Tag der Nacht - Marcel Fenske-Pogrzeba - E-Book

Tag der Nacht E-Book

Marcel Fenske-Pogrzeba

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Beschreibung

Tag der Nacht erzählt die Geschichte von Mara, einem jungen Mädchen, dass mit ihrer Mutter nach Schweden zieht, um dort ein neues Leben zu beginnen. Doch statt sich in ihre neue Heimat einzugewöhnen, lässt sie sich von dem Troll Osol in eine mythische Welt voll Geister und Fabelwesen ziehen. Bei einem Unfall tötet sie einen Troll und wird dazu verpflichtet, seine Rolle als Leiter der Seelen einzunehmen. Von diesem Moment an zeigt sie zusammen mit Osol, dem jüngeren Bruder des Toten, den Seelen Verstorbener den Weg nach Nibelheim, dem Reich der Toten. Doch hinter den Kulissen der heilen Welt der Trolle herrscht Verrat und Angst. Der Tod von Osols Bruder löst einen Krieg in der mythischen Welt aus. Die Geschichte bewegt sich zwischen der realen Welt auf der Insel Orust und Jotunheim, der Heimat der Trolle. Während Mara versucht, ihre Aufgabe zu meistern, den Seelen ihren Weg zu leiten, muss sie sich gleichzeitig mit den Konsequenzen ihres Handelns auseinandersetzen. Ihre Mutter gerät in Panik, als ihre Tochter für zwei Tage spurlos verschwindet. Auch in Jotunheim ist nichts mehr wie es war, denn der Tod des Trolls weicht die Grenzen zur Welt der Toten auf. Immer wieder muss sich Mara der Frage stellen, wie viel Menschlichkeit noch in den Seelen der Toten steckt und ob ein Krieg die Lösung für die Bedrohung aus Nibelheim sein kann. In Tag der Nacht werden viele Elemente aus nordischen Sagen aufgegriffen und in ein neues Licht gerückt. Trolle, Hexen, Geister, Elfen und Feen sowie Vogel- und Wolfsmenschen bevölkern Jotunheim, ein Reich zwischen Tradition, Magie und moderner Technologie.

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Seitenzahl: 424

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Impressum

Tag der Nacht Copyright: © 2014 Marcel Fenske-Pogrzeba Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN 978-3-8442-8091-3

Tag der Nacht

Marcel Fenske-Pogrzeba

Für Anne,

Prolog

Lichtlosigkeit hatte sich über das Waldstück nahe des Parks gelegt, doch das hielt den Brunnen auf der künstlichen Lichtung nicht davon ab sein einsames Lied zu plätschern. Auf dem Rand des Brunnens saß ein Schatten und wartete. Nicht lange blieb er allein. Zwei weitere gesellten sich in einem fahlen blauen Schein dazu. Der erste Schatten fasste sich kurz und übergab ihnen etwas im Schutz der Dunkelheit. Dann trennten sich ihre Wege und der erste Schatten war wieder allein. Zufrieden ließ er ein finsteres Kichern erklingen.

Schatten im Nebel

Es war ein brütend heißer Tag im späten Sommer. Die Sonne brachte den Asphalt zum Glühen und die Luft zum Wabern. Auf der Autobahn A24 Richtung Hamburg schienen sich die Wagen regelrecht aufeinander zu stapeln. Immer wieder Drang das entnervte Hupen eines ungeduldigen Fahrers durch das stetige Dröhnen der Motoren, während sich die Karosserien Millimeter für Millimeter nach vorne schoben. Die Landschaft wurde von hohen, hölzernen Schallschutzwänden verdeckt, sodass der Blick aus dem Fenster nicht allzu viel Abwechslung bot.

Aus den Lautsprechern des Kleinwagens drangen die beruhigenden Klänge von Beethovens 9er Sinfonie. Die Mutter summte leise mit und warf immer wieder Blicke in den Rückspiegel auf ihre Tochter, welche wiederum entnervt aus dem Fenster starrte und die klassische Musik mit Käptn Peng aus ihren Kopfhörern zu vertreiben suchte. Am Morgen dieses Tages hatten sie all ihr Hab und Gut zusammengepackt und sich auf die lange Fahrt von Berlin nach Orust in Westschweden gemacht.

Die Begeisterung der jungen Dreizehnjährigen über die Verlagerung ihres Wohnortes hielt sich offensichtlich in Grenzen. Maras abfällige Äußerungen in den letzten Tagen hatten ihren Standpunkt mehr als klar gemacht. Viola wusste, dass ihre Tochter sie für die Scheidung verantwortlich machte und viel lieber bei ihrem Vater geblieben wäre. Doch sein stressiger Job, welcher ihn oft tagelang durch Deutschland schickte hatte ihm das alleinige Sorgerecht verwehrt. Es hatte schon eine ganze Weile zwischen ihnen nichts außer Streitigkeiten gegeben und der letzte Funke der Liebe war längst verflogen. Einige Zeit hatte das Ehepaar versucht, es vor ihrer Tochter geheim zu halten, doch irgendwann war die Wahrheit nicht mehr zu vertuschen gewesen. Ab diesem Moment hatte sich etwas unwiderruflich in dem kleinen Mädchen verändert.

Mara war ein aufgewecktes, neugieriges Kind gewesen, welches schnell neue Freunde fand und von allen als freundlich und großherzig wahrgenommen wurde. Seit dem Tag im Herbst letzten Jahres, an dem sie sich endgültig getrennt hatten, hatte sich das Mädchen vollkommen zurückgezogen und in ihre eigene Welt geflüchtet. Statt mit Offenheit begegnete sie ihren Mitmenschen nun mit Sarkasmus und Abneigung. Auch ihr Kleidungsstil hatte sich drastisch geändert. Statt Sommerkleidchen und Sandalen trug sie nun abgetragene Jeans, viel zu weite Pullover und alte Sportschuhe. Erst vor kurzem hatte Viola auf dem Laptop ihrer Tochter die Seite eines Tattoo- und Piercingstudios entdeckt.

»Wie weit ist es denn noch?«, fragte Mara mürrisch, nachdem sie eine weitere halbe Stunde aus dem Fenster gestarrt hatte.

»Nicht mehr weit, wir sind bald an der Fähre.«

»Also schon fast die Hälfte… ist ja großartig.«

Damit versank das junge Mädchen wieder in Schweigen.

»Sag mal«, setzte ihre Mutter an, in der Hoffnung aus den paar Textbrocken ein Gespräch zu beginnen.

»Willst du nicht den Pullover ausziehen? Es ist brütend warm.«

Das Thermometer zeigte knapp fünfundzwanzig Grad an und das Auto besaß keine Klimaanlage.

»Nein«, kommentierte Mara und begann in ihrem Rucksack nach etwas zu trinken zu kramen. Außer einer Flasche süßen, bereits angewärmten Sprudelzeugs mit Pfirsichgeschmack konnte sie nichts zutage fördern. Angewidert setzte sie die Flasche an die Lippen.

»Wirklich, Schatz. Du schwitzt dich noch zu Tode.«

»Dann wärst du ja schon mal ein Problem los.«

»Das war jetzt wirklich unangebracht.«

»Ich zeig dir gleich, was unangebracht ist«, motzte Mara und rülpste ihrer Mutter ins Ohr.

»Lass das. So etwas ist ekelhaft.«

Das junge Mädchen zuckte mit den Schultern und starrte wieder aus dem Fenster. Nicht, dass ihr nicht tatsächlich brütend heiß war, doch sie hatte beschlossen den Pullover solange nicht mehr auszuziehen, bis sie wieder zurück in Berlin bei ihrem Vater war. Bei der beruflichen Erfolgsrate ihrer Mutter konnte das auch hoffentlich nicht allzu lange dauern. Ihre letzten drei Jobs hatte sie in weniger als zwei Monaten wieder verloren. Es hieß also nur Augen zu und durch und in spätestens drei Monaten wäre sie wieder zuhause. Stell es dir einfach wie lange Sommerferien vor. Je mehr Mist du baust, desto schneller will Mutter wieder nach Hause.

Mara grinste über ihren teuflischen Plan in sich hinein. Nach einiger Zeit löste sich der Stau wieder auf, ohne einen erkennbaren Grund für seine Anwesenheit zu hinterlassen. Während die Felder und Solaranlagen der Mecklenburger Seenplatte an ihr vorbeizogen, schmiedete Mara Pläne, wie sie ihrer Mutter am effektivsten den Nerv rauben konnte. Ab und zu wechselten sich die Hügel mit Zeilen von Mischwäldern oder Windrädern ab, doch im Großen und Ganzen blieb die Landschaft dieselbe. Es dauerte tatsächlich nicht mehr allzu lang, bis sie die Fähre erreicht hatten und entgegen Maras Erwartungen mussten sie auch nur eine halbe Stunde warten, bis sie auf das riesige Transportschiff hinauffahren konnten. Im selben Moment, als ihre Mutter den Motor ausstellte, sprang sie bereits aus dem Wagen.

»Ich hab Hunger. Lass uns was essen.«

»Nicht so schnell, junge Dame. Zuerst schauen wir uns an, wie das Schiff den Hafen verlässt.«

»Wie öde«, murrte das Mädchen und folgte der erwachsenen Frau, als gäbe es keine größere Qual in ihrem Leben.

Die Fähre brauchte nur knapp zwei Stunden, um die Ostsee zu überqueren und Gedser in Dänemark zu erreichen. Nachdem Mara sich die Ausfahrt aus dem Hafen angesehen hatte, gab es ein kurzes Mittagessen mit Brot, Rührei, Speck, Wurst und Orangensaft. Nicht zu vergessen die Schüssel mit Schokoflakes. Darauf folgte ein kurzer Schlaf auf einer der zahlreichen Bänke. Immerhin hatte Viola ihre Tochter gezwungen bereits um fünf Uhr morgens aufzustehen, um pünktlich losfahren zu können. Eine unmenschliche Zeit, wie sich Mara mehrmals beklagt hatte. Als sie wieder ins Auto stiegen breitete sich Stille aus. Zum Glück hatte sich die Hitze bereits in angenehme zwanzig Grad verwandelt. Eine ganze Weile schlief Mara. Dann starrte sie aus dem Fenster, doch irgendwann kam sie nicht mehr an der Frage vorbei, die sich seit dem Aufstehen in ihren Hirnwindungen festgesetzt hatte.

»Du… Mutter.«

»Nein. Ich antworte dir erst, wenn du mich Mama nennst.«

»Ach komm. Das ist doch albern.«

Ihre Mutter hob den rechten Zeigefinger theatralisch mahnend in die Luft. Mara murrte kurz.

»Du… Mama.«

»Ja.«

»Wo wohnen wir eigentlich?«

»Ich habe schon darauf gewartet, dass du endlich mal fragst. Das wird eine große Überraschung.«

»Soll heißen, du sagst mir jetzt gar nichts.«

»Das soll es heißen. Aber ich bin froh, dass du Interesse zeigst.«

»Schön, dass du froh bist«, knurrte Mara, verschränkte die Arme und starrte mit bösem Blick auf die Kopfstütze ihrer Mutter. Dabei stellte sie sich vor, wie sie in ihren Kopf kriechen könnte, um alle Geheimnisse und Ängste ihrer Mutter herauszufinden und gegen sie einzusetzen. Ihr Unterfangen blieb vergeblich und so zog sie die Kapuze ihres lila Pullovers über den Kopf und versuchte wieder zu schlafen. Nach gefühlten zwei Sekunden erwachte sie mit einem grunzenden Laut.

»Ah. Ist die Prinzessin wieder erwacht. Gerade im richtigen Augenblick.«

»Ich hab dir doch schon tausendmal gesagt, ich bin keine Prinzessin. Prinzessinnen sind dumme Kinder in rosa Kleidchen.«

»Ach so. Das muss ich wohl verdrängt haben. Entschuldigt Hoheit.«

»Hör auf damit.«

»Schau doch mal raus. So etwas bekommt man nicht alle Tage zu sehen.«

Widerstrebend folgte Mara, blickte aus dem Fenster und traute ihren Augen kaum.

»Woah«, war ihre tiefschürfende Reaktion.

Im Licht des späten Nachmittags hob sich die asphaltierte Straße in die Luft und wurde zu einer gigantischen Brücke, die über das glitzernde Wasser führte.

»Was ist das? Ich kann gar nicht das Ende sehen.«

Die Brücke wand sich durch den aufkommenden Nebel und verschwand in einer Wand aus grau. Es wirkte regelrecht, als wäre die Welt an dieser Stelle zu Ende. Die Wagen vor ihnen wurden von der schleierähnlichen Masse verschluckt und waren nie mehr gesehen.

»Wahnsinn. Das sieht ziemlich gruselig aus. Und da wollen wir durch?«

»Keine Sorge, Prinzessin. Das ist nur Nebel.«

»Das weiß ich auch. Ich bin doch nicht blöd.«

»Ich bin doch nicht blöd«, äffte ihre Mutter Mara leise nach.

Nicht, dass das Mädchen diese Gehässigkeit nicht mit bekommen hätte, doch im selben Moment zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich. In der Nebelbank bewegte sich etwas. Nicht die Schatten der Autos und Laster, die darin verschwanden oder daraus hervorkamen, sondern etwas viel… Größeres. Hinter der Wand aus Wasserdampf erhob sich ein riesiger Schatten. Größer als die Brücke selbst, über die sie fuhren. Dann brach ein Teil des Schattens durch den Nebel und enthüllte einen gewaltigen, schwarzen, schuppigen Schwanz, der sich um die Brücke zu winden begann. Riesige, geschlitzte Augen starrten das junge Mädchen an.

Mara konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken und stieß ihre Mutter von hinten an, »Siehst du das?«, fragte sie aufgeregt.

»Was soll das? Schrei nicht so.«

Genervt hielt sich ihre Mutter das rechte Ohr, »Was ist denn plötzlich los?«

Als Maras Blick wieder zurück zum Nebel wanderte war der Schatten verschwunden. Alles wirkte so, als wäre nichts geschehen. Sie rieb sich die Augen, doch diese hilflose Geste brachte keine Veränderung.

»Was ist denn?«, wiederholte Viola.

»Ähm… nichts. Der LKW da drüben hat eine komische Farbe.«

»Aha. Das ist ja aufregend.«

Ihr Auto versank in der Nebelbank und sie konnten nicht weiter als fünfzig Meter sehen. Verzweifelt versuchte Mara eine Spur des riesigen Schattens auszumachen, doch es war, als wäre nie etwas gewesen. Vielleicht hab ich mir das ja nur eingebildet.

Auf der anderen Seite angekommen nahmen sie sich ein Hotelzimmer. Viola versuchte ihrer Tochter einen Gutenachtkuss zu geben, doch diese wehrte sich erfolgreich. Mit einem »Gute Nacht, Prinzessin« kuschelte sie sich ein und war schnell und fest eingeschlafen. Mara sah aus dem Fenster hinaus auf das Meer. Sie konnte einen Streifen der unheimlichen Brücke noch im Nebel sehen und fröstelte. Schnell wickelte sie sich ebenfalls in ihre Decke, umschlang ihren Kuschelhasen und versuchte das gruselige Bild zu vergessen.

Am nächsten Tag fuhren sie noch etliche Stunden ohne besondere Ereignisse. Langsam wurde es kühler und die Landschaft änderte sich von grünen Wiesen und Nadelwäldern zu felsigen Landschaften, durchzogen von Flüssen und Seen. Mara konnte sich vorerst nicht allzu viel aus dem Fels, Gräsern und Wasser machen. Es sah hübsch aus, aber gleichzeitig auch sterbend langweilig. Eine ganze Zeit fuhren sie am Wasser entlang. Auf der anderen Seite konnte Mara weitere Felsen und Wälder erkennen.

»Das ist Orust«, sagte Viola begeistert.

»Aha.«

Nach jeder Menge Schlangenlinien erreichten sie einen breiten Fluss. Die Straße schien direkt im Wasser zu enden.

»Und jetzt? Wohnen wir am Grund des Meeres?«

»Nur Geduld, Prinzessin. Unsere Fähre kommt ja schon.«

Mara streckte den Hals, um besser sehen zu können. Von der anderen Seite her näherte sich ein Schiff mit einer platt gedrückten Ladefläche. Darauf standen Autos und ein Transporter, die ungeduldig darauf warteten die andere Seite zu erreichen. Das Vehikel schwankte erheblich als die Fahrzeuge es verließen und Maras Mutter hinauf fuhr. Sie warteten eine ganze Weile, bis weitere Wagen sich hinter ihnen einreihten, dann legte die Fähre ab. Zum Glück dauerte die Fahrt nicht lange, denn Mara hatte das Gefühl, sie würden jeden Augenblick untergehen.

Am anderen Ufer empfing sie eine Ortschaft mit dem Namen Svanesund. Mara drückte ihre Nase gegen die Scheibe und betrachtete die kleinen, zumeist rot oder weißen Holzhäuser, die sich direkt an der Uferstraße aneinander reihten. Davor gab es ab und zu kleine von weißen Holzzäunen eingerahmte Grasflächen mit teils lustigen Briefkästen, die ihrem großen Pendant dahinter glichen.

Auf der Straße kamen ihnen drei Kinder mit einem Fußball entgegen, die Mara als Jungs in ungefähr ihrem Alter identifizierte. Die Jungs warteten wie aufgereiht am Straßenrand als sie vorbeifuhren und grüßten freundlich. Irritiert sah ihnen Mara hinterher. Auf der rechten Seite tauchten mehrere Bootsanleger und eine Art kleiner Hafen für Privatboote auf. Mara beobachtete die schwankenden Gefährte im glitzernden Wasser. Kurz darauf bogen sie auf etwas ein, dass mehr einem Bergpfad als einer Straße glich. Skogslykevägen verkündete das Straßenschild.

»Endlich«, schnaufte Viola. »Fast geschafft.«

»Und du weißt auch genau, wo du hin willst, ja?«

»Es ist nicht mehr weit. Nur noch da vorne rechts und bis zum Ende der Straße.«

Und tatsächlich. Fünf Häuser weiter stellte ihre Mutter den roten Golf vor einem kleinen, untersetzten Haus in nahezu ebenso dreckigem Rot ab und gab bekannt: »Sie haben ihr Ziel erreicht.«

Mara konnte nicht genau sagen, was sie erwartet hatte, aber nicht das, was sie hier vorfand. Das kleine, zweistöckige Haus war geradezu aus einem Schwedenreiseführer ausgeschnitten. Es fehlte nur etwas neue Farbe. Es gab einen kleinen, verwilderten Vorgarten mit einem blechernen Briefkasten, auf dem eine hässliche Trollfigur thronte. In seinen Wurstfingern hielt er ein Schild mit der Aufschrift, »Sundqvist«.

»Keine Angst. Deinen Namen Pinseln wir auch noch drauf«, lachte Viola.

»Jetzt komm erst mal mit rein. Du wirst es toll finden.«

Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die in diesem Ort aufgewachsen war, hatte Mara das Haus noch nie zuvor gesehen. Allzu neugierig war sie nicht, ließ sich aber dennoch mitziehen. Als sie durch die kleine Tür mit dem geriffelten Sichtfenster trat konnte sie durch einen winzigen Flur direkt in das zweigeteilte Wohnzimmer blicken, das wirkte als wäre es von ihrer Großmutter eingerichtet worden.

Im vorderen Bereich stand ein Esstisch auf geschwungenen Beinen, mit einer zierlichen Häkeldecke geschmückt. Darum standen vier gedrungene Stühle aus dunklem Holz mit Blümchenmusterbezug. Das ganze wurde noch durch den alten, extrem dicken Teppich unterstrichen, über den Mara beinahe stolperte. Neben der Treppe befand sich eine Tür, die in die altmodische Küche führte. Auf der anderen Seite gab eine Schiebetür den Blick auf zwei alte Ohrensessel vor einem schmiedeeisernen Ofen frei. Auf dem Ofen saß eine weitere Porzellanfigur eines hässlichen Zottelviehs mit einem riesigen Pickel auf der Nase und grinste sie an.

»Das ist nicht dein Ernst«, konstatierte das junge Mädchen und blickte ihre Mutter mit vorwurfsvollen Augen an.

»Ist es nicht hübsch? Die Sachen hat Oma uns hinterlassen. Komm, ich zeig dir den Rest.«

Die Erkenntnis, dass das Haus tatsächlich von ihrer Großmutter eingerichtet worden war machte Mara nicht viel Hoffnung auf die restlichen Zimmer.

»Vielleicht hätte sie sie einfach mitnehmen sollen«, murmelte sie und folgte ihrer Mutter in das obere Stockwerk. Der Tod ihrer Mutter hatte Viola überhaupt erst auf die Idee gebracht nach Schweden auszuwandern und in das Haus ihrer Kindheit zurück zu kehren. Mara hatte noch nie mehr als ein paar Fotos von der Heimat ihrer Mutter gesehen und war bis jetzt auch nicht sehr angetan. Doch Viola schien es offensichtlich neues Leben einzuhauchen. Eigentlich würde sich Mara ja für sie freuen, wenn sie nicht hätte darunter leiden müssen.

Im oberen Stock befanden sich vier weitere Zimmer. Eines, das offensichtlich als Schlafzimmer gedient hatte und nun von ihrer Mutter in Beschlag genommen wurde. Dort lagerten noch einige Kisten und Kleiderbeutel. Weiterhin fand sich eine Art Haushaltskammer, welche vollgestellt war mit Besen, Eimern, Wäscheständern und sonstigem Hausgerät, das Mara niemals anrührte. Direkt daneben lag ein kleines Bad mit winzigem Waschbecken und provisorischer Dusche, welche statt mit Glas mit einem Blümchenvorhang verkleidet war. Das letzte Zimmer sollte scheinbar ihr eigenes werden. Es war bereits eingerichtet mit Maras altem Bett und Kleiderschrank. Doch neben den beiden modernen Möbeln, die ihr Vater ihr gekauft hatte, stapelten sich ebenfalls Kisten.

»Das war Omas Arbeitszimmer. Ich habe es noch nicht geschafft, es vollkommen zu entrümpeln. Das können wir ja dann nach dem Kaffee machen.«

Mara antwortete nicht, sondern betrachtete die gelbbraune Blümchentapete, welche die Wände des kleinen Zimmers zierte. Zwischen den gelbweißen Blüten auf dem brauen Untergrund tummelten sich allerlei Vögel und kleine Tiere. Der Kontrast zum glatten weiß ihrer Möbel tat schon beinahe weh.

»Wunderschön… «, murmelte sie und warf ihren Rucksack auf ihr Bett, das unter dem Fenster aufgebaut war.

»Ich mache uns Essen. Mach es dir schon mal gemütlich«, flötete ihre Mutter und verschwand wieder die Treppe hinunter. Unten konnte Mara sie den Herd in der Küche anheizen hören. Gibt es überhaupt Strom in dieser Bruchbude?

Sie drehte sich einmal im Kreis und besah sich ihres neuen Reiches. Um sich hier wohnlich zu fühlen würde ihr offensichtlich noch einiges an Arbeit bevor stehen. Die große Frage war, ob sich der Aufwand überhaupt lohnen würde. Immerhin hatte sie nicht vor, lange in Schweden zu bleiben. Nachdem sie sich ein weiteres Mal im Kreis gedreht hatte, wandte sie sich ihrem Schrank zu. In eine der Schranktüren war ein großer Spiegel eingelassen, in dem sie sich betrachten konnte. Aus dem milchigen Glas blickte sie ein junges Mädchen am Anfang der Pubertät in kurzen Jeans und pastelllila Pullover an. Ihre braunschwarzen Haare strubbelten bis zu den Schultern herab und rahmten das blasse Gesicht ein. Die braunen Augen schienen müde und versteckten sich hinter dem Pony.

»Du hättest mir ja auch sagen können, dass meine Haare völlig ungepflegt aussehen«, brüllte sie die Treppe hinunter. Von ihrer Mutter bekam sie nur ein fröhliches Pfeifen als Antwort. Grummelnd ging Mara zu ihrem Rucksack und kramte ein paar Haargummis hervor, um ihre widerspenstige Frisur zu bändigen. Dann warf sie einen Blick aus dem Fenster, welches nach hinten hinaus wies. An die Rückseite des kleinen Hauses schloss sich eine hölzerne Terrasse mit Garten an, der beinahe übergangslos in einen Wald endete. Das Unterholz und den Rasen trennte nur ein kleiner, schon ziemlich betagter, weißer Holzzaun. Gibt es in diesem Land eigentlich auch irgendetwas aus Metall?

»Prinzessin! Es gibt Kaffee.«

»Jaja. Bin ja schon auf dem Weg.«

Mara sprang die Treppe hinunter und fand ihre Mutter an dem kleinen Tisch im Wohnzimmer sitzend, mit zwei Tassen frisch gebrühtem Kaffee. Seitdem sie vor knapp zwei Jahren bei ihrem Vater das erste Mal Kaffee getrunken hatte, war Mara regelrecht süchtig nach dem braunen Trunk. Am besten ohne Milch, dafür mit viel Zucker. Zwischen den beiden Tassen stand ein Teller auf dem ein seltsames, kringelförmiges Gebäck lag.

»Was ist das?«, fragte sie beim Hinsetzen.

»Kanelbullar. Die schmecken super. Probier einfach mal einen.«

Zögerlich nahm Mara einen in die Hand und biss ab. Zu ihrer Überraschung schmeckte das Teiggebäck nicht so süß wie erwartet, dafür um einiges besser als gedacht, mit einer erheblichen Note Zimt.

»Und? Was hältst du von Schweden?«, fragte Viola nach dem zweiten Kanelbulle.

»Nette Landschaft. Aber das nächste Kino ist sicherlich erst an der Staatsgrenze, oder?«

»Es gibt noch andere Dinge als Fernsehen und Kino.«

»Ja, zum Beispiel Wandern. Wuhuu!«

Viola schüttelte den Kopf, konnte sich eines Lächelns aber nicht erwehren.

»Es wird dir hier gefallen.«

»Das bleibt abzuwarten. Hast du eigentlich schon einen Job?«

»Nett, dass du fragst. Noch nicht, aber ich habe bereits ein paar Sachen rausgesucht und ab Morgen geht es gleich mit den Bewerbungsgesprächen los.«

»Das ist gut«, erwiderte Mara.

Sie grinste in sich hinein. Die Tatsache, dass ihre Mutter noch keinen Job hatte, machte es noch viel wahrscheinlicher, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft wieder nach Berlin zurück fahren würden.

Nach dem Essen schafften sie die Kisten aus dem ehemaligen Arbeitszimmer hinunter in den Keller, dessen Eingangstür sich an der Terrasse versteckte. Das Gewölbe war dunkel, stickig und mit Spinnenweben regelrecht tapeziert. Mara war froh, als alle Kisten verstaut waren. Danach begannen sie das Auto zu entladen und die Sachen in ihre Zimmer zu räumen.

Mara bezog ihr Bett, räumte ihre Kleider in den Spiegelschrank und hing eine Reihe von Fotos über ihrem Bett auf. Größtenteils waren sie von ihr und ihrem Vater im Berliner Zoo. Auf zwei Fotos war auch ihre Mutter zu sehen, wie sie glücklich in den Armen von Maras Vater lag. An der Dachschräge hing sie umständlich mehrere Poster auf. Nun sammelten sich Sweenie Todd, Iron Man und die Salvatore Brüder über ihrem Kopf.

Als der Tag sich dem Ende neigte zog erneut Nebel auf und hüllte die Landschaft in einen grauen Schleier. Während ihre Mutter bereits schlief blickte Mara aus ihrem Fenster in den Garten und versuchte sich mit ihrer neuen Situation anzufreunden. Als ihre Eltern sich noch nicht zerstritten hatten, hatten sie zusammen im Berliner Loft ihres Vaters gewohnt, welches einen ganz anderen Standard als diese Holzhütte bot. Abgesehen davon, dass in der Innenstadt immer etwas los war.

Mara hatte es gut in der geräumigen, modern eingerichteten Wohnung gefallen. Nicht nur, dass man durch die großen Fenster stets den Blick über die Stadt gehabt hatte, nein, es hatte sogar einen Lieferservice für Essen gegeben. Ihr eigenes Zimmer war im Gegensatz zu diesem hier riesig gewesen und mit einem eigenen Fernseher ausgestattet. In diesem neuen Haus gab es scheinbar nicht mal ein Radio und ihre Mutter hatte nichts darüber gesagt, ob sie sich einen Fernseher anschaffen wollte.

Versunken in ihre Gedanken ließ das junge Mädchen den Blick über den vernebelten Garten schweifen, als sich hinter dem Zaun etwas zu bewegen schien. Nicht nur ein Blatt im Wind, sondern ein Schatten. Ein großer Schatten. Was ist das schon wieder. Sag mir nicht, dass es hier Wölfe gibt.

Mara kniff die Augen zusammen und fokussierte die Stelle zwischen dem großen Strauch und der Wäscheleine, an der sie etwas gesehen hatte. Nichts rührte sich. Schon glaubte sie, es sich wieder wie die Erscheinung auf der Brücke eingebildet zu haben, doch dann trat eine Gestalt aus dem Nebel.

Es war ein übergroßer Mann in einen langem Regenmantel und hohe Stiefeln gekleidet, mit flatterndem Schal und Zylinder. Die Schultern waren seltsam breiter als der Rest des Körpers, so als wäre er besonders muskulös. Und unter der breiten Krempe des Hutes war das Gesicht nicht zu erkennen. Was macht so ein Kerl bei uns auf dem Grundstück?

Dann hob der Mann den Kopf und starrte sie direkt an. Sie konnte sein Gesicht unter dem hochgezogenen Schal und der großen Sonnenbrille zwar nicht erkennen, doch es war, als würde er ihr direkt in die Augen sehen. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Plötzlich hob er die Hand und schien ihr zu winken. Erschrocken ließ sie sich fallen und kauerte sich auf ihrer Matratze zusammen. Was ist das für ein Kerl? Hat er mich gesehen? Wer trägt nachts eine Sonnenbrille?

Nervös versuchte sie sich wieder aufzurichten und über den Fensterrahmen hinaus zuschauen. Doch zu ihrem Glück war von der unheimlichen Gestalt in ihrem Garten nichts mehr zu sehen.

Der Mann mit dem Zylinder

Am nächsten Morgen war Mara unglaublich froh, dass sie Sommerferien hatte und keine Schule besuchen musste, denn Dank dem unheimlichen Mann hatte sie noch lange wach gelegen und an die Blümchendecke gestarrt. Immer wieder war sie aufgestanden und hatte aus dem Fenster geblickt, um sich zu versichern, dass er nicht mehr da war. Der Garten lag still und einsam gehüllt im Nebel dar, als hätte der unheimliche Besucher niemals existiert. Als sie verschlafen gegen zehn Uhr die Treppe herunter kam begrüßte ihre Mutter sie fröhlich.

»Guten Morgen, Prinzessin. Hatten wir einen erholsamen Schlaf?«

Mara fuhr sich durch ihre ungewaschenen, strubbligen Haare, um eine Strähne von ihrem Gesicht zu verbannen und setzte sich dann gähnend neben ihre Mutter.

»Ich brauche Kaffee«, konstatierte die Tochter.

»Hast du ein Glück, dass ich gerade zufällig welchen zum Frühstück gekocht habe. Möchtest du noch etwas anderes, wie Brot, Marmelade und Saft vielleicht?«

»Das klingt gut.«

»Dann bediene dich in der Küche. Du siehst ja, dass ich gerade beschäftigt bin.«

Tatsächlich bemerkte Mara erst in diesem Augenblick, dass der Tisch nicht mit einer Decke, sondern mit Zeitungen ausgelegt war, welche ihre Mutter an mehreren Stellen mit Kugelschreiber eingekreist hatte. Der Text war natürlich auf Schwedisch, sodass sie sich keinen Reim darauf machen konnte. Denn obwohl sie wusste, dass ihre Mutter in Schweden geboren war, hatte sie sich nie bemüht die Sprache zu lernen. Genau genommen war Mara im Grunde froh, dass sie inzwischen ganz gut Englisch verstand.

Also erhob sie sich wieder und taumelte in die Küche. Wie es sich gehörte hatte ihre Mutter bereits alles vorbereitet. Der Kaffee war noch heiß, warme Brötchen lagen bereit und die Marmeladengläser standen geöffnet, mit je einem Löffel versehen, daneben. Mara ignorierte die Karaffe mit frisch gepresstem Orangensaft und schenkte sich ihre große Ohne dich ist alles doof-Tasse ein, die ihre Mutter ihr vor einem Jahr geschenkt hatte. Nachdem sie sich ihre Brötchen geschmiert hatte kehrte sie zum Frühstückstisch zurück.

»Was machen wir heute?«, fragte sie unverblümt.

»Du hast den Nachmittag heute erst mal frei. Ich muss zu zwei Vorstellungsgesprächen in der nächsten Ortschaft. Also vielleicht gehst du ein wenig spazieren und machst dich mit unseren Nachbarn bekannt. Svanesund ist größer, als du denkst.«

»Mmmh«, überlegte Mara.

Wenn sie einen schlechten Eindruck bei den Nachbarn hinterließ, dann würde ihre Mutter vielleicht schneller wieder zurück wollen. Während sie sich das erste Marmeladenbrot zwischen die Backenzähne schob, überlegte sie fieberhaft, wie sie sich möglichst schlecht in Szene setzen konnte. Die ungewaschenen Haare sind schon einmal ein Anfang.

»Mit ein wenig Glück habe ich heute Abend schon einen Job«, meinte Viola zuversichtlich.

»Dann muss ich hier zur Schule?«, fragte Mara nach der Konsequenz des Erfolges ihrer Mutter.

»Natürlich. Die Schule hier wird dir gefallen.«

»Schule ist dämlich. Egal ob hier oder zu Hause«, damit schob sich Mara das zweite Brötchen zwischen die Zähne und nahm einen Schluck Kaffee hinterher.

»Du weißt, dass ich es nicht gut finde, wenn du so viel Kaffee trinkst.«

»Papa hat dazu nie was gesagt.«

»Ich bin aber nicht Papa und ich sage etwas dazu.«

»Aha«, machte Mara und leerte die Tasse.

Ihre Mutter verdrehte die Augen und stand auf. Sie warf demonstrativ einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Du pass auf. Ich muss jetzt los. Mach dir einen schönen Tag. Ich bin gegen fünf oder sechs wieder hier.«

Damit gab sie ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange, bevor diese ausweichen konnte und verschwand zur Tür hinaus. Mara stand auf und brachte das Geschirr in die Küche, um es in den Geschirrspüler einzuräumen. Leider musste sie feststellen, dass es so etwas nicht gab. Also stellte sie Teller und Tasse einfach in die Spüle und ging in ihr Zimmer.

Oben angekommen holte sie ihr Handtuch und Duschsachen hervor. Im Gegensatz zum Hochglanzbad ihres Vaters konnte sie sich in diesem hier kaum auf einer Stelle drehen. Sie spielte eine Weile vor dem Spiegel mit ihren Haaren und probierte gruselige Frisuren aus.

Dann entschied sie schließlich ihre Haare doch zu waschen. Dabei setzte sie das halbe Bad unter Wasser. Da brauch ich wohl etwas Training. Sie rubbelte sie so gut es ging trocken und band ihre Mähne dann zu einem Zopf zusammen. Richtig trocknen konnten sie ja auch an der Luft. Danach packte sie ihre Sachen in den Rucksack, Stifte, Papier und ihr Handy. Essen und Trinken klaubte sie sich aus der Küche zusammen. Sie schmierte sich zwei Brötchen und packte einen Apfel dazu. Bevor das junge Mädchen aus der Tür trat, machte sie nochmal auf dem Absatz kehrt und ging hoch ins Schlafzimmer ihrer Mutter.

Es war immer wichtig zu wissen, wo die Eltern ihre Geheimverstecke hatten, das hatte sie schon früh gelernt. Das Schlafzimmer ihrer Mutter war bereits in Limonengrün, der momentanen Lieblingsfarbe, gestrichen und mit weißen Möbeln eingerichtet. Von links fiel das Sonnenlicht durch einen feinen, bestickten Vorhang auf das ordentlich gemachte Bett. Über die grüne Decke schaute sie Emma, die Plüscheule, mit vorwurfsvollen Blicken an.

Neben dem Bett stand eine aus schwungvollem, weiß gestrichenem Holz gefertigte Kommode, auf der der alte Laptop schlummerte. Viel war in dem noch provisorisch eingeräumten Zimmer nicht zu finden. Das meiste befand sich noch in den beiden Koffern neben dem Bett.

Allerdings fand Mara im großen Kleiderschrank eine kleine Klappe, hinter der man mit Leichtigkeit etwas verstecken konnte. Es würde sich also lohnen sich in ein paar Tagen noch einmal ins Schlafzimmer zu schmuggeln. Mit einem kleinen Siegeslächeln machte sich Mara nun auf den Weg nach draußen.

Ein kühler, salziger Hauch schlug ihr entgegen und sie zog sich die Kapuze ihres lila Pullovers über. Wohin jetzt?

Mara warf einen Blick die Straße hinauf, die zu einem Pfad wurde, der sich durch die Bäume den Berg hinauf schlängelte, und hinunter, wo der Weg zum Hafen führte. Sie beschloss sich am Wasser ein wenig umzusehen. Als sie den steilen Asphalt hinunter lief wünschte sie sich, sie hätte ihr Skateboard mitgenommen. Damit wäre die Strecke um einiges entspannter gewesen.

Es dauerte nicht lange und sie hatte den kleinen Hafen mit vier oder fünf Stegen und ein paar Segelbooten erreicht. Einige Schweden waren mit irgendwelchen Arbeiten an ihrem Boot beschäftigt und grüßten sie mit einem freundlichen »Hej«, als sie vorbeiging. Mara antwortete verstört mit einem gemurmelten »Hej« zurück.

In Berlin wurde man so gut wie nie auf offener Straße angesprochen und wenn, dann von Leuten, die von einem das Taschengeld haben wollten. Schnellen Schrittes ging Mara an den Männern vorbei, die sie angrinsten. Ein paar Meter weiter fand sie eine einsame Bank neben einem Steg und setzte sich.

Eine Weile betrachtete sie die Boote, Häuser, das Wasser und die Männer bei der Arbeit. Dann kramte sie Stift und Papier aus dem Rucksack und begann zu zeichnen. Mara zeichnete gerne, vorwiegend mit Blei- oder Kohlestiften. Ob ihre Zeichnungen gut waren, konnte sie allerdings nicht einschätzen. Ihre Kunstlehrerin, die alte Schnäpfe, hatte ihr jedenfalls nie besonders gute Noten gegeben. Zuerst skizzierte sie die Felsen und Sträucher am anderen Ufer, welche den Hafen einrahmten und dann die Boote direkt vor ihr. Als letztes kamen die Männer, welche gerade ihr Boot neu strichen.

»Det är trevligt. Kan jag titta på det närmare?«, fragte eine Stimme hinter Mara plötzlich. Erschrocken drehte sich das junge Mädchen um und sah sich einer Reihe von Knöpfen gegenüber. Ihr Blick wanderte nach oben und sah sich selbst gespiegelt in den riesigen Gläsern einer schwarzen Sonnenbrille. Hinter ihr stand der Mann im Regenmantel, den sie am Abend zuvor gesehen hatte.

»Was?«, keuchte Mara angsterfüllt und knüllte ihren Zeichenblock so schnell und unauffällig sie konnte zurück in den Rucksack.

»Oh, entschuldigt. Ich wusste nicht, dass ihr kein Schwedisch sprecht. Ich wollte gerne eure Zeichnung näher betrachten, wenn ihr gestattet.«

Die Stimme des Riesen klang blechern und dumpf durch seinen Schal.

»Äh. Nein. Sie ist noch nicht fertig«, meinte Mara, nahm ihren Rucksack und machte einen Schritt zurück. Aus der Nähe betrachtet erschien die Gestalt des Mannes noch unheimlicher als von weitem. Der Regenmantel ging fast bis zum Boden, sodass nur die Spitzen seiner Gummistiefel zu sehen waren. Und der dicke, karogemusterte Schal verdeckte zusammen mit Sonnenbrille und Zylinder sein gesamtes Gesicht. Der Hut selbst war äußerst merkwürdig. Er wirkte stark abgenutzt und war bereits mit Flicken versehen. Dazu war er noch viel höher als ein normaler Zylinder und ließ die ohnehin schon riesenhafte Gestalt des Mannes noch weiter gen Himmel wachsen.

Am unheimlichsten aber waren seine seltsamen Proportionen. Sein Hände und Arme waren ganz lang und dünn, während sein Kopf sehr klein und seine Schultern viel zu breit schienen. Er sah aus wie einer, der im Fitnessstudio jahrelang die falschen Muskeln trainiert hatte.

Mara machte noch einen Schritt zurück und hoffte, dass die Angst ihr nicht allzu deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Sie warf einen Hilfe suchenden Blick zu den Männern, doch von denen schien keiner die Gestalt bemerkt zu haben, zu tief waren sie wohl in ihre Arbeit versunken.

»Schade«, setzte der Mann fort. Seine Stimme hatte einen rauen, kratzigen Klang, als würde er durch eine kaputte Sprechanlage zu ihr reden.

»Zeigt ihr sie mir, wenn sie fertig ist?«

»Vielleicht«, antwortete Mara ausweichend und sah auf ihr Handy, »Oh, es ist schon Mittag. Ich müsste längst zuhause sein. Tut mir sehr leid, aber meine Mutter wartet auf mich.«

»Ich kann euch nach Hause geleiten, wenn ihr das wünscht.«

»Nein, es ist gar nicht we… «, wollte Mara antworten und machte im gleichen Atemzug einen Schritt zurück, der ein Schritt zu weit war. Unter ihrem Turnschuh fand sich kein Halt mehr und sie stürzte nach hinten. Ein spitzer erschrockener Schrei entfuhr ihrer Kehle, kurz bevor sie in das kalte Wasser eintauchte, das sogleich ihren Mund füllte. Der blaue Himmel über ihr verschwamm, bevor sie die Augen zusammenkniff. Ihr Rucksack sog sich augenblicklich voll mit Wasser und rutschte von ihrer Schulter. Dann war der erste Schreck vorüber und Mara begann mit Händen und Füßen zu strampeln. Sie tauchte durch die Wasseroberfläche, spuckte und schnappte nach Luft.

»Alla bra. Behöver hjälp«, drang eine sanfte Männerstimme an ihr Ohr. Als sie nach oben blickte sah sie bereits zwei der Männer, die das Boot gestrichen hatten. Einer von ihnen streckte ihr die Hand entgegen, während der andere herab kletterte, um sie hoch zu heben. Mara hustete, spuckte noch ein wenig und ließ sich von den beiden aus dem Wasser ziehen.

»Tack«, keuchte sie.

Das einzige Wort, das sie irgendwie von ihrer Mutter auf Schwedisch mitbekommen hatte. Die beiden Männer wickelten sie in eine Decke und setzten sie auf die Bank. Die ganze Zeit redeten sie mit freundlichen Stimmen auf sie ein, doch es dauerte nicht lange, bis sie begriffen, dass das kleine, nasse Mädchen kein Wort verstand.

»Are you living here?«, fragte der eine dann auf Englisch.

Mara nickte und zeigte die Straße rauf. Trotz der strahlenden Sonne war das Wasser eiskalt. Sie musste unbedingt die nassen Sachen loswerden. Die beiden Männer sagten irgendetwas zu ihrem Freund am Boot und brachten Mara dann nach Hause.

Sie halfen sie ihr ein Feuer anzufachen und sich einen warmen Tee zu kochen. Die beiden hießen Sven und Deklan und waren ungefähr um die zwanzig. Nachdem sie dafür gesorgt hatten, dass es ihrem kleinen Schützling gut ging verabschiedeten sie sich mit einem freundlichen »Hej då« und gingen.

Mara saß in ihren Schlafsachen in eine Decke gekuschelt in einem der Ohrensessel und blickte in das prasselnde Feuer hinter dem Ofengitter. Eine Weile nippte sie an der Tasse Tee, dann entschied sie ihn gegen Kaffee einzutauschen. Der half auf alle Fälle besser gegen die Kälte. Nach einer Weile war sie wieder aufgewärmt und ihr wurde es allmählich langweilig am Feuer. Und die unheimliche Figur auf dem Ofen trug nicht gerade zu ihrer guten Laune bei.

Im gleichen Augenblick, als sie sich eine Beschäftigung suchen wollte, klopfte es an der Terrassentür. Mara schrak zusammen und ließ beinahe die Tasse Kaffee fallen. Vorsichtig wand sie ihren Kopf um die Sessellehne herum, um nach draußen blicken zu können. Vor der Tür stand der Mann mit dem Zylinder und winkte ihr mit der linken Hand, in der Rechten hielt er ihren durchnässten Rucksack.

»Ihr habt euren Rucksack verloren«, konnte sie die blecherne Stimme durch das Glas hören.

Mara versteckte sich hinter der Lehne und überlegte verzweifelt, was sie tun sollte. Am besten rufe ich die Polizei. Das war eine gute Idee, doch sie hatten noch kein Festnetztelefon und ihr Handy lag bei ihren nassen Sachen im Bad. Abgesehen davon, dass sie die Nummer der schwedischen Polizei nicht kannte. Was noch? Sie konnte hinaus rennen und bei den Nachbarn klopfen. Die würden ihr sicherlich aufmachen, so freundlich, wie die Schweden scheinbar waren. Wenn sie zuhause sind. Sie konnte sich mit einem Küchenmesser bewaffnen.

Sie entschied sich für eine Kombination und rannte zum Küchenschrank. Sie griff nach dem Brotmesser und rannte zur Tür und hinaus. Mit vier Schritten war sie an der Nachbarstür und klopfte. Es dauerte nicht lange, bis ein Mann mittleren Alters öffnete und sie verwundert anblickte.

»Please, please, I need help!«, sprudelte Mara los.

»There is a stranger in my house. Please, come with me.«

Damit griff sie nach der linken Hand des Mannes, denn seine Rechte lag in einer Bandage und zerrte ihn in ihr Haus. Der Mann sagte ein zwei Sätze auf Schwedisch, die sie aber nicht verstand und ließ sich mitziehen.

»There he is«, rief Mara und deutete auf die Terrasse.

Als der Zylinderträger den Mann sah, nahm er die Beine in die Hand und rannte davon. Der Mann machte allerdings keine Anstalten ihm hinterher zu rennen. Er schlenderte zur Terrassentür, öffnete sie und sah hinaus in den Garten. Achselzuckend schloss er sie wieder. Dann ging er in die Küche und die Treppe hinauf. Zum Schluss kam er wieder herunter und strich Mara durchs Haar.

»Everything is fine. Nobody is here«, sagte er und nahm ihr das Messer aus der Hand.

»But, but… «, setzte Mara an, doch der Mann strich ihr wieder durchs Haar.

»I am staying here, if you want. Until your Mom comes home.«

Mara schüttelte den Kopf. Der Mann war zwar nett, aber er glaubte ihr offensichtlich nicht, obwohl er den Kerl mit dem Zylinder gesehen haben musste. Damit konnte sie nichts anfangen.

»Are you sure?«

Sie nickte und der Nachbar verabschiedete sich mit einem besorgten Blick. Mara schloss die Tür hinter ihm. Sie strich sich selbst durchs Haar. Kurz kochten die Gedanken an ihren Vater hoch, doch mit einem heftigen Kopfschütteln waren sie wieder verschwunden. Sie musste jetzt an andere Sachen denken. Vorsichtig ging sie wieder ins Kaminzimmer und sah zur Terrasse hinaus.

Dort stand ihr Rucksack an die Tür gelehnt. Schnell rannte sie zu ihm, holte ihn ins warme Wohnzimmer und begann alle Vorhänge zu zuziehen. Dann nahm sie sich Decke und Kaffee und warf sich wieder in den Ohrensessel vor dem Ofen. Sie versuchte die Gedanken an den unheimlichen Mann mit Regenmantel und Zylinder zu verdrängen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Zu gefährlich hatte er ausgesehen. Und die Tatsache, dass er plötzlich vor der Terrassentür aufgetaucht war, trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Vielleicht sollte ich ein wenig zeichnen. Das hilft immer.

Sie kramte ihren Zeichenblock aus dem nassen Rucksack hervor und strich ihn auf ihrem Schoß glatt. Ihre Mutter würde ihr wohl einen neuen kaufen müssen. Als sie den Block aufklappte machte ihr Herz einen erschrockenen Sprung. Achtlos warf sie ihn zu Boden und begann im Rucksack zu wühlen, doch da war nichts. Es gab nur eine Möglichkeit. Der Mann mit dem Zylinder hatte ihre Zeichnung mitgenommen.

Krabben und Hackbällchen

Als Maras Mutter nach Hause kam fand sie ein verängstigtes kleines Mäuschen zusammengekauert auf dem Sessel. Der Rucksack stand noch immer ungeleert auf dem Boden daneben und hatte inzwischen eine große Pfütze gebildet. Viola umarmte ihre Tochter mit sorgenvollem Blick.

»Was ist passiert, Prinzessin?«

»Bin ins Wasser gefallen. Nichts weiter«, sagte Mara kurz angebunden.

Viola war von dieser Antwort ganz und gar nicht überzeugt, doch sie hielt es für das Beste, Mara etwas Zeit zu geben. So räumte sie die Sachen zusammen, trocknete das Wohnzimmer und machte ihnen beiden Abendessen, ohne weitere Fragen zu stellen oder Erklärungen zu bekommen. Mara war froh darüber. Vielleicht hatte ihre Mutter auch einfach ein schlechtes Gewissen, weil sie sie ohne ihre Zustimmung nach Schweden gebracht hatte. Um sich von dem Mann mit Zylinder etwas abzulenken begann Mara irgendwann beim Kochen zu helfen. Es gab Kartoffelauflauf mit Schinken, doch Mara aß mit nur wenig Appetit. Irgendwann gegen acht klingelte es an der Haustür und der Nachbar stand vor der Tür. Er wechselte ein paar Worte auf Schwedisch mit Maras Mutter und kam dann herein.

»Everything alright?«, fragte er Mara, die zaghaft nickte.

Ihr war klar, dass der Nachbar hier war, um ihrer Mutter haarklein von dem Vorfall zu erzählen und das gefiel ihr überhaupt nicht. Die beiden Erwachsenen setzten sich ins Wohnzimmer und unterhielten sich auf Schwedisch, wobei sie immer wieder Blicke auf Mara warfen, die noch dabei war ihren Teller zu leeren. Es dauerte nur ein paar Sätze, bis ihr die Lust am Essen vollkommen vergangen war. Lautstark verschwand sie so schnell sie konnte auf ihr Zimmer. Nicht lange danach hörte sie Abschiedsworte an der Tür und Viola, die die Treppe hinaufkam und anklopfte.

»Nein«, murmelte Mara und drückte ihren Plüschhasen fester an sich.

Ihre Mutter trat trotzdem ein, blieb aber auf der Türschwelle stehen, als wollte sie ihr die Fluchtmöglichkeit nehmen.

»Wieso wolltest du nichts von heute Nachmittag erzählen?«

Mara stand auf und begann ihre Kisten auszuräumen.

»Es war ja nichts.«

»Es war ja nichts? Du standst mit einem Messer in Panik vor der Tür unseres Nachbarn und erzählst etwas von einem Mann, der auf unserem Grundstück steht. Das hört sich für mich nach etwas mehr als Nichts an. Was ist passiert?«

»Na was du schon gesagt hast«, gab Mara zurück und verstaute ihr Sommerkleidchen weit hinten im Schrank.

»Hör auf damit. Wenn hier ein Mann umherläuft und meine Tochter verfolgt, dann will ich das wissen und nicht, dass du mir so etwas verschweigst. Weißt du, was für Sorgen ich mir mache?«

»Ich bin kein Kind mehr.«

»Und ob du eins bist. Ich hätte dich gar nicht allein lassen sollen.«

»Du hättest mich nicht hierher holen sollen«, wurde Mara laut.

»Das reicht jetzt!«

Wütend schnaubend brüllte ihre Mutter in derselben Tonlage.

»Wenn du mir nicht sofort erzählst, was heute vorgefallen ist, dann gibt es die ganzen Ferien Hausarrest!«

»Na und!«

Viola hielt es nicht mehr aus und knallte die Tür zu. Auf der Treppe konnte Mara sie fluchen und poltern hören. Sie selbst brach in Tränen aus und warf sich aufs Bett, obwohl sie gar nicht genau wusste, warum. Immerhin glaubte ihr ihre Mutter und machte sich offensichtlich genauso viele Sorgen über den Mann mit Zylinder. Aber Mara fand, dass Viola ihr Vertrauen verspielt hatte. Sie würde sich allein darum kümmern.

Der nächste Morgen verlief ohne viele Worte. Ihre Mutter hatte Frühstück gemacht und sich bereits fein angezogen, wahrscheinlich um zu Vorstellungsgesprächen zu fahren. Mara ging davon aus wieder einen Tag für sich zu haben und dem Geheimnis des Mannes mit Zylinder auf den Grund gehen zu können. Doch als ihre Mutter gehen wollte klingelte es an der Tür und ihr Nachbar stand davor. Er begrüßte Viola fröhlich und dann Mara, die ihn fragend anblickte.

»So Mara, ich muss los. Henning hat sich bereit erklärt heute auf dich aufzupassen, bis du dich von deinem Schreck erholt hast.«

»Was?«, Mara fuhr auf.

»Das ist doch nicht dein Ernst.«

»Ich wünsche euch beiden viel Spaß«, flötete ihre Mutter und schloss die Tür.

Damit war Mara allein mit ihrem Aufpasser. Ihr Nachbar sah aus wie ein Bilderbuchschwede. Strahlend blondes Haar und leuchtend blaue Augen, dazu leicht gebräunte Haut. Er trug ein kariertes Hemd in rotgrün und eine schwarze Jeans dazu. Sein rechter Arm hing wie am Vortag in einer Schlinge. Henning lächelte sie an und begann sich einen Tee zu kochen. Das Mädchen verdrehte die Augen und wollte auf ihr Zimmer gehen.

»Willst du Karten spielen?«, fragte Henning ihr hinterher.

Verwundert blieb sie stehen.

»Sie sprechen Deutsch?«

Die Sie-Form erschien Mara angebracht, auch wenn sie eine instinktive Abneigung dagegen hegte. Aber sie wollte nicht gleich zu unhöflich sein. Henning führte Daumen und Zeigefinger sehr nah zusammen.

»Ein wenig.«

Mara war immer noch nicht davon angetan, Zeit mit ihm zu verbringen, allerdings interessierte sie schon, weshalb ein Schwede Deutsch lernen sollte. Also setzte sie sich wieder und schenkte sich Kaffee nach.

»Wie lange sprechen Sie schon Deutsch?«

»Zwei Jahre.«

»Können Sie noch andere Sprachen?«

»Englisch.«

»Ach so… ja klar. Sonst hätten sie mich ja gestern nicht verstehen können.«

»That's right.«

»Moment mal, dann hätte ich mir gestern ja gar nicht die Mühe machen müssen Englisch zu sprechen. Warum haben sie nichts gesagt?«

»I thought it would be faster that way. You looked quiet scared.«

Das war Mara unangenehm und sie versuchte das Thema zu wechseln.

»Wieso haben sie denn Deutsch gelernt?«, fragte Mara neugierig.

Henning schenkte sich das heiße Wasser in die Tasse und setzte sich zu ihr. Der Geruch von Earl Grey breitete sich im Esszimmer aus.

»Ähm… wegen der Arbeit… Touristen.«

»Sie arbeiten in einem Reisebüro?«

Er lachte auf und schüttelte den Kopf.

»Nej, nej. Polizei.«

Mara riss die Augen auf.

»Sie sind Polizist?«

Er nickte und wies lächelnd auf seinen Arm.

»Ich mache Urlaub. Du kannst gerne du sagen.«

»Mmmh… Hast du die Verletzung von einer Schießerei?«

Er schüttelte den Kopf, »Ein Messer. The boy didn't want to let it go, so I had to make him do it. Nichts besonderes, wirklich.«

»Wie cool.«, Mara versuchte sich ihre Begeisterung nicht anmerken zu lassen.

Es verging einige Zeit, in der Henning Mara von seiner Arbeit als Polizist erzählte. Eigentlich war er nicht nur einfacher Streifenpolizist, sondern leitender Kommissar für das Gebiet Orust. Das bedeutete, dass er für so gut wie alles, was auf der Insel vorging zuständig war. Außerdem hatte er bei größeren Einsätzen so gut wie immer die Leitung, da er in diesem Gebiet die höchste aktive Position bekleidete. Über ihm standen nur noch die Bürohengste, wie er sie nannte. Momentan übernahm die Aufgabe sein Kollege, aber Henning hatte vor nicht mehr lange zu Hause zu hocken.

Beeindruckt ließ sich Mara seine aufregendsten Fälle berichten, wie er eine Gruppe von Fälschern dingfest gemacht hatte und eine Bande von Taschendieben fasste. Sie bemerkte gar nicht, wie die Mittagszeit nahte, bis Henning auf die Uhr sah.

Da nichts im Haus war, was ihn zufrieden stellte, schlug er vor Mara zum Essen im Ort einzuladen. Eigentlich war sie nicht davon begeistert ein mit Krabben und Soße gefülltes Brötchen zu essen, doch da Henning Stein und Bein auf den überragenden Geschmack schwor ließ sie sich überreden. So machten sie sich auf den Weg.

Sie kamen am Hafen vorbei, der Mara vom Vortag noch gut in Erinnerung war. Die Männer fanden sich allerdings nicht an, denn ihr Boot war fertig gestrichen. Sie folgten der Straße hinauf, an ein paar weißen Häusern vorbei und erreichten etwas, das Henning das Geschäftszentrum nannte. Mara betrachtete es mit äußerst skeptischem Blick. Es gab einen Fahrradladen, einen Discounter namens Hemköp, eine Bank, einen Kleidungsladen, dessen Stil ihr bei Weitem nicht zusagte, ein Bistro, ein Café und eine winzige Buchhandlung. Damit waren so gut wie alle Geschäfte aufgezählt und Mara hielt verzweifelt Ausblick nach weiteren. Neben dem Café befand sich das kleine Bistro, welches allerlei Fischsorten verkaufte. Der markante Geruch stieg ihr sofort in die Nase und sie blieb am Eingang stehen. Henning zog sie jedoch hinein und ließ keine Widerworte zu. Hinter dem Tresen stand eine hübsche, junge Schwedin mit weißblondem Haar und lächelte sie an.

»Hej, hej«, grüßte sie und beide grüßten zurück.

Das »Hallo« war wenigstens schnell und einfach zu lernen. Der Laden war schlicht eingerichtet und es gab Nichts, was Mara besonders interessierte. Hinter dem Glas blickten jede Menge tote Fischaugen zu Mara auf, als würden sie sie persönlich für ihr Schicksal verantwortlich machen. Das junge Mädchen wandte sich ab und sah nach draußen. Dort stand der Mann mit dem Zylinder und winkte ihr zu. Mara zerrte an Hennings Arm.

»Da ist er«, sagte sie und wies auf den Regenmantel.

Henning drehte sich um und sah hinaus, »Wo?«, fragte er angespannt.

Der Zylinderträger war verschwunden. Mara hatte eine Sekunde nicht aufgepasst und schon war er weg. Was ist das für ein Kerl?

»Er war genau dort drüben«, sagte sie mit heiserer Stimme.

Henning bestellte zwei Krabbenbrötchen und eine Cola und setzte sich mit ihr an einen Tisch am Fenster. Der Kommissar setzte eine ernste Miene auf und betrachtete Mara eine Weile. Dann fragte er, »Der Kerl ist echt, ja?«

»Was soll das heißen? Ich denke mir das nicht aus«, pflaumte Mara zurück.

»Dann ist gut. Ich kümmere mich darum. Jetzt essen wir erst einmal.«

Damit schien für ihn die Sache vorerst aus der Welt geschafft und er biss in sein Brötchen. Mara warf noch einmal einen Blick hinaus und versuchte sich dann auf das Krabbenbrot zu konzentrieren. Vorsichtig biss sie hinein, um nicht zu viel auf einmal im Mund zu haben. Allerdings musste sie zugeben, dass ihr die Krabben gar nicht schlecht schmeckten und mit der Cola zusammen ergaben sie ein recht akzeptables Mittagessen.

Henning gab ihr noch eine kleine Rundtour durch Svanesund, stellte Mara einigen Leuten vor, die alle freundlich grüßten und zeigte ihr eine alte Grabstelle im Wald. Auf der Lichtung türmte sich verwittertes Gestein zu seltsamen Formationen. Die Felsengräber waren selbst bei Tageslicht unheimlich. Mara konnte die Blicke der Toten regelrecht spüren und wollte so schnell wie möglich weg.

Bis ihre Mutter wieder nach Hause kam vertrieben sich die beiden die Zeit mit Karten spielen, wobei Mara zugeben musste, dass Henning gar nicht so unpassabel war. Als Viola durch die Tür trat wollte sich Henning verabschieden, doch Maras Mutter ließ das nicht zu. Sie hatte Essen eingekauft und beschlossen, als Dank für seine Mühen zu kochen. Da er alleine wohnte, hätte er ihrer Meinung nach sowieso nichts weiter zu tun und könne ruhig noch zum Essen bleiben. Wie so viele Männer gab sich auch Henning Maras Mutter geschlagen und so aßen sie zu dritt. Es gab Kjöttbullar mit Kartoffeln, einer würzigen, hellen Soße und Preiselbeermarmelade. Mara stellte fest, dass Kjöttbullar eigentlich nichts weiter als kleine Hackbällchen waren, nur dass es niedlicher klang. Als der Kommissar dann gegangen war fragte ihre Mutter, wie der Tag mit Henning gewesen sei.

»Joa. Er ist ganz nett. Wusstest du, dass er Polizist ist?«

»Ach echt?«

Und so ließ sich Maras Mutter die Geschichten über Henning von ihrer Tochter erzählen, obwohl sie sie schon längst aus erster Hand kannte.

Wollen wir Freunde sein?

Als Mara erwachte war ihre Mutter bereits unterwegs. Als Beweis lag ein Zettel mit ihrer Handschrift auf dem Küchentisch.

Liebe Prinzessin,schön, dass du dich gestern so gut mit Henning verstanden hast. Er wird heute Nachmittag nochmal vorbeischauen, ob alles in Ordnung ist. Im Kühlschrank findest du Frühstück und Mittag.Mach dir einen schönen Tag.Kuss, MamaP.S.: Ich habe schon einmal ein paar Schulen in der Nähe rausgesucht. Sieh dir doch die Flyer durch und sage mir, welche du dir gerne ansehen würdest.

»Schulen?«, flüsterte Mara und besah sich des Stapels, der unter dem Zettel lag. Entnervt warf sie die Flyer in den Mülleimer, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen und machte sich Frühstück. Wenn Henning erst nachmittags kommen sollte, dann hatte sie noch ein paar Stunden Zeit, sich mit dem Geheimnis des Zylinders zu beschäftigen. Auch wenn es unheimlich war, wollte sie unbedingt herausfinden, warum dieser Mann sie scheinbar verfolgte.

Nachdenklich blickte sie in das braune Getränk, das zwischen ihren Fingern dampfte. Ab und zu löffelte sie ein paar Cornflakes und versuchte dahinter zu kommen, wo sie mit ihrer Suche anfangen könnte. Jedoch fiel ihr bis zum Boden der Kaffeetasse keine brauchbare Lösung ein. Also machte sich Mara wieder auf den Weg nach oben, um ihren Rucksack zu packen. Dabei bemerkte sie, dass ihre Mutter ihn über die Wäscheleine im Bad gehangen hatte. Das komische Material brauchte ewig, um zu trocknen und war immer noch klatschnass. Entnervt packte sie die Sachen in ihre Umhängetasche. Den durchweichten und gewellten Zeichenblock warf sie in den Mülleimer. Er war nun endgültig hinüber. So ein Mist.