die in der Diele auf dem Boden lag, und griff nach den Autoschlüsseln.

»Verzeih mir, Ari«, murmelte er, als er den Fernsehdirektor und das Mädchen ausschaltete. Auf dem Weg nach unten pries er den Herrn für die Erfindung des Aufzugs.

* * *

Ragnar sah Bárður besorgt an. Es war immer dieselbe Geschichte, wenn sie nach Island kamen. Ólafur rief Bárður an, noch bevor sie aus dem Duty-free-Shop heraus waren, und ließ nicht locker, bis Bárður sich damit einverstanden erklärte, ihn zu besuchen. Und dann folgten einige Tage voller Ängste und Beklemmungen, bis es zum Wiedersehen zwischen Vater und Sohn kam. Stets endete es auf dieselbe Weise, mit Beschimpfungen, Türenknallen und Tränen. Jedes Mal bot Ragnar Bárður an, ihn bei diesen Besuchen zu begleiten, doch Bárður lehnte das Angebot stets mit der gleichen Begründung ab – der Alte würde sich noch schlimmer aufführen, wenn sie beide zusammen zu ihm gingen.

Seltsamerweise war der Alte aber immer sehr genau informiert, wann sie zu erwarten waren. Ragnar konnte sich das nur so erklären, dass Hólmfríður ihn angerufen und ihm davon erzählt haben musste. Sigurlaug tat das bestimmt nicht, so viel stand fest, und der Kerl würde wohl kaum auf ihre Blogseite gehen können, soweit sie wussten, hatte er überhaupt keinen Netzanschluss. Zudem hatten sie schon lange aufgehört, ihre Islandreise dort anzukündigen, in der schwachen Hoffnung, dass das etwas bewirken würde. Bárður ließ nicht zu, dass etwas Negatives über Hólmfríður gesagt wurde, und Ragnar wusste nur zu gut, wie seine Reaktion in einem solchen Fall ausfallen würde. Dennoch konnte er sich nicht zurückhalten, als er wieder einmal mit ansehen musste, wie sein Lebensgefährte sich mit einem Kissen im Arm vor und zurück wiegte und mit leeren Augen auf die gegenüberliegende Wand starrte.

»Weshalb macht Hólmfríður das eigentlich immer?«, fragte er wütend. »Weshalb sagt sie eurem Vater Bescheid, wann wir in Island zu erwarten sind?«

Wie gewöhnlich antwortete Bárður mit einer Gegenfrage: »Weshalb sollte sie das Papa erzählen?«

Und wie immer hatte Ragnar die Antwort parat: »Keine Ahnung. Aber wie erfährt er dann immer davon? Du sagst es ihm doch sicher nicht.«

»Nein«, antwortete Bárður, »natürlich nicht. Genauso wenig wie Hólmfríður.«

»Wer denn? Deine Mutter vielleicht?«, brummte Ragnar.

»Ganz bestimmt nicht.«

»Dann geh doch einfach diesmal nicht zu ihm hin. Du weißt ganz genau, dass es derselbe Quatsch wie immer sein wird. Du musst das ewig gleiche verdammte Geschwätz von diesem Blödmann über dich ergehen lassen.«

»Ich muss zu ihm. Wir kommen doch höchstens einmal im Jahr nach Island, da kann ich nicht nein sagen, wenn er mich unbedingt sehen will.«

»Warum nicht?« Ragnar wusste nicht, wieso er überhaupt fragte, die Antwort konnte er genau wie dieses ganze Gespräch auswendig.

»Weil er mein Vater ist«, antwortete Bárður. »Weil du mein Mann bist, und weil ich jedes Mal hoffe, dass sich etwas geändert hat.«

»Du weißt ganz genau, dass sich nichts geändert hat.«

»Nein, das weiß ich nicht. Und du genauso wenig. Lass mich in Ruhe.«

Und Ragnar kapitulierte. Wie immer.

* * *

Die vier Ginflaschen wanderten in den Schrank, und die zwei Stangen in das Regal darunter. Ólafur betrachtete seine kostbaren Vorräte eine Weile, und ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen, als er den Schrank zumachte und begann, den Rest seiner Einkäufe in den Kühlschrank und die anderen Schränke einzuräumen. Als er vor sechs Jahren in diese Wohnung eingezogen war, hatte er sich nicht vorstellen können, dass das Leben so wunderbar werden könnte.

Er erinnerte sich noch an die Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit, die ihm am Einzugstag über die Schwelle der Wohnung folgten und sich noch steigerten, als er die Stapel mit Kartons, die Schränke und den neuen, gebraucht gekauften Kühlschrank, der noch nicht angeschlossen war, betrachtete. Das einzige Bild, das er mitgenommen hatte, war ein kleines Landschaftsaquarell von Þingvellir. All das stand oder lag in einem wüsten Chaos mitten im Wohnzimmer, beleuchtet von einem russischen Kronleuchter. Da endlich hatte er wirklich begriffen, dass er nach dreißig Jahren Ehe wieder alleinstehend war.

Da endlich hatte er geweint.

Dieser Zustand hatte sich zunächst noch verschlimmert, denn Sigurlaug war nicht nur seine Ehefrau und Köchin, Waschfrau und sein Anker im Leben gewesen – sie hatte sich auch um die Finanzen gekümmert und versucht, seinen Alkoholkonsum in Schranken zu halten.

Ólafur hatte nie unmäßig getrunken, er hatte zwar hin und wieder mal genau wie andere über die Stränge geschlagen und sich auch zwischendurch immer mal wieder das ein oder andere Gläschen genehmigt, aber darüber hinaus hatte er kein besonderes Bedürfnis nach Alkohol verspürt. Das änderte sich, als er wieder allein war, und zwar überaus schnell.

Anfangs nur ein Glas nach dem Abendessen. Warum nicht? Da war niemand, der daran etwas auszusetzen hatte, und es gab nichts anderes, um sich zu trösten. Außerdem schadete es niemandem.

Dann wurden es zwei …

Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, als ihm die erste Abmahnung bei der Arbeit in den Sinn kam. Der Personalchef, der von Ólafurs privaten Problemen wusste, hatte ihn unvermittelt mitten in der Arbeit zu sich bestellt und ihm gesagt, dass er sich Sorgen wegen seiner Gesundheit machte; er empfahl ihm, ein oder zwei Wochen Urlaub zu machen, um nach dem, was vorgefallen war, die Batterien wieder aufzuladen. Da war Ólafur bereits zwei Wochen lang zu spät zur Arbeit erschienen, unausgeschlafen und verkatert. Er hatte aber rundheraus abgestritten, irgendwelche Probleme zu haben, abgesehen von leichter Schlaflosigkeit, und das würde sich schon wieder geben. Er habe keine Zeit für derartigen Blödsinn, hatte er noch hinzugefügt, bevor er beleidigt aus dem Zimmer stolziert war.

Nur einen Monat später wurde er zu einer weiteren Unterredung bestellt, und diesmal stieg ihm der Personalchef wirklich aufs Dach. Es ginge einfach nicht, hatte er erklärt, dass der Ressortleiter einer so wichtigen Abteilung wie der elektrotechnischen wegen Alkoholproblemen mehr oder weniger arbeitsunfähig sei. Er hatte ihn knallhart vor die Alternative gestellt, sich entweder einer Entziehungstherapie zu unterziehen oder nüchtern und pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Obwohl er es nicht direkt sagte, war dem Klang seiner Worte zu entnehmen, dass Entlassung die dritte Alternative war.

Ólafur hatte dem Personalchef versichert, dass alles wieder völlig in Ordnung kommen würde, dass er sein Trinken unter Kontrolle habe und unter gar keinen Umständen auf die dummen Tricks irgendwelcher Pseudoärzte angewiesen sei, um seinen Alkoholkonsum einzuschränken. Sie verabschiedeten sich höflich, aber kaum war die Tür hinter Ólafur zugefallen, verfluchte dieser die Verständnislosigkeit und Einmischung des verdammten Kerls und aller anderen nach Strich und Faden.

»Der Stolz«, seufzte Ólafur manchmal, wenn er sich an seine Reaktion erinnerte, und zitierte den Meister. »Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz.« Neun Monate nach der Scheidung war er arbeitslos, und wenig später bekam er solche Probleme mit seinem Rücken, dass er als fünfundsiebzigprozentiger Invalide eingestuft wurde, und damit war er zusätzlich zu allem anderen als verkrachte Existenz legalisiert.

Er konnte von Glück reden, dass die Linken, die damals in Reykjavík an der Macht waren, gerade die letzten Sozialwohnungen weit unter Marktwert verscherbelten, als Sigurlaug ihn rauswarf, und dass er genug Geld besaß, um sich diese Bude kaufen zu können, ohne sich nennenswert in Schulden zu stürzen. Sonst wäre er bestimmt auf der Straße gelandet, wenn nicht gar in der Gosse. Und es war nur seinem Nachbarn Úlfur zu verdanken, dass er nicht tatsächlich dort geendet war. Úlfur und den guten Leuten in der Therapieklinik Vogar. Und selbstverständlich Gott, das wusste er inzwischen. Denn Gott sorgte für die Seinen. Er fiel einem nicht in den Rücken, o nein, Schicksalsschläge dienten immer einem Zweck.

Ólafur lernte Gott bei der dritten Therapie kennen. Zwar hatte es auch bei den beiden vorangegangenen Entziehungskuren Leute gegeben, die sie zusammenführen wollten, doch erst bei der Anschlusstherapie in Staðarfell war Ólafur bereit gewesen, sich ihm zu öffnen – denn dazu musste man bereit sein. Gott bedurfte zwar weder einer Einladung noch einer Erlaubnis, aber er drängte sich auch nicht einfach so in die Herzen von Menschen, die ihn nicht willkommen hießen, wie der Meister sich gerne ausdrückte. Und als Ólafur ihn endlich willkommen hieß, änderte sich alles. Das war im Frühjahr 2001 gewesen.

Zuerst hörte er auf zu trinken, und zwar ganz. Dann bekehrte er sich zur heiligen WAHRHEIT, wo er zahlreiche Menschen traf, die ähnliche Erfahrungen wie er hinter sich hatten, und häufig genug sogar noch schlimmere. Hier waren alle in einer neuen Hoffnung vereint: in Christus und der Gewissheit seiner bevorstehenden Wiederkehr.

Es dauerte allerdings nicht lange, bis er entdeckte, dass er sich durchaus wieder dem Alkohol zuwenden konnte, ohne die Kontrolle über seinen Konsum zu verlieren, so segensreich und mächtig waren der Herr und seine Gemeinschaft. Drei, höchstens vier Gläser am Abend, mehr nicht. Vielleicht hin und wieder auch etwas mehr, aber nie so viel, dass es besorgniserregend war. Und niemals auch nur ein Tropfen vormittags, das passierte einfach nicht mehr. Das war mehr, als der arme Úlfur sagen konnte, der immer wieder in die alten Bahnen zurückfiel, sobald ein Tropfen seine Lippen benetzte. Úlfur hatte aber – trotz sechs Aufenthalten in Vogqr und drei in Staðarfell – Gott immer noch nicht gefunden.

Es dauerte gar nicht lange, bis Ólafur trotz seines lädierten Rückens eine der wichtigsten Stützen und einer der Assistenten des Meisters wurde, er durfte auf keiner Versammlung fehlen. Der Meister machte sich die moderne Technik, die Gott den Menschen zugänglich gemacht hatte, ausgiebig zunutze, und diesbezüglich war Ólafur auf heimischem Terrain. Auch Ari, dem Bruder des Meisters, stand er unermüdlich zur Seite. Der hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die frohe Botschaft des Meisters über die Ätherwellen unter die Leute zu bringen. Ólafur wusste schon gar nicht mehr, wie oft es durch seinen Einsatz gelungen war, die ganze Chose auf Sendung zu halten.

»So arbeitet der Herr«, hatte der Meister vor versammelter Gemeinde erklärt, als Ólafur mitten in einer Predigt, die direkt vom Alpha-Sender übertragen wurde, die Mikrofonanlage repariert hatte. Erst drei Wochen vorher war er zum ersten Mal bei einer Versammlung der WAHRHEIT erschienen. »So arbeitet ER, meine Brüder und Schwestern. ER weiß um die Unvollkommenheit menschlichen Tuns, ER weiß, dass Maschinen und Apparaturen versagen können, und was tut der Herr? ER schickt uns einen neuen Bruder und lässt ihn die Dinge für uns in Ordnung bringen.«

Das hatte Ólafur tief berührt. Und er war dem Herrn dankbar. Und dem Meister. Und seinem Bruder Ari. Sie alle gaben ihm die Hoffnung, dass alles gut werden würde. Am 12. Februar 2005, einem Samstag, hatte sich diese Hoffnung in Gewissheit verwandelt. Da war das Wunder geschehen. Ein Wunder war es nämlich, ein Mirakel und ein Mysterium, vom Himmel gesandt. Der Haken war bloß, dass er diese schöne Gewissheit mit niemandem teilen konnte. Er war allein, ganz allein. Und einsam. Aber auch das würde sich noch ändern, davon war er überzeugt. Weshalb sonst hätte der Herr ihm an diesem kalten Samstag im Februar, mitten im dunklen Winter, sein Wohlgefallen auf so eindeutige Weise erwiesen?

* * *

Hólmfríður hob die Schellfischstücke aus dem Topf und reihte sie ordentlich mit der Haut nach unten auf einem Porzellanteller mit Blümchenmuster auf. An dem Tag, als ihr Bankkonto zum ersten Mal nach der Scheidung in den Miesen war, hatte sie sich geschworen, dass es, auch wenn man beim Einkaufen zu Sparsamkeit gezwungen sein würde, nicht in Frage käme, im Hinblick auf die ästhetischen Grundsätze nachlässig zu werden. Das Gleiche galt für die Anforderungen im Haushalt, Putzen beispielswiese, und im Grunde genommen für alles. Obwohl sie gezwungen war, in ein kleineres Haus zu ziehen, achtete sie doch sehr darauf, dass die Kinder nicht das Gefühl bekamen, dass Lebensstandard und Ambiente sich verschlechtert hatten. Bei den Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, kostete es sowohl Umsicht als auch Mühe, das Haus immer tipptopp instand zu halten, aber auch hier galt dasselbe wie für das Essen – blank zu sein war keine Entschuldigung für Schmutz und Schlamperei.

Kochfisch mit Pellkartoffeln waren allerdings ihrer Meinung nach an der untersten Grenze des Tragbaren, daran konnte auch ein hübsch gedeckter Tisch nichts ändern. Ihre Mutter hatte zwar keine Probleme damit, auch heute noch so ein Essen anzubieten, ihrer Meinung nach sollte sich kein Isländer dafür zu schade sein. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass Hólmfríður es als Niederlage empfand, wenn sie gezwungen war, ihren beiden Kindern ein solches Essen vorzusetzen, auch wenn die Schellfischfilets erheblich teurer waren als das Hackfleisch, das sie gestern zu Frikadellen verarbeitet hatte. Es machte die Sache auch nicht besser, als ihr klar wurde, dass sie die Reihenfolge hätte umdrehen sollen; den Fisch gestern auf den Tisch bringen und heute die Fleischbällchen. Daran ließ sich aber nichts mehr ändern, also musste man das Beste daraus machen.

»Essen!«, rief sie, und kurze Zeit später saßen sie zu dritt am Tisch, Svana, Eiríkur und sie selbst, und zu ihrer großen Erleichterung verputzten sie den Schellfisch mit bestem Appetit und einem Klacks Ketchup, bevor sie wieder in ihre Zimmer verschwanden und sich vor ihre Computer oder Fernseher hockten. Sie wusste, dass es Proteste hageln würde, wenn sie ihnen mitteilen musste, dass sie wahrscheinlich sowohl den DSL-Anschluss als auch Digital Island zum Monatsende kündigen musste.

Hólmfríður seufzte. Entweder musste sie eine besser bezahlte Arbeit oder einen neuen Mann finden, oder auf ein Wunder warten. Sie wusste sehr genau, dass das Erstere für sie mit ihrer einfachen Ausbildung und geringen Berufserfahrung schwierig sein würde. Und an einem neuen Mann hatte sie kein Interesse. Mit keinem von den wenigen, die sie nach der Scheidung von Sigmundur kennen gelernt hatte, hätte sie es auch nur einen Winter lang ausgehalten, und sie ging nicht davon aus, dass in absehbarer Zukunft ein Kandidat für eine engere Beziehung auftauchen würde. Letzten Endes verlangte es sie auch gar nicht danach, das waren doch alles dieselben beschissenen Typen. Mit Ausnahme von Bárður natürlich, aber der war ihr Bruder und außerdem schwul. Nein, ein neuer Mann war nicht in Sicht. Also blieb nur das Wunder.

Sie brummte ärgerlich vor sich hin, während sie den letzten Teller abtrocknete und an seinen Platz stellte.

Wunder, auf so was war ja nun echt Verlass. Sie streckte ihre Hand nach der Rotweinflasche aus und zündete sich eine Zigarette an.

* * *

Ólafur stellte Teller und Besteck zu dem anderen Geschirr ins Waschbecken. Das Spülen hatte Zeit bis nach Ostern. Vielleicht würde ja auch Hólmfríður das morgen erledigen, die seltenen Male, wenn sie sich blicken ließ, packte das Mädchen manchmal zu.

Er mixte sich einen Drink und machte es sich wieder in seinem Sessel bequem. Mit Beefeater, Tonic und Gottes Auserwählten im Alpha-Sender verging der Abend in gewohnter Weise, bis Ólafur schließlich gegen drei in die Falle kroch.

2 Sonntag

Der Ostersonntag begann genau wie die meisten anderen Tage mit Kopfschmerzen, steifem Hals und schmerzhaftem Harndrang nach viel zu wenig Schlaf. Ólafur machte danach zwar wieder einen Versuch, noch einmal einzuschlafen, aber das gelang ihm genauso wenig wie zuvor. Als er sich schließlich ankleidete, wählte er zur Feier des Tages seine beste Hose und ein einigermaßen sauberes Hemd aus.

Das Hemd war ihm allerdings etwas zu eng geworden, zwischen den aufspringenden Knöpfen war das hellgraue Unterhemd zu sehen. Er besaß aber kein anderes, das diesem heiligen Tag angemessen gewesen wäre. Mittags aß er wieder ein Fertiggericht der Firma 1944, die sich auf alleinstehende Isländer spezialisiert hatte, geräuchertes Lammfleisch mit Kartoffeln in Mehlschwitze und Beilagen. Zu Ostern musste es ja etwas Besonderes sein. Dann telefonierte er dreimal, was ungewöhnlich war.

Zuerst rief er seinen Sohn Bárður Áki an, der ihm versprach, am nächsten Tag zur verabredeten Zeit zu erscheinen. Der Junge – der allerdings bereits auf die vierzig zuging – war wie immer keineswegs sonderlich erpicht auf diesen Besuch, aber Ólafur machte sich nichts daraus. Wichtig war nur, dass er vorhatte zu kommen, dann bestand immer noch Hoffnung. Danach telefonierte er mit seiner Tochter Hólmfríður. Wie gewöhnlich war sie noch abweisender als ihr Bruder, aber schließlich erklärte sie sich doch bereit, ihr Versprechen einzuhalten, genau wie ihr Bruder. Zum Schluss rief er bei Sigurlaug an, doch bei ihr meldete sich wie immer nur der Anrufbeantworter. Dagegen war nichts zu machen. Er leierte sein Sprüchlein auf den Anrufbeantworter und legte auf. Auch sie würde zum Licht gelangen. Früher oder später würde auch sie das Licht sehen, daran hatte er nicht den geringsten Zweifel. Dann setzte er sich wieder vor den Fernseher und wartete darauf, dass es halb vier wurde.

* * *

»… und denk daran, dass Gott dich liebt und dass du nur durch ihn errettet werden kannst. Ich vergebe dir, und das tut der Herr auch. Dein Ehemann in Christus, Ólafur.« Als Ólafur aufgelegt hatte, drückte Viðar auf die Löschtaste und wandte sich Sigurlaug zu, knallrot im Gesicht.

»Ist das nicht zum elften Mal in dieser Woche?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Das zehnte, elfte oder das zwanzigste Mal, was für eine Rolle spielt das? Der Mann hat sie nicht mehr alle, und das weißt du. Für mich ist er wie ein kläffender und bissiger Köter.«

»Ich halte nichts von kläffenden und bissigen Kötern«, entgegnete Viðar. »Und früher bei uns auf dem Land wurde mit …«

»… bissigen Kötern nicht lange gefackelt, ich weiß«, unterbrach ihn Sigurlaug. »Das sagst du nicht zum ersten Mal.« Sie legte den Mascarastift ab und griff nach dem Lippenstift. »Wir haben getan, was wir konnten – und du hättest diese Nachricht nicht löschen sollen. Die haben uns doch darum gebeten, das aufzubewahren, es nicht zu vernichten. Sie schürzte die Lippen und beugte sich mit gezücktem Lippenstift zum Spiegel vor.

»Kein Problem, wenn das ein altmodischer Anrufbeantworter mit einer Kassette wäre«, sagte Viðar, der sich wieder etwas beruhigt hatte. »Ich finde das einfach ausgesprochen lästig, dass die Bullen jedes Mal hierherkommen, wenn dieser Idiot anruft.« Er befasste sich wieder mit seinem Krawattenknoten.

»Nun hab dich doch nicht so«, sagte Sigurlaug und verzog den Mund, bis sich der Lippenstift wunschgemäß verteilt hatte. »Es ist nicht schön, schlecht über Leute zu reden, die arm dran sind. Und ich war ja schließlich dreißig Jahre mit ihm verheiratet, wenn er ein Idiot ist, was bin ich dann?«

»Du? Du bist ein Wunder und ein Engel. Das bist du, denn du hast ihn all diese Jahre ertragen können.«

»Ertragen können habe ich ihn nur zehn Jahre. Ich brauchte bloß ziemlich lange, um mich dazu aufzuraffen, ihm den Laufpass zu geben, ein Wunder bin ich deshalb nicht. Er war ja auch nicht immer so, dieses fromme Gesülze hat er erst seit ein paar Jahren drauf. Nicht, dass das andere besser war, das will ich nicht behaupten. Aber ich verstehe nicht, warum du die Aufzeichnungen immer gleich löschst, dieses Gerät kann bis zu hundert Nachrichten aufnehmen. Wenn wir das Zeug einen Monat sammeln würden, könnten sie das dann auf einmal abhören. Vielleicht würden diese Typen da am Hlemmur dann endlich mal was unternehmen.«

»Pah«, gab Viðar von sich. »Die und was unternehmen.« Er schlang die Arme um seine Frau und sah sie im Spiegel an. »Die werden überhaupt nichts in dieser Sache unternehmen, diese Deppen, davon bin ich überzeugt«, sagte er und klang ärgerlicher als beabsichtigt. »Bislang haben sie jedenfalls gar nichts gemacht, und sie werden es auch in Zukunft nicht tun. Das ist genau wie bei vielen anderen Dingen: Wenn man möchte, dass etwas geschieht, nimmt man es am besten selber in Angriff.«

Sigurlaug zog die Brauen hoch. »Und was glaubst du, was du in Angriff nehmen kannst, mein Lieber?«

Er ließ sie los und ging in den Flur. »Ich weiß es nicht«, sagte er scharf, »aber irgendetwas muss unternommen werden, so viel steht fest. Irgendwie muss dieser alte Zausel zu Verstand gebracht werden. Kommst du jetzt endlich?« Ungeduldig und herrisch klimperte er mit dem Schlüsselbund. Sigurlaug wischte sich ein unsichtbares Stäubchen vom Rock, bevor sie ihm ohne Hast folgte.

»Ja, ja, ich komme. Reg dich ab.« Viðars Ausdrucksweise gefiel ihr nicht, weder das, was er gesagt hatte, noch wie er es gesagt hatte. Bislang war sie davon ausgegangen, dass sie von dem Tag an, an dem sie Ólafur vor die Tür gesetzt hatte, nie wieder solch unerträglichem Verhalten ausgesetzt sein würde. Sie war einigermaßen überrascht gewesen, wie wenig Widerstand Ólafur letztendlich geleistet hatte, wie schnell er den Kampf aufgab, als sie endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte und irgendwo in dem Wrack, das sie geworden war, noch ihr altes Selbst wiederfand, und dass sie weiter den Mut besessen hatte, sich gegen ihn aufzulehnen und ihm den Stuhl vor die Tür zu setzen.

Zwanzig Jahre, zwanzig gute Jahre waren vergeudet, weil sie es einem totalen Versager gestattet hatte, sie ihr zu stehlen. Sie dachte an die ersten Wochen, nachdem sie ihn an die Luft gesetzt hatte. Die Psychologin und die Damen in der Frauenselbsthilfe gaben sich zwar alle Mühe, die ganze Schuld auf Ólafur abzuschieben, aber sie gab sich mit dieser Erklärung nicht ganz zufrieden. Sie war nicht so erzogen worden, immer den anderen, nur nicht sich selber die Schuld am eigenen Missgeschick zu geben. Und an der eigenen Charakterschwäche. Im tiefsten Inneren war sie sich vollkommen sicher und ließ sich auch nicht davon abbringen, dass auch sie in irgendeiner Form Schuld hatte, auch wenn sie inzwischen nachgegeben hatte und dazu übergegangen war, diese mehr oder weniger auf das Konto von Ólafur zu schreiben.

Nein, sie war gegenüber Ólafur viel zu lange viel zu nachsichtig gewesen. Fehler waren aber dazu da, dass man aus ihnen lernte, und Viðar sollte nicht damit durchkommen, so mit ihr zu reden. Sie herumzukommandieren wie ein Dienstmädchen.

Nach dem Gottesdienst, dachte sie, während sie die Haustür hinter sich schloss, ich rede nach dem Gottesdienst mit ihm. Und blase ihm den Marsch, falls nötig …

In einem aber hatte Viðar selbstverständlich Recht. Es musste etwas in Bezug auf Ólafur unternommen werden, und zwar so bald wie möglich.

* * *

Ólafur überprüfte ein Kabel nach dem anderen und vergewisserte sich, dass sie samt und sonders richtig angeschlossen waren, dass alle Tasteneinstellungen mit den Bedürfnissen des Meisters übereinstimmten. Danach ging er in den Saal zurück und setzte sich in der dritten Reihe ganz links hin. Das war seit seinem ersten Besuch im Tempel der WAHRHEIT sein Platz gewesen, und hier fühlte er sich am wohlsten. Die Atmosphäre im Saal war wie elektrisiert, und das Raunen steigerte sich, je mehr Menschen sich einfanden. Es lag auf der Hand, dass die Gemeinde große Erwartungen hegte. Und sie wurde auch nicht enttäuscht. Der Meister war an diesem Abend ganz besonders in Fahrt, so als hätte er zur Feier des Tages noch eine Extra-Inspiration von Gott bekommen. Er legte seiner Predigt eine Textstelle aus dem zweiten Buch Mose zugrunde, und Ólafur freute sich unwillkürlich darüber, seinem Gefühl und nicht Haushaltstraditionen vergangener Zeiten gefolgt zu sein, indem er das geräucherte Lammfleisch und nicht das Kassler gekauft hatte.

»Und auf diese Weise sicherte der Herr die Zukunft des Reiches Israel bis in alle Ewigkeit«, erklärte der Meister, »bis zur Wiederrichtung von Jerusalem und Christi Wiederkehr, von der wir wissen, dass sie nah bevorsteht. Denn, meine lieben Brüder und Schwestern, die Zeichen dafür sehen wir allenthalben am Himmel. Seht den tobenden Sturm, der Bäume und Menschen fällt, seht die Gottlosen, die nach ihrer eigenen Vernichtung schreien, ja, seht das Gift, das an jedem Tag durch isländische Seelen und Körper flutet – und-nun-alle-miteinander: Ameen!«

Amen- und Halleluja-Rufe gingen Ólafur wie von selbst über die Lippen, und sie kamen aus den Tiefen seiner Seele. Anderthalb Stunden nachdem er das Podium betreten hatte, bat der Meister um den Segen Gottes für alle Anwesenden und wankte von der Bühne, der Heilige Geist hatte ihn völlig ausgelaugt.

Ólafur brauchte einige Minuten, um sich wieder zurechtzufinden. Danach begab er sich nach vorn in die Eingangshalle und trank Kaffee mit denen, die noch nicht gegangen waren. Die Gespräche waren lebhafter als gewöhnlich, und er lauschte interessiert und wohlwollend einer Gruppe von jungen Leuten, die darüber diskutierten, wie man sich gegen das hemmungslose Agitieren von Irrgläubigen zur Wehr setzen könnte, die mit ihren Lügen über die Leiden von palästinensischen Ungläubigen und ihren Verleumdungen in Bezug auf das Heilige Land anscheinend ungehinderten Zugang zu den Medien hatten. Er öffnete den Mund, aber nur, um ihn gleich wieder zu schließen. Aus Erfahrung wusste er, dass die jungen Leute wenig Wert auf seine Diskussionsbeiträge legten. Als der letzte Versammlungsgast gegangen war, schloss Ólafur die Tür ab und schlenderte zurück in den Saal, um noch das ein oder andere in Ordnung zu bringen, bevor er seine Windjacke anzog. Anschließend ging er nach unten und verließ das Haus durch die Hintertür. Er war schon fast beim Auto, als ihm einfiel, dass er wahrscheinlich vergessen hatte, den Strom abzuschalten. Er ging zurück in den Gemeindesaal, wo sich sein Verdacht bestätigte. Ólafur schaltete die Anlage aus und blickte sich um. Da lag etwas in der Luft – etwas Wunderbares.

Ólafur ging noch einmal zu seinem Platz und setzte sich. Schloss die Augen. Er ignorierte das leichte Ziehen im Kreuz und konzentrierte sich stattdessen darauf, die Atmosphäre in sich aufzusaugen, das Göttliche.

Eine halbe Stunde später schreckte er aus einem friedlichen Schlummer hoch und musste unwillkürlich lächeln. Göttlich war das nicht gerade gewesen. Aber war es nicht genau das, was ihm fehlte? Ein kleines Nickerchen zum Ausgleich für die Nächte mit wenig Schlaf? Er richtete sich vorsichtig auf, ging wieder nach unten und erschrak fast zu Tode, als er sich auf einmal zwei kraftstrotzenden bärtigen und kahlgeschorenen Riesen gegenüber sah. Sie schienen nicht erfreut über diese Begegnung zu sein, im Gegensatz zu den dick angemalten Mädchen, die ihnen auf den Fersen folgten und strahlend lächelten.

»Mein lieber Ólafur, mein genialer Helfer, bist du immer noch hier?«, sagte der Meister, der mitsamt einem kleinen, fettleibigen und wie aus dem Ei gepellten Mann den Schluss der Truppe bildete. Irgendwie kam dieser kleine Mann Ólafur bekannt vor, doch auf die Schnelle konnte er sich nicht auf seinen Namen besinnen. Er wurde rot. Es passierte ja schließlich nicht jeden Tag, dass er vom Meister so leutselig angeredet wurde.

»Ja, ich – entschuldige bitte, da gab es ein kleines Problem mit der Anlage, ich musste …«

»Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, mein lieber Ólafur.« Der fette kleine Mann warf fragende Blicke auf den Meister und Ólafur, die Kraftprotze verhielten sich abwartend. Mit einer Handbewegung schickte Meister Magnús die Leute in sein Büro am Ende des Korridors.

»Nein, mein lieber Ólafur«, fuhr der Meister fort, als sie allein zurückgeblieben waren, »wie gesagt, du brauchst mich nicht um Entschuldigung zu bitten, das müsste viel eher ich tun, weil ich dir mit deinem kranken Rücken diese ganze Arbeit zumute. Aber wir wissen, dass alles zur Ehre Gottes geschieht und am Jüngsten Tage belohnt wird.«

»Nein, nein, das ist doch wirklich keine große Sache«, beeilte sich Ólafur zu versichern. »Ich bin doch dankbar dafür, dass ich … dass ich auch etwas beisteuern kann.« Er zögerte. Es ging ihn natürlich gar nichts an, und wahrscheinlich gab es dafür auch die normalsten Erklärungen der Welt. Trotzdem konnte er sich nicht im Zaum halten, er musste einfach fragen. »Diese … diese Leute da«, stammelte er, »die da in dein Büro gegangen sind … Der Mann da, dieser kleine Dicke, ist das nicht … Wer ist das noch?« Er befürchtete, den Meister mit seiner Neugierde zu kränken, doch Magnús lächelte nur milde und legte seinen Arm um Ólafurs Schultern.

»Mein lieber Ólafur«, sagte er, während er ihn sanft, aber bestimmt in Richtung Tür schob. »Es spielt doch keine Rolle, wie er heißt. Er ist ein verirrtes Schaf, genau wie die anderen, die bei ihm waren. Einer von vielen, von allzu vielen auf dieser Welt. Und wer ist mehr auf den Guten Hirten angewiesen als eben das verlorene Schaf, mein lieber Ólafur?«

Ólafur schämte sich für seine gottlosen Gedanken. Für einen Augenblick hatten sich Zweifel bei ihm eingeschlichen, vielleicht sogar Misstrauen gegenüber dem Meister. Er hätte es besser wissen müssen. Der Meister segnete ihn zum Abschied und schloss die Tür hinter ihm.

Ólafur ging eilig zu seinem treuen, zwölf Jahre alten Hyundai Accent, der wie immer sofort ansprang. Kurz nachdem er sich zur WAHRHEIT bekehrt hatte, war ihm in den Sinn gekommen, dass es vielleicht nicht richtig war, ein Auto aus einem Land zu fahren, das nicht im Licht lebte, einen von gottlosen Händen gebauten Wagen. Er hatte seinerzeit dem Meister seine Besorgnisse unterbreitet, doch der hatte ihm versichert, so etwas sei keine Sünde, und zudem seien viele Koreaner Christen. Deswegen könnte genauso gut ein Mann letzte Hand an diesen Glückstreffer von Auto gelegt haben, der Gott im Herzen trage.

Darüber war Ólafur außerordentlich erfreut gewesen, denn das Auto hatte sich bestens bewährt, und er hatte nicht die geringste Lust, sich mit dem Kauf eines Gebrauchtwagens herumschlagen zu müssen, etwas Unangenehmeres konnte er sich kaum vorstellen. Bei dem Gedanken an dieses Gespräch, eines von vielen, das ihm mit dem Meister vergönnt gewesen war, seitdem er nicht mehr in die Irre ging, sondern auf dem einzig wahren Pfad wandelte, wurde ihm warm ums Herz, und die letzten Reste des Argwohns wurden hinweggefegt. Auf dem Weg zu seiner Wohnung in Krummahólar murmelte er ständig vor sich hin.

»Nicht zurückschauen, das ist vergangen, dort ist die Trauer, die Sünde, die Schande«, brummte er. »Lebe mit dem Herrn, lebe wohlbehalten, denn bei ihm sind Freude, Glück und ewige Seligkeit …«

* * *

»Tür zu«, sagte der Mann leise. Magnús tat wie geheißen und nahm widerspruchslos auf dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch Platz, da der Gast sich auf seinem Schreibtischstuhl breitgemacht hatte. »Wer war das?«

Die schwarz gekleideten Gorillas, die dem Mann auf Schritt und Tritt folgten, standen jetzt mit vor der Brust verschränkten Armen rechts und links von ihm und starrten Magnús an. Die beiden Mädchen dagegen saßen auf dem Sofa und machten einen ziemlich abgedrehten Eindruck, genau wie die meisten anderen Begleiterinnen dieses Mannes. Meister Magnús tat, als würde ihm diese Unverschämtheit nichts ausmachen, aber sie hatte ihn unbestreitbar etwas aus der Fassung gebracht. Bislang hatte der Mann ihm die selbstverständliche Höflichkeit erwiesen, sich auf den Besucherplatz zu setzen und ihm den Schreibtischstuhl zu überlassen. Er räusperte sich.

»Das war nur Óli, der Elektriker. Ein armes Schwein, vollkommen harmlos. Invalide und Alkoholiker.«

»Er hat mich erkannt. Was hat er gesagt? Und was hast du gesagt?«

»Mach dir keine Gedanken. Ich glaube nicht, dass er dich erkannt hat. Und selbst wenn dem so wäre, ist es völlig überflüssig, sich wegen dem armen Óli Gedanken zu machen.«

»Besten Dank, ich entscheide selber, worüber ich mir Gedanken mache, ich brauche dazu keinen Rat von dir. Und genauso wenig von Gott.« Jetzt setzte er sein Lächeln auf, das manchmal Gutes verhieß. »Du hast mir grünes Licht gegeben, du hast gesagt, dass alle weg seien.«

»Ja, ich glaubte, dass …«

»Sei das nächste Mal sicher. Glauben bringt nichts, mein lieber Freund. Wie heißt Óli der Elektriker wirklich? Óli oder Ólafur? Wessen Sohn ist er? Wo wohnt er? Wie versoffen ist er?«

Magnús befeuchtete so unauffällig wie möglich die Lippen. Sein Gast lächelte immer noch, die personifizierte Geduld. Das wiederum verhieß in diesem Fall nichts Gutes. So war es auch das erste Mal gewesen, als Magnús es erlebte. Der Unterschied war der, dass er das damals erst begriffen hatte, als es zu spät war.

* * *

Später an diesem Abend, als Ólafur sich eine weitere Packung mit geräuchertem Lammfleisch nebst Zutaten und außerdem drei Gin Tonics zu Gemüte geführt hatte, begann sich wieder der Zweifel in Ólafurs Herz und Sinn einzunisten. Er konnte sich zwar immer noch nicht daran erinnern, woher er den Mann kannte, aber die Begegnung mit ihm weckte unangenehme und unwillkommene Fragen in ihm. Er versuchte zwar nach Kräften, sie zu verdrängen, aber je mehr Gin er sich einverleibte, desto aufdringlicher wurden sie.

Beim vierten Glas beschloss er kurzerhand, den Meister persönlich anzurufen, nahm dann aber in allerletzter Sekunde Abstand davon. Der Meister hatte es ihm ja erklärt, was würde er jetzt denken, wenn Ólafur ihn anriefe und noch einmal um eine Erklärung bat? Aber er musste mit irgendjemandem reden.

Bárður konnte er nicht anrufen, der würde das bestimmt auf die schlimmste Weise auslegen, falls er überhaupt bereit wäre, mit ihm zu reden. Hólmfríður war keinen Deut besser. Sigurlaug würde wie immer nicht ans Telefon gehen, und dann blieben nur noch wenige übrig. Eigentlich niemand. Er war zwar seit mittlerweile vier Jahren in dieser Gemeinde, kannte aber keinen seiner Brüder und Schwestern im Herrn gut genug, um einfach so bei ihnen anzurufen, und erst recht nicht mit einem derartigen Anliegen. Sie würden ihm auch nur Vorwürfe machen, weil er dem Meister gegenüber Misstrauen an den Tag legte. Und ihn womöglich verraten. Nein, unter denen war niemand, mit dem man reden konnte. Oder vielleicht doch?

Ólafur erhob sich ächzend aus seinem Lazy Boy und holte das Telefonbuch. Er musste sich ganz vorsichtig ausdrücken und möglichst vermeiden, den Meister beim Namen zu nennen. Bloß nach diesen Leuten fragen – oder nach diesem einen Mann, der ihm bekannt vorkam, ihn beschreiben und hören, wie Ari darauf reagierte. Vielleicht würde er diesen Mann von der Beschreibung her erkennen und erklären können, was für eine Verbindung er zur WAHRHEIT hatte.

Genau so würde er es machen, Ari anrufen, ihm die Sache unterbreiten und ihn darum bitten, das für sich zu behalten. Das Gespräch beenden, falls Ari nach dem Grund für seine Neugierde forschte. Aber vielleicht war es besser, bis morgen zu warten, es würde wohl etwas schwierig sein zu erklären, weshalb er so spät am Abend dieses heiligen Tags zum Telefon griff. Dadurch könnte der Verdacht entstehen, dass etwas Ernstes dahintersteckte, und das galt es unbedingt zu vermeiden.

Ólafur schaffte es jedoch nicht, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken, und schließlich kapitulierte er. Er musste dieser Sache auf den Grund gehen, er musste sich irgendwie von diesen unchristlichen Zweifeln befreien.

Ari ging beim dritten Klingeln dran und war anscheinend noch hellwach.

* * *

Ari saß lange bewegungslos in seinem zweihundert Jahre alten, cognacfarbenen Ledersessel und dachte angestrengt nach. Selbstredend konnte man sich eine normale Erklärung für das vorstellen, was Ólafur ihm da gerade am Telefon erzählt hatte. Denkbar sogar, dass Magnús dem armen Kerl die Wahrheit gesagt hatte, er wusste selbst aus langjähriger Erfahrung, dass sich Menschen bekehren konnten, von denen man es am allerwenigsten erwarten würde. Aber wenn er seinen Bruder richtig kannte, steckte da etwas anderes dahinter, etwas, worüber er selber auch Bescheid wissen sollte. Bislang war er aber in nichts eingeweiht gewesen. Die fleischlosen Knöchel knackten bedenklich, als er die Finger lang zog und auf die dunkelrote Polstertapete auf der anderen Seite des Flurs starrte.

»Wer hat denn da noch angerufen, Liebling?«

Er blickte hoch. In der Schlafzimmertür stand seine Frau Selma im rosa Nachthemd, mit rosa Nase und besorgter Miene. Er machte eine abwehrende Handbewegung.

»Einer der Jungen vom Sender, da gab es Probleme mit der Übertragung. Geh wieder schlafen.«

»Aber …«

»Geh schlafen, Frau. Gott sei mit dir.«

Selma schniefte und strich sich über den Nasenrücken. »Na schön. Gott schütze dich, mein Freund.« Die Tür fiel leise hinter ihr ins Schloss, und Ari atmete auf. Natürlich konnte die Beschreibung von Ólafur auf alle möglichen Leute zutreffen. Und außerdem handelte es sich vermutlich nur um besoffenes Geschwätz, das jeglicher Grundlage entbehrte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass Ólafur ihn in ziemlich betrunkenem Zustand anrief, weil er sich nicht traute, den Meister wegen einer Sache zu belästigen, die ihm auf der Seele lag. Doch das hier war irgendwie anders und hatte unleugbar ziemlich seltsam geklungen.

Vielleicht war das die Erklärung dafür, weshalb Magnús in letzter Zeit so unnahbar und abwesend gewesen war. Und ziemlich gereizt. Als würde etwas auf ihm lasten, worüber er nicht einmal mit seinem Bruder sprechen konnte. Ari hatte mehr als einmal versucht, etwas aus ihm herauszuholen, seit er diese Veränderung bei Magnús bemerkt hatte, aber Magnús hatte alles weit von sich gewiesen, wovon sein Bruder redete. Doch Ari kannte seinen Bruder viel zu gut, um sich dadurch täuschen zu lassen. Da war etwas im Gange, die Frage war bloß, was. Und ob oder vielleicht auch was dieser Mann, wer immer er war, damit zu tun hatte.

Eine halbe Stunde, nachdem Ólafur ihm das feierliche Versprechen abgenommen hatte, dieses Gespräch dem Meister gegenüber mit keinem Wort zu erwähnen, nahm Ari den Hörer zur Hand und wählte die Nummer seines großen Bruders.

»Mein lieber Bruder, wir müssen miteinander reden.«

3 Montag

Ólafur fühlte sich nach diesem Gespräch und dem fünften Gin Tonic wesentlich wohler; trotzdem schreckte er zusammen, als kurz vor eins in der Nacht zum Ostermontag noch jemand an seine Tür klopfte. Er beruhigte sich aber schnell wieder, denn er glaubte zu wissen, wer da unterwegs war. Er hievte sich aus dem Sessel, streckte die Glieder und bedauerte zutiefst, nicht auch seine Ibuprofen-Vorräte ergänzt zu haben. Ein schneller Blick durch den Spion bestätigte seine Vermutung.

»Was stehst du denn da so dumm auf dem Flur rum, Úlfur«, sagte er lächelnd. »Du weißt doch, dass du hier immer willkommen bist. Komm herein, in Gottes Namen.«

»Es war schon so spät, und da wollte ich nicht einfach die Bude stürmen«, sagte der Nachbar entschuldigend und folgte Ólafur ins Wohnzimmer.

»Du weißt doch, dass ich nicht zu denen gehöre, die früh ins Bett gehen. Nimm Platz.«

Úlfur blickte sich unschlüssig um. »Hör mal, du hast nicht zufällig noch ein paar Tropfen für mich übrig? Bei mir zu Hause ist total Ebbe, ich hab nicht drangedacht, das Zeug …«

»Nun schenk dir schon einen ein, Junge. Du weißt ja, wo ich das aufbewahre. Im Kühlschrank ist Tonic, kaltes Wasser ist im Kran, und Eiswürfel sind im Eisfach. Aber Zitrone gibt es nicht«, fügte er entschuldigend hinzu, »die hab ich glatt vergessen.«

»Macht nix«, erklärte Úlfur erleichtert und ging in die Küche.

»Ich hatte dich gar nicht erwartet«, rief Ólafur hinter ihm her. »Ich dachte, du würdest mindestens bis morgen Abend in diesem Ferienhaus bleiben – hast du das nicht gesagt? Und wo ist Tinna?«

»Die ist noch dageblieben«, rief Úlfur zurück, »zusammen mit den Kindern. Ich hatte bloß keine Lust, da noch länger rumzuhängen.« Nun kehrte er mit einem Glas in der Hand ins Wohnzimmer zurück. »Prost«, sagte er mit gespielter Fröhlichkeit. »Prost auf die Freiheit.«

»Auf die Freiheit«, stimmte Ólafur zu und leerte sein Glas. »Bist du so nett und mixt mir auch noch einen, lieber Freund?« Úlfur streckte die Hand aus und nahm das Glas seines Gastgebers entgegen.

»Kein Problem.«

»Zwischen euch beiden gibt’s wohl wieder Probleme?«, erkundigte sich Ólafur.

»Nicht mehr als gewöhnlich«, seufzte Úlfur und füllte Ólafurs Glas auf, er hatte in weiser Voraussicht die Flaschen mit Gin und Tonic mit ins Wohnzimmer gebracht. »Aber ich hab echt keine Lust, jetzt darüber zu reden. Diese Weiber«, sagte er und reichte Ólafur das Glas, »du weißt ja, wie die sind.«

»Ja«, sagte Ólafur und nickte verständnisvoll, »das weiß ich leider nur zu genau. Aber weißt du, mein lieber Freund, sobald du IHM dein Herz öffnest und IHN hereinlässt, IHM gestattest, dich mit seinem Heiligen Geist zu erfüllen …«

Úlfur hörte nicht mehr hin, sondern nickte nur ab und zu mal mit dem Kopf, während er sein Glas so schnell wie möglich leerte, ohne es jedoch direkt in einem Zug runterzukippen.

»Könnte nicht einverstandener sein«, erklärte er schließlich und stand auf. »Also ich will dich nicht länger stören, du hast dir was im Fernsehen angeschaut, und ich geh jetzt lieber …«

»Nein, nein, nein, Úlfur, du störst doch gar nicht – überhaupt nicht!« Ólafur tastete nach der Fernbedienung und beeilte sich, den Fernseher auszuschalten. »Du bist doch gerade erst gekommen, Mensch, komm, jetzt setz dich wieder. Möchtest du nicht noch ein Gläschen?«

Úlfur grinste verlegen. »Doch ja, gern, aber verstehst du, ich muss noch … Ach, du weißt schon, ich hatte meinem Bruder versprochen, nach ihm zu schauen, sobald ich wieder in der Stadt wäre, der ist mal wieder in der Krise. Das verstehst du doch, Óli? Ist man nicht der Hüter seines Bruders?«

Ein mattes Lächeln umspielte Ólafurs Lippen. »Doch, das ist richtig, da hast du völlig Recht«, murmelte er. »Man ist der Hüter seines Bruders.« Die Enttäuschung war ihm anzusehen und anzuhören. Es fehlte nicht viel, und Úlfur hätte Gewissensbisse bekommen. Er knirschte mit den Zähnen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Hör mal, Óli, ich hab gesehen, dass du noch ganz nette Vorräte hast. Könntest du mir nicht bis Dienstag ein paar Tropfen leihen?«

Er griff nach der halb vollen Ginflasche und hielt sie mit fragender Miene seinem Gastgeber unter die Nase. Ólafur sah ihn aus traurigen Hundeaugen an, aber Úlfur ging nicht darauf ein.

»Ja, doch, du kannst das gerne mitnehmen«, sagte Ólafur schließlich, und Úlfur atmete auf. »Aber du musst dann auch endlich mal mit mir zu einer Versammlung gehen, einverstanden? Und bring doch auch Tinna mit und die Kinder! Ich weiß, dass euch das wirklich helfen würde, wirklich sehr helfen würde. Am Dienstag ist wieder Versammlung, was meinst du dazu?«

»Man kann nie wissen«, antwortete Úlfur wie gewöhnlich, »ich melde mich. Und vielen Dank …« Er schwenkte noch einmal die Flasche, drehte sich auf dem Absatz um und beeilte sich, aus der Wohnung herauszukommen. Er ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und ging so entschlossenen Schritts zum Aufzug, dass es im hellhörigen Korridor widerhallte. Er drückte auf den Knopf, wartete auf den quietschenden Aufzug, ging kurz hinein, um auf den Knopf fürs Erdgeschoss zu drücken, und huschte sofort wieder hinaus. Er zog die Schuhe aus und schlich auf Zehenspitzen in seine Wohnung, wo er sich den nächsten Drink mixte und Steven Seagal in den DVD-Player einlegte.

Ólafur wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, als er durch den Spion beobachtete, wie Úlfur vom Lift zurück in seine eigene Wohnung schlich, deren Eingang seinem eigenen direkt gegenüberlag. Er schob die Klappe vor den Spion und schwankte ins Wohnzimmer zurück.

»Was der Kerl sich nicht alles einfallen lässt«, murmelte er. »Der verlorenen Seelen sind viele.« Das erinnerte ihn wieder an den Meister und dessen Bruder Ari. Und an den Mann, der anscheinend der Anführer dieser Leute gewesen war, die den Meister nach der Versammlung besucht hatten, auch wenn er als Letzter das Haus betreten hatte. Diese Szene beschäftigte ihn immer noch, trotz der Erklärungen des Meisters und trotz der vernünftigen Argumente seines Bruders, des Fernsehdirektors. Er holte die nächste Ginflasche aus dem Vorratsschrank und überlegte angestrengt, kam aber zu keinem Ergebnis.

Seine Besorgnis verringerte sich nicht, als ihm blitzartig einfiel, woher und warum er diesen Mann kannte, auch wenn er sich immer noch nicht an seinen Namen erinnern konnte. Am liebsten hätte er Ari noch einmal angerufen, um ihm das zu sagen, aber er fand, dass es inzwischen viel zu spät geworden war, um den Fernsehdirektor zu stören. Das hatte Zeit bis morgen, und bis dahin mussten Gott und der Gin genügen, um seine Zweifel zu beschwichtigen.

Diese heilige Zweifaltigkeit tat ihre Dienste, Ólafur grinste über beide Ohren, als die Erleuchtung kam.

»Natürlich«, murmelte er. »Natürlich. Wer bin ich denn, dass ich an Wundern zweifle? Hab ich nicht am eigenen Leib eines erlebt?«

»Du solltest dich was schämen, Ólafur Áki Bárðarson«, brummte er in das Schweigen seines übel riechenden Wohnzimmers hinein. Natürlich hätte er deswegen nicht misstrauisch zu werden brauchen, ganz im Gegenteil, es hätte ihm vielmehr neue Hoffnung einflößen sollen: Wenn man einen Mann wie diesen retten konnte, über den er im Laufe der Zeit vieles, und zwar wenig Schönes, gelesen hatte, dann waren alle zu retten. Auch Bárður und Hólmfríður. Vielleicht sogar Sigurlaug, und nicht zu vergessen Úlfur und Tinna. Angesichts der Kraft, über die der Meister verfügte, würde eine einzige Versammlung genügen. Nein, korrigierte er sich unwillkürlich, es war die Kraft der Gnade des Herrn, die sich im Meister offenbarte.

Ólafur lächelte zufrieden. Bárður und Hólmfríður würden ebenfalls zu einer Versammlung mitkommen, und zwar ganz bald, da war er sich sicher. Nach dem morgigen Tag würden sie nicht anders können, denn die Habgier war nun mal stärker als alles andere. Auf diese Weise würde eine der sieben Todsünden sie zum Schluss erretten und der liebenden Umarmung des Herrn zuführen. Was wiederum nur bewies, dass die alte Weisheit stimmte: Die Wege des Herrn waren unerforschlich.

Beim nächsten Schluck kam ihm die nächste Erleuchtung. Die Habgier würde seine Kinder bekehren, und genauso würde die Sucht Úlfur und Tinna zu ewigem Leben verhelfen. Ólafur war fest entschlossen, Úlfur das nächste Mal, wenn er kam, um Alkohol von ihm zu schnorren, klarzumachen, dass er nicht einen einzigen Tropfen mehr bekäme, falls er nicht endlich zu seinem Versprechen stand, mit zu einer Versammlung zu kommen. Und damit basta.

Ólafurs Freude über seinen Entschluss hielt jedoch nicht lange vor. Als er sich mit verschwommenem Blick umsah, überkam ihn wieder das Elend. Aus bitterer Erfahrung wusste er, dass er da etwas unternehmen musste, und zwar rasch, wenn er nicht wieder in Selbstmitleid und Zweifel versinken wollte. Deswegen mixte er sich rasch noch einen weiteren Drink und schaltete den Fernseher wieder ein. Das Glück war mit ihm.

»Eeehrrre sei Gott«, verkündete der Meister.

»Ameen«, sagte Ólafur laut.

Es war schon nach drei, als er endlich ins Bett torkelte. Mit seiner Sonntagshose auf den Hacken schlief er ein.

* * *

Am Montagmorgen ging es Ólafur noch dreckiger als gewöhnlich, sowohl die Kopfschmerzen als auch der steife Hals waren schlimmer, und der Druck auf der Blase war geradezu unerträglich, als er kurz vor neun aus dem Schlaf hochschreckte. In Schweiß gebadet, zitterte er gleichzeitig wie Espenlaub. Er sprang aus dem Bett und wollte schnell ins Badezimmer, fiel aber der Länge nach hin, weil er die Sonntagshose vergessen hatte, die ihm um die Knöchel schlackerte. Im Sturz ging ein ordentlicher Guss aus der Blase ab. Der Rücken reagierte mit heftigen Schmerzen, und nur unter Aufbietung aller Kräfte schaffte er es im letzten Augenblick noch ins Badezimmer, bevor es zur Katastrophe kam.

Ganz entgegen der Gewohnheit schlummerte er nach dem Wasserlassen noch einmal ein, aber nicht lange. Noch vor zehn war er wieder auf den Beinen, und eine Stunde später, nach der zweiten Kaffeetasse, erinnerte er sich an den Sturz. Er machte sich auf die Suche nach einem Lappen, um die Bescherung aufzuwischen, und den warf er anschließend zurück in den übervollen Wäschekorb.

Den Ärzten zufolge war so etwas kein Anlass zur Besorgnis, sie behaupteten sogar, es handele sich um einen ganz normalen Zustand bei einem Menschen seines Alters. Dagegen könne man nichts anderes tun, als abends weniger Flüssigkeit zu sich zu nehmen.

Diese Argumente fand Ólafur keineswegs überzeugend. Die verdammte Blase war ja wohl kaum mit dem Alter zusammengeschrumpft? Musste sie sich nicht ebenso ausdehnen wie andere Organe, beispielsweise der Magen? Er beförderte die beste Hose ebenso wie die Unterhose in den Wäschekorb und zog seine zweitbeste Hose an. Sie war ebenso grau wie die anderen.

Der Gedanke, sich einen kleinen Drink zu genehmigen, bevor Bárður kam, war verlockend, das würde gegen das Zittern und die Rückenschmerzen helfen. Heute gab es keine Versammlung, und da alles, was er brauchte, im Haus war, würde er tagsüber auch nicht mehr Auto fahren müssen. Ólafur warf einen Blick auf die Uhr, Viertel nach zwölf. Er schaltete das Radio ein und holte die Ginflasche. Nie vor zwölf, war sein Motto, und Gott hatte ihm geholfen, sich daran zu halten. Alles unter Kontrolle, dachte Ólafur, dank Gottes Gnadenkraft und Segen war alles in Ordnung.

Den ersten Schluck genehmigte er sich zu den Mittagsnachrichten um zwanzig nach zwölf. Das Wohlgefühl, das ihn durchrieselte, war ähnlich wie bei einer Dusche nach einem kalten und anstrengenden Arbeitstag.

»Also denn, mein lieber Bárður«, murmelte er in das halb leere Glas, »jetzt könntest du dich so langsam blicken lassen.«

* * *

Meister Magnús betrat entschlossenen Schritts das Büro seines Bruders und machte die Tür unnötig fest hinter sich zu.

»Da bin ich«, sagte er. »Was willst du? Was ist so dringend?«

Ari wandte sich vom Monitor ab und faltete die Hände im Schoß.

»Setz dich, Bruder«, sagte er gelassen. »Möchtest du einen Kaffee?«

Magnús schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich keinen Kaffee trinke. Was willst du?« Er setzte sich.

»Ja, richtig. Kaffee ist vom Bösen«, entgegnete Ari lächelnd. »Es waren ja auch katholische Mönche, die ihn zuerst aufgebrüht haben, um sich für ihre papistischen Morgengebete wachzuhalten, nicht wahr? Ich vergesse das manchmal.«

»Haha«, sagte Magnús kurz angebunden. »Was willst du?«

Er wirkte nervös und gereizt, und Ari war überzeugter denn je, dass ihn etwas belastete, und zwar etwas ungewöhnlich Schweres.

»Ich wollte einfach mit dir reden«, sagte er schließlich. »Dich mal wieder sehen. Du hast in letzter Zeit ein etwas merkwürdiges Verhalten an den Tag gelegt, und ich mache mir schlicht und ergreifend Sorgen um dich.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Was ist los?«

Magnús schüttelte den Kopf und stand auf. »Nichts ist los. Sonst noch etwas?«

Ari überlegte eine halbe Sekunde, ob es wichtiger war, das Versprechen, das er Ólafur gegeben hatte, zu halten, oder herauszufinden, was hinter Magnús’ seltsamem Verhalten in letzter Zeit steckte.

»Ja«, sagte er, »da ist in der Tat noch etwas. Du hast gestern Abend Besuch gehabt …«

Magnús setzte sich wieder.

* * *

Bárður zögerte. Vielleicht hatte Ragnar Recht, vielleicht war es an der Zeit, sich mit den Tatsachen abzufinden und damit aufzuhören, den Kerl zur Vernunft bringen zu wollen. Sich damit abzufinden, dass der Alte unverbesserlich dumm und gemein war. Er holte tief Luft und klopfte an die Wohnungstür. Es war ja schließlich sein Vater, und man durfte die Hoffnung nie aufgeben.

»Mein lieber Bárður!« Ólafur strahlte seinen Sohn an, als er die Tür öffnete. »Komm rein.«

Bárður folgte seinem Vater ins Wohnzimmer und rümpfte die Nase. Hier war lange nicht gelüftet worden, so viel stand fest. Die dicke Luft von abgestandenem Rauch wurde vom Qualm kürzlich gerauchter Zigaretten überlagert, und der säuerliche Schnapsgeruch aus dem verdreckten Teppich war fast stärker als die frische Fahne des Alten. Hinzu kam ein undefinierbarer Cocktail aus allem möglichen anderen Mief, und das im Verein mit dem Dreck und der Unordnung hätte beinahe dazu geführt, dass Bárður kehrtmachte und die Wohnungstür hinter sich zuschlug. Doch stattdessen ging er zur Balkontür und stieß sie weit auf. Es war erstaunlich warm draußen, sogar wärmer als in Kopenhagen, und Bárður lehnte sich gegen die Brüstung. Die Aussicht war nicht schlecht, in der Ferne die Bergkette der Bláfjöll, und in der Nähe Wellblechdächer in allen Farben des Regenbogens. Die Luft war hier unbestreitbar besser als in Vesterbro, wo er die letzten Jahre gelebt hatte. Die Luft und das Wasser waren das Einzige an dieser gotterbärmlichen Insel, was er vermisste. Und Hólmfríður. Er drehte sich um. Ólafur stand mit einem Glas in der Hand in der Tür.

»In Ordnung«, sagte Bárður, »da bin ich. Was willst du von mir?«

Sein Vater zuckte die Achseln und lächelte. »Dasselbe wie immer, mein lieber Junge. Dir helfen. Dich retten. Dir einen Weg aus der Sünde weisen …«

Bárður stöhnte. Ragnar hatte Recht gehabt, wie immer. Er bereitete sich auf das Schlimmste vor.

* * *

Einen kurzen Moment blickten sich die Brüder durch die Scheibe in Aris Büro in die Augen. Magnús winkte Ari noch einmal lächelnd zu, bevor er sich in seinen weißen Land-Cruiser-Jeep setzte und davonfuhr, als sei nichts vorgefallen.

Ari nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. Es fiel ihm schwer, zu einem Fazit zu kommen. Zwischen ihnen beiden hatte immer vollstes Vertrauen geherrscht, und er konnte sich nur schwer mit dem Gedanken abfinden, dass das jetzt nicht mehr galt. Aber wie er die Dinge auch drehte und wendete, es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich selber einzugestehen, dass er kein Wort von dem glaubte, was Magnús ihm während dieses kurzen und ungewöhnlichen Gesprächs aufgetischt hatte.

»Wem kann man vertrauen«, seufzte er laut, »wem kann man denn noch vertrauen, wenn man seinem eigenen Bruder nicht vertrauen kann?« Christus an der gegenüberliegenden Wand sah ihn anklagend aus seinem goldenen Rahmen an, und Ari senkte den Kopf.

Nach kurzem Überlegen blickte er auf. Jetzt war seine Miene entschlossen; er musste mehr in Erfahrung bringen. Er stand auf, zog seine Krawatte zurecht und steckte sein Handy ein.

»Ich muss kurz weg«, sagte er zu der Sekretärin in der Rezeption. »Ich habe mein Handy dabei, falls mich jemand dringend erreichen muss. Und wenn ich dringend sage, dann meine ich es so.« Mit einem Kopfnicken eilte er hinaus in das ungewöhnlich milde Wetter.

* * *

»Du hast dich gestern gar nicht blicken lassen«, sagte Ólafur vorwurfsvoll. Er stand in der Tür zur Waschküche und sah seiner Tochter zu, wie sie die Wäsche sortierte.

»Nein«, stöhnte Hólmfríður, »und ich werde auch morgen Abend nicht zu der Versammlung erscheinen, wenn du darauf anspielst. Und auch nicht am Samstag oder am Sonntag. Wie oft muss ich dir das noch sagen, Papa?« Hólmfríður zog eine Grimasse. Es war nicht das erste Mal, dass die Wäsche nach Urin stank, aber so schlimm wie diesmal war es noch nie gewesen. Machte der Alte sich jetzt schon in die Hose? Wundern konnte es einen nicht …

Hólmfríður versuchte, nicht zu denken und nicht zu atmen, während sie die Buntwäsche in die Waschmaschine stopfte. Die seltenen Male, die sie ihn besuchte, wusch sie fast immer zwei Maschinen, erst die Kunststofftextilien, anschließend die Baumwolle. Dann nahm sie meist auch den Abwasch in Angriff, versuchte, im Wohnzimmer aufzuräumen und die Teppiche mit dem Staubsauger zu begehen. Nicht immer schaffte sie es, eine zweite Maschine in Gang zu setzen, und sie wartete nie darauf, bis das Programm zu Ende war. Aufhängen musste er das Zeug selber. Es kam ihr fast so vor, als würde der Alte zwischen ihren Besuchen nie selber Wäsche waschen, obwohl das eigentlich auch nicht sein konnte. Ihre Besuche waren sehr sporadisch geworden, seit er diesen frommen Fimmel bekommen hatte.

»Wo ich schon mal hier bin, könntest du mir vielleicht auch ein Glas anbieten, Alter«, sagte sie, als sie die Tür zur Waschküche hinter sich zugemacht hatte. »Was bist du eigentlich für ein Gastgeber?«