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Vampire, Piraten, Geheimnisse, Blut, Macht und ein unbeschreiblicher Schatz. Sebastian ist ein einfacher Vampir in einer Piratencrew, als plötzlich eine feindliches Schiff Jagd auf ihn macht. Angeblich weiß er von der Lage eines uminösen Schatzes. Das einzige Problem, seine Erinnerung reicht gerade einmal ein Jahr zurück. In seiner Verzweiflung sucht er Hilfe bei Fremden, die mehr über ihn wissen, als er selbst. Ein Fantasy-Roman mit einem Tempo, wie ein Sturm. Lass dich mitreißen in eine Welt voller Gefahr und Magie. Zerrissen zwischen Religion und übernatürlichen Kreaturen.
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Seitenzahl: 443
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Das Schatzschiff – Auf Kaperfahrt in der Karibischen See Originaltitel: „Porto Bello Gold“ Howden Smith & Helmut Höfling Übersetzt und bearbeitet von Helmut Höfling published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Das Geheimnis meines Vaters
Der Einbeinige und das irische Mädchen
Ein nächtlicher Besuch
Wetterleuchten
An Bord der Brigg
Stolze Schiffe – wüste Menschen
Murrays Plan
Der Traum eines alten Halunken
Die Insel
Geiseln
Peter würfelt mit dem Schicksal
Die `Santissima Trinidad´
Schleichende Sorgen
Der Totenschragen
Verdacht
Verrat
Sturm
Pech
Der Angriff auf die Palisaden
Gefangene
Flints Methode
„Hol Rum nach achtern, Darby McGraw!“
Käpt’n Bill Bones
Die letzte Reise
Wer hat nicht schon Stevensons weltberühmten Abenteuerroman „Die Schatzinsel“ gelesen?
Wer kennt nicht Käpt’n Bill Bones, der mit der Schatzkarte geflohen war und den seine Kumpane um die halbe Welt verfolgten? Oder wer hat noch nichts von jenem unheimlichen blinden Pew gehört?
Vor allem jedoch wird er sich an einen einbeinigen Seemann erinnern: John Silver. Dieser Erzhalunke war klüger und listiger, verschlagener und rücksichtsloser als alle zusammen.
Das sind nur einige der Piraten, denen wir in diesem Abenteuerroman wieder begegnen.
Im „Schatzschiff“ lernen wir auch jenen sagenhaft-berüchtigten Seeräuberkapitän Flint kennen, von dem die Piraten in der „Schatzinsel“ immer wieder mit leuchtenden Augen erzählen.
Im „Schatzschiff“ erfahren wir ferner genau, wie es dazu kam, dass auf einer einsamen Insel in der Karibischen See – eben jener Schatzinsel – Gold, Silber und Edelsteine vergraben wurden.
Mit anderen Worten:
„Das Schatzschiff“ ist die nicht weniger abenteuerreiche und spannende Vorgeschichte der Piraten aus Stevensons Roman „Die Schatzinsel“.
Man könnte auch sagen: „Das Schatzschiff“ ist der erste Band – „Die Schatzinsel“ der zweite.
Ich stand im Kontor und schwatzte mit Peter Corlaer, dem Wortführer unserer Pelzhändler. Er war erst heute flussabwärts aus dem Jagdgebiet der Irokesen-Indianer zurückgekehrt.
Mitten hinein in unser Gespräch platzte Darby, der Laufbursche. Er kam von der Straße hereingestürmt und rief:
„Das Postschiff von Bristol ist da, Master Robert! Und die Bootsführer sagen, vor dem Hook segelt ein Piratenschiff!“
Über die Mischung von Furcht und Entzücken in seiner Miene musste ich lachen. Er war ein durchtriebener Grünschnabel, ein richtiger Schlingel, der erst mit dem letzten Einwandererschíff von Irland zu uns nach Amerika gekommen war.
„Dass jetzt das Postschiff anlegt, glaube ich dir gern, Darby“, antwortete ich. „Aber den Piraten musst du mir erst einmal zeigen.“
Peter Corlaer ließ sein übliches Kichern hören, wobei sein ungeheurer Bauch unter dem hirschledernen Jagdhemd wie ein Riesenpudding wackelte.
„Jo, zeig uns den Piraten“, spöttelte er.
Darbys irisches Temperament brach aus ihm heraus wie Aschenregen aus einem Vulkan. Es war, als flösse die rote Farbe seiner Haare übers ganze Gesicht.
„Schade, dass ich kein Pirat bin und Sie nicht mein Gefangener!“
„Wieso, Kleiner?“, grunzte Peter.
„Dann würde ich Sie über die Planke schicken, Sie Fettwanst! Das schwöre ich Ihnen!“
Peter kicherte.
„Nicht so hitzig, Darby“, sagte ich, „bis dahin hat’s noch reichlich Zeit. Hast du die Aufträge meines Vaters erledigt?“
„Ja, alle“, erwiderte er.
„Gut. Dann scher dich ins Lagerhaus und sortiere die Häute, die Peter gebracht hat. Selbst ein Seeräuber muss arbeiten.“
Mit mürrischem Gesicht zog er ab, während ich mich wieder an Peter wandte.
„Mein Vater möchte bestimmt gern hören, dass das Postschiff da ist“, erklärte ich. „Wollen Sie mit mir zum Gouverneur gehen? Die Ratssitzung muss jeden Augenblick zu Ende sein. Die Herren tagen nämlich schon seit heute Mittag.“
Peter richtete seinen gewaltigen Körper auf. Wie immer, wenn ich ihn längere Zeit nicht gesehen hatte, staunte ich über seine hünenhafte Gestalt. Ein Klumpen fetter Glieder, eine Pökeltonne von Rumpf, eine schlabbrige Schwarte von Gesicht mit nichtssagenden, winzigen Zügen, die zu seinem sonstigen Umfang in groteskem Widerspruch standen: Das war Peter.
Doch unter seinen Speckschichten lagen stahlharte Muskeln verborgen, und er konnte flink sein wie ein Wiesel. Weit und breit gab es keinen Mann, der Peter waffenlos die Stirn geboten hätte und heil davongekommen wäre.
„Meinetwegen“, sagte er. „Gehn wir also zum Gouverneur.“
Wir traten auf die Pearl Street hinaus und gingen westwärts zum Hannover Square. Dort, am anderen Ende des Platzes, erspähte ich meinen Vater mit Gouverneur Clinton und Vizegouverneur Colden.
Ich war stolz und glücklich, als ich bemerkte, wie diese beiden und mehrere andere angesehene Herren an seinen Lippen hingen. Während des Aufstands von 1745 hatte ihn mancher verleumdet, denn man wusste, dass mein Vater in seiner Jugend ein Jakobit gewesen war. Aber seine Freunde erwiesen sich mächtiger als seine Feinde. Er war einer der einflussreichsten Führer, die König Georgs Rechte und Machtbefugnisse in New York wahrten. Und das zu einer Zeit, als viele mit dem englischen Thronerben gemeinsame Sache machen wollten.
Mein Vater sah Peter und mich näher kommen und winkte uns zu sich. Doch im gleichen Augenblick gab es einen kleinen Auflauf am Ostrand des Platzes. Eine zweite Gruppe tauchte auf: ein paar Männer, um einen grauhaarigen, rotwangigen alten Kerl geschart, dessen blauer Rock mit den Salzflecken ebenso den Seemann verriet wie sein schlingernder Gang.
Über den Platz herüber grölte er mit heiserer Stimme:
„Der Teufel hol mich, wenn’s nicht so war! Und wie ich in den Hafen komme, was seh ich da? Kein einziges Kriegsschiff vor Anker!“
„Was ist denn, Kapitän Farraday?“, rief mein Vater ihm zu.
Kapitän Farraday fertigte seine Zuhörer ab, die ihn bisher begleitet hatten, und stapfte über den Platz. Dabei brüllte er seine Antwort mit einer Stimme heraus, dass es die Krämer vor ihre Ladentüren und die Frauen an die Fenster lockte.
„Ich bin gejagt worden, Master Ormerod, jawohl, gejagt von so ‘nem verdammten Piraten! Der Satan selbst könnte unsere königliche Majestät nicht schlimmer verhöhnen.“
Da bemerkte er, wer meinen Vater begleitete. Sein Hut flog vom Kopf, und Kapitän Farraday machte eine linkische Verbeugung.
„Ihr Diener, Euer Exzellenz! Meine Hochachtung, Master Colden! Verzeihen Sie mir, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe. Aber was ich gesagt habe, bereue ich nicht. Ja, ich möchte sogar noch mehr dazu sagen! Noch viel mehr! Wir müssen schon verdammt weit runtergekommen sein, wenn sich diese Halunken nordwärts bis zu unseren Häfen wagen!“
Peter Corlaer und ich schlossen uns der kleinen Gruppe von Kaufleuten an, die beim Gouverneur standen. Die anderen Neugierigen lungerten respektvoll in der Nähe umher.
„Ich kann’s nicht glauben, Kapitän“, sagte Gouverneur Clinton ziemlich heiter. „Piraten? In diesen Breiten? Erzählen Sie uns doch von Ihrem Erlebnis. Haben Sie das Schiff, das Sie verfolgte, auch deutlich gesehen?“
„Deutlich gesehen? Das will ich meinen, Sir! Verdammt deutlich sogar! Vor zwei Tagen kam es von Südosten heran. Zuerst hielt ich’s für ’ne Fregatte. Nach den Toppwimpeln, die es führte.“
„Eine Fregatte?“, bezweifelte Master Colden. „So groß?“
„Ja, Sir! Und ich will keine Flasche Rum mehr anrühren, wenn’s nicht die `König Jakob´ gewesen ist. Schon einmal war die Fregatte hinter mir her. Drei Tage lang. Damals, als ich vor Jahren von Westindien heimwärts segelte.“
„Das könnte das Fahrzeug des Burschen sein, der als Kapitän Rappee bekannt ist“, sagte mein Vater.
In seiner Stimme lag ein merkwürdiger Klang, der mich veranlasste, ihn schärfer zu betrachten. Es war unverkennbar, dass er mit einer starken Erregung kämpfte. Aber seine Gesichtszüge strafften sich nur leicht. Keiner außer mir bemerkte es. Ich staunte umso mehr, als mein Vater eiserne Nerven besaß. Viele außergewöhnliche Abenteuer hatte er in jüngeren Jahren erlebt – jedoch nie zur See.
„Ja, Rappee…“, wiederholte Kapitän Farraday die letzten Worte meines Vaters. „Da können Sie recht haben, Master Ormerod. Seit Henry Morgan in der Hölle schmort, hat’s keinen hartgesotteneren Schurken mehr gegeben. Vor zehn Jahren hat er einen Maat von mir erwischt. Vor Jamaika. Der hat ihn leibhaftig gesehen. Ausgezeichnete Manieren soll der Kerl haben und piekfeine Kleider wie ’n Londoner Stutzer. Aber ein Halunke ist er trotzdem. Und ein Erzjakobit dazu wie kein zweiter. Das beweist schon der Name seines Schiffes.“
„Gewöhnlich soll er nicht allein segeln“, bemerkte mein Vater. „Stimmt das?“
„Ja, er arbeitet mit John Flint zusammen. Genauso ein Halunke, nur etwas ungehobelter. Flint segelt auf der `Walross´, einem Schiff, wie unsereiner es sich sein Lebtag vergeblich wünscht. Es war damals auf Kurs von Plymouth nach Smyrna, als es ihm in die Hände fiel. Tja, Flint und Rappee – die zwei geben ein feines Gaunerpaar ab!“
Mein Vater nickte. „Man hört so allerlei…“
„Neulich haben sie erst vor Madeira das portugiesische Linienschiff in den Grund gebohrt“, brachte Kapitän Farraday zwischen den Zähnen hervor. „Aus reiner Zerstörungswut! Ja, wirklich! Sie haben genug Kanonen an Bord, um es mit ein paar königlichen Kriegsschiffen aufzunehmen. Aber sie lassen lieber die Finger davon. Portugiesen, Franzosen, Spanier oder arabische Seeräuber – ja, die überfallen sie. Aber mit den Matrosen Seiner Majestät von England wollen sie keine Kugeln wechseln.“
„Warum eigentlich nicht?“, unterbrach ihn Master Colden verwundert.
Fragend hob Kapitän Farraday die Schultern.
„Ich weiß auch nicht, warum. Feigheit ist’s bestimmt nicht. Vielleicht denken sie, wenn sie’s täten, dann würden die Mylords der britischen Admiralität doch aus ihrem Schlaf erwachen und ’ne Flotte strammer Fregatten gegen sie vom Stapel lassen. Wir armen Kauffahrer könnten dann endlich mal wieder aufatmen.“
Kapitän Farraday hielt inne, um Atem zu schöpfen. Diese Gelegenheit ergriff Gouverneur Clinton, um ihn lächelnd zu fragen:
„Kapitän Rappee haben Sie Ihren Verfolger genannt… Was ist das für ein Name?“
Der Handelskapitän zuckte die Achseln. „Das weiß niemand, Sir. Ein Spitzname, aber sein einziger Name überhaupt. Vor gut zwanzig Jahren soll Rappee ein Postboot aus Chesapeake angehalten haben. Als er an Bord kam, fragte er als Erstes, ob `Rappee´ unter der Ladung sei. Anscheinend hatte er ’ne merkwürdige Vorliebe für diese Schnupftabakmischung. Deshalb sollen ihm seine eigenen Leute den Spitznamen Rappee gegeben haben, denn sogar sie selbst wissen nicht einmal genau, mit welchem Namen er auf die Welt gekommen ist.“
„Der Mann erscheint mir immer seltsamer“, meinte der Gouverneur.
„Er soll früher ein Gentleman gewesen sein, der für seine politischen Überzeugungen leiden musste“, fuhr Kapitän Farraday fort. „Aber alles, was ich weiß, ist, dass er mich am Hook vorbei zur Küste gejagt hat. Was blieb uns da schon andres übrig, als Fersengeld zu geben! Wir legten uns dabei so mächtig ins Zeug, dass bei Sonnenaufgang kein Toppsegel von Rappee mehr zu sehen war. Und als ich hier in den Hafen einlief, was musste ich da entdecken? Kein einziges Kriegsschiff lag vor Anker, das man dem Burschen hätte nachschicken können!“
„Ja“, nickte der Gouverneur, „vor einer Woche segelte die Fregatte `Thetis´ mit Depeschen nach unserer englischen Heimat ab. Aber ich schicke sofort eine Eilnachricht nach Boston, wo Kommodore Burrage liegt. Solche Schurken wie Rappee und Flint dürfen nicht mehr länger die Regierung Seiner Majestät verhöhnen und herausfordern. Unser tüchtiger Kommodore wird dafür sorgen, dass die Piraten diesen Tag bereuen. Davon können Sie überzeugt sein!“
„Leider bin ich es nicht, Exzellenz“, widersprach Kapitän Farraday freimütig. „Eine Eilnachricht nach Boston sagen Sie? Hm… das dauert zwei oder drei Tage. Dann rechne ich noch einen weiteren Tag hinzu, bis der Kommodore in See sticht. Und noch zwei der drei Tage mehr, um nach Süden zu kreuzen. Das macht zusammen eine ganze Woche, meine Herren! In der Zeit haben Rappee und Flint jeden teuflischen Plan durchgeführt und schon wieder das Weite gesucht.“
„Schon möglich… ja, schon möglich“, gab der Gouverneur leicht ungeduldig zu. „Aber mehr kann ich nicht tun.“
Damit wandte er sich ab und ging mit Vizegouverneur Colden und den übrigen weiter. Nur mein Vater blieb noch stehen.
„Sie haben Briefe für mich, Kapitän Farraday?“, fragte er.
„Ja, Sir, von Master Allen, Ihrem Londoner Agenten. Ich war gerade auf dem Weg zu Ihnen. Und ich hab auch noch ’ne tüchtige Ladung für Ihre Rechnung dabei: Decken, Äxte, Messer, Glasperlen, Werkzeug, Feuersteine und andere Tauschwaren.“
„Die Briefe können Sie mir gleich mitgeben, Kapitän“, sagte mein Vater. „Mein Sohn Robert wird Sie im Laufe des Morgens an Bord aufsuchen und die nötigen Maßregeln treffen, um Ihre Ladung zu löschen.“
„Einverstanden“, entgegnete Kapitän Farraday und fischte aus der Tasche seines Rockschoßes ein in Seide gehülltes Paket hervor. „Hier, Master Ormerod! Ich verzieh mich jetzt in die Georgs-Taverne. Wenn man so lange auf See gewesen ist, will man mal wieder so richtig essen und trinken wie ’ne Landratte.“
Einen Augenblick lang drehte mein Vater nervös das Paket zwischen den Fingern.
„Sind Sie sicher, dass Kapitän Rappee Jagd auf Sie gemacht hat?“, wollte er dann wissen.
„Darauf leg ich ’nen Eid ab, Sir!“, antwortete Farraday überzeugt. „Erst hatte ich’s ja für ’n königliches Kriegsschiff gehalten und beigedreht. Aber als es keine Flagge hisste, wurde ich argwöhnisch. Deshalb hisste ich die Flagge. Doch immer noch blieb sein Mast leer. Da gab ich ’nen Warnschuss ab. In diesem Augenblick warf er das Ruder rum, so als wollte er sich selbst richtig in Schussposition bringen. Da ergriff ich die Flucht. Jeden Fetzen Leinwand hab ich dabei setzen lassen, bis die Rahen ächzten. Denn wie gesagt: Ich hab gewusst, dass er nichts Gutes im Schilde führt.“
„Und es war wirklich Rappee?“
„Aber ja, Sir, ich schwör’s Ihnen! Vor Jahren hat er mich schon mal gejagt, wie ich Ihnen vorhin sagte. Und vor Jamaika hatte er früher mal Jenkins mit der `Cynthia´ gekapert. Flint wollte die ganze Mannschaft ersäufen wie die Ratten. Aber Rappee sagte in seiner kühlen Art, es hätte keinen Sinn, Leute ohne jeden Zweck umzubringen. Er ließ sie in die Pinasse einsteigen und gab sie frei.“
„Ist es nicht trotzdem möglich, dass Sie diesmal Rappees Schiff mit dem Schiff von Flint verwechselt haben?“
„Flints `Walross´ ist ein prächtiges Schiff und schwer bewaffnet. Aber es ist nicht so getakelt wie Rappees `König Jakob´. Jenkins sagt, es sei ein französisches Schiff. Es hat tatsächlich die fein gezogenen Linien, wie die Franzosen sie bauen. Nein, Sir, es war Rappee! Kein anderer Pirat segelt auf einem so großen Schiff, dass man glatt für ’ne königliche Fregatte halten könnte.“
Mein Vater hatte es schwer, gegen diesen Redestrom aufzukommen, und freute sich jedes Mal, wenn es ihm gelang.
„Ich habe immer geglaubt“, sagte er, „dass Kapitän Rappee während des letzten Krieges aus Westindien verschwunden ist.“
Kapitän Farraday zuckte die Achseln. „Möglich. In jenen Gewässern waren ihm bestimmt zu viele Kreuzer beider Parteien unterwegs. Aber jetzt weiß er, dass wir wieder flaue Friedenszeiten haben. Und wenn die Nationen in Frieden leben, dann halten die Piraten ihre Ernte.“
Kapitän Farraday stampfte zur Georgs-Taverne hinüber, gefolgt von einem Schwarm Neugieriger. Ich grinste in mich hinein, als ich an all die Flaschen und Gläser dachte, die sie ihm zum Dank für sein Seemannsgarn anbieten würden. Er hatte nicht die geringste Aussicht, innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden nüchtern zu sein.
Zerstreut nickte mein Vater zu Peter hinüber, der während des ganzen Gesprächs ruhig dagestanden hatte, das platte Gesicht schläfrig und unerschütterlich.
„Das Ganze gefällt mir nicht“, murmelte mein Vater.
Peter warf ihm einen scharfen Blick zu, sagte jedoch kein Wort.
Wir entfernten uns über das schneebedeckte Pflaster. Die Leute, an denen wir vorüberkamen, verbeugten sich vor meinem Vater oder zogen die Hüte. Er war ein großer Herr in New York: so groß wie nur irgendeiner nach dem Gouverneur. Aber er schritt nun mit gesenktem Blick dahin, tief in Gedanken versunken. Und als wir in die Pearl Street einbogen, murmelte er von neuem:
„Nein, es gefällt mir nicht… Es gefällt mir nicht…“
Darby McGraw begegnete uns an der Tür. Seine wilden Blicke verrieten mir, dass er eigentlich erwartet hatte, die Piraten dicht auf unseren Fersen auftauchen zu sehen.
„Hast du deine Arbeit erledigt, Darby?“, fragte ihn mein Vater, als sich der Bursche rückwärts ins Kontor zurückzog.
„Ja, Master.“
„Dann scher dich fort! Ich wünsche nicht gestört zu werden!“
„Vielleicht kannst du ein paar neue Nachrichten über die Piraten auftreiben, Darby“, fügte ich hinzu, als er an mir vorbeischlüpfte.
Er antwortete mir mit einem komischen, mürrischen Blick, ohne jedoch ein Wort zu sagen.
Dafür drehte sich mein Vater rasch auf dem Absatz nach mir um. „Was meinst du damit, Robert?“
Ich war verwirrt und stammelte: „Nun, weiter nichts, Vater… Darby ist versessen auf Piraten… Er…“
Peter Corlaer schloss hinter dem irischen Jungen die Zimmertür und kam auf uns zu, mit dem flinken, verstohlenen Gang, der eine seiner erstaunlichsten Eigenschaften war.
„Jo, er weiß es nicht“, fiel er mir ins Wort.
„Was?“, forderte ihn mein Vater heraus
„Wat Sie und ich wissen“, erwiderte der Holländer gelassen.
„Dann wissen Sie es also auch, Peter?“
„Jo.“
„Was ist das für ein Geheimnis?“, forschte ich.
Mein Vater zögerte und sah zu dem Holländer hinüber.
„Peter, dürfen wir es dem Jungen sagen?“
„Er is keine Junge mehr“, erklärte Peter. „Er is jetzt eine Mann.“
Ich bedankte mich bei dem fetten Holländer durch ein flüchtiges Lächeln, aber er beachtete es gar nicht.
Mein Vater schien mich zu vergessen. Er schritt im Kontor auf und ab, die Hände unter den Rockschößen und den Kopf sinnend gebeugt. Einzelne Gedanken murmelte er vor sich hin in kurzen, abgehackten Sätzen, als spräche er zu sich selbst.
„Ich habe ihn bisher für tot gehalten… Seltsam, wenn er wieder auftauchte… Aber vielleicht übertreibe ich… Nein, es kann keine Bedeutung für uns haben… Es muss ein Zufall sein… Ganz bestimmt!“
„Nein, er hat wat vor“, unterbrach ihn Peter.
Dicht vor Peter blieb mein Vater stehen. Er stand neben dem Kamin, in dem ein Stoß Buchenscheite loderte.
„Ja, Peter, Sie haben recht: Robert ist kein Junge mehr. Wenn uns von Rappee Gefahr droht, muss er erfahren, wer Rappee ist.“
„Es is Murray“, erklärte Peter Corlaer mit seiner quäkenden Stimme, die in lächerlichem Gegensatz zu seinem ungeheuren Leibesumfang stand.
„Ja, Andrew Murray“, bestätigte mein Vater nachdenklich. „Ich habe es all die Jahre geahnt – und manchmal sogar für sicher gehalten.“
„Ganz gleich, wer er ist: Vor diesem Seeräuber brauchen wir uns in New York nicht zu fürchten“, behauptete ich zuversichtlich.
„Sei lieber auf der Hut, Robert!“, mahnte mein Vater. „Zufälligerweise ist er nämlich dein Großonkel.“
Er langte auf das Gestell überm Kamin hinauf und suchte sich eine lange Tonpfeife aus, die er mit Tabak stopfte.
Nur mühsam erholte ich mich von meinem Erstaunen.
„Dein Onkel…?“, stieß ich schließlich hervor.
„Nein, Andrew Murray ist nicht mein Onkel, sondern der Onkel deiner Mutter.“
„Aber das war ja der große Händler, der den Schleichhandel mit Kanada organisiert hat!“, rief ich. „Ich habe von ihm gehört. Er hatte den Todespfad angelegt, um die französischen Pelzhändler mit Waren versorgen zu können und die Indianer von uns abtrünnig zu machen! Du selbst hast mir von ihm erzählt – und auch Master Colden. Ihr habt mit ihm gekämpft – du und Peter und die Irokesen -, als euch der Durchbruch durch die Schanzen des Todespfades gelungen war. Dadurch konnten unsere Leute endlich wieder mit Pelzen handeln.“
Mein Vater nickte, und ich fuhr lebhaft fort:
„Dann war es also damals, dass du Mutter – ich meine…“
Ich stockte. Die tiefen Gefühle, die mein Vater immer noch für meine längst verstorbene Mutter hegte, kannte ich gut. Deshalb scheute ich mich, seine Erinnerungen wachzurufen.
Doch er fuhr selbst fort:
„Ja, damals habe ich mich in deine Mutter verliebt. Sie – sie sah nicht so aus, als könnte sie mit einem so großen Schurken verwandt sein. Aber sie war seine Nichte. Daran bestand leider kein Zweifel, Robert. Sie war eine geborene Kerr von Jernieside – und ihre Mutter eine Schwester Murrays. Kerr und Murray rückten 1715 zusammen ins Feld. Kerr fiel bei Sheriffmuir. Da seine Witwe kurz darauf starb, nahm Murray die arme verwaiste Marjory zu sich. Er hat sie gut behandelt – das kann man ihm nicht abstreiten. Aber er handelte nicht aus reiner Nächstenliebe. Vielleicht wollte er sie dazu benutzen, seine eigenen Pläne zu fördern. Er blickte klar und berechnend in die Zukunft und dachte dabei an nichts anderes als an seinen eigenen Vorteil. Nun, Robert, du weißt ja, wie Peter Corlaer, der Seneka-Häuptling Tawannears und ich die ungeheure Streitmacht aufgerieben haben, die Murray an der Grenze zusammengetrommelt hatte.“
„Ja, ihr habt ihn restlos geschlagen“, pflichtete ich meinem Vater bei.
„Nicht nur das“, fiel mein Vater lebhaft ein. „Wir haben auch dafür gesorgt, dass sein schlechter Ruf überall bekannt wurde. Dadurch zwangen wir ihn, aus der Provinz zu fliehen. Sogar seine Freunde, die Franzosen, wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben – wenigstens nicht offen. Aber ich habe nie daran gezweifelt, dass er ihren Zielen noch immer irgendwie dient. Denn im Grunde ist er ein äußerst fanatischer Jakobit und sogar sehr aufrichtig. Bestimmt ist er fest davon überzeugt, dass alles, was er tut, hohen Staatszwecken dient.“
„Nur ein Irrsinniger kann behaupten, als Seeräuber dem Staat zu dienen“, rief ich zornig.
„Du urteilst allzu vorschnell“, wies mich mein Vater zurecht. „Heute lebt noch mancher, der sich an die Zeiten erinnern kann, als Morgan, Davis, Dampier und andere tapfere Burschen vom gleichen Schlag Seeräuber waren und doch gleichzeitig dem König dienten. Ein paar von ihnen wurden schließlich am Galgen aufgeknüpft. Aber Morgan starb als Ritter. Ja, mein Junge, es lässt sich also schon machen: Seeräuber und Staatsdiener zugleich zu sein.“
„Aber wie?“
„Denk einmal nach, Robert! Murray – dein Großonkel, wohlverstanden! – ist Jakobit. Für unser gegenwärtiges Regime hat er nur Hass und Verachtung übrig. Deshalb ist ihm jedes Mittel recht, dieses Regime zu untergraben, um es schließlich zu stürzen. Das beweist nicht zuletzt der Name seines Schiffes: `König Jakob´. Dieser Name ist ein politisches Bekenntnis!“
„Wenn er wirklich der Mann ist, für den du ihn hältst!“, wandte ich ein, nicht gerade erfreut über den Gedanken, einen Seeräuber zum Großonkel zu haben.
„Ich kenne deine Gefühle, mein lieber Junge. Genauso hat deine Mutter gesprochen. Gott segne sie!“ Mein Vater machte eine kurze Pause und fuhr dann nachdenklich fort: „Als sie gestorben war, kam ein Bote zu mir und brachte einen Brief. Dein Großonkel sprach mir sein Beileid aus zu dem Verlust der unvergesslichen Frau, die wir beide über alles verehrt hatten! In diesem Augenblick hätte ich ihn am liebsten erwürgt – das gebe ich offen zu. Wären ihm nämlich seine Pläne geglückt, so hätte er sie mit einem Franzosen, einem richtigen Satansbraten, verheiratet. Doch auf seine Weise sorgte er sich um sie und nahm großen Anteil an allem, was sie tat. Wenn ihn seine Irrfahrten auch noch so weit in die Ferne führten – er hatte immer Nachrichten von uns.“
„Wieso?“
„Der Teufel weiß wie! Er wusste zum Beispiel, wann du geboren wurdest. Er wusste, wann sie starb. Und nun, da du zum Mann herangewachsen bist, zeigt er sein Segel vor Sandy Hook. Ich weiß zwar nicht, was das bedeutet, Robert, aber es gefällt mir nicht. Nein, es gefällt mir ganz und gar nicht!“
„Jo, richtig“, stimmte Peter zu. „Wenn Murray hier is, plant er nichts Gutes. Keine Seeräuber kommt bei diesem kalten Wetter bloß für die Spaß nach Norden. Nee, nee… Hier is es zu brenzlig für dieses Pack. Hier kann man nirgendwo verschwinden und sich verstecken.”
“Ein kluger Feind wägt alles ab, bevor er sich auf ein Wagnis einlässt”, erklärte mein Vater. „Hoffentlich lässt uns das Glück nicht im Stich! Ganz gleich, was Murray auch im Sinn hat – er wird es fuchsschlau durchführen, um uns zu überraschen.“
Am nächsten Morgen überprüfte ich mit Peter Corlaer, welche Waren wir für unsere Handelsniederlassung brauchten. Das dauerte mehrere Stunden, so dass ich erst am späten Vormittag das Konto verlassen konnte, um an Bord von Kapitän Farradays Schiff zu gehen und die Löschung der Frachtstücke für unser Lagerhaus zu besprechen.
Als ich nach meinem Hut griff, schaute mich Darby McGraw so bittend an, dass ich ihn in die Küche schickte, um eine Tasche voll frisch geschlachteter Hühner und Wintergemüse zu holen. Matrosen, die eine lange Seereise hinter sich hatten, waren für solche Nahrungsmittel immer besonders dankbar.
„Darf ich sie selbst zum Schiff tragen, Master Robert?“, fragte mich der Junge.
„Von mir aus. Wir gehen gleich los.“
Er freute sich darüber, als hätte ich ihm ein Geschenk gemacht. Vergnügt trabte er immer ein paar Schritte voraus und trällerte ein Seemannslied.
Wir gingen die Pearl Street hinunter zur Broad Street, wo die Anlegestelle ins Land hineinspringt. Von dort aus schritt ich weiter, um mich am Ende der Whitehall Street mit einer Jolle zum Bristoler Postboot hinausrudern zu lassen, als Darby meine Aufmerksamkeit auf die hochragenden Masten und das verwickelte Tauwerk eines großen Schiffes lenkte, das am Landungsplatz des East River vor Anker lag.
„Das ist ’ne Fregatte, Master Robert!“, rief er.
Es war tatsächlich ein Kriegsschiff, wie die Reihen bemalter Kanonenluken und die festen Relings bewiesen.
Darby war Feuer und Flamme, und seine Augen blitzten abenteuerlich, als er flüsterte:
„Glauben Sie, dass es hinter den Piraten her ist?“
„Keine Spur“, antwortete ich lachend. „Das ist ein Spanier. Der lechzt nicht nach Piratenblut, Darby. Aber sieh doch! Da liegt noch ein anderes fremdes Fahrzeug: eine Brigg.“
Ich zeigte auf einen stark mitgenommenen kleinen Zweimaster mit geflickten und schmutzigen Segeln und einem Einschuss auf dem schwarz bemalten Rumpf.
„Die Brigg hat bestimmt was von den Seeräubern abbekommen“, fügte ich hinzu. „Sie kann ihnen gerade nur um Haaresbreite entwischt sein.“
Darbys Augen weiteten sich wie Katzenaugen im Dunkeln. “Donnerwetter noch mal, was die für ein Loch in der Flanke haben! Das ist bestimmt nicht von einer kleinen Kanonenkugel! Die da auf der Brigg werden ganz schön in die Hose gemacht haben, Junge, Junge! Lachen Sie mich jetzt immer noch aus, Master Robert, wenn ich sage, dass Seeräuber vor der Küste kreuzen?“
„Nein, Darby, bestimmt nicht. Diese Burschen waren dem Tod näher, als ihnen lieb war.“
„Da haben Sie vollkommen recht, junger Herr!“, erklärte eine angenehme Stimme hinter mir. „Ganz erstaunlich, dass eine Landratte wie Sie das sofort erkennt – wirklich!“
Mit einem Ruck drehte ich mich um und erkannte einen gut aussehenden, offen dreinblickenden Mann im besten Alter mit einem massigen, kräftigen Körperbau. Es fehlte ihm jedoch das linke Bein, das nahe der Hüfte amputiert war. Deshalb stützte er sich auf eine lange Krücke aus fein geschnitztem Hartholz. Es war Mahagoni, wie ich später feststellte. Diese Krücke benutzte er so geschickt wie ein lebendiges Glied. Eine Schnur, die unter der Armgabel durch ein Loch lief, hing mit einer Schlinge um seinen Hals, so dass die Krücke nie aus seinen Händen gleiten konnte, wenn er sich hinsetzte. In ihre Spitze war ein scharfer, stählerner Stachel eingesetzt, wahrscheinlich damit die Krücke auch auf einem schiefen und schlüpfrigen Deck nicht ausrutschen konnte.
Während ich ihn betrachtete und er noch sprach, humpelte er an meine Seite – mit einer vertraulichen, einschmeichelnden Miene, die Darby noch stärker beeindruckte als mich.
„Ja, wir waren schön in der Patsche“, fuhr er fort, „und ich bin einer von denen, die der Himmel so wunderbar errettet hat.“
„Sind Sie von der Brigg da drüben?“, fragte ich neugierig.
„Klar, junger Herr, so wahr ich vor Ihnen stehe!“
„Woher kommen Sie denn?“
„Von Barbados auf der Brigg `Konstanze´. Ich heiße Silver, Sir. John haben mich meine Paten getauft. Aber meine Kameraden nennen mich meistens `Bratrost`, weil ich als Koch erster Klasse gelte.“
„Sind Sie früher schon mal mit Seeräubern zusammengestoßen?“
„Und ob!“, entgegnete er und senkte die Stimme, als er auf sich selbst deutete. „Sehn Sie sich nur mal diesen schiefen, wackligen Leichnam an! Unverkennbar ein Einbeiniger, stimmt’s?“
Ich nickte.
„Und wie, glauben Sie, habe ich meine linke Flosse verloren, he?“, fuhr er fort.
„Ich weiß nicht…“
„Nun, dann will ich’s Ihnen erzählen, Sir“, sagte John Silver. „Sie haben ein junges Gesicht – und ein freundliches dazu. So ein Mensch wie Sie nimmt Anteil an Not und Sorgen eines unglücklichen Seemanns… Ja“, bestätigte er noch einmal mit einem Blick auf Darby, „und dieser gute Junge da auch.“
„Stimmt, Sir“, erwiderte Darby. „Ich möchte selbst gern Seemann werden.“
„Irländer, nicht wahr, mein Bürschchen?“
„Erraten!“
„Ja, das hab ich doch gleich gewusst. Auf den ersten Blick!“
Darby strahlte vor Stolz.
„Was wollte ich noch sagen…?“, fragte Silver, indem er sich an die Stirn griff.
„Wie Sie Ihr Bein verloren haben“, half ich.
„Ach ja, ich bin froh, dass es nicht meine Pfote war, die da zum Teufel ging.“
„Warum, Sir?“, wollte ich gern wissen.
„Weil der Mensch ein verlorenes Bein wieder ersetzen kann, das zu nichts weiter nütze ist außer zum Gehen. Aber ’ne Hand…? Denken Sie bloß mal darüber nach, mein Herr! Ohne Hand können Sie nicht arbeiten, nicht fechten, sogar kaum essen. Deshalb sag ich ja, dass ich Glück hatte.“
Der Mann fesselte mich. Gern hätte ich ihn zu weiteren Erzählungen ermuntert – ganz gleich, ob Darby bei mir gewesen wäre oder nicht. Aber es war Darby, der ihn aufs Hauptthema zurückbrachte.
„Haben Sie die Seeräuber gesehn?“, rief der Junge in atemloser Erregung.
John Silver richtete sich an seiner Krücke auf und warf einen finsteren Blick auf die Stelle, wo die Kanonenkugel die Brigg aufgerissen hatte.
„Gesehn…?“, wiederholte er. „Nun, mein Junge, das kommt drauf an, was man darunter versteht.“
„Ich meine, in der letzten Zeit?“
„Nein, das kann ich nicht mit gutem Gewissen sagen. In der letzten Zeit – nein… Mit meinem Bein früher war’s was anderes. Und auch damals, als Flint mich auf den Strand gesetzt hat.“
„Dann kennen Sie also Flint?“, unterbrach ich ihn.
Er schüttelte den Kopf. „Kennen…? Nein, nein, mein junger Herr, so blutige Schurken kenne ich nicht! Ich hab die Halunken gesehen, ja, das stimmt – sogar mehr von ihnen, als mir recht ist. Und was sie mir angetan haben, war schrecklich genug. Aber unser Herrgott hat zweifellos beschlossen, dass ich meinen Teil hinter mir habe. Denn beim letzten Mal ist es mir gelungen, mich mit heiler Haut aus den Händen dieser Mörder zu befreien.“
„Haben sie Ihr Schiff vor Handy Hook angegriffen?“, erkundigte ich mich.
„Vor Handy Hook?“, wiederholte er. „Schon möglich, junger Herr, dass es dort war. Wir haben uns wenig darum gekümmert, wo wir uns befanden. Unser einziger Gedanke war, ungeschoren in den sicheren Hafen zu laufen.“
„Aber wie ich sehe, haben sie euch beschossen. Und eine Kugel hat getroffen.“
„Das da?“, fragte er und deutete auf die aufgerissene Stelle im Schiffsrumpf. „Ach ja, eine Kugel, das stimmt. Aber, Sir, darf ich mir auch eine Frage erlauben?“
„Bitte!“
„Wissen Sie vielleicht, ob noch andere Fahrzeuge draußen vor dem New Yorker Hafen gejagt worden sind?“
Ich zeigte nach jener Stelle hinüber, wo Kapitän Farradays Segler eine knappe Seemeile oberhalb der Brigg vor Anker lag und leicht auf den Wellen schaukelte.
„Dieses Postboot aus Bristol ist erst gestern Morgen dem berüchtigten Kapitän Rappee entwischt“, erzählte ich ihm.
Er runzelte die Stirn und blickte finster drein. „Donnerwetter, junger Herr, das ist ja eine Hiobsbotschaft – Kapitän Rappee! Jetzt sind bestimmt schon die königlichen Kriegsschiffe hinter ihm her?“
„Leider nein“, erwiderte ich. „Das nächste liegt in Boston. Vor einer Woche können wir die Schurken nicht verfolgen.“
Bekümmert schüttelte er den Kopf. „Donnerwetter noch mal, das sind schlechte Neuigkeiten! Ein Glück, dass ich die Segel vollgenommen hab! Er war hinter mir her, bis es dunkel wurde. Erst dann gierte er ab – mehr aus Furcht vor Sandbänken als vor sonst was. Das kann ich beschwören!“
„Dann hat er also gestern Jagd auf Sie gemacht?“
„Stimmt genau, junger Herr! Hab ich das nicht vorhin schon gesagt?“
Ich zuckte die Schultern.
„Natürlich war’s gestern“, fuhr er fort. „Es war gestern um die Mittagszeit, als er am Horizont auftauchte und mit großer Fahrt auf uns zukam. Er wollte uns eine Spiere abschießen, um uns aufzuhalten. Aber statt der Holzstange traf er den Rumpf, wie Sie sehen. Wir sind ihm noch mal durch die Netze gegangen, obwohl er uns unbedingt fangen wollte.“
Einer von den Fährleuten kam längs des Ufers auf uns zu gerudert. Ich winkte ihm zu, er solle unter dem Pfahldamm anlegen, auf dem wir standen.
„Ich muss fort“, sagte ich deshalb zu Silver.
„Schade, junger Herr!“
Als er sah, wie ich mich bereitstellte, um die Fangleine aufzuschnappen, die der Fährmann an Land werfen wollte, drängte er sich dazwischen und bat:
„Lassen Sie mich das machen, Sir! Das ist Arbeit für einen Seemann.“
Geschickt fing er die Fangleine auf und hielt sie fest in seiner rechten Hand, während er mit der anderen den Korb hinstreckte, den Darby auf den Boden gestellt hatte.
“So, junger Herr, jetzt können Sie bequem einsteigen. Und den Korb hier – wollen Sie den mit auf die Ruderbank nehmen?“
„Ja, danke, Silver.“
Er deutete mit dem Kopf auf Darby. „Und dieser nette Junge hier – geht der auch mit?“
„Nein, Darby bleibt hier“, erwiderte ich, während ich ins Ruderboot stieg.
„Dann erlauben Sie ihm bitte, mich für eine halbe Stunde zu begleiten. Er könnte mich ein bisschen durch die Stadt lotsen, denn ich bin fremd in diesem Hafen, und für ’nen Krüppel ist jeder Umweg doppelt lästig.“
„Von mir aus kann er Sie begleiten, wenn er will.“
Darbys sommersprossiges Gesicht strahlte vor Freude, noch länger die Gesellschaft des einbeinigen Seemanns genießen zu können, der so spannend von Gefechten mit Seeräubern erzählte.
„Ja, Master Robert, das mach ich gern!“, versicherte er. „Ich zeig ihm schon den richtigen Weg überallhin.“
Mein Fährmann wollte sich gerade in die Ruder legen, als mich ein plötzlicher Gedanke veranlasste, ihn damit noch einen Augenblick warten zu lassen.
„Übrigens, Master Silver“, rief ich, „vielleicht kann Darby Ihnen nicht bei allem behilflich sein. Suchen Sie irgendjemand Besonderen?“
Nur wenige Sekunden zögerte er und antwortete dann: „Nun, nicht gerade jemand Besonderen, Sir. Ich möchte gern in die `Walfisch-Schenke´, wenn Sie vielleicht zufällig von so ’ner Kneipe gehört haben sollten.“
Ich nickte. „Sie liegt im Ostviertel, gleich hier anschließend. Darby kann Sie hinführen.“
Er rief noch einmal seinen Dank zum Boot hinüber und stapfte behände an seiner Krücke davon. Stolz trabte Darby neben ihm her.
An Bord der `Anna´ fand ich alles drunter und drüber. Wie ich erwartet hatte, war Kapitän Farraday noch nicht wieder zurückgekehrt, seit er am Nachmittag zuvor an Land gegangen war. Zweifellos verschlief er jetzt in der `Georgs-Taverne´ die Wirkung verschiedener Getränke.
Deshalb führte Master Jenkins die Aufsicht über das Schiff. Früher war er einmal mit knapper Not dem Schicksal entgangen, von dem blutrünstigen Flint und seinem Gefährten Rappee ertränkt zu werden.
Mit ihm die Ladungsverzeichnisse zu überprüfen war ein langweiliges Geschäft. Erst am späten Nachmittag waren wir mit unserer Arbeit fertig und kehrten auf Deck zurück. Meine Jolle hatte man schon längst zurückgeschickt. Deshalb befahl Jenkins dem Bootsmann, ein paar Matrosen auszumustern und mich an Land zu rudern.
Als ich neben dem Fallreep stand, sprach ich so beiläufig über die beiden Schiffe, die seit heute Morgen in den Hafen eingelaufen waren.
„Übrigens, die Brigg ist mir Ihrem Freund Rappee aneinander geraten“, bemerkte ich.
„Ja“, erwiderte Jenkins mürrisch. „Es ist erstaunlich, dass ein Barbados-Segler Zucker und Rum nach New York bringt. Das überlassen die Burschen meistens den Yankees.“
„Richtig“, gab ich zu. „Aber keine Regel ohne Ausnahme.“
In diesem Augenblick ertönte ein schriller Signalpfiff stromaufwärts an Bord der spanischen Fregatte.
„Jammerschade, dass das nicht eines unserer Kriegsschiffe ist“, entfuhr es mir. „Sonst würde Rappee eine Dosis von seiner eigenen Medizin zu schlucken kriegen.“
Master Jenkins‘ Gesicht verriet äußerste Missbilligung.
„Diese Spanier!“, schnaubte er. „Ich möchte gern wissen, was sie überhaupt hier zu suchen haben. Die führen nichts Gutes im Schilde.“
„Was sollten die denn schon anstellen?“, fragte ich.
Er zuckte die Achseln. „Das weiß ich auch nicht. Aber von den Spaniern ist nie was Gutes gekommen, Master Ormerod, das können Sie mir glauben.“
Bevor ich antworten konnte, meldete der Bootsmann, dass die kleine Jolle klar sei und am Fuß der Leiter liege. Ich wünschte Master Jenkins rasch einen guten Abend und stieg ein.
Als sich mein Boot von der Flanke des Bristoler Postseglers löste, schoss hinter dem Rumpf des Spaniers eine Schute hervor und folgte in unserem Kielwasser. Ein Dutzend stämmiger Burschen legte sich in die Riemen. Auf den Achtersitzen neben dem kommandierenden Offizier saß eine einzelne dicht verhüllte Gestalt.
Fast gleichzeitig liefen die beiden Boote die Helling der Broad Street an. Ich sprang ans Ufer, warf den Matrosen, die mich gerudert hatten, ein paar Münzen zu und machte mich auf den Heimweg.
Aber ich war noch nicht weit gekommen, als ein Mann vom Kai hinter mir herrief:
„Señor! He, Bursche!“
Ich drehte mich um und erblickte den Bootsführer der Fregattenschute. Er überschüttete mich mit einem Schwall spanischen Kauderwelschs, von dem ich kein Wort verstand. Als ich ihm das sagte, trat eine zweite Person in den gelben Schimmer einer Petroleumlampe, die dicht daneben an der Mauer eines Lagerhauses von einem Steinvorsprung baumelte. Es war die vermummte Gestalt aus der Schute. Doch statt eines Seekadetten oder Unteroffiziers enthüllte der dürftige Lichtschimmer ein junges Mädchen, dessen zierliche Gestalt ich trotz der Falten ihres schweren Mantels erkannte.
Ein einziger scharfer Ausruf in Spanisch – und der Bootsführer verstummte.
„Sir“, sagte sie dann in einem Englisch, wie ich es nicht besser sprach, „können Sie mir den Weg zur `Walfisch-Schenke´ zeigen?“
Ich brachte keine andere Antwort hervor als ein undeutliches Gestammel. Sie war heute bereits der zweite Fremde, der nach dem `Walfisch´ fragte – nach dieser Spelunke, die als berüchtigter Schlupfwinkel lichtscheuen Gesindels bekannt war. Aber sie gehörte bestimmt nicht zu den Frauen, die irgendetwas mit jenen Lumpen zu tun hatten, die im `Walfisch´ verkehrten. Ich fragte mich auch, wie ein so schönes Mädchen an Bord einer spanischen Fregatte kam. Im milden Laternenschein sah sie alles andere als spanisch aus. Sie war zwar dunkelhäutig, und ihre Haare glänzten in tiefstem Schwarz, doch ihre Augen waren so blau wie die Augen von Darby McGraw. Sie schien kaum dem Kindesalter entwachsen und noch voller Unschuld. Umso seltsamer klang ihre Frage, die sie an mich gerichtet hatte. Ungeduldig stampfte ihr schlanker Fuß auf die Kiesel, während ich dastand und sie anstarrte.
„Nun, Sir“, sagte sie kalt, „verstehen Sie vielleicht genauso wenig Englisch wie Spanisch?“
„N-nein“, brachte ich mühsam hervor. „Aber – der `Walfisch´ ist nicht der richtige Platz für Sie, Miss.“
„Ich verstehe nicht ganz, was Sie damit meinen“, antwortete sie. „Ich will dort nur meinen Vater treffen.“
„Aber er wäre bestimmt nie damit einverstanden, dass Sie ausgerechnet zu dieser Stunde hingehen“, wandte ich ein.
Sie kicherte vergnügt.
„Sie reden so, als kennten Sie ihn gut“, gab sie zu. „Ich habe mich nämlich nur an Land rudern lassen, weil ich heute Abend endlich einmal etwas Abenteuerliches erleben wollte, nachdem man mich wochenlang in diesem scheußlich schmutzigen, alten Schiff dort drüben eingesperrt hat. Verstehen Sie mich jetzt?“
„Wenn Sie heute Abend unbedingt etwas Abenteuerliches erleben wollen, brauchen Sie deshalb noch lange nicht in den `Walfisch´ zu gehen“, antwortete ich.
„Lassen Sie das nur meine Sorge sein. Wenn mein Vater dort ist, kann mir nichts geschehen.“
„Wenn er dort ist“, betonte ich. „Ich glaube eher, dass Sie den Namen der Schenke verwechselt haben.“
„Nein, nein“, rief sie entschieden. „Ich habe gehört, wie er mit den anderen davon sprach. Aber ich will Ihren Rat beachten. Sobald wir hinkommen, kann Juan in die Schenke hineingehen, während ich draußen warte.“
„Das hört sich schon besser an.“
„Ich möchte endlich wieder einmal nach all den Wochen auf dem schwankenden Schiff festen Boden unter den Füßen fühlen. Morgen bei Flut fahren wir schon wieder ab. Dann werde ich erneut wochenlang auf hoher See sein.“
„Wenn Sie gestatten, begleite ich Sie ein Stück zum `Walfisch´“, bot ich mich an. „Ich habe sowieso dieselbe Richtung.“
„Sehr freundlich von Ihnen“, entgegnete sie. „Vielen Dank!“
In spanischer Sprache erteilte sie einen Befehl, der den Unteroffizier, den sie Juan nannte, und einen seiner Leute aus den dunklen Schatten hervorrief. Die beiden schlossen sich uns an, während wir an der langen Reihe der Lagerhäuser entlangschritten.
„Sie machen zurzeit eine lange Seereise?“, fragte ich.
„Das kann man wohl sagen!“, rief sie. „Von hier nach Florida – und dann weiter nach Havanna und in die Städte Mittelamerikas.“
„Dann werden Sie bald Abenteuer genug erleben“, sagte ich. „Nur wenige Männer kommen so weit herum – junge Mädchen überhaupt nicht.“
„Ja, Sir, das denke ich auch immer! Ich war fast verrückt vor Freude, als mein Vater ins Kloster kam und mich von den Schwestern fortholte.“
„Aber Sie sind bestimmt keine Spanierin!“, wandte ich ein.
Sie lachte hell auf. „Die Leute sagen, ich sei so irisch wie die Schweine auf den Hügeln von Wicklow, wo ich geboren worden bin.“
Und ganz plötzlich wurde sie wieder ernst.
„Ich kenne zwar Ihre politischen Anschauungen nicht, Sir, aber trotzdem möchte ich Ihnen sagen, dass mein Vater zu jener Partei gehörte, die gegen den Hannoveraner eingestellt war und für König Jakob und den fröhlichen Charlie kämpfte. Und da ihn jetzt sein eigener König nicht beschäftigen kann, dient er Spanien.“
„Hoffentlich werden Sie sich in Westindien glücklich fühlen, Miss!“
„So lange bleiben wir nicht dort. Mein Vater ist technischer Offizier. Er muss die Befestigungen am Golf besichtigen. Noch vor Jahresende kehren wir nach Spanien zurück.“
Gerade als ich ihr eine weitere Frage stellen wollte, deutete sie nach vorn.
„Sehen Sie da vorn, Sir! Soll das Schild dort nicht einen Walfisch darstellen?“
„Ja“, bestätigte ich, „das ist die Schenke.“
Ein einziger Blick auf die funkelnden Fenster und auf die Halsabschneider, die durch die niedrige Tür hineindrängten oder hinauswankten, überzeugte meine Begleiterin, dass ich den Charakter des Wirtshauses durchaus nicht falsch dargestellt hatte. Sie wich bis an den Prellstein zurück, und ihre Mundwinkel senkten sich betrübt.
„Mein Gott, was für eine elende Spelunke!“, murmelte sie. „Warum geht mein Vater nur hierher? Geschäfte, hat er gesagt. Geschäfte.“
Sie schüttelte den Kopf, nachdenklich und voller Zweifel.
„Ich möchte mich Ihnen keineswegs aufdrängen, Miss“, sagte ich, „aber ich fürchte, Ihre Spanier können sich nicht verständlich machen. Ist es Ihnen recht, wenn ich mich drinnen nach Ihrem Vater erkundige?“
Sie überlegte, während sie leicht an der Unterlippe nagte.
„Es ist bestimmt das Beste“, erwiderte sie. „Wenn ich nur wüsste, wie ich Ihnen dafür danken könnte.“
„Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Miss! Wenn Sie mir im Augenblick nur Ihren Namen nennen würden, damit ich weiß, nach wem ich mich erkundigen muss.“
„Ach ja!“, rief sie mit einem glucksenden Lachen. „Wie dumm von mir, dass ich das vergessen habe! Bitte, Sir, fragen Sie nach Oberst O’Donnell und sagen Sie ihm, dass seine Tochter Moira draußen wartet.“
Ihre Stimme klang mir immer noch in den Ohren, als ich auf die Tür zuging und mit der Schulter einen betrunkenen Matrosen zur Seite schob. Ich beugte mich, um nicht mit dem Kopf gegen den oberen Türrahmen des Kneipeneingangs anzustoßen, und trat in den nebligen, blaugrauen Dunst des Ausschanks. Dicht gedrängt standen die Tische, Tabakrauch und abgestandene Bierreste verpesteten die Luft, und mit rauen Kehlen wurden Flüche und Seemannslieder gegrölt.
Was meine Gedanken von dem irischen Mädchen vor der Tür zunächst ablenkte, war der Kehrreim eines dieser Lieder – eine wilde, gejohlte Weise von Blut und wüstem Gelage:
„Fünfzehn Mann auf dem Totenschragen -
Jo-ho-ho und ’ne Buddel voll Rum!
Satan und Suff hat sie alle erschlagen –
Jo-ho-ho und ’ne Buddel voll Rum!”
Ich blickte nach der Ecke, aus der die Töne hervordrangen, und entdeckte den einbeinigen Seemann John Silver. Mit einem Zinnkrug hämmerte er den Takt auf die Tischplatte und dirigierte damit die Gruppe, die sich um ihn geschart hatte. Einer der lautesten Schreihälse nach ihm war Darby McGraw, dessen flammendroter Haarschopf wie die Flagge eines Seeräubers leuchtete. Mit seiner schrillen Stimme überschrie er selbst die donnernden Bässe seiner Genossen.
Nie zuvor hatte ich eine schändlichere Matrosenbande zusammen gesehen! Zwei Kerle fielen mir besonders auf: ein schwammiger Mann mit talgiger Gesichtshaut, dessen schlaue Augen durch eine fettige schwarze Haarsträhne verdeckt wurden – und ein großer, rüstiger mahagonibrauner Bursche mit geteertem Zopf, dem das Singen offenbar ebenso viel Spaß machte wie dem armen betrunkenen Darby.
Silver sah mich fast im gleichen Augenblick, in dem ich ihn erspähte. Mit einer kurzen Bemerkung zu den anderen sprang er auf und stelzte quer durch die Stube, wobei er Darby am Ärmel hinter sich herzerrte. Seine großen, gutmütigen Augen zeigten ein Lächeln, das einen leichten Anflug von Ärger verriet.
„Sie kommen ihn also holen, nicht wahr, Master Ormerod?“, stieß er mit Trompetenstimme hervor, um das wüste Gejohle zu übertönen. „Sie denken sicher, ich sollte mich schämen, stimmt’s? Aber Sie tun mir unrecht, Sir. Ich bin nicht der Mann, der ’nen vielversprechenden Jungen auf Abwege führt. Alles, was Darby gekriegt hat, war gutes, ausgelagertes Bier – und die Ohren voller Seemannsgarn, damit er in den kommenden Nächten was zu träumen hat. Deshalb sind Sie ihm doch hoffentlich nicht böse, Master Ormerod – oder…?“
„Ich bin nicht seinetwegen gekommen“, antwortete ich. „Aber da ich schon einmal hier bin, ist es am besten, wenn er mit mir nach Hause geht. Doch sagen Sie, Silver, woher kennen Sie meinen Namen?“
Verschmitzt zerrte er an seinem Stirnhaar.
„Nun, natürlich von Darby, Sir. Aber das hätte mir auch jeder andere hier an der Wasserkante sagen können. So ’nen gutherzigen, freundlichen jungen Herrn kennen eben alle. Aber entschuldigen Sie bitte, wenn ich so frei bin, Sir. Kann ich Ihnen mit irgendetwas dienen?“
„Ich glaube nicht“, erwiderte ich. „Ich suche einen Oberst O’Donnell.“
Ein leichtes, überraschtes Flackern verwischte die Freundlichkeit in seinen Gesichtszügen. Er starrte durch den Schankraum.
„Von dem Gentleman hab ich noch nie was gehört, Sir. Kein Wunder: Ich bin heut zum ersten Mal hier. Aber ich hab ’n paar gute Kumpel von früher getroffen. Vielleicht erfahr ich was von dem einen oder andern. Einen Augenblick bitte, Master Ormerod! Ich will sehen, was ich für Sie tun kann.“
Der Vorschlag gefiel mir. Denn in der Spelunke schien sonst niemand zu sein, der mir den Obersten O’Donnell vorstellen konnte. Deshalb nickte ich und sagte:
„Gut, ich warte hier.“
Während Silver davonstelzte und sich behänd zwischen den dicht besetzten Tischen hindurchwand, fragte ich Darby, was er die ganze Zeit über getrieben habe. Zu meinem Erstaunen zeigte sich der Junge mürrisch und schweigsam und gab nur einsilbige Antworten. Ein einziges Mal blitzten seine Augen begeistert, als ich bemerkte:
„Das war ja ein richtiges Teufelslied, das ihr da vorhin gesungen habt, Darby!“
„Ja, und was für eins!“, rief er aus. „Während man singt, sieht man das Blut vom Entermesser tropfen.“
„Und wer sind die anderen, die mit dir gesungen haben?“
Wie ein Vorhang überzog der mürrische Ausdruck sein Gesicht.
„Och, bloß Schiffskameraden.“
„Deine?“
„Nein, von Master Silver.“
„Wie heißen sie denn?“
„Weiß ich nicht.“
„Nur heraus damit, Darby!“
Er zögerte einen Augenblick und erklärte dann stockend:
„Den einen nennt er Bill Bones.“
„Und den anderen?“
„Schwarzer Hund… Aber dieser zweite Name ist natürlich nicht der richtige. Nur so, wissen Sie.“
Silver war in Gesellschaft eines Bierzapfers durch eine Tür im Hintergrund verschwunden. Jetzt kam er, auf seiner Krücke schaukelnd, wieder herein, gefolgt von einem hochgewachsenen, hohlwangigen Mann. Dessen prunkvolle schwarzsilberne Kleidung und der Goldknauf an seinem Degen wiesen ihn auf den ersten Blick als Gentleman aus. Diesen Mann führte Silver mit rauer und zugleich herzlicher Höflichkeit zu mir.
„Sie haben Glück, Master Ormerod!“, rief er, als er auf Hörweite herangekommen war. „Mein Freund hatte erfahren, dass der Oberst im oberen Stock sei.“
Dann deutete er auf mich und erklärte seinem Begleiter:
„Das hier ist der junge Herr, von dem ich sprach, Euer Gnaden.“
Er verbeugte sich und lächelte uns untertänig zu. „Meine Hochachtung, werte Herren, und stets zu Diensten!“
Damit schwang er sich an seiner Krücke in die Ecke zurück, wo ihn seine Busenfreunde mit freudigem Hallo empfingen.
Der hohlwangige Mann warf mir einen scharfen – eigentlich sogar einen fast argwöhnischen Blick zu. Er benahm sich nervös, und seine Augen flackerten ruhelos.
„Nun, Sir?“, sagte er. „Sie wünschen mich zu sprechen?“
„Wenn Sie Oberst O’Donnell sind, dann muss ich Ihnen sagen, dass Ihre Tochter Sie draußen erwartet.“
Er erschrak. „Meine Tochter? Wer sind Sie, Sir, und wie kommen Sie dazu, sich als Hüter meiner Tochter aufzuspielen?“
Ich war verdrossen, was ich den Obersten auch deutlich fühlen ließ.
„Sie hat mich nach dem Weg hierher gefragt, als sie an Land kam“, entgegnete ich. „Und da Sie Ihre Tochter bestimmt nicht gern in dieser Schenke treffen möchten, schlug ich ihr vor, Sie hinauszurufen, Sir.“
Die Winkel seines Mundes zuckten genauso abwärts wie bei ihr – eine Ähnlichkeit, die mir sofort auffiel.
„Dafür müsste ich mich ja eigentlich bei Ihnen bedanken, Sir“, antwortete er steif. „Sie ist noch ein Kind und noch ohne jede Lebenserfahrung. Ich muss ihr zugleich Vater und Mutter sein.“
Ich verbeugte mich und trat zur Seite, um ihm den Weg freizugeben.
„Master Ormerod hat Sie der Matrose genannt, nicht wahr?“, fuhr O’Donnell fort.
„Ja, Herr Oberst.“
„Vielleicht, Sir, erlauben Sie einem älteren Mann, Sie zu Ihrem ehrenhaften Betragen beglückwünschen zu dürfen.“ Ein leicht hochtrabender Ton färbte seine Rede. „Ich kenne die Ersten der vornehmen Gesellschaft in unserer Alten Welt, Master Ormerod, und ich habe die Ehre, das Amt eines königlichen Kämmerers zu bekleiden. Auf englischem Boden darf man den Namen dieses Monarchen allerdings nicht nennen. Aber eines Tages wird er seine Besitzungen bestimmt wiedererlangen, die ein Thronräuber widerrechtlich an sich gerissen hat. Ich brauche wohl nicht mehr zu sagen.“
„Ich verstehe, Sir“, erwiderte ich. „Darf ich Sie jedoch daran erinnern, dass Miss O’Donnell Sie erwartet?“
Auffahrend schoss er an mir vorbei – und Darby und ich folgten ihm auf die Straße. Der irische Bursche war immer noch hingerissen von der prunkvollen Kleidung des Mannes, von den kostbaren Krausen an seinen Handgelenken und von dem ziselierten Degenknauf.
Als wir alle drei zur Tür hinaustraten, lief Miss O’Donnell auf ihren Vater zu und fasste die Aufschläge seines Rocks.
„Ach, Vater!“, rief sie. „Bitte, sei mir nicht böse! Ich hatte das Schiff so satt! Ich musste endlich mal wieder festen Boden unter mir spüren. Ich war so allein ohne dich. Immer nur in der Kabine sitzen!“
Er wurde weich und schlang die Arme mit der Gebärde eines Schauspielers um ihre Schultern.
„Na, na, Moira!“, schalt er sie sanft. „Mach das nicht noch einmal! Juan wird künftig auf dich aufpassen. Doch nun zurück an Bord, mein Kind! Ich muss noch hierbleiben und einiges erledigen. Und bedanke dich besonders bei diesem Gentleman hier! Master Ormerod heißt er. Sein Vater ist ein großer Kaufmann in dieser Stadt.“
Miss O’Donnell dankte mir mit einem Knicks, während ich mich höflich verneigte. Dabei fragte ich mich, wo ihr Vater sich wohl so genau über mich erkundigt haben konnte. Denn als wir uns trafen, schien er noch nicht im Geringsten zu wissen, wer ich war.
„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danke könnte“, sagte das Fräulein mit einem Augenzwinkern zu mir. „Ich finde einfach keine Worte.“
Verständnisvoll lächelte ich ihr zu.
„Nochmals besten Dank, Master Ormerod“, sagte der Oberst. „Bitte, empfehlen Sie mich Ihrem Vater. Gute Nacht!“
„Gute Nacht, Sir“, erwiderte ich. „Und gute Reise für Sie, Miss. Wenn ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann, dann sagen Sie es ruhig.“
„Nein, Master Ormerod, hier trennen sich unsere Wege“, erklärte sie freundlich.
Ich wandte mich ab, und wir gingen in der entgegengesetzten Richtung davon. Darby McGraw neben mir schnatterte in einem fort, denn die strahlende Schönheit der jungen Dame hatte seine schlechte Laune weggeblasen und seine Lebensgeister neu entfacht.
„Was für ein hübsches Mädchen, Master Ormerod!“, rief er. „Mit blauen Augen wie die Seen in Irland! Ja, sie hat mich sofort an meine Heimat erinnert. An meine Heimat, die ich nie wiedersehen werde.“
„Warum denn nicht?“
„Sie sagen, ich käme unter die Seeräuber.“
„Du schwätzt dir da ein dummes Zeug zusammen!“, erwiderte ich barsch.
„Unsinn?“, rief er. „Für mich wär’s das Schönste, Master Robert! Legen Sie bei Ihrem alten Herrn ein gutes Wort für mich ein, bitte!“
„Also gut“, versprach ich, damit er den Schnabel hielt.
Er sprang in die Luft wie ein Füllen, das soeben seinen ersten Hafer bekommen hat, und sprudelte hervor:
„Sie sind ja bis über beide Ohren in die Kleine verknallt! Ja, die hat’s in sich! Wegen der würde ich sogar darauf verzichten, ein Seeräuber zu werden.“
„Die sehen wir nie wieder, Darby“, meinte ich. „Morgen in ein paar Wochen segelt sie schon jenseits der Karibischen Inseln – und wir schuften uns hier mit unserem Kram ab.“
Er warf mir einen verschmitzten Blick zu. „Wer weiß, Master Robert, was morgen ist… Und erst danach! Lassen wir uns lieber überraschen!“
An diesem Abend saßen wir lange beim Essen, denn mein Vater bestand darauf, alles ganz ausführlich zu hören, was ich am Tag erlebt hatte. Dabei verriet er eine seltsame Unruhe, die an ihm ungewöhnlich war. Peter Corlaer dagegen aß mit gemächlicher Feierlichkeit weiter. Nur hin und wieder flackerten seine Äuglein, die zwischen ihren Fettwülsten mühsam hervorblinzelten.
„Ich habe schon von diesem Oberst O’Donnell gehört“, begann mein Vater, sobald ich meinen Bericht beendet hatte. „Er war seinerzeit mit Prinz Karl in Schottland. In England steht bestimmt ein Preis auf seinen Kopf. Zweifellos hat er hier eine Besprechung gehabt – mit ein paar jakobitisch angehauchten New Yorkern.“
„Glaubst du wirklich, Vater?“, fragte ich.
„Wie Master Colden mir erzählte“, fuhr er fort, „hat der Kapitän der Fregatte heute Morgen den Gouverneur besucht und ihm ein Ammenmärchen aufgetischt. Er habe sich bei der Kursberechnung geirrt und sei nordwärts abgetrieben worden. Ich wittere dahinter eine jakobitische Verschwörung!“
„Miss O’Donnell hat gesagt, sie segelten nach Florida“, wandte ich ein. „Dann sind sie also nicht mehr weit vom Kurs abgewichen.“
„Das kleine Mädchen ist bestimmt nicht in die Pläne ihres Vaters eingeweiht. Die Jakobiten sind eine gefährliche Bande.“
„Dabei hast du früher einmal selbst zu ihnen gehört.“
„Das ist wahr, aber ich habe aus der Erfahrung gelernt. Das solltest du mir anrechnen, Robert. Großbritannien ist größer als irgendein König oder irgendeine Familie. Es geht hier um das Land – nicht um den Mann. Und Großbritannien geht es besser unter dem Hannoveraner Georg als je zuvor unter einem Karl oder Jakob Stuart.“