In einer kalten Winternacht - Ævar Örn Jósepsson - E-Book
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In einer kalten Winternacht E-Book

Ævar Örn Jósepsson

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  • Herausgeber: btb
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Manchmal ist der Preis tödlich, den du zahlen musst.

In einer kalten Winternacht wird in Reykjavik eine junge Frau mit elf Messerstichen brutal niedergemetzelt. Das Opfer ist die Jurastudentin Erla, die bei der »Kochtopf-Revolution« nach der Staatspleite Islands stets an vorderster Front war. Inzwischen sind die Proteste verebbt, aber Erla hat ihren Kampf weitergekämpft. Musste sie deshalb sterben? Für Katrin, Kommissar Árnis Kollegin, ist es ihr schwerster Fall: Sie kannte das Opfer und setzt alles daran, den Mörder zu finden. Befindet er sich gar in den eigenen Reihen?

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Seitenzahl: 585

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In einer kalten Winternacht wird in Reykjavik eine junge Frau mit elf Messerstichen brutal niedergemacht. Das Opfer ist die Jurastudentin Erla, die bei der »Kochtopf-Revolution« nach der Staatspleite Islands stets an vorderster Front war und auch vor der Konfrontation mit der Polizei nicht zurückschreckte. Inzwischen sind die Proteste verebbt, aber Erla hat ihren Kampf weitergekämpft. Wurde ihr das zum Verhängnis? Für Katrin, Kommissar Árnis Kollegin von der Kripo Reykjavik, ist es ihr schwerster Fall: Sie kannte das Opfer und setzt alles daran, den Mörder zu finden. Befindet er sich gar in den eigenen Reihen?

ÆVAR ÖRN JÓSEPSSON, Jahrgang 1963, studierte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg Philosophie und Englische Literatur. Seit 1994 arbeitet er als freiberuflicher Übersetzer und ist als Journalist für zahlreiche isländische Zeitungen und Magazine tätig. Jósepsson lebt in Reykjavík.

ÆVAR ÖRN JÓSEPSSON BEI BTB

Dunkle Seelen

Blutberg

Wer ohne Sünde ist

Verheißung

Ævar Örn Jósepsson

IN EINER KALTEN WINTERNACHT

Ein Island-Krimi

Aus dem Isländischenvon Coletta Bürling

Die isländische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel»Önnur Líf« bei Uppheimar, Reykjavík.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung August 2015

Copyright © 2010 by Ævar Örn Jósepsson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagfoto: © Getty Images/Bjarki Reyr; Shutterstock/Mykola Mazuryk

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-15567-4www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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I Juni 2010

Ein guter Tag. Im Geiste war er nur einmal zurück zu diesen unheilvollen Ereignissen geschweift, aber bloß für einen kurzen Augenblick, bevor es ihm gelang, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Auch die Medien behandelten sie jetzt eher am Rande. Die Wahlen und der offizielle Bericht über den Bankencrash hatten ihr Gesicht von den Vorderseiten der Zeitungen verdrängt, ihr Name war nicht mehr in aller Munde. Trotzdem wurde immer noch an sie erinnert. Seit einiger Zeit drehten sich die Nachrichten in diesem Fall darum, dass keine neuen Nachrichten vorlagen. Eigentlich sollte es doch Grenzen dafür geben, wie oft ein und dieselbe Meldung mit demselben Wortlaut wiederholt werden durfte.

Ja, es war ein guter Tag gewesen. Jetzt war er zu Hause und in Sicherheit, hier bestimmte er halbwegs selbst, ob und inwieweit er sich stören ließ. Natürlich konnte er die Welt nicht ganz ausschließen, er war ja kein Eremit in ländlicher Abgeschiedenheit. Aber wenn er vorgab, nicht zu Hause zu sein, dann war er nicht zu Hause.

Die Nacht würde noch besser werden, falls er nicht vergaß, seine Tabletten zu nehmen. In der ersten Zeit, nachdem das Unheilvolle geschehen war, hatte er kaum ein Auge zutun können, und die wenigen Male, wenn er tatsächlich eingeschlummert war, schreckte er unweigerlich nass geschwitzt aus dem Schlaf hoch, wimmernd wie ein Säugling, und das Herz im Brustkasten ratterte. Das war extrem unangenehm, und der Arzt hatte vollstes Verständnis dafür. Er verschrieb ihm bedenkenlos Beruhigungsmittel und Schlaftabletten.

Ganz selten fühlte er sich so gut, dass er glaubte, auf die Schlaftablette verzichten zu können. Jedes Mal passierte aber dasselbe – kaum hatte sein Kopf das Kissen berührt, kaum hatte er das Licht ausgeschaltet, als ihn schon die Gedanken an die verhängnisvollen Ereignisse oder vielleicht noch mehr die möglichen Folgen für ihn selbst überfielen, was zu Magen- und Darmkrämpfen und damit verbundenem Brechreiz führte. Dann blieb einfach nichts anderes übrig, als die verdammte Pille zu schlucken und die halbe Stunde, bevor ihre Wirkung einsetzte, mit einem Bier am Computer totzuschlagen. Das Bier schien zwar dieselbe Wirkung wie diese Tablette zu haben, wenn man genug intus hatte, doch die Rechnung ging einfach nicht auf. Er konnte ja nicht tagtäglich von früh bis spät benebelt sein. Und das Bier half auch nicht gegen die Träume, im Gegenteil, sie wurden nur intensiver; die Schreie wurden lauter, die Auseinandersetzungen heftiger, das Blutbad blutiger, und das Herz hämmerte noch wilder. Nein, Schlaftabletten waren so gesehen die bessere Lösung. Sie schalteten ihn einfach aus.

Natürlich war es unfair, dass es ihm so schlecht ging, denn im Grunde genommen war es nur ein Unfall gewesen. Ein schlimmer Unfall, ein verhängnisvoller, ja. Und ein entsetzlicher Fehltritt. Aber doch kein Verbrechen.

Er hatte Erla Líf nie absichtlich etwas antun wollen. Nie im Leben. Wie hätte er das auch tun können? Er liebte Erla Líf, hatte sie über alles geliebt, und er hätte alles für die Möglichkeit gegeben, das Leben zurückzuspulen und das Vergangene ungeschehen zu machen. Aber das konnten die Leute, die ihn verurteilten, nicht wissen. Die wussten sich vor Empörung nicht zu lassen und hielten in Blogs und Zeitungsartikeln nicht mit ihrer Meinung hinter dem Berg. In der Tratschwelt von Online-Kommentaren und Leserzuschriften und wo auch immer drehte sich alles nur um ein Verbrechen. Um eine brutale, abartige, vorsätzliche Untat eines kriminellen Irren, den man aufspüren und zur Strecke bringen musste. Da hatte sich sogar eine Facebook-Community auf der Suche nach dieser Bestie, nach diesem Monster etabliert. Nach ihm.

Natürlich gehörte auch er selbst dazu. Hin und wieder prüfte er, worum es aktuell ging, wer was von sich gab, wer was tun wollte. Und er fühlte sich gezwungen, die ein oder andere Anmerkung beizusteuern, um so was wie Farbe zu bekennen. Mehr traute er sich nicht.

Es zerrte an seinen Nerven, sich an dieser Hexenjagd zu beteiligen. Oft genug hatte es ihn gereizt, sich zu outen und diesen entsetzlichen Quatsch zu korrigieren. Und nicht nur der Facebook-Community, sondern auch den Medien, den Bloggern, der Polizei, einfach allen zu sagen, wie es sich tatsächlich zugetragen hatte. Aber er gab dieser Versuchung nicht nach, denn verrückt war er nicht. Obwohl viele Menschen das anscheinend dachten.

Er wusste, dass niemand ihm Glauben schenken würde, da machte er sich keine falschen Hoffnungen. Jetzt nicht mehr. Es wäre vielleicht möglich gewesen, wenn er sich gleich zu Anfang gestellt hätte, gleich nachdem das Verhängnisvolle eingetreten war. Damals hätte er alles bis ins kleinste Detail erklären können, aber nachdem die ganze Nation einer Gehirnwäsche zum Opfer gefallen war, vom blödesten Blogger bis hin zum Polizeidirektor und zum Oberstaatsanwalt, war es jetzt einfach zu spät. Was auch immer er sagen oder tun würde, er bliebe in ihren Augen ewig ein Monster.

Nein, stellen würde er sich nie. Dann müsste er ins Gefängnis, für wie lange, fünf, zehn oder sogar fünfzehn Jahre? Schwer zu sagen, doch das spielte so gesehen gar keine Rolle. Es war nämlich nicht der Gefängnisaufenthalt, der ihn abschreckte. Und auch nicht das Gerichtsverfahren. Er konnte sich durchaus in einer Zelle in Litla Hraun vorstellen oder neben einem Anwalt im Talar im Gerichtssaal, damit hätte er keine Probleme. Eher im Gegenteil, so seltsam es klang – es war ihm eher ein tröstliches Bild.

Aber über das, was der Gerichtsverhandlung vorausgehen würde, bevor sich die Zellentür hinter ihm schloss, darüber konnte und wollte er nicht nachdenken. Im Geiste hatte er versucht, sich den Gang der Dinge vorzustellen – er musste weinen, wenn er sich in die Trauer und den Schmerz seiner nächsten Angehörigen hineinversetzte. Brechreiz überkam ihn, wenn er an die Demütigung dachte, dass sämtliche Einwohner dieser Insel in ihm den Unhold sahen, den sie sich in ihren Köpfen zurechtgezimmert hatten.

Deswegen versuchte er nach besten Kräften, einfach nicht daran zu denken. Deswegen schluckte er lieber Pillen.

In der Zwischenzeit hatten sich aber seine Sorgen etwas verringert. Nicht viel, und auch nicht schnell. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass bei Ermittlungen die ersten zwei Tage die wichtigsten waren. Oder waren es die ersten drei? Es spielte eigentlich keine Rolle, denn es lag schon zwei Monate zurück, dass man Erla Líf gefunden hatte, und die Kriminalpolizei war keinen Schritt weiter. Ein beruhigender Gedanke. Die Kripo war anscheinend völlig überfordert, die Leute wussten einfach nicht, wie sie damit umgehen sollten.

Wenn die mich bis heute nicht geschnappt haben, dachte er manchmal, wird es jetzt wohl kaum noch dazu kommen.

Inzwischen konnte er notfalls auf viele beruhigende Gedanken dieser Art zurückgreifen. Es ging hauptsächlich darum, nicht zu viel über das Geschehene nachzudenken, sondern weiterzumachen. Das Gesicht zu wahren, cool zu bleiben. Und niemals nach außen hin durchblicken lassen, was in seinem Inneren vor sich ging. Darauf verstand er sich.

1

Mittwoch

Heute Nacht ist es zwei Monate her, dass Erla Líf verschwand, dachte Katrín, als sie sich nach ihren Trainingsschuhen bückte. Das wussten sie inzwischen, auch wenn die Leute erst drei Tage später begriffen hatten, dass sie verschwunden war. Als sie am Morgen des Ostersonntags gefunden wurde.

Ihr Freund Marteinn hatte sich am Gründonnerstagmorgen von ihr verabschiedet und war zu seinem alljährlichen Osterabenteuer im Hochland aufgebrochen: allein, nur er und sein Zelt.

Mit ihrer Mutter Þyrí hatte Erla noch am Nachmittag des Gründonnerstags telefoniert, auf dem Weg zu einem Café, wo sie sich mit ihren Freundinnen treffen wollte. Angeblich hatte sie keine konkreten Pläne für das lange Wochenende, und eigentlich wollte sie es am liebsten ganz ruhig verbringen. Sie würde vielleicht morgen zum Kaffee oder zum Abendessen vorbeischauen, vielleicht auch nicht, hatte sie gesagt. Ihre Mutter hatte sie gebeten anzurufen, falls sie tatsächlich kommen wollte. Sie war nämlich über das lange Wochenende zu Freunden in einem Ferienhaus eingeladen, sie überlegte zwar noch, war aber so gut wie entschlossen, die Einladung anzunehmen.

Gegen neun hatte sich Erla von ihrer besten Freundin Oddrún verabschiedet. Auf die Frage, ob sie eventuell am späteren Abend mit auf eine Party gehen würde, hatte Erla ausweichend geantwortet, sie sei irgendwie ein bisschen neben der Spur. Vielleicht würde sie einfach nur zu Mutter im Hvassaleiti-Viertel fahren, um dort faul und gemütlich die Ostertage zu verbringen, während ihr Marteinn sich in den Bergen herumtrieb.

Alle drei, Marteinn, Þyrí und Oddrún, hatten in den darauffolgenden Tagen zwischendurch immer mal wieder versucht, Erla telefonisch zu erreichen, aber genau wie andere Anrufer erhielten sie nur die automatische Ansage, ihr Handy sei im Augenblick nicht zu erreichen. Keiner von ihnen hatte sich irgendwelche Gedanken gemacht, denn für alle war es vollkommen normal, dass Erla Líf vergaß, den Akku ihres Handys zu laden. Und keiner von ihnen hatte ein so dringendes Bedürfnis, mit ihr zu sprechen, dass er sich deswegen mit anderen aus ihrem Bekanntenkreis in Verbindung gesetzt hätte.

Katrín schlüpfte in ihre Trainingsschuhe. Am Freitag ist es zwei Monate her, dass Erla Líf gefunden wurde, dachte sie. Im Gegensatz zu ihrem Verschwinden war das niemandem entgangen. Und am Montag …

Katrín schnürte die Senkel und versuchte, den Gedanken an diesen Montag zu verdrängen. Sie machte ein paar hüpfende Sprünge, bevor sie nach der Türklinke griff.

»Mama?«

Íris streckte den Kopf aus ihrer Zimmertür, und Katrín hielt inne. »Bist du schon wieder gleich weg?« Verwunderung und Vorwürfe mischten sich in dieser Frage ihrer schon fast sechzehnjährigen Erstgeborenen.

»Was meinst du mit gleich?«, war Katríns Gegenfrage. »Es ist bald halb neun. Worauf soll ich denn warten?«

»Ja, ach, du wolltest uns doch mit der Homepage helfen. Oder?«

Katrín seufzte so auf, dass auch Íris es mitbekam. Was immer Sache war, die Erziehung durfte nicht darunter leiden.

»Ich war um halb sechs zu Hause, meine liebe Íris. Und ich hab euch sofort meine Hilfe angeboten, noch bevor ich mit dem Kochen angefangen habe, aber du hast gesagt, ihr müsstet erst was anderes erledigen. Seitdem hab ich dreimal angeboten, mir eure Website anzusehen. Aber immer wieder musstet ihr was anderes machen. Und zwar so viel, dass Eiður und ich uns auch noch um den Abwasch kümmern mussten.«

»Ich weiß«, sagte das erstgeborene Kind. »Sorry, Mams. Aber du weißt doch …«

»Jaja, schon in Ordnung«, sagte sie und war bereits im Begriff, die Schuhe wieder auszuziehen. »Ich hab noch ein bisschen Zeit, aber wirklich nicht viel. Wollen wir uns das jetzt mal kurz anschauen?«

»Einen Moment, bitte«, sagte Íris und lehnte die Tür zu ihrem Zimmer an. Durch die Ritze hörte Kartín heftiges Getuschel, dann steckte Íris wieder ihren Kopf durch den Spalt und lächelte entschuldigend: »Also, ey, wir müssen erst noch … Ist es okay in einer Viertelstunde?«

»Nein«, erklärte Katrín, »ich bin weg. Wir sehen uns in einer Stunde, oder anderthalb. Du passt auf deinen Bruder auf.«

Sie hatte die Wohnungstür hinter sich zugezogen und war im Treppenhaus, noch bevor Íris den Mund zum Meckern öffnen konnte. Íris und ihre Freundin Signý waren seit der zweiten Schulklasse unzertrennlich, und beide hatten sich riesig gefreut, als Íris nach einem Jahr Exil in einem Reihenhaus im Grafarvogur-Viertel mit Mutter und Bruder wieder in ihr altes Zuhause in einem Wohnblock im Hvassaleiti-Viertel zurückkehrte.

Katrín fühlte sich ebenfalls wohl in ihrem früheren Viertel. Das Reihenhaus war sie los, und auch das an den jeweiligen Tageskurs geknüpfte Bankdarlehen in einem Devisenkorb. Ebenso ihren Ehemann Sveinn, mit dem sie sechzehn Jahre lang verheiratet gewesen war. Oder besser gesagt, sie hatte sich wohlgefühlt bis zu dem Tag, als Erla Líf gefunden wurde.

Sie sprang die Treppe hinunter, doch draußen auf dem Gehsteig hielt sie inne und zog ihr Handy aus der Jackentasche. Tippte eine SMS: Ich laufe gerade los, wir sehen uns in einer halben Stunde. K., und schickte sie an Árni. Außer dem K am Ende kürzte sie nichts ab, wie die meisten ihrer Generation schrieb sie alles voll aus.

Sie steckte das Handy wieder in die innere Seitentasche ihrer dünnen Windjacke, zog aus einer anderen Tasche ihren mp3-Player und fummelte sich die Knopfhörer in die Ohren. Sie schaltete an, und mit dem ersten Programm des isländischen Rundfunks rannte sie in der milden Sommerbrise los. Wie immer ließ sie es anfangs in der Sackgasse und an der Hauptstraße entlang gemächlich angehen. Ein Auto kam ihr entgegen, und ein anderes überholte sie, bevor es in die nächste Sackgasse einbog. Abgesehen davon war sie allein unterwegs.

In diesem Jahr hatte der Frühling mit aller Macht Einzug in die Gärten gehalten, wie zum Beweis für das Bild, das irgendein Journalist von der Hvassaleiti-Straße entworfen hatte: ein ruhiger Vorort im Herzen der Stadt. Katrín fand die Beschreibung eigentlich gar nicht so schlecht. Ein anderer hatte die Straße als Reykjavík in a nutshell bezeichnet, was ebenfalls ziemlich gut zutraf. In gerader Linie aufgereihte Wohnblocks, größere und kleinere Reihenhäuser in einigen Sackgassen, ein Seniorencenter in einer kleinen windgeschützten Mulde, Doppel- und Mehrfamilienhäuser entlang der Hauptstraße, und auch einige unterkellerte Bungalows, die zu den Zeiten des Booms noch von zwei Parteien bewohnt wurden. Zwar fehlten übertriebene Protzvillen in dieser Miniatur-Ausgabe der Hauptstadt, aber das größte dreistöckige Haus kam dem schon recht nahe; früher hatten drei Parteien dort gewohnt, es hatte eine Doppelgarage, und die Quadratmeter beliefen sich insgesamt auf mindestens fünfhundert.

In beiden Zeitungsartikeln gab es Fotos von genau diesem Haus und seinem Besitzer. Die Aufnahmen waren ein Jahr vorher entstanden, als die weißen Wände mit roter Farbe beschmiert worden waren. Auch Hvassaleiti hatte seine Vertreter in der Liga der verfemten und verschrienen Spekulanten von Boomtown Reykjavík. Sonst wäre es wohl auch kein richtiger Querschnitt dieser Stadt, fiel Katrín ein, während sie an dem Haus vorbeijoggte. Alle Anzeichen von äußerlichen Beschädigungen waren längst verschwunden, und der Porsche Cayenne in Gold metallic stand wieder an seinem Platz in der Einfahrt, hochglanzpoliert und hochgradig unschuldig.

Katrín spurtete über die Listabraut, lief an Efstaleiti entlang und überquerte den Bústaðavegur, und vorbei an den Seniorenwohnheimen bis unten ins Tal. Lúlli, der lustige Polizeibär, hatte es sicher missbilligt, wie sie über die Straßen lief, aber damit musste er sich abfinden.

Manchmal lief sie geradeaus über die Fußgängerbrücke (was Lúlli natürlich gut gefunden hätte) und dann in westlicher Richtung am Strand entlang, je nachdem wozu sie und ihr Körper sich aufgelegt fühlten. Die längste Strecke, die sie je gelaufen war, hatte sie bis zur westlichsten Landzunge Seltjarnarnes geführt, und von da aus in östlicher Richtung zur Bucht, wo die beiden Arme der Elliðaá mündeten, und zurück zum Fossvogur-Tal und nach Hause. Meistens beließ sie es aber bei einer kleineren Runde nach Nauthólsvík und zum Wald an dem Hügel, auf dem die Perle thronte. Und an diesem Abend wählte sie eine noch kürzere Strecke.

Sie missachtete das Schild, das Unbefugten den Zutritt zum Forstschutzgebiet untersagte, und schwang sich mühelos über das verschlossene Gatter. Hier war das Joggen zu jeder Jahreszeit, Winter, Sommer, Frühling und Herbst ein Genuss. Die Bäume verliehen Windschutz, die Luft war immer angenehm feucht, der Wald und das fruchtbare Erdreich verströmten ihren Duft. Und hier war es still.

Nach ein paar scharfen Sprints hielt sie kurz bei einer altehrwürdigen Fichte an, um sich nach Joggerart zu recken und zu strecken. Anschließend schwang sie sich wieder über das Gatter und lief ihre Lieblingsstraße Fossvogsvegur hoch. Genau in dem Augenblick, als sie über die Ampel wollte, begann es zu regnen. Katrín wartete deswegen nicht auf die Erlaubnis des grünen Männchens, sondern schoss über den Bústaðavegur, ohne dass das rote Männchen etwas ausrichten konnte. Nach einigen Minuten Zickzacklauf durch das Labyrinth der Gehwege in Reykjavík war sie an ihrem Ziel angelangt, der Kirche von Grensás.

Auf der Kirchentreppe machte Katrín noch ein paar Streckübungen. Es war fünf nach neun. Kein Árni. Typisch. Ihr Handy meldete sich, und während sie ihr Telefon hervorfummelte, zog sie das erste Programm des Staatssenders aus dem linken Ohr. Was es wohl jetzt wieder ist: Mittelohrentzündung oder Durchfall, dachte sie und war froh, dass bei ihr derartige Belastungen nicht mehr an der Tagesordnung waren. Stattdessen gab es aber eine andere Belastungsprobe, denn nicht Árni, Vater von zwei Babys, meldete sich, sondern ihr eigener Teenager Íris.

»Hi, kannst du uns was mitbringen? Ne Schlickertüte für fünfhundert Kronen, ich bezahl’s dir. Kannst du das bitte machen?«

»Nein«, erklärte Katrín kategorisch.

»Warum denn nicht, bist du nicht sowieso in der Nähe von einem Kiosk? Bitte-bitte, Mams, es regnet und ich hab keine Lust …«

»Vielleicht«, gab Katrín nach und brach das Gespräch ab. Dann joggte sie zum Einkaufszentrum Austurver, dort war sie geschützt vor ausländischem Regen, der im Gegensatz zu isländischem senkrecht vom Himmel fiel und freundlich vom Gesims tropfte, als sei es das Natürlichste von der Welt.

* * *

Árni hielt den Atem an, wand seinen Zeigefinger so vorsichtig wie möglich aus dem winzigen Pfötchen und achtete darauf, nicht an das Gitterbett zu stoßen, während er seine Hand zurückzog. Das Ehebett knarrte ein wenig, als er sich aufrichtete, und er erstarrte.

Aber Jón zuckte nur ein wenig und gab einen Seufzer von sich, saugte aber weiter an seinem Schnuller. Zweimal, dreimal, fünfmal schmatzte er. Árni traute sich wieder zu atmen und richtete sich auf. Wieder knarrte das Bett, und zwar genug, damit Jón die Decke wegstrampelte und den Schnuller ausspuckte. Sein Gesicht verzog sich, und Árni machte einen Satz, steckte ihm den Schnuller zurück in den Mund und breitete das Deckbett über ihn. Streichelte ihm über den Kopf und summte irgendwas vor sich hin, bis der Kleine wieder ruhig wurde. Schlich auf Zehenspitzen hinaus, lehnte die Tür nur an und atmete tief durch.

»Er ist wieder eingeschlafen«, sagte er leise. »Und Una schläft richtig tief.«

Ásta sah vom Bildschirm hoch und lächelte. »Dauerte diesmal also nur eine Viertelstunde«, sagte sie. »Das wird schon alles werden.«

»Vielleicht«, entgegnete Árni, aber ihm war der Zweifel sowohl anzuhören als auch anzusehen. »Er ist immer so angespannt.«

»Árni, wir sind das doch alles schon durchgegangen. Wenn irgendjemand daran ›schuld‹ ist, dann wir beide, okay? Nicht nur du, weil du immer bei ihm bist, sondern auch ich, weil ich nicht immer bei ihm bin. Oder – ja, du verstehst schon, was ich meine. Es ist genau wie bei Una, alles braucht seine Zeit.«

Árni war nicht überzeugt. »Aber du weißt, ich habe ihn den ganzen Tag, und das schon seit vier Monaten, und trotzdem …«

»Es sind doch nur noch zwei Tage. Hör auf, dich da dauernd reinzusteigern. Mit Jón ist alles in Ordnung, auch mit Una, und auch mit dir ist alles in Ordnung. Alles in Ordnung, in Ordnung?«

Árni öffnete den Mund, aber Ásta sprang auf und verschloss ihn, bevor er ein Wort hervorbringen konnte. »Musst du nicht los?«

»Schon, ja.«

»Dann mach, dass du wegkommst. Grüß Katrín von mir – und sag ihr auch, dass ich total sauer bin, dass sie meinen Mann so spät abends beansprucht, wo er doch im Urlaub ist.« Sie verpasste ihm einen Kuss auf eine schlecht rasierte Wange und schob ihn zur Wohnungstür.

»Spät?«, widersprach Árni. »Es ist erst …«

»Pst, du weckst die Kinder. Raus mit dir.«

Árni griff nach seiner Lederjacke und dem Schlüsselbund. »Bis später.«

Draußen goss es in Strömen, und er rannte zum Auto, das genau am anderen Ende eines endlos langen Parkplatzes stand. Genau genommen gehörte der Platz des Peugeot zum nächsten Block, aber in dem Neubauviertel gab es so viele Autos, dass er manchmal beim nächsten oder übernächsten Haus parken musste. Er riss die Tür auf und stieg ein.

Katríns Anruf hatte ihn einerseits überrascht, aber andererseits in noch bessere Laune versetzt als die, in der er sich ohnehin befand. Sie hatte am Telefon nicht mehr sagen wollen, sondern ihn gebeten, sich bei der Grensás-Kirche mit ihr zu treffen. Das konnte nur bedeuten, dass sie mit ihm über Erla Líf sprechen wollte. Sie hatte ihm eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Treffen noch eine SMS geschickt, aber das hatte nicht gereicht, er war trotzdem zu spät dran. Typisch, dachte er und schob Dire Straits in den Player. Vor einigen Tagen hatte er ein total unverständliches Faible für diese vorsintflutliche Band entwickelt. Some people get a cheap laugh breaking up the speed limit, summte Árni mit seinem Freund Mark Knopfler; scaring up pedestrians for a minute …

Árni aus dem Vorstadtviertel, dachte er, als er rangierte. Árni aus dem Vorstadtviertel mit beinahe ebenso ausgeprägten Geheimratsecken wie Mark Knopfler, mit einem Gasgrill auf dem Balkon, zwei Säuglingen im Gitterbettchen und zwei Autos auf dem Parkplatz. Aber er bewohnte keine Villa, noch nicht einmal ein Reihenhaus. Nur eine kleine Wohnung mit drei Zimmern in diesem Neubaugebiet, dessen Straßen alle auf -rimi endeten. Berjarimi. Wenn das hier die Bergstaðastræti wäre, würde ich nicht zu spät kommen … Unwillkürlich gingen seine Gedanken zurück in sein altes Viertel. Seine dortige Wohnung besaß er immer noch. Sie hatte ebenfalls drei Zimmer und war sogar größer als die jetzige in der Berjarimi. Dazu gehörte auch eine Garage. Die war zwar relativ winzig und konnte kaum einem Auto Platz bieten, aber es war eine Garage. In der Berjarimi gab es keine Garage, und hierhin war Árni gezogen, was nicht ohne Proteste und Nörgeln abgelaufen war.

Nachdem Ásta und er nach einem missglückten Trennungsversuch vor zwei Jahren wieder zusammen waren, hatten sie versucht, Ástas Wohnung in der Berjarimi entweder zu verkaufen oder zu vermieten, aber das war nicht gelungen. Es fand sich kein Käufer, und potenzielle Mieter wollten entweder oder konnten nicht die angesetzte Miete bezahlen. Und die hätte sowieso nur dazu gereicht, um die Abzahlungen zu decken. Ein halbes Jahr später waren die Abzahlungen doppelt so hoch geworden, und das machte sich brutal bemerkbar. Als sich dann noch herausstellte, dass sich auch der Kindersegen verdoppeln würde, schlug Ásta vor, in ihre Wohnung im Grafarvogur-Viertel zu ziehen und die Wohnung im Þingholt-Viertel zu verkaufen oder zu vermieten. Árni sträubte sich mit Händen und Füßen, musste sich aber schließlich geschlagen geben. Er weigerte sich aber strikt, die Wohnung zum Verkauf anzubieten, solange er Hoffnung hatte, dass sie zu vermieten war. Sie brauchten nicht lange zu warten, bereits zwei Wochen später zogen sie in Ástas Wohnung, und in seiner Wohnung, in der er zwölf Jahre lang gelebt hatte, nistete sich der deutsche Berater des Auflösungsausschusses von einer der Pleitebanken ein.

Jetzt konnte er weder zu Fuß zur Arbeit gehen noch zu irgendeiner Kneipe. Er wusste kaum, was unangenehmer war. Am schlimmsten war aber das Theater wegen seines Rauchens. In seiner alten Wohnung konnte er hinaus auf den Balkon oder auf die Treppe vor dem Eingang, in den Garten oder in die Garage gehen, irgendwo war immer ein windstilles Plätzchen zu finden. Und niemand regte sich darüber auf oder rümpfte die Nase. Hier im Vorstadtviertel wohnten sie im dritten Stock, formal gesehen durfte auf dem Balkon geraucht werden, doch nicht dann, wenn die Kinder draußen schliefen. Oder wenn sie binnen Kurzem da draußen schlafen sollten. Oder wenn Wäsche auf der Leine hing …

Aber sogar wenn weder Tochter noch Sohn noch Wäsche ihn daran hinderten, bedeutete das keineswegs, dass alles paletti war, denn auf und um den Balkon windete es praktisch immer, gar nicht zu reden vom Regen, der meist nach altvertrauter isländischer Art waagerecht daherkam. Das Ambiente hier, fand Árni, war ein völlig anderes und sehr viel raucherfeindlicheres als im Þingholt-Viertel. Immer wieder sah er sich gezwungen, den Mantel überzuwerfen und aus dem Haus zu gehen, wenn er sich nach einer Zigarette sehnte. Und zwar nicht einfach vor den Hauseingang, denn das führte nur zu missbilligenden Mienen und Verärgerung der Mitbewohner. Genauso wenig traute er sich in den winzigen sogenannten Hintergarten, denn das führte zu noch deutlicheren Protesten derselben Mitbewohner plus der Nachbarn im nächsten Block, der unangenehm nahe war. Und auf gar keinen Fall kam das Auto infrage, dort herrschte allerstriktestes Rauchverbot.

Glücklicherweise war es nicht weit bis zu dem Wartehäuschen an der Bushaltestelle. Obwohl es bei winterlichem Wetter kaum Schutz bot, war es doch besser als gar nichts. Vorausgesetzt, dass dort niemand auf den nächsten Bus wartete. In dem Fall hatte es ihm scheele Blicke und abfälliges Schnauben eingebracht, manchmal sogar Anpflaumerei und Gemeckere.

Wenn es ganz schlimm wurde, dachte er allen Ernstes darüber nach, ob es nicht besser sei, sich das verdammte Rauchen abzugewöhnen.

Fünf Minuten später passierte er die Brücke über die beiden Arme der Elliðaá. Unwillkürlich beschleunigte er und hörte auf, sich selbst zu bemitleiden.

* * *

»Entschuldige bitte«, sagte er zu Katrín, als sie die Beifahrertür aufriss und einstieg. »Ich musste Jón wieder in den Schlaf wiegen, und …«

»Macht nichts«, entgegnete Katrín. »Hast du vielleicht ein Handtuch oder ein paar Kleenex im Auto, ich bin klatschnass.« Árni deutete schweigend auf das Handschuhfach.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie zwischen zwei Kleenex-Tüchern. »Hoffentlich hört es bald auf zu regnen, damit du nicht auch noch nass wirst, wenn wir aussteigen.«

»Kein Problem«, sagte Árni, dessen Hände wegen Nikotinmangel beinahe schon zitterten. Der Regen hört bald auf, bald kann ich mir eine Fluppe genehmigen. »Was äh, ja, was ist eigentlich Sache?«, fragte er und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Vermutlich hängt es mit Erla Líf zusammen?«

»Ja.« Katrín wischte sich mit dem letzten Kleenex das Gesicht so gut es ging ab. »Könntest du diese langweilige Musik ein bisschen leiser stellen?«

Árni brachte Mark Knopfler ohne Einwände zum Schweigen. »Ist irgendwas los?«, fragte er. »Sind diese drei Typen nicht immer noch in U-Haft?«

»Doch, ja«, gab Katrín zu. »Aber die Frist läuft nächsten Montag aus.«

»Und was dann? Glaubst du nicht, dass du eine Verlängerung erwirken kannst?«

»Nein«, sagte Katrín. »Oder ja, vielleicht doch. Wenn ich darauf bestehe, würde ich sie wohl bekommen. Ich weiß bloß nicht, ob ich das machen soll. Ich bin mir nicht sicher, dass wir die richtigen Leute im Visier haben. Auf jeden Fall nicht mehr so sicher wie bisher.«

»Und?«

»Und was?«

»Hast du irgendwelche anderen im Visier?«

»Tja«, sagte Katrín, »das ist es eben. Ja und nein. Ich meine, ich habe diese drei noch nicht ausschließen können. Vor allem Darri nicht, der ist meiner Meinung nach der wahrscheinlichste Kandidat, um ehrlich zu sein, aber …«

»Der wahrscheinlichste«, pflichtete Árni bei. »Als du dich das letzte Mal gemeldet hast, warst du dir ganz sicher. Was hat sich inzwischen geändert?«

»Nichts«, sagte Katrín. »Und genau das ist das Problem. Seit ich die verdammten Kerle vor einem Monat verhaftet habe, hat sich nichts Neues ergeben.«

»Und das ist jetzt also nicht mehr genug?«, fragte Árni.

Katrín schüttelte den Kopf. »Nicht für mich, nein. Wir haben Zeugen, die Erla am Laugavegur in Darris Auto einsteigen sahen, kurz nachdem sie dieses Café verlassen hatte. Das ist eigentlich auch alles. Darri hat nie abgestritten, dass sie zu ihm ins Auto gestiegen ist, und auch seine Freunde bestätigen das und geben ohne Weiteres zu, dass sie ebenfalls dort waren. Wir haben sogar Blutspuren in dem Wagen gefunden, einen winzigen Fleck, der aber trotzdem für eine Analyse reichte. Und für die Festnahme und auch für die U-Haft, weil die Ergebnisse es als das Blut von Erla auswiesen. Doch es war zu wenig, um sie weiterhin in Haft zu halten. Der Hund, ich meine Friðjón, hat das Auto praktisch in seine Bestandteile zerlegt, fand aber nur diesen einen winzigen Tropfen. Er behauptet steif und fest, dass dort kein Blutbad stattgefunden haben kann und schließt dementsprechend auch aus, dass sie, blutüberströmt wie sie gewesen sein muss, in diesem Auto transportiert worden ist. Bei der Hausdurchsuchung fanden wir auch keine blutbefleckten Kleidungsstücke von irgendjemandem, geschweige denn andere verdächtige Indizien. Und alle streiten natürlich schlichtweg ab, ihr etwas angetan zu haben. Sie haben sie auf dem Laugavegur gesehen, haben angehalten und ihr angeboten, sie mitzunehmen, und sie haben versucht, die Sache wieder ins Lot zu bringen.«

»… und dann haben sie sie rausgesetzt, ich weiß«, sagte Árni. »Das hast du mir neulich schon erzählt. Weil sie nicht auf sie hören wollte – haben sie nicht so was gesagt?«

»Sie ließ sich nicht zur Vernunft bringen«, entgegnete Katrín. »So haben sie es ausgedrückt. Angeblich hat sie zugestimmt, sich von ihnen ins Hvassaleiti-Viertel bringen zu lassen, aber die ganze Zeit habe sie sich mit ihnen gestritten und um sich geschlagen, bis sie kapitulierten und sie an der Tankstelle gegenüber der Kringla rausließen. Und anschließend fuhren diese Herren der Schöpfung ihrer Wege, das war so gegen halb zehn. So lautet ihre Version, und an die haben sie sich von Anfang an gehalten.«

»Und? Warum in aller Welt sollten wir ihnen glauben, nach allem, was die vorher getan haben?«

Katrín schwieg eine Weile. »Das ist vielleicht das Problem«, erklärte sie schließlich. »Alles, was die vorher getan haben. Es ist allerdings zweierlei, ob man ihnen nicht glaubt, oder ob man beweisen kann, dass sie lügen. Ich möchte meine Erla nicht noch einmal im Stich lassen. Sie hat Besseres verdient.«

»Was …«

»Ich will nicht noch einmal einen Fehler machen und alles vermasseln«, sagte Katrín. »Nicht in dieser Ermittlung, das kommt überhaupt nicht infrage. Wir gehen erst dann zum Haftrichter, wenn alles hieb- und stichfest ist.«

»Du hast doch im letzten Jahr keinen Fehler gemacht«, widersprach Árni. »Und genauso wenig ich oder Guðni oder der Staatsanwalt. Du … oder besser wir haben absolut nichts vermasselt, es ist nicht unsere Schuld, wenn da irgendwelche steinzeitlichen Richter …«

Katrín wehrte den Einwand ab. »Jaja, ich weiß schon. Wir haben uns völlig korrekt verhalten, keine Fehler und so weiter, blabla. Trotzdem: Alle drei wurden freigesprochen. Und außer der Tatsache, dass Erla sich in das Auto von Darri gesetzt hat, haben wir gegen diese Dreckskerle nichts vorzuweisen als einen winzigen Blutstropfen. Und dagegen steht auch die Aussage eines Zeugen an der Tankstelle am Ártúnshöfði, der kurze Zeit später sah, wie Darri dort den Tank auffüllte und …«

»Moment, hat er wirklich dort getankt?«, unterbrach Árni sie. »Haben die wirklich Erla an einer Tankstelle abgesetzt und kurz darauf an einer anderen getankt? Was soll das denn?«

»Da ist nichts dabei«, sagte Katrín. »Sie haben Erla aus dem Auto aussteigen lassen, sie waren gereizt und wütend und sind abgezischt. An der Tankstelle in Ártúnshöfði haben sie dann noch mal gehalten, um zu tanken. Weil es dort auch einen Kiosk gibt, wo sie was für ihre Party einkaufen konnten, haben sie gesagt. Kassenbons, Sicherheitskameras und die Angestellten bestätigen, dass sie dort eingekauft haben. Im Auto war keine Erla, meint der Tankwartpimpf, es sei denn im Kofferraum. Hinzu kamen die Aussagen von all den Gästen auf der Party bei ihnen zu Hause, die ging bis Ostermontag. Vielleicht kein wasserdichtes Alibi, weil da ständig Leute ein- und ausgingen, aber auch nicht völlig unbrauchbar. Immerhin gut genug, dass ich etwas Handgreiflicheres finden muss als bis jetzt.«

»Was ist mit den Stichwunden?«, fragte Árni. »Ich hab kürzlich mit Geir telefoniert, der sagte etwas in der Art …«

»Unterschiedliche Stiche, unterschiedliche Wunden«, unterbrach Katrín ihn. »Was bedeuten könnte, dass nicht nur einer, sondern mehrere zugestochen haben. Das hilft uns aber nicht, weil wir bislang noch keine präzise Analyse von den Stichen haben und vielleicht auch nie kriegen werden. Ich brauche mehr. Ich brauche das Messer und ich brauche den Tatort. Insgesamt waren es elf Stiche, und mit Sicherheit ist es nicht gelungen, sämtliche Blutspuren vom Tatort zu entfernen, wo auch immer er war. Und ich brauche das Auto, in dem die Leiche befördert wurde, denn für einen Transport dieser Art kommt nur ein Auto infrage. Und wie gesagt, es war wohl nicht das Auto von Darri. Wenn ich über diese drei Dinge mehr weiß, werde ich herausfinden, wer es war. Erst dann kann ich mich einigermaßen zufriedengeben, vorher nicht.«

Árni nickte. »Es ist dein Fall, du bestimmst natürlich …«

»Mein Fall, mein Viertel, meine Straße«, sagte Katrín mit Nachdruck. »Beinahe könnte man sagen, meine Leute. Und meine Kirche, natürlich. Ich hab in dieser Kirche geheiratet, wusstest du das?«

Árni schüttelte den Kopf.

»Die Kinder wurden hier getauft, und Íris wurde vor zwei Jahren hier konfirmiert«, fuhr Katrín fort. »Und auch Erla Líf ist hier zur Konfirmation gegangen. Ich habe ihr damals eine Halskette geschenkt.« Sie räusperte sich ordentlich, um die Tränen zu bekämpfen, die hochkommen wollten. »Und diese Kette hat sie um den Hals gehabt, als sie gefunden wurde.«

Árni öffnete den Mund und Katrín die Autotür. Sie stieg aus dem Wagen, bevor er etwas sagen konnte.

»Komm«, sagte sie, »es hat aufgehört zu regnen.«

Árni folgte ihr.

»Bist du am Montag bei Stefán gewesen?«, fragte Katrín, als sie um eine Ecke der Kirche bog.

»Ja«, antwortete Árni. »Ich bin mit Una und Jón hingefahren, um einen Blick auf den Alten zu werfen.«

»Und? Wie war er?«

Árni zog eine Grimasse, er langte nach der Zigarettenschachtel in seiner Brusttasche. Gelassen und nicht hektisch. Zumindest hoffte er, dass es so wirkte.

»Tja. So wie immer, nachdem es passiert ist. Man konnte kaum ein Wort aus ihm herausbekommen. Einmal hat er aber Una angelächelt.« Er suchte sein Feuerzeug. »Ich weiß nicht, ich hatte eigentlich wie immer das Gefühl, als sei er aus der Welt.«

»Der Ärmste«, seufzte Katrín. »War er im Haus oder …«

»Nein, er war in der Garage und lag unter dieser Schrottkiste von einem Land Rover. Wie gewöhnlich.« Er versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden, aber das war mühsam.

»Guðni will ihn heute Abend besuchen«, sagte Katrín. »Ich werde morgen oder übermorgen versuchen, bei ihm vorbeizuschauen. Was meinst du, wird er bald wieder zum Dienst erscheinen?« Es war ihr anzuhören, dass sie eine positive Antwort auf diese Frage erhoffte. Dieser Wunsch blieb unerfüllt.

»Dazu hat er sich nicht geäußert. Macht Eiki euch alle fertig?« Árni steckte das Feuerzeug wieder ein und genoss den ersten anständigen Zug nach drei Stunden. Paradiesisch – wirklich paradiesisch, dachte er. Katrín schnaubte leicht.

»Halt«, sagte sie einen Augenblick später, als sie an der Südseite der Kirche angekommen waren, in der Nische zu einem niedrigen Anbau an das Kirchenschiff. Das steile weiße Dach der Kirche ragte über ihnen auf, die Wand darunter war aber weder verputzt noch gestrichen.

»Eiki ist ein Idiot, das weißt du. Dass ihm die Vertretung von Stefán übertragen wurde, ist natürlich ein Skandal. Ich glaube, dass sogar Guðni da besser gewesen wäre, ehrlich.« Árni schrak unwillkürlich zusammen. Eiki, mit richtigem Namen Eiríkur Brynjólfsson, musste wirklich ziemlich großen Scheiß bauen, um in Katríns Vergleich zu Guðni den Kürzeren zu ziehen.

»Genau deswegen habe ich dich auch heute Abend herbestellt«, sagte sie. »Ich bezweifle nämlich, dass du mir für diesen Fall zugeteilt wirst, wenn du am Montag wieder zum Dienst erscheinst.«

»Wieso denn nicht?« Árni besah sich diese wenig einladende Nische und das Unkraut zu seinen Füßen genauer.

»Er will dich auf Einbrüche ansetzen«, sagte Katrín leicht schniefend. »Die scheinen es ihm unheimlich angetan zu haben. Bei denen ist wohl auch der ›vorgreifende Erfolgskoeffizient‹ höher und größer als das, womit ich mich befasse.«

»Der was bitte?«

»Ach, der Unsinn stammt von mir, ich kann mir einfach nicht all diese Ausdrücke merken, mit denen er um sich wirft. Er schwört auf ein supertolles und geradezu revolutionäres Qualitätsmanagement, mit dem er uns in diesen Zeiten von radikalen Kürzungen und Personalmangel beibringen möchte, wie man ›prioritiert‹, aber wir raffen das einfach nicht. Keiner von uns. Ganz persönlich glaube ich, dass er sich da irgendwas zusammenschwadroniert. Aber er entscheidet, und Einbrüche haben wie gesagt Priorität – nicht Erla Líf.«

»Halt mal, habt ihr nicht neulich jede Menge Polen im Zusammenhang mit den Einbrüchen in Ferienhäuser festgenommen, und dann auch Keiko und seine Bande wegen der Einbruchserie hier in der Stadt? Was soll ich denn da noch machen?«

Katrín zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Aber nicht nur Keiko und die polnischen Gangs brechen hier ein, wie du weißt, es gibt da noch viele andere, überall, auch auf dem Land. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er dich darauf ansetzen wird. Ich möchte dich nur bitten, dass du dir bis dahin diesen Fall ansiehst.«

»Okay«, sagte Árni und blickte sich noch einmal um. »War es hier, wo man sie abgela …« Er verschluckte sich. »Sorry, wurde sie nicht hier gefunden?«

»Ja«, sagte Katrín. »Nicht ganz genau in der Ecke, aber beinahe. In ein weißes Laken gehüllt, einsvierzig mal einsvierzig. Ein Baumwolllaken mit Gummizug, wahrscheinlich aus dem ›Dänischen Bettenlager‹. Und darum geht es, das gehört zu dem, was ich absolut nicht auf die Reihe kriegen kann im Zusammenhang mit diesen drei amoralischen Psychopathen, die wir festgenommen haben. Erla wurde hier nicht ›abgeladen‹ oder entsorgt, wie du dich ausdrücken wolltest. Jemand hat sie in ein weißes Laken gehüllt und an der Kirchenwand hingelegt, fast als hätte der Betreffende sie zur letzten Ruhe gebettet. Und nicht nur an irgendeiner Kirchenwand, sondern an dieser. Bei ihrer Pfarrkirche. Dahinter steckt womöglich Reue, Schuldgefühl und Menschliches, trotz der unglaublichen Brutalität, der sie ausgesetzt war. Von solchen Gefühlen ist weder in Darri noch seinen Kumpanen etwas vorhanden«, erklärte sie. »Das zumindest ist so sicher wie ein Amen in dieser Kirche.«

2

Mittwoch

»Paranoia ist meine Freundin«, murmelte Guðni, während er nach links abbog. Sie waren immer noch da, diese Scheinwerfer, die ihm gefolgt waren, seit er den Parkplatz vor seinem Haus verlassen hatte. Er war sich eigentlich hundertprozentig sicher, aber Sichersein reichte nicht.

»Nicht nur sicher, sondern bloody fuckingsure muss man sein«, sagte er zu sich selbst, als er an einer gelben Ampel an der Abbiegespur bei der Kreuzung von Bústaðavegur und Reykjanesbraut hielt. Oder war es schon Sæbraut? Er wusste nie, wann die eine Bezeichnung aufhörte und die andere begann. Das Auto blieb direkt hinter ihm stehen, aber da die Rückscheibe aufgrund der Nässe draußen und drinnen total dicht war, konnte Guðni weder das Gesicht des Fahrers noch die Autonummer erkennen. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, aus dem Auto zu springen und die Fahrertür des anderen Wagens aufzureißen, aber der Regen und die Vorstellung, dass am Steuer des Wagens vielleicht eine unschuldige Oma oder irgendein Provinzdepp saßen, die sich verirrt hatten, hielt ihn davon ab. Vor allem der Regen. Als die Ampel auf Grün schaltete, fuhr er langsam und gelassen die Sæbraut entlang und nahm wie alle möglichen anderen Idioten die linke Spur. Der Wagen hinter ihm tat dasselbe.

»Uuund – jetzt!«, schnaubte er, riss das Lenkrad herum und gab gleichzeitig Gas. Sämtliche Reifen heulten auf, und Guðni wurde an die Tür gedrückt, als er in fliegendem Wechsel auf die rechte Fahrspur und in die nächste Straße rechts einbog. Súðarvogur. Dort angekommen, nahm er den Fuß vom Gaspedal und blickte in den Rückspiegel. Kein Auto hinter ihm.

Guðni atmete auf und verfluchte seine Freundin Paranoia.

»Fucking Paranoia«, grunzte er. Das Wort gehörte seit einiger Zeit zu seinen Lieblingsausdrücken. Er lenkte den Daimler an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Er wartete zehn Minuten, ohne irgendetwas Verdächtiges zu bemerken. Trotzdem war ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, ob irgendeines der drei Autos, die während der letzten zehn Minuten an ihm vorbeigefahren waren, vielleicht dasjenige war, das ihn von seinem Parkplatz zu Hause verfolgt hatte. Oder war es nur Einbildung gewesen?

Auf dem kurzen Stück bis zu Stefáns Haus auf dem Nökkvavogur bemerkte er kein Auto, das unangenehm hinter ihm blieb. Und es fuhr auch niemand während der zwei Minuten vorbei, die er im Auto wartete, bevor er ausstieg.

Von oben kamen zwar immer noch einige Tropfen, aber die Abendsonne brach sich langsam Bahn durch die Wolken. Aus einem Fenster in der Nachbarschaft hörte man Elvis, Heartbreak Hotel. Verdammt gut. Guðni schlenderte die Einfahrt entlang zum Haus. Widerschein von einem Fernsehschirm tanzte in einem der Fenster in der oberen Etage. Die Mitbewohner waren zu Hause.

Guðni machte sich gar nicht erst die Mühe zu klingeln, sondern schob sich an einem ziemlich neuen Toyota Prius in der Einfahrt vorbei. Er klopfte an die Eingangstür zur Garage und öffnete sie. Grelles Neonlicht empfing ihn.

In der geräumigen Garage herrschte Ordnung. Am hinteren Giebel befand sich eine Werkbank, und die Wand darüber bedeckten hohe Regale, vollgepackt mit Kartons und Kisten, Reifen, Geräten und Säcken und sonstigem Kram. An der Längswand, direkt neben der Arbeitsplatte, war eine Stahlspüle und ein kleiner Kühlschrank. Auf dem standen eine halb volle Tüte Zucker und ein Radio mit CD-Player. Zu dieser Stunde gab das Gerät keinen Ton von sich.

Über den Arbeitstisch breitete sich alles Mögliche aus, ein enormer rot lackierter Schraubstock, ein grüner Toaster, ein verchromter Wasserkocher, der nicht mehr zu den jüngsten zählte, und eine weiße Mikrowelle. Außerdem lagen da auch noch die unterschiedlichsten Werkzeuge herum sowie Putzwolle, Bremsklötze und Autoteile unterschiedlicher Art und Größe, die nur schwer einzuordnen waren. Einige trieften von Öl, andere nicht. Weiteres Autozubehör und Werkzeuge sah Guðni auf dem Boden rings um das Juwel der Garage: einen weißblauen langen Land Rover ehrwürdigen Alters.

»Hallo«, sagte er laut und machte die Tür hinter sich zu. »Wo steckst du?«

»Hier«, knurrte Stefán. Guðni ging in die Hocke und bückte sich fast bis auf den Boden. Nicht ohne Mühe. Stefán lag flach unter dem Geländewagen und starrte wie hypnotisiert auf etwas, das Guðni nicht erkennen konnte.

»Die Karre ist also immer noch in ambulanter Behandlung«, sagte Guðni. Seine Miene war spöttisch, aber sein Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen. »Ist die Schrottkiste nicht schon kaputt gewesen, seit sie dir unter die Finger kam?«

Als Stefán unter dem Auto hervorkroch, richtete Guðni sich auf.

»Ja, ja, mein lieber Guðni, meinetwegen sag, was du willst. Aber ich sage nicht zum ersten Mal, dass ein Land Rover nicht kaputtgeht. Der braucht manchmal etwas Pflege und Beistand, aber kaputt geht der nicht.«

»Soweit ich sehen kann, braucht der hier eine Intensivstation und einen Rollstuhl«, entgegnete Guðni grinsend. »Und jede Menge Pillen und Transplantationsorgane, wenn er irgendwann mal wieder auf eine Straße kommen soll. Gar nicht zu reden von einer Schotterpiste.«

»Diesem edlen Gefährt fehlt nichts außer ein bisschen Geschick und Geduld«, erklärte Stefán. »Das ist ja das Beste an diesem Auto, dass man alles Mögliche selber in Ordnung bringen kann. Versuch das mal bei deinem Wagen, der ist fast genauso alt wie meiner hier. Über dieses japanische Wunder der Technik da draußen in der Einfahrt möchte ich lieber nicht reden. Mit dem muss man schon zur Werkstatt, um eine Scheinwerferbirne zu wechseln. Schlimm.« Stefán griff nach einer unbeschrifteten grünen Flasche auf der Arbeitsplatte und goss den Rotwein aus eigener Herstellung in ein Glas. »Prost«, sagte er. »Ich schätze, dass du wie gewöhnlich keinen Rotwein willst.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Kühlschranks. »Bier gefällig?«

»Jetzt nicht«, sagte Guðni. »Vielleicht beim nächsten Mal. Gibt’s keinen Nescafé mehr?«

»Doch, natürlich. Ich setz den Kessel auf. Irgendwelche Neuigkeiten?«

»Tja, was soll ich sagen …« Guðni warf einen Blick auf den Motor unter der geöffneten Kühlerhaube. »Platz ist da genug.« Er atmete ein paarmal tief ein und aus. »Verdammt, der Geruch ist einfach unwiderstehlich. Hab ich dir schon mal gesagt, dass ich am liebsten Automechaniker geworden wäre?«

»Irgendwie kommt es mir so vor, als hättest du das erwähnt«, stimmte Stefán ihm zu. »Und zwar öfters, meinst du nicht?«

Guðni grinste etwas. »Kann sein, ja. Anyway, diesen Geruch fand ich immer klasse, obwohl ich überhaupt nichts von Motoren verstehe. Schmieröl und Diesel, eigentlich ist diese Mischung durch nichts zu übertreffen, außer natürlich von dem Geruch meines Daimlers. Schmieröl, Diesel und Leder, mein Lieber. In deinem Teil hier gibt es kein Leder, alles nur Plastik.«

Er nahm die dampfende Kaffeetasse entgegen, und sie stießen an. Nach längerem Hin und Her über die Vor- und Nachteile einer über zwanzigjährigen Mercedes-Limousine und eines Land Rovers, der die Vierzig anpeilte, einigten sie sich darauf, dass wohl beide Autos ihre Vorteile hätten.

»Mehr Kaffee?«, fragte Stefán, während er sich selbst Wein nachgoss. Guðni schüttelte den Kopf.

»Mensch, Stefán, wie geht es weiter?«, fragte er. »Wie steht es um dich? Wirst du nicht bald wieder den Dienst antreten? Die jetzige Situation in der Abteilung ist doch wohl hoffentlich nur ein Joke?«

Stefán grinste breit und trank einen Schluck Wein, gab aber keine Antwort.

»Im Ernst, Stefán«, beharrte Guðni. »Du kennst ja Eiki Brynjólfsson. Wie sich der Boss einfallen lassen konnte, ausgerechnet den über unsere Abteilung zu setzen, ist verdammt noch mal nicht zu verstehen. Der Kerl baut Scheiße auf der ganzen Linie, wirklich große Scheiße. Ehrlich gesagt, ich glaube, es wäre besser gewesen, diesen Job an Katrín zu vergeben als an ihn.«

Stefán runzelte die Stirn. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er selbst auch viel lieber Katrín die Stellvertretung angeboten. Und dass nun sogar Guðni sie für die bessere Wahl hielt, legte ein erschreckendes Zeugnis von Eiríkur Brynjólfssons Leistung ab.

»Ist es so schlimm?«

»Schlimmer. Im Ernst – wie lange pusselst du schon hier in deiner Garage herum? Ein halbes Jahr?«

Stefán zog eine Grimasse. »Vier Monate«, korrigierte er und genehmigte sich noch einen Schluck Rotwein. »Etwas über vier Monate.«

Menschen mit mehr Zartgefühl hätten zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich das Thema gewechselt, aber Guðni machte unbeirrt weiter. »Das sag ich doch. Ich meine, life goes on. Du musst versuchen, dich da rauszureißen, du siehst aus wie das Letzte, Mensch.« Die Bemerkung war nicht übertrieben. Stefán wirkte grau und elend, der knapp zwei Meter große Mann war ausgemergelt. Seine grauen Haare standen ungepflegt und wirr vom Kopf ab, der Bart wucherte ungehindert, und der schlabbernde dunkelblaue Overall, in dem er steckte, war fast schwarz vor Dreck.

»Ich mach das, was mir passt, wenn es mir passt«, erklärte Stefán, und sein Gesicht bekam ein klein wenig Farbe. »Ich glaube, es reicht jetzt, Guðni. Du musst dir doch bestimmt noch einen Pornofilm ansehen, oder?«

Guðni tat, als hätte er das nicht gehört. »Die ganze Abteilung ist im Arsch, Stefán. Total im Arsch. In allen Abteilungen fehlen Leute, nicht nur bei uns, alle sind sauer auf alle. Pfuscharbeit überall, zur Rechten wie zur Linken. Der Hund ist stinksauer auf Eiki, und das bedeutet, dass die Spurensicherung nur mit halber Kraft arbeitet. Und das verlangsamt alles, womit wir beschäftigt sind, nur noch mehr. In diesem Kampf bin ich ganz auf Friðjóns Seite, um das mal klarzustellen. Alle möglichen Dinge müssen zurückstehen, weil seine Gnaden Eiríkur irgendwas bei uns einführen will, das er ›Qualitätsmanagement‹ nennt. Bestimmt eine Version, die er in einer koreanischen Online-Akademie gefunden hat. Kann schon sein, dass so was bei der Verkehrspolizei wirkt, aber für uns ist es einfach ein verdammtes Desaster.«

»Was denn, was denn, das wird er bestimmt auch bald selber merken«, warf Stefán ein. »Er ist doch kein Greenhorn, das sich noch …«

»Nein, diese Entschuldigung hat er nicht«, knurrte Guðni. »Er hat verdammt noch mal überhaupt keine Entschuldigung, der Kerl ist schlicht und ergreifend ein Idiot, basta. Alles, was er von sich gibt, ist für den Arsch, denn mit dem denkt er offensichtlich. Ich kann nicht mal die Hälfte von meinem Kram erledigen. Katrín ist ebenfalls am Krepieren und kommt überhaupt nicht voran, es werden ja auch keine Leute für sie abgestellt.«

»Kriegt sie keine Mannschaft? Was meinst du damit? Der Fall ist doch noch ganz offen …«

»Total offen«, stimmte Guðni zu. »Und es ist wahrhaftig kein unbedeutender Fall. Aber wie gesagt, sie hat keine festen Mitarbeiter, sie bekommt heute vielleicht einen und morgen zwei, je nachdem wie Eiki den Bedarf einschätzt. Auf welcher Grundlage seine Einschätzung jeweils beruht, weiß keiner, nur er und sein verfluchtes ›Managementsystem‹.«

»Du bist doch da«, widersprach Stefán. »Und Árni. Der hat hier neulich mit seinen Kindern vorbeigeschaut, um ›den Alten abzuchecken‹, genau wie du jetzt, und bestimmt wird Katrín morgen oder übermorgen dasselbe tun. Ich weiß ehrlich nicht, für wen ihr mich haltet …« Er verstummte und wandte sich ab. Stellte die Tasse mit dem Rotwein weg und stützte sich auf die Werkbank.

»Was soll’s«, fuhr er fort und drehte sich wieder zu Guðni um. »Árni hat gesagt, dass er Montag aus dem Vaterschaftsurlaub zurück ist. Stimmt’s?«

»Doch, ja, aber es ändert nichts an den Tatsachen«, entgegnete Guðni und kratzte sich am Hintern. »Mit dem Fall von Erla hab ich nichts zu tun, und das Bürschlein wird bestimmt auch nicht dafür abgestellt. Ich will mich ehrlich nicht beklagen, dass Katrín im Augenblick meine Vorgesetzte ist und mich mit allem Möglichen beauftragen kann – übrigens der einzige Vorteil von Eikis System, das gar kein System ist. Und derzeit haben Einbrüche Priorität, sagt der Blödmann. Einbrüche und Benzindiebstähle mit gestohlenen Nummernschildern. Das hat er sich so ausgerechnet.«

»Ausgerechnet? Was redest du da, Mensch? Wie können denn Einbrüche und Benzinklau Priorität haben gegenüber …?«

»Frag nicht mich, frag Eiki. Wie gesagt, es ist das reinste Chaos. Es gibt keine festen Teams mehr, Meister Eiríkur erlaubt sich, jeweils nach eigenem Gutdünken Leute für die anliegenden Fälle abzustellen. Víðir und Siggi sind genauso wütend wie Katrín. Sogar dieser bekloppte Steini meckert. Ich meine, ich weiß, dass wir hierzulande eine Krise haben, dass gespart werden muss, an allen Ecken und Enden, you name it, aber damit hat dieser Quatsch überhaupt nichts zu tun. Eiki ist einfach auf einem Ego-Trip.« Guðni verschränkte die stämmigen Arme über seinem ausladenden Bauch, wie um die Wichtigkeit seiner Worte zu unterstreichen.

»Und außerdem ist da auch bei Tóti und Konsorten was im Gange, das ich reichlich spooky finde«, fügte er genüsslich hinzu. »Megaspooky.«

Stefán schloss die Augen und schüttelte den Kopf mit den wirren grauen Haaren.

Guðni konnte sich nicht beherrschen. »Mensch, wie siehst du überhaupt aus mit dieser Mähne und diesem Bart?«, sagte er. »Du könntest Catweazle sein oder so ein verdammter Höhlenbewohner. Oder ein Wikinger? Wie lange hast du …«

Stefán unterbrach ihn. »Schluss jetzt, mein Lieber. Irgendwas soll spooky sein bei welchem Tóti? Du meinst Þórður Guðmundsson von der Drogenkommission?«

Guðni nickte.

»Und?«, fragte Stefán. »Was geht dir da so nahe?«

»Das muss ich erst noch herauskriegen«, antwortete Guðni orakelhaft und kniff ein Auge zu. »Bei der Droko ist wirklich was Spukiges im Gange, das steht eindeutig fest. Und zwar seit Längerem. Aber Eiríkur will nicht, dass ich mich damit befasse, der blöde Kerl hat wahrscheinlich Schiss vor Þórður.«

»Guðni, sag bloß nicht, dass du immer noch hinter diesem Kári Brown herschnüffelst. Þórður hat uns gebeten, und ich habe außerdem dich speziell darum gebeten, ihn in diesem Winter in Ruhe zu lassen.«

»Okay.« Guðni musste grinsen. »Dann sag ich es dir eben nicht. Aber wenn ich’s dir sagen würde, dann würde ich dir erzählen, dass mir schon das Wenige, das ich über diesen widerlichen falschen Fuffziger herausgefunden habe, nicht gefällt. Und weißt du, was ich sonst noch glaube?«

Stefán stöhnte und kippte den Rest der Flasche in die Tasse.

»Nein«, gab er zu. »Das weiß ich nicht. Aber du wirst es mir ganz sicher sagen.«

»Ich glaube, dass ich beschattet werde.«

»Dass du beschattet wirst?«, echote Stefán.

»Ja. Beschattet. Beispielsweise glaube ich, dass mir heute Abend ein Auto gefolgt ist bis zu dem Zeitpunkt, als ich ihnen eindeutig signalisiert habe, dass ich von ihnen wusste. Oder von ihm, whatever. Und das war nicht das erste Mal, amigo.«

»Und wer in aller Welt sollte dich beschatten?«, fragte Stefán. »Und weshalb?«

»Das ist es ja«, entgegnete Guðni. »Das ist verflucht noch mal genau das, worüber ich mir den Kopf zerbreche. Ich hab da schon ein paar ganz bestimmte Ideen, mein Lieber, und die kann ich mit dir besprechen, wenn du endlich wieder zum Dienst erscheinst. Ich bin mir total sicher, dass es etwas mit Þórður und der Droko zu tun hat.« Er streckte sich, stellte seine leere Tasse ab und zwinkerte Stefán vielsagend zu. »Wir sehen uns.«

Stefán stand noch eine Weile stumm an der Werkbank, nachdem Guðni gegangen war. Er nippte ein paarmal an seinem Rotwein, und mit jedem Schluck verzog sich sein Gesicht mehr.

»Bodensatz«, murmelte er geistesabwesend und schüttete den Rest weg. »Der ist uns nicht so richtig gelungen, meine Ragga.« Er stellte die Tasse ins Waschbecken und füllte sie mit Wasser, bevor er sich hinter das Steuer des Land Rover klemmte. Er genoss es, dort zu sitzen und nachzudenken, obwohl er wenig Platz hatte. Am besten konnte er im Garten nachdenken, entweder auf der Bank unter dem Ahorn oder genau zu dieser Jahreszeit in den Beeten wühlend. Trotzdem ging es ihm in diesem Frühling in seinem Land Rover in der Garage besser. Um vieles besser, auch wenn draußen die Frühjahrssonne schon die Beete wärmte. Denn in diesem verdammt himmlischen Garten wimmelte es von Erinnerungen.

* * *

»Komischer Ort«, sagte Árni. »Allerdings auch komische Kirche, doch das steht auf einem anderen Blatt.« Er hatte sich eine zweite Zigarette angezündet und genoss sie fast genauso wie die erste.

»Inwiefern komisch?«, fragte Katrín.

»Die Kirche oder der Ort?«, war Árnis Gegenfrage.

»Beides. Fang mit der Kirche an.«

Sie hatten die Kirche und sämtliche Anbauten umrundet, das Gemeindehaus, den Musiksaal und die Büros der kirchlichen Hilfsorganisation. Es war ein ziemlich langer Gang, obwohl die Kirche nicht sonderlich groß war.

»Ach, nur so«, sagte Árni und inhalierte tief. »Einfach nicht kirchlich genug für mich.« Er trat ein paar Schritte zurück und blickte sich um. Sie waren wieder bei der Nische angekommen, vor der man Erla Líf gefunden hatte. »Sie hat keinen Turm«, sagte er. »Und da ist überhaupt nichts Grünes außer dem Unkraut hier an der Wand. Ansonsten nur Kies, Asphalt und Steinplatten.«

Katrín musste lächeln. »Angesichts dessen, was für ein unbelehrbares Stadtkind und überzeugter Atheist du bist, hast du unglaublich altmodische Vorstellungen von Kirchen.«

Árni grinste entschuldigend und trat seine Zigarette aus. Er hatte die größte Lust, sich gleich Nummer drei anzuzünden, fand das aber doch übertrieben.

»Sorry, ich bin halt ein Landei, was Kirchen betrifft. Oder einfach nur altmodisch. Doch das andere – die Location, dass sie hier in dieser Ecke hingelegt wurde …« Er zögerte und überlegte. »Darüber hast du doch bestimmt auch sehr oft nachgedacht«, sagte er dann. »Okay, in erster Linie geschieht es so gut wie vor aller Augen, mitten in der Stadt, auf einem offenen Gelände.« Er drehte sich halb herum und breitete zur Unterstreichung seine Arme aus. Katrín drehte sich ebenfalls um.

»Ja, total offen und sogar relativ gut beleuchtet«, stimmte Katrín zu. »In der Nacht hat außerdem der Mond geschienen, er war fast voll und der Himmel wolkenlos. Doch die Sache ist die: Genau in diese Ecke hat man nur aus einem der Reihenhäuser Einblick, und darüber hinaus nur aus Gebäuden, in denen sich nachts kein Mensch aufhält.«

Die Rückseite des Einkaufszentrums Austurver hatte praktisch gar keine Fenster, und in den oberen Stockwerken des Hochhauses im Besitz der National Power Company gab es keinerlei Anzeichen von Leben. Zur rechten Hand befand sich in einer kleinen Senke eine Kita, und die stand nachts ebenfalls leer. Erwartungsgemäß war in der Nacht zum Ostersonntag in diesen Gebäuden keine Menschenseele unterwegs gewesen. Und genauso wenig in der Kirche.

»Wir wissen, dass er sie im Auto hergebracht haben muss«, sagte Katrín. »Möglicherweise haben Leute, die auf der Háaleitisbraut unterwegs waren, ihn beobachtet, als er auf den Parkplatz einbog und rückwärts in die Ecke einparkte. Doch die einzig möglichen Zeugen für das, was an dieser Stelle passierte, können nur theoretisch irgendwelche Fußgänger sein, die dort unterwegs waren. Soweit wir wissen, gibt es aber niemanden, der hier ein Auto bemerkt hat. Und infolgedessen hat auch niemand beobachtet, wie Erla aus dem Auto zu dieser Nische geschleift wurde.«

»Sie wurde geschleift, nicht getragen?«, hakte Árni nach.

»Ja. Wir haben zwar keine verwendbaren Fußspuren gefunden, weil der Boden solchen Luxus nicht anbietet, aber der Hund hat da ein paar Spuren entdeckt, die er so auslegte, als sei dort jemand diese kurze Strecke geschleift worden. Was wiederum darauf hindeutet, dass der Betreffende allein unterwegs war. Aber es lässt sich nicht ausschließen, dass ein oder zwei Personen währenddessen einfach nur im Auto gewartet haben, während jemand anderes sie zu der Ecke zog.«

»Und man weiß nicht, was für ein Auto das gewesen ist?«

»Nein. Das Wenige, das gefunden wurde, hat dem Hund für die These gereicht, dass es sich wahrscheinlich um einen mittelgroßen Pkw mit Vorderradantrieb gehandelt hat. Oder um einen kleinen Lieferwagen, der rückwärts eingeparkt hat. Also nicht um einen vorwärts einparkenden Wagen mit Hinterradantrieb. Was den Verdacht gegen das Trio abschwächt, denn alle haben Autos mit Hinterradantrieb.«

»Man kann Autos auch mieten«, wandte Árni ein.

»Ja, sicher, aber trotzdem. Im Übrigen könnte es ein Golf, ein Opel gewesen sein oder so was, oder ein Toyota, Nissan, Peugeot, Citroën, Skoda, Hyundai – es gibt unzählige Möglichkeiten.«

»Auch ein Mazda?«, fragte Árni ironisch grinsend.

»Klappe«, sagte Katrín, die vor Kurzem erst ihren achtzehn Jahre alten Mazda hatte abschleppen lassen müssen, mit dem sie schon lange im Clinch gelegen hatte. »Das ist nicht witzig. Und ich bin im Augenblick auch nicht für Witze zu haben.«

Árni errötete und machte keine Anstalten, das zu kaschieren. »Entschuldige«, sagte er, »ich wollte nicht …«

Katrín schüttelte den Kopf. »Kein Problem. Machen wir einfach weiter.«

»Okay«, entgegnete Árni. »Weshalb hast du mich gebeten, hierherzukommen?«

»Weil ich dich um einen Gefallen bitten möchte«, erklärte Katrín rundheraus. »Und zwar ganz persönlich für mich. Es ist zwei Monate her, seit all das passiert ist, und ich weiß mir einfach keinen Rat mehr. Mir fehlen neue Augen, neue Blickwinkel und neue Ideen. Du gehst die Dinge manchmal etwas – wie soll ich sagen, anders an als die anderen. Du hast mit diesem Fall nichts zu tun gehabt, deswegen … Ja. Deswegen ist mir eingefallen, ob du dir nicht mal die wichtigsten Fakten ansehen könntest.«

Árni vergrub die Hände in den Hosentaschen und straffte seine Schultern.

»Katrín, was redest du denn da für einen Stuss«, entgegnete er. »Ich hab zwar nicht bei den neuesten Entwicklungen in diesem Fall mitgearbeitet, aber ich war dabei, als es um die Vergewaltigung ging. Als Erla Líf Darri und seine Freunde angezeigt hat.«

»Ich rede nicht von der Vergewaltigung …«, sagte Katrín.

»Nicht von der Vergewaltigung?«, fiel Árni ihr ins Wort. »Willst du etwa behaupten, dass da keine Verbindung besteht? Was zum Teufel …«

»Das behaupte ich doch gar nicht«, widersprach Katrín. »Ich versuche nur zu sagen, dass nicht notwendigerweise eine Verbindung dazwischen bestehen muss. Und ich schulde es Erla, dass ich mich nicht einfach an irgendwas Augenfälliges klammere. An das, was ich glauben möchte. Ich schulde es sowohl ihr als auch ihrer Mutter und nicht zuletzt mir selber, dass ich sämtliche Möglichkeiten in Betracht ziehe. Auch die, die ich nicht zu Ende denken mag. Deswegen habe ich dich gebeten zu kommen.«

»In Ordnung, was mich betrifft«, sagte Árni. »Aber ich bin in diesem Fall wohl kaum neutraler als du, und auch wenn ich es versuchte, könnte ich es nicht sein. Wenn du jemanden brauchst, der unvoreingenommen und vorurteilslos an Darri und Kumpane rangeht, dann bin ich nicht der Richtige.«

»Ich weiß sehr wohl, was du von den drei Typen hältst, vor allem von Darri. Aber das ist nicht das Problem.«

»Sondern was?«

»Mich haben alle von Anfang an auf dieses Problem hingewiesen, auch du. Und dagegen hab ich gekämpft wie eine Löwin. Bis jetzt.«

»Dass dein Verhältnis zu Erla so eng war?«