Blutdeal - Anni Temp - E-Book

Blutdeal E-Book

Anni Temp

4,8

Beschreibung

Was machst du, wenn du jemanden, den du liebst, verlierst? Verlierst du dich dann selbst? Oder verlierst du dich in eine andere Welt? Adriana erlebt einen solchen Schicksalsschlag und wäre fast daran zerbrochen. Sie versinkt in den Fantasy-Welten der Bücher, die ihre Freunde ihr schenken, bis sie eines Tages ein Buch auf ihrem Nachtschränkchen findet, welches sie an die Existenz von Vampiren glauben lässt. Auf der Suche nach der Wahrheit wird ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Mysteriöse Umstände, Blut und Vampire geben ihr eine Aufgabe und eine neue Liebe und drohen dennoch, alles wieder zu zerstören.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 322

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wenn man überhaupt nicht weiß,

in welche Richtung man gehen möchte,

irrt man orientierungslos durch die Gegend.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog

1.

Sie ist mein einziger Lebensinhalt. Ich werde nach ihr suchen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.

Nachdenklich klappte Adriana das Buch zu und lehnte sich zurück. Das Buch trägt den Namen Wahrheit und es hat ein Schweizer namens Thomas Wind geschrieben. Wahrheit ist ein Buch mit nur 153 Seiten und erschien vor drei Jahren in einer Auflage von 500 Stück. Dennoch hatte es nur 59 Sfr gekostet. Adriana grinste. Offenbar wollten nur Fanatiker wie sie die Wahrheit wissen. Wie viele andere auch schwärmte Adriana für die mystischen Wesen, tat sie aber anfangs als Phantasiegestalten ab.

Mittlerweile füllte ein ganzes Bücherregal das Genre Vampire. Und nun hatte sie dieses Buch. Es handelt von den letzten Tagen des Autors bevor er das Buch schrieb.

Thomas hatte eine mysteriöse junge Frau kennengelernt, nur kurz in einem Café in Luzern. Sie hatte ihn so fasziniert, dass er sie ansprach. Thomas war ein Vampir-Fanatiker und so wie sie stellte er sich eine Vampir-Frau vor: schlank, fast feingliedrig, scheu in der Öffentlichkeit und mit blasser Haut. Sie hatte sich nur oberflächlich mit ihm unterhalten.

Aber Thomas war total verschossen in sie und noch mehr von dem Wunsch beseelt, selbst so wie sie zu werden. Er war überzeugt davon, dass sie ein Vampir war. Doch sprach er mit niemandem darüber, man hätte ihn eh nur verlacht.

Heimlich forschte er nach ihr und fand heraus, dass sie in einer Wohnung am Rande von Luzern im Schatten der Berge wohnte. Durch geschicktes Nachfragen erfuhr er, dass sie Sylvia hieß.

Im Buch beschreibt er seine Bemühungen, mehr über sie und über die wahre Natur der Vampire herauszufinden. Er fand heraus, dass sich Vampire tatsächlich am liebsten im Dunklen bewegten. Das Sonnenlicht schwächte sie. Es war wohl so, als würden Vampire, die sich mehr als eine halbe Stunde in der Sonne aufhielten, anfangen zu fiebern, und die gleichen Symptome aufweisen, wie wir Menschen bei einer schweren fiebrigen Erkältung. Allerdings konnte ein schattiges Plätzchen unter einem Baum oder eine dunkle Ecke in einem Café schon Linderung verschaffen.

Wie sich Sylvia ernährte, konnte Thomas nicht mit Sicherheit sagen. Er sah sie immer nur warme Getränke wie Kaffee oder Tee zu sich nehmen, niemals aber mit Zucker oder Milch. Auch sah er sie nie essen. All diese Beobachtungen bestärkten ihn in seiner Meinung und als er sie schließlich Wochen später wieder in diesem Café antraf, nahm er all seinen Mut zusammen und fragte sie, ob er mit seinen Vermutungen richtig lag. Am Anfang lachte sie, aber als sie seinen Augen ansah, dass es ihm ernst war, verließ sie das Café. Auch er bezahlte und folgte ihr. Sie hatte im Schatten eines Hauses auf ihn gewartet. Gemeinsam liefen Sie durch schattige Straßen und er erhielt auf jede seiner Fragen eine Antwort.

Sie waren bereits weit aus dem Stadtkern von Luzern hinausgewandert, als er sie fragte, ob er so werden könnte wie sie. Sie sah ihn lange mit ihren dunkelblauen Augen an und meinte schließlich, dass er erst einmal Zeit brauche, sich genau zu überlegen, was ihm seine Menschlichkeit bedeutet und worauf er verzichten müsste. Sie meinte, dass die Zeit noch nicht reif wäre. Als er dann den Blick senkte, spürte er einen leichten Luftzug und Sylvia war weg.

Noch oft saß er stundenlang in dem Café und wartete. Doch er sah sie nicht wieder.

Tief in ihrem wunderbar bequemen Korbsessel zurückgelehnt, dachte Adriana über das Buch nach. Dieses Buch war so wirklichkeitsnah und ohne Schnörkel geschrieben, dass es ein Tatsachenbericht sein könnte. In ihr reifte der Plan, nach Thomas Wind zu forschen. Der Gedanke, es könnte so etwas wie Unsterblichkeit geben, faszinierte sie. Außerdem hatte sie sowieso nichts mehr zu verlieren.

Bevor ihre Gedanken in die Schatten der Vergangenheit abdriften konnten, schlief sie ein.

2.

Geld war kein Problem – nicht mehr. Adriana wohnte mit ihrem damals siebenjährigen Sohn in einer Kleinstadt im Süden von Sachsen-Anhalt. Sie hatte das große Glück gehabt, einen Lottojackpot mit 18 Millionen Euro zu gewinnen. In der Nähe der Kleinstadt kaufte sie sich ein Häuschen in Hanglage mit einem kleinen Weinberg und zog mit ihrem Sohn dorthin. Sie kannte Leute in Bayern, die ebenfalls sehr viel Geld hatten und erbat sich Hilfe bei der Anlage ihres Geldes. Es stellte sich heraus, dass deren Finanzberater ein Steuerberater ganz in der Nähe war. Schließlich stammten die Bayern ursprünglich aus der Saale-Unstrut-Gegend. Frank Bentlig hieß er, war verheiratet und hatte ein schönes Haus. Ihm ging es nicht schlecht und daher übte er seinen Job nur noch für einige wenige Klienten aus, mehr aus Hobby als des Geldes wegen. Nach und nach war aus der anfänglichen Geschäftsbeziehung zu Adriana eine Freundschaft entstanden.

Adriana und ihr Sohn Tony waren glücklich miteinander. Sie liebte ihren Sohn und erfüllte ihm jeden Wunsch und Tony gab seiner Mutter sehr viel Liebe zurück. Es war wie ein wunderschöner Traum, dem ein böses Erwachen folgten sollte.

An einem Donnerstag im April vor zweieinhalb Jahren fand dieses Glück ein jähes Ende. Tony kam von der Schule nicht nach Hause. Er war sonst immer pünktlich und rief an, wenn es später werden würde.

Mit ungutem Gefühl ging Adriana zur Bushaltestelle. Schon von weiten sah sie den querstehenden Lastkraftwagen und die blauen Rundumleuchten der Polizei. Mit zitternden Knien und flatterndem Herzen näherte sie sich der Unfallstelle, innerlich hoffend, nicht das vorzufinden, wovor sie sich so sehr fürchtete. Mit einem schmerzenden Kloß im Hals versuchte sie einem Polizeibeamten klarzumachen, dass ihr zehnjähriger Sohn Tony nicht nach Hause gekommen sei. Der Polizeibeamte kannte den Namen des hier tödlich verunglückten Kindes vom Inhalt des Schulranzens. Er ging mit Adriana ein Stück beiseite und sagte betroffen, dass sie jetzt sehr stark sein müsse.

Das Bild ihres Sohnes, wie er da auf der Trage des Krankenwagens lag, würde Adriana nie vergessen können. Die kommenden Minuten, Stunden, Tage bis zur Beerdigung waren unerträglich. Nur die Pflicht zu tun, was getan werden musste, hielt sie aufrecht. Am Grab ihres Sohnes brach sie dann zusammen und wachte erst am folgenden Tag im Krankenhaus wieder auf.

Adriana hatte niemanden, keine Familie mehr und richtige Freunde waren schwer zu finden. Die einzigen Besucher waren ihre Haushälterin und ihr Steuerberater mit seiner Frau. Es war eine unerträgliche Zeit des Leids. Die Ärzte gaben Adriana Beruhigungsmittel und entließen sie nur unter der Option nach Hause, dass eine ständige Betreuerin anwesend war. Linda und Frank besuchten sie oft und gaben ihr Kraft, diese Leidenszeit zu überstehen. Oftmals fehlte Adriana der Wille zum Essen, Trinken und zum Weiterleben. Erst nach über einem halben Jahr trat langsam eine Besserung ein. Irgendwer hatte ein Buch auf das Beistelltischchen neben Adrianas Sessel gelegt. Es war ein Fantasy-Roman – eine willkommene Flucht aus der realen Welt. Es folgte ein zweiter Fantasy-Roman. Und da Adriana wieder anfing normal zu essen und die Lebensgeister sich wieder regten, förderten ihre Freunde das Lesen und besorgten ihr Bücher.

Tonys Zimmer hatte sie nie wieder betreten. Sie bat Erika, das Zimmer räumen zu lassen und irgendwann holte eine Hilfsorganisation das Zimmer ab. Ihr blieben nur noch Fotos und gemalte Bilder, welche Erika sorgsam in Kartons packte, die nun in Adrianas Arbeitszimmer verstaubten. Bis jetzt hatte sie es nicht über sich gebracht, in die Kartons hineinzusehen. Adriana hatte zu viel Angst vor einem erneuten Zusammenbruch, denn sie hatte Linda und ihre Haushälterin unfreiwillig belauscht, die sich damals gegen die Einweisung eines Arztes wehrten, der sie in eine psychiatrische Klinik stecken wollte.

Adriana erwachte und rieb sich den schmerzenden Nacken. Die Kerze auf den Beistelltischchen brannte noch. Sie blies sie aus und ging zu Bett. Morgen würde sie mit den Nachforschungen zu Thomas Wind beginnen.

3.

Die Morgensonne kitzelte Adriana wach. Unten rumorte die Haushälterin und bereitete sicher schon das Frühstück vor. Nach einer erfrischenden Dusche begab sie sich nach unten in die Küche. Durch die Terrassentür lockte eine warme Herbstsonne nach draußen, so dass sich Adriana zwei belegte Toastscheiben und einen Kaffee auf einem Tablett mit hinaus auf die Terrasse nahm. Einen Augenblick ließ sie sich die Morgensonne ins Gesicht scheinen und fing an zu frühstücken. Die Haushälterin wünschte guten Morgen und verabschiedete sich, als Adriana ihre Frage nach weiteren Wünschen verneinte. Sie würde heute Nachmittag mit dem Einkauf zurückkehren und nach dem Rechten schauen. Erika war um die fünfzig Jahre alt und eine richtige gute Seele. Sie pflegte das Haus, kümmerte sich um den Einkauf und beauftragte ihren Mann von Zeit zu Zeit zum Rasenmähen und Hecke schneiden. Adriana vertraute ihr und ließ ihr freie Hand.

Mit wehmütigem Blick sah Adriana auf den verwaisten Pool. Er war noch nicht abgedeckt. Tony mochte den abgedeckten Pool nicht…

Weitere Gedanken in diese Richtung verdrängte Adriana schnell. Sie schnappte sich das Tablett und kam nach wenigen Augenblicken mit einer frischen Tasse Kaffee und ihrem Laptop bewaffnet auf die Terrasse zurück. Sie hatte sich eine Aufgabe gestellt.

Dem Cover des Buches Wahrheit war zu entnehmen, dass Thomas Wind Lehrer an einer Primarschule in Luzern sei und dort Deutsch- und Sportunterricht gab. Das Buch war offenbar sein einziges Buch, zumindest fanden sich im Internet keine weiteren Anhaltspunkte zum Autor.

Also schrieb sich Adriana die Adressen der Primarschulen in Luzern auf und wollte dort ihr Glück versuchen. Sie überlegte, wann der beste Zeitpunkt für die Reise wäre.

Warum nicht gleich? Sie musste auf niemanden Rücksicht nehmen. Verpflichtungen gab es nicht. Morgen würde sie aufbrechen. Sie würde nur Frank und Linda Bescheid geben und auch Erika informieren.

Voller Tatendrang packte Adriana einen kleinen Koffer mit Klamotten für eine Woche und ging in die Garage. Der VW-Touareg war gerade von der Inspektion zurück. Er hatte die Garage in den letzten zweieinhalb Jahren nur zur Inspektion verlassen. Ihre Wege hatte Adriana mit dem Golf erledigt. Jetzt gab es einen guten Grund, das große Auto mal wieder auszuführen. Sie packte die Tasche hinein und programmierte das Navi. Dann telefonierte sie mit Linda und versprach vorsichtig zu fahren. Ihr Angebot mitzukommen schlug sie aus. Schließlich konnte sie den wahren Grund für ihre Reise Linda und Frank nicht nennen. Sie würden sie für verrückt erklären, wenn sie ihnen sagen würde, dass sie einen Schriftsteller besuchen und ihn nach dem Wahrheitsgehalt seines Buches über eine Vampirfrau fragen wolle, welches auch noch den Titel Wahrheit trug. Dieser Gedanke brachte sie zum Grinsen.

Das Wetter zeigte sich Ende September von seiner schönsten Seite und Adriana genoss es. Wieder einmal drehten sich ihre Gedanken darum, was sie mit sich, ihrer Zeit und dem vielen Geld anfangen sollte. Frank kümmerte sich sehr geschickt um ihre Geldanlagen. Trotz der ständigen Ausgaben, des Hauskaufes und der vielen Dinge, die Adriana schon zu Tonys Lebzeiten angeschafft hatte, war ihr Vermögen noch größer geworden. Anfangs hatte sie versucht, die finanziellen Dinge kontrollieren zu wollen und den Finanzdschungel zu verstehen. Sie war kläglich gescheitert und Frank dankbar, dass er ihr die Gelddinge abnahm. Sie vertraute ihm und wusste wie geschickt er mit dem Geld umging.

Wenn sie aus Luzern zurück war, musste sie sich wirklich ernsthaft überlegen, was sie mit dem Geld anfangen könnte. Etwas womit sie sich beschäftigen konnte. Eine Aufgabe.

Adriana erwachte gegen drei Uhr morgens. Sie war zu aufgeregt, um weiterzuschlafen. Sie war am gestrigen Abend zwar erst spät ins Bett gegangen, da sie noch die laue Spätsommernacht genossen hatte. Dennoch erwachte sie so früh. Die Sachen waren schon gepackt und im Auto verstaut. Nach einer ausgiebigen Dusche schnappte sie sich noch die Handtasche und den Laptop und fuhr zehn Minuten später vom Hof.

4.

Spende Blut – rette Leben! las Adriana auf der Rückseite des Kassenbons und hatte diesen Slogan gleich darauf wieder vergessen. Sie stand auf und verließ nach einem unbefriedigenden Frühstück die Autobahnraststätte. Es war kurz nach sechs Uhr und in paar Minuten würde sie die ehemalige innerdeutsche Grenze passieren.

Ihr Auto stand vor einer Reklame mit dem Slogan: Spende Blut – rette Leben!

‚Schon wieder‘, schoss es Adriana durch den Kopf und hatte auch dieses Werbeplakat gleich wieder vergessen.

Mit ruhigen einhundertvierzig Kilometern pro Stunde im Tempomat fuhr Adriana die Autobahn entlang und grübelte über ihre Zukunft nach.

Adriana hatte einen Haufen Geld und nichts zu tun. Eine ganze Weile ging das gut, doch irgendwie regte sich Unruhe in ihr. Irgendetwas musste sie tun. Etwas Sinnvolles. Etwas Cooles. Etwas Neues. Aber was? Wenn man überhaupt nicht weiß, in welche Richtung man gehen möchte, irrt man orientierungslos durch die Gegend.

Welche Möglichkeiten gab es?

Verkaufen? Aber was? Zum Verkaufen muss man geboren sein. Das war nichts für Adriana.

Wohltätigkeit? Ja, nicht schlecht, aber eine dauerhafte befriedigende Tätigkeit war das auch nicht. Letztlich geht es nur ums Geld und irgendwann rennen sämtliche Hilfebedürftigen einem die Tür ein. Wie viele Promis waren denn in wohltätigen Organisationen tätig oder agierten als deren Schirmherren und dennoch tat sich nichts Gravierendes. Nein, da würden weiterhin ihre anonymen Spenden ausreichen müssen.

Was gab es noch?

Dienstleistung? Schon vor dem Lottogewinn hatte Adriana davon geträumt, ein zweites Tropical Island oder einen Wellness-Tempel zu bauen. Nur würde das hier in der Gegend wirklich ankommen? Würde dies eine befriedigende Tätigkeit darstellen? Würde nicht erneut lange Weile eintreten, wenn das Projekt abgeschlossen war und laufen würde? Und wenn dieses Konzept nicht aufgeht? Eine Millionenruine und der dazugehörige Ärger? Nein, danke!

Was gab es noch?

Adriana fiel nichts ein. Bei einer Raststätte kurz vor Stuttgart bog der Touareg von der Autobahn ab. Durch das viele Nachsinnen war die Zeit schnell vergangen und eine Pause dringend notwendig. Diesmal sah das Restaurant sehr modern und neu aus und Adriana kam eine Stunde später mit zufriedenem Gesicht wieder heraus.

Es war nun bald fünfzehn Uhr und Adriana hatte nicht mehr viel Lust zum Fahren. Da es warm und sonnig war, schnappte sie sich den Laptop, setzte sich auf die Bank neben ihrem Auto und suchte nach etwas Schönem zum Übernachten. Sie war nicht mehr weit vom Bodensee entfernt – höchstens noch zwei Fahrstunden. Ihr fiel ein, dass sie vor längerer Zeit bereits einmal in Konstanz gewesen war und sie hatte diese Stadt in sehr guter Erinnerung. Dort gab es auch dieses Inselhotel und genau da würde sie übernachten. Sie suchte sich im Internet die Telefonnummer, griff zum Telefon und reservierte sich ein Zimmer. Sie freute sich jetzt schon auf den abendlichen Spaziergang durch die schöne Parkanlage.

Nachdem der Laptop heruntergefahren und seinen Platz auf dem Beifahrersitz im Auto eingenommen hatte startete Adriana. Sie hob den Blick und stutzte kurz. Genau in ihrem Blickfeld war die Reklametafel: Spende Blut – rette Leben!. ‚Schon wieder‘ dachte sie, ‚Na die müssen es ganz schön nötig haben!‘

Die zwei Stunden Fahrt vergingen schnell. Die Erinnerung an das schön gelegene Hotel versüßte die Fahrt. Glücklicherweise hatte das Navi die unkomplizierteste Route ausgesucht, so dass Adriana die Zufahrt zum Hotelparkplatz Viertel vor Fünf passierte. Nur unterbewusst nahm sie die Werbetafel mit dem Blutspendeslogan wahr, da ihre Gedanken bereits im Hotelpark weilten. Sie checkte ein, bestellte sich noch Frühstück für den nächsten Morgen und brachte ihren Koffer auf das Zimmer. Ohne sich groß umzuschauen schnappte sie sich ihre Handtasche und ging hinaus.

Das Terrassenrestaurant war nur spärlich besucht und Adriana hatte daher einen schönen Platz mit einem wundervollen Blick auf den Bodensee. Sie bestellte sich Pfifferlingsterrine im Tramezzini-Tomaten-Mantel mit Parmaschinken und Aprikosen-Linsen-Salat und zerbrach sich wieder den Kopf über ihre Zukunft.

Ein Hotel? Adriana sah an der Fassade des Steigenberger Inselhotels hoch und bewunderte für einen Augenblick deren Schönheit. Dann wanderte ihr Blick zum Kellner, der soeben einem Pärchen ein sehr lecker aber auch übersichtlich auf dem Teller angerichtetes Fleischgericht servierte.

Ein Kellner wird nicht reichen, sinnierte sie, dann noch der Koch, einen Haufen Servicepersonal, ein Hotelmanager, Rezeption und wer weiß was noch. Die ganze Gestaltung und Einrichtung würde Spaß machen. Wenn die Lage stimmt und das Ding läuft, wäre alles gut. Wenn nicht, gäbe es die nächste Millionenruine. In beiden Fällen wäre danach wieder Langeweile und vielleicht sogar Ärger angesagt.

Bauen und Verkaufen? Das wäre eine Möglichkeit. Adriana legte diese Möglichkeit in ihrem Gedächtnis ab. Leider hielt sich bei dieser Idee die Begeisterung in Grenzen.

Vielleicht sollte Sie erst einmal die Welt bereisen. Aber allein? Kurz schwirrte die Erinnerung durch den Kopf, dass Adriana eine halbe Weltreise in den Sommerferien mit Tony geplant hatte. Ganz schnell würgte sie diesen Gedanken wieder ab.

Der Oberkellner brachte die bestellte Terrine. Sie sah lecker aus und schmeckte auch köstlich. Der leichte französische Weißwein passte sehr gut dazu. Adriana nippte daran und beobachtete die in der Abendsonne glitzernde Oberfläche des Bodensees. Auch in ihrem Weinglas brach sich das Licht der Sonne und sandte ihr einen Strauß Farben.

Noch einen Weinberg? Einen kleinen Weinberg hatte sie am Haus. Erikas Mann hatte Freude daran. Er war gelernter Winzer und kelterte aus den Reben einen schönen leichten Weißwein. Aber der war nur zum Eigenbedarf.

Adriana winkte dem Kellner zum Bezahlen. Hier war der Abendwind schon etwas kühler und langsam machte sich die Müdigkeit nach dem langen Tag des Fahrens bemerkbar. Im Badezimmer ließ sich Adriana ein Bad ein. In der Badewanne knüpfte sie an den Gedankengang wieder an:

Weine, Weinberge und sogar eine Sektkellerei gab es in ihrer Gegend schon. Sie erinnerte sich, dass sie einen schönen Weinkeller in den Hang graben wollte. Allerdings war der Kleinunternehmer schon nach wenigen Metern auf hartes Gestein gestoßen. Es war deshalb nur ein kleiner Weinkeller geworden, aber ausreichend für das bisschen Wein, den ihr Weinberg einbrachte.

Adriana stieg aus der Wanne und schlang das Handtuch um den Körper. Ein zweites Handtuch wickelte sie um die nassen Haare und putzte sich die Zähne. Nach Beendigung der Abendtoilette verließ sie das Bad und wollte vom Bett aus noch ein wenig fernsehen.

Während sie die Fernbedienung suchte fiel ihr der Bauunternehmer noch einmal ein. Das harte Gestein in ihrem Weinkeller hatte nicht natürlich ausgesehen. „Vielleicht ein alter Bunker“, hatte er gemeint. Doch weitere Beachtung hatte sie dieser Bemerkung nicht geschenkt.

,Wo war diese vermaledeite Fernbedienung?‘ Adriana hob eine Faltmappe des Hotels hoch. Es rutschte ein Blatt heraus und sie bückte sich danach.

Schenke Leben – spende Blut! Stirnrunzelnd sah sie das Blatt an. Ihr fielen die vielen Werbeplakate wieder ein, auch die, die sie nur unterbewusst wahrgenommen hatte. Ganz besonders fiel ihr das Wort „Blut“ ins Auge.

Vor lauter Grübeln war das wahre Ziel ihrer Reise ein wenig in den Hintergrund geraten. Sie schob das Blatt zurück in die Hotelmappe und suchte automatisch weiter nach der Fernbedienung, welche sie dann in der Schublade des Nachttisches fand. Sie legte die Fernbedienung auf den Nachttisch, schaltete den Fernseher dann doch nicht ein und legte sich ins Bett. Ohne das schöne Farbspiel des Sonnenuntergangs bewusst wahrzunehmen starrte sie an die Zimmerdecke. Der weiße Stuck färbte sich zuerst rötlich wurde dunkellila und schließlich grau. Die Laternen der Seepromenaden ließen diesen Teil des Bodensees nicht ganz dunkel werden, so dass auch das Hotelzimmer nicht in völliger Dunkelheit versank.

Blut! Thomas Wind hatte Sylvia die Frage nach dem Blut gestellt. Ja, Blut war wichtig und das einzige was einen Vampir am Leben hielt. Allerdings gab es keine – so oft beschriebene – Gier nach frischem Menschenblut.

„Heutzutage“, sagte Sylvia, „brauchen wir keine Menschen mehr abzuschlachten. Es reicht auch nur täglich eine Tasse aus. Wie das mit richtigem Essen ist weiß ich nicht. Ich habe kein Verlangen danach. Der Körper eines Vampirs kann das Essen zwar aufnehmen aber nicht richtig verarbeiten. Genauso verhält es sich beispielsweise mit Milch oder süßen Getränken. Dagegen Kaffee oder Tee spenden kurzfristig sogar Erleichterung und so etwas wie Wärme. Es fühlt sich angenehm im Inneren an.“

Woher das Blut kam, welches Sylvia brauchte, das hatte Thomas nicht gefragt.

Adriana war eingeschlafen.

Ein Hinweisschild gab Auskunft, dass es noch drei Kilometer bis Luzern waren und Adriana wunderte sich, da sie das Gefühl hatte, noch nicht lange gefahren zu sein. Doch dann sah sie in der Ferne schon eine der Primarschulen und beachtete dieses Detail nicht mehr. Aber das Navigationsgerät führte sie daran vorbei. ‚Oh, nein!‘ dachte Adriana ‚Hoffentlich schickt mich das Navi nicht kreuz und quer durch Luzern.‘ Darauf hatte sie beim Programmieren des Navis nicht geachtet. Auch an der nächsten Primarschule schickte das Navi sie vorbei. Das ärgerte Adriana. Warum hielt sie nicht einfach an? Woher wusste sie eigentlich, dass das eine Primarschule war? Adriana wendete und ignorierte das laute aufdringliche „Wenn möglich bitte wenden“ des Navis.

Über einem großen Torbogen stand mit schmiedeeisernen Buchstaben: Primarschule Friedrich Liszt. Dieses Schild war ihr beim Vorbeifahren nicht bewusst aufgefallen. Sie bedankte sich bei ihrem Unterbewusstsein.

Nachdem sie das Auto in einer der Parkbuchten abgestellt hatte, suchte sie nach einer Klingel an dem Torbogen. Sie fand keine. Das heißt warten, und zwar darauf, dass jemand herauskam. Hinter einen Fenster sah sie plötzlich ein Mädchen mit zwei Zöpfen, die mit weißen Bändern durchflochten waren. Sie winkte und Adriana winkte zurück. Dann erschien noch so ein Mädchenkopf und noch einer und noch einer. Schließlich waren an der gesamten Fensterfront winkende Mädchen mit Zöpfen zu sehen. Ganz automatisch winkte sie zurück und kam sich reichlich komisch vor. Plötzlich sah sie einen Mann in der auf einmal geöffneten doppelten Flügeltür des Schulgebäudes stehen der ebenfalls winkte. Jetzt runzelte Adriana die Stirn ‚Was soll das?‘. Sie hob den Blick wieder zu den Kindern, welche nun nicht mehr winkten, sie nicht einmal ansahen, sondern eher verängstigt zu dem Mann nach unten schauten. Adriana folgte diesen Blicken und sah ihn urplötzlich vor sich stehen. Nur das schmiedeeiserne Tor trennte sie noch. Adriana zuckte zusammen. Der Mann sieht genauso aus, wie auf dem Buchumschlag. Das war Thomas Wind. Sie wollte zum Gruß ansetzen, doch der Mann fauchte sie an und zeigte zwei spitze Vampirzähne. Im nächsten Moment sang er mit einer Frauenstimme: Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen Sonnenschein…

Adriana fuhr hoch. Ihr Handy sang dieses alte Lied von Nana Mouskuri, welches schon sehr lange als Weckton abgespeichert war. Sie ließ sich zurück ins Kissen fallen, schnappte sich das Handy und stellte den Weckton ab. Helles Morgenlicht strömte zum offenen Fenster herein und vertrieb den Traum aus Adrianas Gedanken. Sie reckte sich und stand auf. Sie war noch immer in Handtücher eingewickelt.

Nach einer erfrischenden Dusche und ausgiebigen Morgentoilette packte Adriana alles zusammen und verschloss den Koffer. Sie freute sich auf das Hotelfrühstück. Schon seit ewigen Zeiten hatte sie kein Hotelfrühstück mehr gehabt. „Ich sollte wirklich erstmal ausgiebig verreisen“, murmelte sie. Den Koffer ließ sie auf dem Zimmer. Sie würde ihn später holen. Erst gegen elf Uhr musste sie aus dem Hotelzimmer raus sein.

Zwei Stunden später saß Adriana im Auto und wollte ihr Navi programmieren, als die Erinnerung an den Traum zurückkam. Mit Hilfe des Stadtplanes auf dem Laptop versuchte sie die Adressen der in Frage kommenden Schulen in einer sinnvollen Reihenfolge ins Navi einzuspeichern. Danach fuhr sie los.

5.

„Sie haben ihr Ziel erreicht“, gab die nüchterne Frauenstimme des Navigationsgerätes an. Adriana parkte ein, stellte den Motor ab, stützte die Arme auf das Lenkrad und legte den Kopf darauf.

Bis Luzern war es nicht weit gewesen – ungefähr eineinhalb Stunden Fahrt. Bei der ersten Schule war der Unterricht bereits beendet und viele Lehrer nicht mehr da. Aber Adriana konnte noch einen Lehrer erwischen, der die Schule verließ. Er verneinte die Frage nach Thomas Wind. Dieselbe Auskunft erhielt sie auch bei den nächsten beiden Schulen. Bei der vierten Schule aber hatte sie Glück. Eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren und einer modischen, eher unaufdringlichen Brille verschloss gerade das Schulhaus und sagte ihr, dass sie Thomas Wind vom Studium kenne. Er wäre wohl einen Studiengang über ihr gewesen.

„Aber er arbeitet nicht hier“, sagte sie, „Ich habe gehört, dass er an der St. Karli sei. Bitte versuchen Sie es dort.“

Adriana hatte sich für die Auskunft bedankt und im Internet nach der Anschrift der Schule gesucht.

Müde hob Adriana den Kopf. Das Schulhaus war ruhig und leer. Sie würde morgen wiederkommen müssen. Luzerns Stadtverkehr war anstrengend gewesen und sie suchte nun nach einem Hotel zum Übernachten. Sie fand das Ameron Flora Hotel und hoffte, dass dort noch ein Zimmer frei war.

Sie hatte Glück, denn an der Rezeption sagte man ihr, dass gerade noch ein Doppelzimmer frei wäre. Auf dem Zimmer ließ sie sich aufs Bett fallen. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es in ein paar Minuten siebzehn Uhr sei. Adriana blieb noch einen Augenblick liegen und zog dann aus ihrer Handtasche einen Stift und ihren Notizblock hervor. Kurz darauf legte sie Beides wieder beiseite.

Die Fragen würden sich im Gespräch ergeben. ‚Ich bin ja keine Journalistin, die sich vorbereiten muss.‘

Sie legte sich auf den Rücken und stellte sich vor, wie das Gespräch morgen ablaufen könnte. Schließlich raffte sie sich auf, machte sich ein wenig frisch und zog sich um.

Das Hotel war nicht weit von der bekannten Kapellbrücke entfernt. Adriana schlenderte über die Brücke und dann zur Promenade am Vierwaldstättersee. Zum Shoppen hatte sie keine Lust, aber sie kaufte sich ein Eis und ließ sich damit auf einer Bank nieder. Adriana genoss den Seeblick. Sie erinnerte sich an ein schönes kleines Restaurant, an dem sie vorbeigelaufen war. Dort beschloss sie zu Abend zu essen.

Adriana hatte sich einen Salat bestellt und einen Weißwein und wieder angefangen über ihre Zukunft zu grübeln. Sie winkte dem Kellner und zog ihr Portemonnaie aus der Handtasche. Dabei fiel der Bon für das gestrige Frühstück aus der Handtasche. Spende Blut – rette Leben. Ihr fiel wieder ein, dass Thomas Wind nichts darüber gesagt hatte, woher Sylvia das Blut hatte, welches sie trinken musste.

Sie bezahlte die Rechnung und erhob sich. In Gedanken versunken schlenderte Adriana zurück zum Hotel. Es war mittlerweile dunkel geworden, obwohl es noch gar nicht so spät war. Die ersten Regentropfen erwischten Adriana noch bevor sie das Hotel betrat.

Was war das für Blut, das Sylvia trank und woher hatte sie es? Kurz amüsierte es sie, dass sie bereits an die Existenz der Vampire glaubte. Aber dann folgte sie dem vorigen Gedankengang:

Wenn es noch mehr Vampire gäbe, die beispielsweise Blutbeutel aus Krankenhäusern stahlen, dann wäre klar warum so viel Werbung mit Blutspende gemacht wurde. Über diesen Gedanken musste sie grinsen. Ihr fiel eine Episode aus dem Film Underworld ein. Dort sagte die Vampirfrau Selene, dass das Blut was sie brauchen, geklont sei und die Herstellerfirma den Vampiren gehöre.

Gab es das? Konnte man Blut klonen? Wenn man einen ganzen Organismus, wie zum Beispiel Sally, das Schaf, klonen konnte, warum sollte man dann Blut nicht klonen können? Sally war unter Garantie nicht blutleer. Adriana nahm sich vor, im Internet mal die Frage zu googeln, ob Blut geklont werden könne.

Draußen peitschte starker Regen an das Fenster und ein Donnergrollen riss Adriana aus ihren Gedanken. Fasziniert beobachtete sie das Wetterleuchten bis das Gewitter weitergezogen war. Dann duschte sie, legte sich ins Bett und schaltete den Fernseher ein. Es lief irgendein alter Gangsterfilm, bei dem ihr die Augen zufielen. Irgendwann in der Nacht erwachte Adriana kurz. Der Fernseher zeigte eine Waschmittelwerbung. Sie schaltete ab und schlief weiter bis zum Morgen.

6.

… Noch viele Tage saß ich nach der Arbeit stundenlang in dem Cafe und vernachlässigte immer mehr mein bisheriges Leben. Ich wartete und hoffte. Immer wenn die Tür aufging, schaute ich hoffnungsvoll auf und wurde immer wieder enttäuscht. Doch sie kam nicht mehr. Es dauerte lange, bis ich das begriff. Eines Tages stand ich einfach auf, verließ das Cafe und lief mit leerem Blick nach Hause. Dort saß ich – ich weiß nicht wie lange. Eine Stunde? Einen Tag? Zwei Tage? Mir war alles egal. Schließlich machte sich Ruhelosigkeit in mir breit und ich fing an, wahllos Sachen in einen Koffer zu werfen. Mein Kopf war leer und mein Leben – so wie ich es bisher kannte – zu Ende.

„Sie ist mein einziger Lebensinhalt. Ich werde nach ihr suchen, und wenn es das letzte ist, was ich tue.“

Adriana schlug das Buch zu und packte es in ihre Handtasche. Sie war kurz nach Sonnenaufgang erwacht und da es noch zu früh zum Frühstücken war hatte sie die letzten Seiten des Buches Wahrheit noch einmal gelesen. Sie hatte die Begegnung mit Thomas Wind nicht durchgeprobt aber beschlossen, ihn ohne weitere Umschweife auf das Buch anzusprechen.

Im Bad gab Adriana sich große Mühe, ihr Äußeres möglichst vorteilhaft erscheinen zu lassen. Sie hatte von Natur aus eine blasse Haut. Sorgfältig getuschte Wimpern umrahmten ihre blauen Augen. Ein rosafarbener Lipgloss betonte ihre Lippen auf natürliche Weise. Das hellbraune Haar fiel ihr in leichten Wellen über die Schultern. Ihre Kleider wählte sie sportlich-elegant und ging frühstücken.

Offenbar hatte Adriana alles richtig gemacht. Die Männer sahen ihr hinterher, die Frauen runzelten verärgert die Stirn und der Kellner, der den Kaffee brachte, behandelte sie äußerst zuvorkommend. Am liebsten hätte sie laut losgelacht und setzte sich halb mit dem Rücken zum Frühstückssaal. Nachdem sie sich wieder unter Kontrolle hatte, drehte sie den Kopf und suchte das Buffet. Ein paar der anwesenden Herren starrten in ihre Kaffeetassen, so als ob darin etwas Spannendes vorging. Normalerweise machte Adriana nicht viel Aufheben um ihr Aussehen. Sie bevorzugte bequeme, eher sportliche Kleidung, schminkte sich fast nie und blieb meistens damit unauffällig.

Aber im Moment hatte sie Spaß und ließ ihre Hüften extra kreisen auf dem Weg zum Buffet. Auf dem Weg zurück zu ihrem Tisch musste sie feststellen, dass von den wenigen anwesenden Frauen einige fehlten und die zurückgelassenen Männer sich mit dem Austrinken des Kaffees oder der Speisekarte oder der sorgfältig gefalteten Zeitung sehr viel Zeit ließen.

‚Tsss! Männer!‘, dachte sie aber freute sich über diese Reaktionen. So konnte sie hoffen, dass ihr Anblick auch Eindruck auf Thomas Wind machen würde. Das Buffet war nicht ganz so exklusiv wie im Steigenberger Inselhotel, aber dennoch ein gutes Hotelfrühstück, welches Adriana sehr genoss.

Nachdem sie das Frühstück beendet hatte, holte sie noch ihre Handtasche aus dem Hotelzimmer und machte sich auf den bereits bekannten Weg zur St. Karli Primarschule.

Unterwegs rief Adriana die Schule an und bat um ein Gespräch. Als sie ihr Auto eingeparkt hatte und zur Eingangstür des Schulhauses lief bemerkte sie, dass sie bereits erwartet wurde. Die Schulleiterin stellte sich mit Frau Portli vor und bat Adriana, sie in ihr Büro zu begleiten.

„Nun, Frau Weidner, Sie sind hier wegen unseres Lehrers Thomas Wind?“

„Ja“, antwortete sie und holte das Buch aus der Handtasche, „Ich wollte gern mit Herrn Wind über dieses Buch sprechen. Wäre es möglich, dass Sie ihm diese Nachricht überbringen. Ich würde dann nach Schulschluss wiederkommen, sofern Herr Wind momentan keinen Freiraum hat.“

Frau Portli starrte das Buch an und seufzte. Sie stand auf und holte ein zweites Exemplar dieses Buches und legte es auf den Tisch.

„Leider können Sie nicht mit Herrn Wind sprechen.“

Adriana zog eine Augenbraue nach oben und wartete ab. Die Schulleiterin seufzte erneut und fuhr fort: „Vor ungefähr drei Jahren ging Thomas nach Schulschluss nach Hause. Er kam nie wieder und seitdem hat ihn auch niemand wieder gesehen. Wir stellten Nachforschungen an. Doch Thomas war verschwunden. Ein paar Monate nach seinem Verschwinden erschien dieses Buch. Ich kaufte das Buch und hoffte, dass es Aufschluss über den Verbleib unseres Lehrers gibt.“ Frau Portli verstummte und sah Adriana fragend an. „Was halten Sie von diesem Buch?“

Diese Frage kam unerwartet. Mit einem langgezogenen „Hmmm, tja…“, versuchte Adriana Zeit zu schinden und fieberhaft eine Antwort zu finden, die nicht lächerlich klang. Schließlich kam ihr eine Idee: „Ich wollte Herrn Wind eigentlich fragen, ob ich seine Ideen übernehmen darf. Ich will selbst einen Fantasy-Roman schreiben und fand seine Beschreibung zu Vampiren irgendwie sehr logisch.“ Sie räusperte sich. „Chrm, naja für Fantasy-Verhältnisse natürlich.“ Adriana starrte auf das Exemplar des Buches der Schulleiterin und fuhr fort: „Es ist natürlich alles sehr mysteriös, wenn man den Schluss des Buches betrachtet.“

„Ja“, antwortete Frau Portli, „Im Nachhinein stellte ich noch weitere Ungereimtheiten mit dem Verschwinden von Thomas Wind fest. Zunächst einmal erschien dieses Buch in einer Auflage von nur 500 Exemplaren. Ich recherchierte selbst nach Thomas Wind und seinem Buch und entdeckte in einer großen Tauschböse einen Käufer mit dem Namen Dracula“, bei der Erwähnung dieses Namens schnellten die Augenbrauen von Frau Portli spöttisch nach oben, „und fand mit Hilfe der Polizei heraus, dass dieser Dracula bereits 489 Exemplare dieses Buches erstanden hatte. Die Polizei hat Thomas Wind oder diesen mysteriösen Dracula bis zum heutigen Tag nicht gefunden und auch keinerlei Hinweise, die uns helfen könnten, unseren beliebten Lehrer wiederzufinden.“ Sie machte kurz Pause und musterte Adriana misstrauisch. „Und wissen Sie, was auch komisch ist?“

Adriana schüttelte den Kopf und sah Frau Portli fragend an.

Die Schulleiterin beugte sich vor und sprach in einem misstrauischen Ton weiter: „Im Winter des letzten Jahres erschien bereits schon einmal eine äußerst hübsche junge Dame hier und fragte nach Thomas Wind.“ Sie ließ diese Aussage im Raum stehen und Adriana richtete sich ärgerlich auf.

„Was wollen Sie damit andeuten? Wollte diese Frau etwa auch einen Fantasy-Roman schreiben?“

Das Misstrauen wich aus den Augen der Schulleiterin. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah Adriana traurig an. „Nein wollte sie nicht. Sie suchte nach Thomas und fragte mich, ob ich ihr helfen könne, ob noch Angehörige existierten. Doch Thomas war ledig, ein Einzelkind und hatte seine Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren. Ich fand halt nur komisch, dass sie mich beim Abschied fragte, ob ich ein Exemplar seines Buches besäße. Ich habe gelogen.“ Sie seufzte und murmelte. „Immer und immer wieder dieses Buch!“

Adriana schwieg. Offenbar war Thomas Wind sehr beliebt gewesen und Frau Portli hätte ihn gerne wieder an ihrer Schule. Thomas Wind war also verschwunden. Sagte das Buch die Wahrheit und er suchte nach Sylvia? Warum kaufte jemand dieses Buch in so großer Menge?

„Wissen Sie“, sagte Frau Portli plötzlich, „als Sie heute anriefen und Thomas Wind zu sprechen wünschten, hatte ich die Hoffnung, dass Sie uns Hinweise zu seinem Verschwinden geben könnten. Diese Hoffnung ist nun dahin. Ich glaube mittlerweile daran, dass die Sache mit dem Buch irgendwie auch mit seinem Verschwinden zusammenhängt. Vielleicht gibt es diese Sylvia ja wirklich.“

„Sie glauben an Vampire?“, unterbrach Adriana sie ungläubig.

„Nein, so ein Unsinn! Ich glaube nicht an Vampire. Aber vielleicht war diese Sylvia ja tatsächlich eine mysteriöse junge Frau, in die sich Thomas verliebt hatte. Ich hätte mir für Thomas die große Liebe gewünscht, weil er immer so einsam und doch so kinderlieb war. Wir hätten ihn so gern zurück.“ Die Schulleiterin hatte sich resigniert zurückgelehnt und schien über irgendetwas nachzusinnen. „Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann“, sagte Adriana und erhob sich. Sie wollte jetzt raus und musste ihre Enttäuschung verarbeiten. Sie reichte der Schulleiterin die Hand. „Auf Wiedersehen und viel Glück bei ihrer Suche!“

Frau Portli war aufgestanden und drückte Adriana die Hand: „Vielen Dank, auf Wiedersehen!“ Sie atmete tief durch und fügte noch hinzu: „Sie finden allein hinaus?“

„Ja“, antwortete Adriana und verließ das Büro.

7.

Adriana saß in einem Straßenrestaurant in der Nähe der Kapellbrücke. Aber sie hatte sich nur etwas zu Trinken bestellt. Hunger hatte sie keinen.

Nachdenklich zog sie an dem Strohhalm welcher in einem Glas gefüllt mit Erdbeershake stak. Adriana war nun felsenfest davon überzeugt, dass Thomas Wind Sylvia suchte. Alles andere ergab doch keinen Sinn. Er hatte einen Job, war beliebt bei Lehrern und Kindern und er hatte seine Angehörigen verloren. Adriana zog eine schwache Parallele zu sich selbst.

„Verdammt!“, entfuhr es ihr leise. Sie hätte sich diese Reise sparen können, wenn sie nur ein wenig intensiver nachgedacht hätte.

Auf der anderen Seite: Was schadete diese Reise? Sie hatte nun seltsamerweise die Gewissheit, dass das Buch den Tatsachen entsprach. Also war sie doch nicht umsonst nach Luzern gekommen.

,Aber was hatte die Geschichte mit dem Buch auf sich. Warum kauft jemand 489-mal ein und dasselbe Buch? So etwas machte man doch nur, um zu verhindern, dass das Buch bekannt wurde. Nur warum sollte das jemand wollen und wer war dieser Jemand? Sylvia? War sie es, die bei Frau Portli war?‘ Fragen über Fragen.

,Wenn Thomas wegen des Buches verschwunden ist und alles den Tatsachen entspricht, dann gibt es auch Vampire. Sie sind real und sie verstecken sich. Und wenn ich Thomas Wind nicht finde, werde ich auch nie einen Vampir finden und nie die absolute Gewissheit haben.‘

Der Strohhalm zog Luft und das laute peinliche Geräusch riss Adriana aus ihren Gedanken. Sie winkte dem Kellner und beobachtete ein Pärchen, welches sich erfreut über ein paar Bilder beugte, die sie erstanden hatten. Soweit Adriana sehen konnte, zeigten Bilder die Luzern und die Umgebung der Stadt. Es waren sehr schöne Gemälde.

Der Kellner nannte Adriana den Preis für die Bestellung und sie bezahlte. Dann stand sie auf und trat zu dem Pärchen. Die junge Frau wirkte erleichtert, als Adriana nur wissen wollte, wo man solche Bilder kaufen könne.

Adriana wollte für ihre Freunde ein kleines Geschenk mitbringen und die Bilder hatten ihr sehr gefallen. Laut Auskunft des Pärchens war das Geschäft nicht weit entfernt und Adriana erstand drei schöne Gemälde. Ein großes mit dem Blick auf den Birkenstock hatte sie für sich gekauft und auch schon eine genaue Vorstellung davon, wo sie es hinhängen würde. Ein zweites großes Bild zeigte den Vierwaldstättersee und Luzern im Hintergrund. Ein drittes kleineres Bild zeigte die Luzerner Uferpromenade am Vierwaldstättersee. Das kleine Bild sollte Erika bekommen.

Adriana verstaute ihre Einkäufe sorgfältig im Auto und fuhr in die Tiefgarage des Hotels. Es war erst zwei Uhr am Nachmittag und Adriana wollte noch nicht nach Hause fahren.

Im Hotelzimmer fiel ihr dann ein früherer Gedankengang ein. Zuerst hatte sie darüber geschmunzelt, aber jetzt reifte eine bisher noch vage Idee in ihr.

Es stand immer noch die Frage offen, womit sie sich beschäftigen sollte. Eine Aufgabe – eine coole Aufgabe – etwas Neues! Sie zog ihr Portemonnaie hervor und betrachtete den Bon, welcher ihr Frühstück an der Autobahnraststätte nachwies. Spende Blut – rette Leben.

Das Blut! Warum sollte sie ihr Geld nicht für ein wissenschaftliches Forschungsprojekt ausgeben. Adriana hatte sich ja sowieso vorgenommen im Internet mal nachzuforschen, ob Klonen von Blut möglich war.