BLUTLAUF - Danny Morgenstern - E-Book

BLUTLAUF E-Book

Danny Morgenstern

0,0

Beschreibung

LESEN SIE EINEN SENSATIONELLEN THRILLER, DER IHR BLUT GEFRIEREN LÄSST! Die Braunschweiger Bevölkerung ist beunruhigt, als innerhalb kurzer Zeit mehrere Joggerinnen und Jogger verschwinden und zunächst nur Körperteile gefunden werden. Von Watenbüttel bis zum Schwarzen Berg, von Marina Bortfeld bis in die Braunschweiger Innenstadt: Kein Weg scheint mehr sicher zu sein. Der unsportliche Kommissar Oliver Borg soll sich des Falls annehmen und merkt recht schnell, wie undurchsichtig dieser Auftrag ist. Als Jogger getarnt lauern Borg und seine Kollegen dem Killer auf, und geraten dabei mehrfach in Lebensgefahr. Gedemütigt von seiner Ex-Frau, unter Druck gesetzt von seinem Chef, immer in Angst um seinen 15-jährigen Sohn Paul und sogar selbst unter Verdacht, wird dieser Fall für Kommissar Borg zur Zerreißprobe. Achtung: Wer dieses Buch gelesen hat, wird bei der nächsten Joggingrunde die Dämmerung meiden und Waldwege nur noch mit mulmigem Gefühl laufen können.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 482

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum
Inhalt
Widmungen
Prolog: Mal eben Zigaretten holen gehen
Kapitel 1: Liebesgrüße aus Russland
Kapitel 2: Donnerball
Kapitel 3: Du lebst nur zweimal
Kapitel 4: Diamanten sind für immer
Kapitel 5: Der Mann mit der goldenen Waffe
Kapitel 6: Nur für Ihre Augen
Kapitel 7: Ein Ausblick auf einen Mord
Kapitel 8: Das lebendige Tageslicht
Kapitel 9: Große Hafen-Rundfahrt
Kapitel 10: Kleine Vögel
Kapitel 11: Goldenes Auge
Kapitel 12: Im Sog
Kapitel 13: Kollers Aroma
Kapitel 14: Das Puzzle zerlegt sich
Kapitel 15: Jogger
Kapitel 16: Kein Weg führt zurück
Kapitel 17: Vergiftete Komplimente
Kapitel 18: Der Tod ist für immer
Kapitel 19: Doppelschuss
Kapitel 20: Gewinnen, verlieren oder sterben
Kapitel 21: Kalt
Kapitel 22: Träume niemals vom Sterben
Kapitel 23: Null minus zehn
Kapitel 24: Die Tatsachen des Todes
Kapitel 25: Die Spionin des schwarzen Bergs
Kapitel 26: Gebrochene Klaue
Kapitel 27: Böses Mädchen
Kapitel 28: Eine andere Zubereitung
Kapitel 29: Der Mann mit der roten Tätowierung
Kapitel 30: Eine Explosion aus der Vergangenheit
Kapitel 31: Höchste Zeit zu töten
Kapitel 32: Dönerstaub
Kapitel 33: Sende niemals Blumen
Kapitel 34: Ein schwer zu tötender Mann
Kapitel 35: Tiere
Kapitel 36: Himmelssturz
Epilog: Seefeuer
Vorschau
Danksagung
DIE AUTOREN
DER VERLAG

BLUTLAUF - Jogge nie allein!

Von Danny Morgenstern & Dan Braun

Verlag in Farbe und Bunt

Impressum

Originalausgabe | © 2023

Verlag in Farbe und Bunt

Am Bokholt 9 | 24251 Osdorf

http://www.ifub-verlag.de / http://www.ifubshop.com

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Alle Rechte liegen beim Verlag.

Herausgeber: Björn Sülter

Erstlektorat: Julia Lüneberg, Marla Teufel

Endlektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: EM Cedes

Satz & Innenseitengestaltung: EM Cedes

Cover- & Innenseitenillustrationen: Stefanie Kurt

Print-Ausgabe gedruckt von: booksfactory, Print Group

Inhalt

Prolog Mal eben Zigaretten holen gehen

Kapitel 1 Liebesgrüße aus Russland

Kapitel 2 Donnerball

Kapitel 3 Du lebst nur zweimal

Kapitel 4 Diamanten sind für immer

Kapitel 5 Der Mann mit der goldenen Waffe

Kapitel 6 Nur für Ihre Augen

Kapitel 7 Ein Ausblick auf einen Mord

Kapitel 8 Das lebendige Tageslicht

Kapitel 9 Die große Hafenrundfahrt

Kapitel 10 Kleine Vögel

Kapitel 11 Goldenes Auge

Kapitel 12 Im Sog

Kapitel 13 Kollers Aroma

Kapitel 14 Das Puzzle zerlegt sich

Kapitel 15 Jogger

Kapitel 16 Kein Weg führt zurück

Kapitel 17 Vergiftete Komplimente

Kapitel 18 Der Tod ist für immer

Kapitel 19 Doppelschuss

Kapitel 20 Gewinnen, verlieren oder sterben

Kapitel 21 Kalt

Kapitel 22 Träume niemals vom Sterben

Kapitel 23 Null minus zehn

Kapitel 24 Die Tatsachen des Todes

Kapitel 25 Die Spionin des Schwarzen Bergs

Kapitel 26 Gebrochene Klaue

Kapitel 27 Böses Mädchen

Kapitel 28 Eine andere Zubereitung

Kapitel 29 Der Mann mit der roten Tätowierung

Kapitel 30 Eine Explosion aus der Vergangenheit

Kapitel 31 Höchste Zeit zu töten

Kapitel 32 Dönerstaub

Kapitel 33 Sende niemals Blumen

Kapitel 34 Ein schwer zu tötender Mann

Kapitel 35 Tiere

Kapitel 36 Himmelssturz

Epilog Seefeuer

Danksagung

Über die Autoren

Über den Verlag

Widmungen

Für Sylvia und Bernd

»Natürlich hat es schon perfekte Morde gegeben – sonst wüsste man ja etwas von ihnen.«

Alfred Hitchcock

Prolog: Mal eben Zigaretten holen gehen

In der Luft lag ein scharfer Geruch von zu lange angebratenem Mittagessen. Nadine Frohberg stand an der Arbeitsplatte in der Küche und beseitigte die letzten Spuren von Fett, Ei und Paniermehl.

Es musste mittlerweile schon nach 16:00 Uhr sein, denn Nadines Mann Thomas stand im Flur in der unteren Etage des Reihenendhauses und zog seine Joggingschuhe an.

»Willst du schon wieder laufen?«, fragte Nadine, ohne von der Arbeitsplatte aufzusehen.

»Jap«, antwortete er kurz.

»Bist doch gestern erst los gewesen.«

»Jap. Ich will aber noch Zigaretten kaufen.«

Thomas Frohberg band die letzte Schleife seiner blaugrauen Schuhe, schob seine Socken etwas nach unten und stellte sein Fitbit-Armband auf den Laufmodus ein.

»Wo läufst du denn lang?«

»Nur bis zum See, einmal rum. Eine Stunde – höchstens.«

Nadines Sprühflasche gab ein feines Zirpen von sich, als sie das Reinigungsmittel auf das Ceranfeld sprühte.

Thomas Frohberg war schon draußen. Er huschte am Küchenfenster vorbei, und sie sah ihn mit einem flüchtigen Blick. Lediglich, dass er sich ein weißes Laufshirt übergezogen hatte, konnte Nadine noch unbewusst wahrnehmen, dann wandte sie sich wieder ihrer Küche zu.

Gegen 18:00 Uhr zogen dunkle Wolken auf. Zwar würde es bis zum Sonnenuntergang noch zwei Stunden dauern, doch machte es jetzt schon den Anschein, als würde es dämmern.

Nadine sortierte einen Zeitschriftenstapel im Wohnzimmer, als sich die Umrisse ihres Mannes, wie sie glaubte, in den Mosaikscheiben der Haustür abzeichneten. Hatte er es vor dem Regenschauer also doch noch geschafft. »Eine Stunde – höchstens«, spottete sie leise, als sie sah, dass die Wohnzimmeruhr bereits 18:20 Uhr zeigte.

Kein Schlüssel versenkte sich im Schloss. Kein Geräusch der sich öffnenden Tür war zu vernehmen. Wo war er denn jetzt wieder hingegangen?

Ein leises Trommeln kündigte den beginnenden Regen an. Die Tropfen starteten ihr monotones Konzert auf dem Wellblech der Garagendächer auf der anderen Straßenseite. Es wurde windiger. Nadines Mann war noch immer nicht zurück. Da sie ohnehin noch schnell einige alte Zeitungen in die Papiertonne direkt vorm Haus werfen wollte, ging sie schnell, dem stärkeren Regen zuvorkommend, zur Haustür.

Eine Böe warf ihr braunes schulterlanges Haar durcheinander, als sie die Tür öffnete. Auf den drei Waschbetonstufen, die zum Eingang führten, lag etwas. Sie erfasste mit ihrem Blick zwei Dinge: eine Zigarettenschachtel auf der obersten Stufe und daneben einen noch glimmenden Zigarettenstummel, der zu etwa zwei Dritteln aufgeraucht worden war.

Was sind das denn für neue Angewohnheiten?, fragte sich Nadine, und leichter Ärger stieg in ihr auf. Mit einem gezielten Tritt zermalmte sie die Zigarette auf der Treppe und drehte den Fuß wie bei einem Tanzschritt, um die Glut zum Erlöschen zu bringen.

Mit routinierten Bewegungen öffnete sie die Altpapiertonne, warf die Zeitschriften hinein und eilte zurück zur Treppe. Die Tropfen waren dicker geworden. Sie schaute rechts und links die Straße hinunter. Von ihrem Mann fehlte jede Spur. Sie nahm das Päckchen Zigaretten von der obersten Stufe, eilte ins Haus und zog die Tür hinter sich zu.

Im Flur ihres kleinen Hauses, in dem sie mit ihrem Mann nun seit fast zehn Jahren lebte, stand ein kleiner weißer Schrank, auf dem sie täglich die Unordnung unwichtiger Gegenstände unter Kontrolle zu bringen versuchte. Dort befand sich eine giftgrüne dicke Kerze, dort lagen der Garagenschlüssel, ein Feuerzeug, ein grünes Gummiband und das Ladekabel ihres Handys. Jetzt kam es auf die Zigaretten auch nicht mehr an.

Als Nadine Frohberg das Päckchen auf den weißen Schrank gelegt hatte, stutzte sie. Da war Blut in ihrer Handfläche. Woran hatte sie sich denn geschnitten? An den Zeitschriften?

Nadine hob die Schachtel wieder an, und ein roter Rand zeichnete sich auf der weißen Kommode ab, den die blutige Zigarettenpackung dort hinterlassen hatte. Sie betrachtete das kleine rechteckige Behältnis. In diesem Moment fiel ein dunkelroter Tropfen von einer der Ecken ab, sauste zu Boden und hinterließ dort eine kleine, blutige Sonne.

Was zum Teufel …? Nadine öffnete die Schachtel und blickte hinein. Ein markerschütternder Schrei, der bis auf die Straße zu hören war, ließ die Luft erzittern. Die Zigarettenschachtel fiel zu Boden, und vier menschliche Finger purzelten beim Aufprall heraus und rollten wie kleine Würstchen über die grauen Fliesen im Flur.

Kapitel 1: Liebesgrüße aus Russland

Auf Oliver Borgs Küchentisch stand eine Flasche Wasser. Vor dem Tisch parkte ein Stuhl, und im Hintergrund drehte ein Teller in der Mikrowelle seine Runden. Borg wartete auf das errettende »Ping«, mit dem die Mikrowelle das Essen freigeben würde. Sein Magen knurrte wie verrückt. Er hatte den ganzen Nachmittag am Computer gesessen und völlig vergessen, etwas zu essen. Lediglich einen Sazerac hatte er sich vor einer Stunde zubereitet. Borg mixte den Cocktail gewohnheitsgemäß aus Cognac und Peychaud’s Bitters – die Zubereitung mit amerikanischem Rye Whiskey als Basisspirituose schmeckte ihm nicht. Borg hatte beim Mixen seines Drinks nicht auf die Uhr gesehen, über diesen Punkt war er längst hinaus, auch wenn, wie es seine Exfrau auszudrücken pflegte, das Trinken von Alkohol vor 18:00 Uhr äußerst bedenklich war. Abstinenz hieß für ihn, er verzichtete immer niemals. Wie hatte es in seinem Leben so weit kommen können?

Die Mikrowelle summte monoton. Noch eine Minute. Das schwachgelbe Licht des Gerätes beleuchtete die Buletten darin leicht, und auf ihnen pulsierte das heiß gewordene Fett, als wären die Fleischklumpen kurz davor, wieder zum Leben zu erwachen.

Borg drückte einen Schwall Ketchup aus einer Plastikflasche auf seinen Teller, neben dem weder Besteck noch eine Serviette lag. Die Sekunden der Mikrowellenanzeige liefen unaufhaltsam rückwärts. 5 … 4 … 3 … 2 … Im selben Moment, als das Essen seine Aufwärmrunde beendet hatte und das Küchengerät seinen Signalton von sich gab, setzte plötzlich das Lied ›Y.M.C.A.‹ von den Village People ein. Borgs Handy war lautstark erwacht. Er öffnete die Mikrowelle, aus der heißer Dampf stieg, griff mit der anderen Hand zeitgleich in seine Hosentasche und holte das Handy heraus.

»Ja? Was gibt’s denn?«, fragte er.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung erzählte etwas. Borg versuchte aufmerksam zuzuhören und gleichzeitig den Teller aus der Mikrowelle zu ziehen. Seine Finger griffen mehrfach zu und zuckten zurück, weil der Rand unangenehm heiß war. Geräuschvoll sog er die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Nichts, nichts«, sagte er, als er offenbar von seinem Gesprächspartner auf dieses Zischen angesprochen wurde, das er wegen des Schmerzes an seinen Fingerkuppen von sich gegeben hatte.

»Ja, in Ordnung. Ich mache mich gleich auf den Weg«, sagte Borg.

Er fluchte Unverständliches und griff nach einer der Buletten. Wie bei einer unausgereiften Zirkusnummer schwang er den Fleischklops vom Mikrowellenteller quer durch die Küche hinüber auf den Essteller. Er ließ die Bulette einen kleinen Augenblick zu früh los – länger hätte er sie wegen der Hitze nicht halten können –, und der dampfende platte Ball platschte in den Ketchup, der zu allen Seiten wegspritzte.

»Mist! Wo sind die Tatortreiniger, wenn man sie braucht?«, fluchte Borg, gab aber nicht auf, nahm die Bulette wieder zwischen die Finger, drehte sich rasch um und verließ mit schnellen Schritten seine Wohnung.

Die Finger lagen noch genau so, wie sie vor wenigen Stunden hingefallen waren, auf den Fliesen im Flur der Familie Frohberg.

Oliver Borg musste unweigerlich an seine Bulette denken, die er auf dem Weg zum Auto gegessen hatte. Da wusste man ja auch nie, was für Fleisch und andere tierische Körperteile verarbeitet worden waren: Augen, Schnäbel, Krallen … Man konnte nur das Beste hoffen.

Der Mann, der ihn über das Handy angerufen hatte, war sein Kollege Timm Berber von der Mordkommission gewesen. Berber hatte am Handy kurz geschildert, was Borgs Kommen dringend erforderlich machte.

Eine verstörte Frau war im nördlichen Braunschweiger Stadtteil Schwarzer Berg aufgegriffen worden, als sie hysterisch auf der Straße vor ihrem Haus umherlief. Die Nachbarn hatten sie aufgehalten und einen Krankenwagen alarmiert. Als die Frau Beruhigungsmittel gespritzt bekommen hatte, nannte sie den Sanitätern den Grund ihrer Panik: Sie habe eine Zigarettenschachtel voller Finger vor ihrem Haus gefunden. Und das war offensichtlich keine Lüge, wie der Fahrer des Krankenwagens kurz darauf feststellte. Eine Polizeistreife war daraufhin angefordert worden, und die Beamten hatten ihrerseits die Mordkommission hinzugerufen, als sie tatsächlich auf die Finger gestoßen waren.

Borg hockte sich hin. Die Finger waren echt, sahen aber wie schlechte Imitate in einem billigen Horrorfilm aus. Alle waren knapp oberhalb der Mittelhandknochen fein säuberlich abgetrennt worden, sodass jedem ein bisschen vom ersten Fingerglied fehlte. Neben den Fingern lag die offenstehende Zigarettenschachtel, in der unübersehbar noch ein Daumen steckte.

Auf dem Fußboden hatten Beamte von der Spurensicherung kleine Schilder mit Nummern platziert. Die Fotos waren offensichtlich bereits geschossen worden, denn es war niemand mehr im Flur.

Im Wohnzimmer nahm Borg Bewegung wahr. Er streckte seinen Hals und sah eine Frau in einem weißen Einteiler. Er sah sie nur von hinten, aber es war Sina Bachmann. Sie arbeitete für die Spurensicherung, hatte aber einen Antrag gestellt, ins Kommissariat zu Borgs Einheit der Kriminalpolizei zu wechseln. Alles war noch in der Schwebe.

Borg sah Sina nur von hinten, aber er hatte sich alle ihre Merkmale bereits eingeprägt, sodass er sie im Dunkeln problemlos aus 50 Metern Entfernung hätte identifizieren können.

»Was sagst du dazu?«, fragte eine Stimme von hinten. Timm Berber war der erste Beamte der Mordkommission, der den Tatort betreten hatte.

»Tja, Klavierspielen is‘ nicht mehr«, meinte Borg und richtete sich auf. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.

Sie genossen das Händeschütteln und zelebrierten es bei jeder noch so unüblichen Gelegenheit. Nachdem durch die Corona-Pandemie und ihre in regelmäßigen Abständen immer wiederkehrenden Infektionswellen Körperkontakte in der Öffentlichkeit so gut wie ausgeschlossen gewesen waren, gaben sich Borg und Berber mehrfach täglich die Hand. Bei der Begrüßung, bei der Verabschiedung und auch, wenn der eine dem anderen einen Kaffee aus der Kantine mitgebracht hatte. Sie hatten sich einen Spaß daraus gemacht, sich in den Zeiten geringer Ansteckungsgefahr die Hände zu schütteln.

»Die Frau vermisst ihren Mann, 41 Jahre«, sagte Berber.

»Und jetzt wird erst die Polizei hinzugezogen?«, fragte Borg.

»Mein Gott, bist du witzig.«

»Ich habe noch nichts Vernünftiges getrunken«, log Borg. »Du weißt, dann ist mein Humor immer besonders trocken.«

»Es wird auch erstmal nix geben. Wir müssen die Nachbarn befragen und eine Großfahndung starten.«

»Können wir denn sicher sein, dass es die Finger vom Vermissten sind?«, fragte Borg.

»Das können wir schnell herausfinden«, erwiderte Berber. »Fingerabdrücke vom Mann gibt es hier im Haus genügend, und wir können sie direkt vergleichen – die Finger liegen ja hier alle neben der Schachtel.«

Berber rief Sina Bachmann in den Flur.

»Sina, Schätzchen, kannst du uns bitte mal einen Fingerabdruck von diesem Stück Fleisch abnehmen und mit einem der Abdrücke aus der Wohnung vergleichen? Am besten vom Zeigefinger.«

»Nenn‘ mich nicht Schätzchen«, gab Sina zurück, aber in einem Tonfall, als wäre es ihr egal. »Nein, kann ich nicht. Wir verwischen sonst die Spuren an den Gliedmaßen.«

»Ach komm schon. Du hast hier fünf Finger. Da kommt es auf den einen nicht an. Wir wollen nur wissen, ob das der Finger von dem Herrn …«, Berber blickte auf seinen Notizblock, »… vom Herrn Frohberg ist.«

Sina Bachmann stieß Luft aus ihrer schlanken Nase hervor und ging auf die Knie. »Gib mir fünf Minuten.«

»Braves Mädchen«, sagte Berber.

Ein Paketbote kam auf die Eingangstreppe zu, und ein Beamter, der draußen wartete und Wache stand, signalisierte ihm, dass er nicht weiter gehen könne.

»Schon gut, Victor, lass ihn durch«, rief Borg und kam nach draußen.

»Ich habe hier ein Paket für Herrn Frohberg. Ist was passiert?«, fragte der Postbote. Das Paket war fast würfelförmig und so groß, dass ein kleiner Nachttisch darin Platz gefunden hätte. Aber es war offensichtlich nicht schwer.

»Nichts passiert. Ich nehme das Paket an. Polizei«, sagte Oliver Borg.

»Ist was passiert?«, fragte der Postbote noch einmal.

»Nichts Wesentliches. Ich hoffe, im Paket ist keine Schreibmaschine.«

Borg unterschrieb – war ihm doch egal, ob das Probleme mit sich brachte – und ging mit dem Paket zurück ins Haus. Er ging an der knienden Sina Bachmann und an seinem Kollegen Timm Berber vorbei, der im Flur stand und auf ihren Hintern starrte.

Auf der sauberen Arbeitsplatte in der Küche stellte Borg das Paket ab und öffnete es an den Schwachpunkten, an denen es mit Paketband verklebt war.

Als er sich durch das Verpackungsmaterial gewühlt hatte, stieß er auf mehrere Kleidungsstücke – Kleidungsstücke, mit denen er nicht gerechnet hatte. In verschiedenen durchsichtigen Plastikverpackungen befanden sich Stringtangas, halterlose Strümpfe in den absonderlichsten Farben, bestimmt fünf Paar, und ein Latexkorsett. Auf jeder Verpackung stand das Markenzeichen der Firma Moskwa, und an der Seite steckte ein gedruckter Werbeflyer, der mit großen Buchstaben verkündete: ›Liebesgrüße aus Russland‹.

Borg warf die Reizwäsche ungeordnet in den Karton zurück.

»Timm!«, rief Oliver Borg in den Flur. »Wie lange ist der Herr Frohberg mit seiner Frau verheiratet?«

Timm Berber sah wieder auf seinen Notizblock. »Der ist mit ihr über 12 Jahre verheiratet, warum?«

»Sag lieber ›war verheiratet‹«, mischte sich Sina ein. »Die Finger, die hier liegen, gehörten eindeutig Herrn Frohberg.«

Kapitel 2: Donnerball

Oliver Borg fiel ein Zitat ein, als er und Timm Berber auf die Straße traten: ›Es ist bekannt, dass die Nase niemals glücklicher ist, als wenn sie in anderer Leute Angelegenheiten steckt. Daraus haben einige Physiologen geschlossen, dass ihr der Geruchssinn fehle.‹ – Wer hatte das noch gleich gesagt? William Faulkner? Wahrscheinlich nicht. Borg schoss das Zitat immer wieder durch den Kopf, wenn er an einen Tatort kam, denn überall tauchten Menschen auf. Es gab selten etwas zu sehen, aber sie kämpften um ihre Position in der ersten Reihe, nur um dabei sein zu können, wenn es nichts zu sehen gab.

Selbst hier auf der anderen Straßenseite standen rund elf Personen, die lebhaft miteinander diskutierten, was wohl bei den Frohbergs passiert sei. Es war fast dunkel, und die Straßenlaternen hatten zu leuchten begonnen.

»Wir nehmen uns zuerst Frau Jeschke vor«, sagte Berber. »Sie wohnt direkt gegenüber und hat Frau Frohberg auf der Straße rumlaufen sehen. Ich hab‘ vorhin kurz mit ihr gesprochen und sie gebeten, sich bereitzuhalten. Diese Jeschke ist die Stasi in Person. Kennt alles und jeden und beobachtet Katz und Maus.«

»Lass mich raten: Das ist sie?«, fragte Borg und ging schnurstracks auf eine ältere Dame mit grauweißen Haaren zu, der nur die Lockenwickler fehlten, um das ideale Ebenbild eines klassischen Waschweibs zu sein. Frau Jeschke trug einen türkisfarbenen Morgenmantel, den sie mit dem Band fest um ihre Taille gebunden hatte. Ihr Permanent-Make-Up war mit dem Gesicht im Laufe der Jahre aus der Form geraten, und sie hatte ihre Arme überschlagen, was den Anschein erweckte, als wäre sie die Anführerin einer Gang.

»Genau. Das ist sie«, bestätigte Berber.

Neben Jeschke stand eine andere vertrocknete Frau, die Pfropfreiser in ihren Händen hielt. Als Jeschke bemerkte, dass Borg auf sie zukam, machte sie sich von der anderen Alten mitten im Gespräch los und ging ihm neugierig entgegen.

»Guten Tag, Frau Jeschke«, begann Borg. »Dürfen wir kurz mit Ihnen sprechen? Es geht um Herrn Frohberg. Können Sie mir sagen, was Ihnen heute aufgefallen ist?«

Eine schlimme einseitige Unterhaltung begann. Jeschke kam vom Hundertsten ins Tausendste. Die Katze der Nachbarin habe ihre Blumentöpfe verwüstet, das Müllauto sei nicht durchgekommen, weil der Dr. Leibnitz immer so schlecht parke, und die Dachdeckerfirma arbeite immer genau dann in der Nummer 22, wenn Mittagsruhe sei. Während sie sprach, knetete die Frau unentwegt einen hässlichen gelben Bären, der offenbar ihr Schlüsselanhänger war. Der Bär war viel zu groß für eine Hosentasche, daher hielt Jeschke ihn die ganze Zeit in der Hand und drückte das Stofftier in die absonderlichsten Formen.

»Ich verstehe«, sagte Borg. »Das war also kein leichter Tag für Sie.« Er musste wieder zum Wesentlichen kommen. »Gibt es irgendetwas, das Sie mir zu Herrn Frohberg erzählen können?«

»Der! Der hat doch nur seine Joggerei und diese Komarow im Kopf! Was will man von so einem schon halten?«

»Wer ist denn diese Komarow?«, fragte Borg.

»Die wohnt in der 29. Da geht er ein und aus. Die joggen auch zusammen. Mindestens viermal die Woche. Also, ich kann nicht verstehen, warum die Frau Frohberg das noch mitmacht. Dieses russische Flittchen. Die zieht sich immer an wie, wie … wie eine … Sie wissen schon! Da sieht man alles. Wenn die laufen, dann … dann …« Jeschke begann zu tuscheln, als würde sie Staatsgeheimnisse preisgeben.

»Verstehe, Frau Jeschke. Danke für Ihre Hilfe. Wir werden mal mit ihr sprechen. Schönen Tag wünsche ich Ihnen.«

Bevor sich Borg abwenden konnte, hielt ihm Frau Jeschke einen Zettel unter die Nase. »Hier!«

»Was ist das?«, fragte Borg.

»Meine Telefonnummer! Wenn Sie etwas herausgefunden haben, dann rufen Sie mich an. Jederzeit!«

»Natürlich, Frau Jeschke. Ehrensache.« Etwas widerwillig nahm Oliver Borg den Zettel und gab ihn an Timm Berber weiter, der die ganze Zeit schräg links hinter ihm gestanden und sich Notizen gemacht hatte. »Für dich«, sagte er trocken, und sie verließen Frau Jeschkes Wirkungskreis.

Als Borg und Berber auf den Fußweg hinuntergingen, begann es wieder zu regnen. Am Himmel war kein Licht mehr zu sehen, und alles, was jetzt noch in der John-Steinbeck-Straße für Helligkeit sorgte, war künstlich.

»Gehen wir jetzt nacheinander alle Nachbarn ab?«, fragte Berber.

»Nein, wir überspringen die meisten erstmal und gehen gleich zur 29. Ich will mir diese Frau Komarow mal anschauen. Mehr schaffen wir heute eh nicht.«

Der Hauseingang von Frau Komarow lag auf derselben Straßenseite wie jener der Familie Frohberg. Und auch bei dieser Oliver Borg noch unbekannten Frau führte eine dreistufige Treppe aus Waschbetonplatten zur Haustür.

›Irina Komarow‹ stand am Klingelschild, und da in der Wohnung Licht brannte, zögerte Borg nicht, zu klingeln. Es dauerte nur wenige Sekunden, und die Tür wurde geöffnet.

Ein übermäßig starker Geruch von Vanilleparfüm traf die beiden Polizisten, als eine sehr große schlanke Frau öffnete.

Borg blickte in die hellblauen Augen einer Katze, die keinesfalls überrascht war, dass zwei fremde Männer an ihrer Haustür klingelten.

»Frau Komarow?«, fragte Borg überflüssigerweise.

»Ja. Gibt es ein Problem?«, fragte die Frau zurück, und das mit der Zunge gerollte ›r‹ in ihrem letzten Wort ließ auf ihre Herkunft schließen.

»Das ist Herr Berber, ich bin Herr Borg. Wir sind von der Polizei.« Borg hielt seinen Dienstausweis nach oben, aber sie würdigte diesen keines Blickes, sondern heftete ihre Augen an die seinen.

»Dürfen wir kurz mit Ihnen sprechen?«

»Ja, natürlich. Kommen Sie herein.«

Borg und Berber folgten der gelockten Frau in das Haus, das im Aufbau dem von Familie Frohberg nahezu identisch war.

Irina Komarow war komplett weiß gekleidet. Sie trug einen Rollkragenpullover, der aus Wolle gestrickt zu sein schien und fast eine Nummer zu groß wirkte. Daran hingen dünne weiße Troddeln, die ihn noch größer erscheinen ließen. Im Gegensatz dazu konnte ihre weiße Leggings offenbar nur mit Mühe über ihre Beine und den üppigen Po gezogen worden sein. Der weite Pullover verdeckte zwar die Hälfte ihres Gesäßes, bremste jedoch nicht Borgs männlich geprägte Vorstellungskraft.

Da ihm der Schnitt der Wohnung vertraut war, warf Borg einen Blick in die Küche, in der Licht brannte. Die Frau schien das zu sehen, und obwohl sie zunächst den Anschein erweckt hatte, als wolle sie ins Wohnzimmer gehen, bog sie um 90° ab und ging direkt auf die Küche zu. Die Polizisten folgten ihr.

Borg versuchte sich alles genau einzuprägen, was er sehen konnte: Da war die leicht geöffnete Geschirrspülmaschine, in deren oberem Fach zwei Weingläser mit der Glasöffnung nach unten standen. Ebenso zwei Wassergläser. Die Küche war ausgesprochen sauber, und wäre nicht das Geschirr in der Spülmaschine gewesen, dann hätte man sie genau so auch in einem Einrichtungshaus vorfinden können.

In der Garderobe im Flur war Borg ein Bogen aufgefallen, der neben einer großen Vase stand.

»Ist Bogenschießen Ihr Hobby?«, wollte er wissen.

»Nein. Das ist der Bogen meines Neffen. Er ist ein großartiger Sportschütze, aber jetzt ist er nach Russland zurückgegangen«, antwortete sie mit Bedauern.

Der Besitz eines Bogens fiel nicht unter die Restriktionen des Waffengesetzes oder der Waffenverordnung, und er konnte somit als Sportgerät ohne weitere Erlaubnis genutzt werden.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte Komarow.

Borg und Berber antworteten zeitgleich, aber unterschiedlich. Borg sagte: »Gerne«, Berber hingegen: »Nein, danke.«

Man einigte sich darauf, dass beide ein Glas Wasser nahmen, dann kam Borg zur Sache.

Komarow war wirklich bestürzt oder schauspielerte gut, als sie erfuhr, dass man Thomas Frohberg vermisse und ein Verbrechen nicht ausgeschlossen werden könne. Borg fielen drei Ringe an Komarows linker Hand auf. Das Glitzern der Steine in den Ringen war ungewöhnlich stark. Borg kannte sich mit Schmuck nicht aus, aber er hätte schwören können, dass es sich um echte Diamanten handelte.

»Das ist ja schrecklich. Thomas und ich sind morgen zum Joggen verabredet«, sagte Komarow.

»Und heute? Waren Sie da auch verabredet?«, fragte Borg.

Draußen blitzte es, und es hatte wieder stark zu regnen begonnen.

»Eigentlich wollten wir, aber dann war mir das Wetter zu schlecht«, entgegnete Komarow.

»Aber morgen ist auch Gewitter angesagt«, meldete sich Berber zu Wort und nippte an seinem Glas.

Borg sah einen großen Messerblock auf der Arbeitsplatte neben dem Herd stehen. Eines der Messer fehlte. Mit einem großen Schluck trank er sein Glas leer und, als ob es das Natürlichste der Welt wäre, drehte er sich um, öffnete die Geschirrspülmaschine weiter, zog die Besteck- und Glasschublade heraus und stellte sein Glas kopfüber hinein.

»Das ist nicht nötig. Ich mache das«, sagte Irina Komarow und trat einen Schritt auf Borg zu.

»Zu spät.« Er lächelte sie an.

»Gibt es noch andere Menschen in dieser Straße, zu denen Herr Frohberg Kontakt pflegt?«, fragte Berber.

»Ja, natürlich. Zu Dr. Leibnitz und seiner Tochter. Die beiden joggen auch. Und natürlich zu Arthur, dem Schulhausmeister, der sich hier in der Straße um alles kümmert. Schneeschippen im Winter, Laubfegen im Herbst, das Rausstellen der Mülltonnen und so. Der joggt auch ab und zu mit uns.«

Das Gespräch dauerte weitere fünfzehn Minuten, förderte aber keine neuen gehaltvollen Informationen zutage, und das gefiel Borg nicht.

»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«

»Früher habe ich als OP-Schwester im Krankenhaus Holwedestraße gearbeitet und Unfallopfer zusammengeflickt. Das war kein sehr schöner Beruf. Jetzt bin ich Fitnesstrainerin im DeltaSport. Das kennen Sie sicher …«

Borg hörte es zum ersten Mal, doch er nickte. Er war so unsportlich, dass er nicht einmal Fußball im Fernsehen schaute. »Ja, sicher«, sagte er.

Es piepte im Keller des Hauses.

»Dürfen wir einmal in Ihren Keller?«, fragte Borg.

»Was wollen Sie denn da?« Irina Komarow war etwas empört.

»Ihre Waschmaschine hat eben gepiept. Sie ist fertig, und ich würde gerne einmal sehen, was Sie waschen. Reine Formsache.«

Borg wollte keine Chance auslassen. Was wusch diese Frau? Blutige Wäsche?

»Bitte, wenn Sie darauf bestehen.« Viel Freundlichkeit war nie dagewesen. Aber das, was man Freundlichkeit hätte nennen können, war jetzt gänzlich verschwunden.

Borg ging fest entschlossen zur Kellertür, öffnete sie und drückte auf den Lichtschalter. Die Treppe, die hinunterführte, blieb finster.

»Kaputt«, sagte Komarow.

»Haben Sie eine Taschenlampe?«, fragte Borg.

»Nein. Haben Sie Angst im Dunkeln?«, fragte sie zurück.

Borg zog sein Handy aus der Tasche und leuchtete auf die Steinstufen. Er ging hinunter in den Vorkeller. Hier stand eine recht neue Waschmaschine mit Bullauge, und als hätte sie sein Ankommen bemerkt, piepte sie erneut, als wolle sie auf sich aufmerksam machen.

Es war hier unten so finster, dass die vergitterten Kellerfenster an der Wand wirkten, als wären sie nur schwarze Tafeln.

Borg drehte sich um. Sein Kollege war oben in der Küche geblieben. Logisch!, dachte Borg. Er wollte wohl keine Chance verpassen, einen Blick auf den Hintern der dominanten Frau zu werfen, die an der offenen Tür zur Kellertreppe stehengeblieben war.

Draußen donnerte es heftiger.

Borg hockte sich vor das Bullauge und öffnete es. Die Waschmaschine war voller Dessous verschiedenster Formen und Schnitte.

Wäsche, in der sich kein Slip befindet, ist traurige Wäsche – aber das!, dachte Borg.

Er atmete tief den Pfirsichgeruch des Weichspülers ein, als er eine Bewegung im Augenwinkel wahrnahm. Borg schwenkte sein Handy schnell nach rechts, und zwei glühende Augen starrten ihn an. Mit einem Ruck stand er auf. Sein Herz hatte einen Schlag übersprungen. Die schwarze Katze, der er ins Gesicht geleuchtet hatte, flitzte die Treppe hinauf, und als Borg tief einatmete, um den Schreck zu verdauen, hörte er Irina Komarows Stimme.

»Da bist du ja, mein Schatz. Ich hab‘ dich schon überall gesucht! Diese Katze ist einmalig. Sie folgt mir und einem meiner Freunde überall hin. Neulich stand sie vor dem Fenster des Fitnesscenters, in dem ich arbeite«, hörte Borg Frau Komarow zu Berber sagen.

Borg ging ebenfalls hinauf, wurde aber wesentlich unfreundlicher in Empfang genommen als die Katze.

»Haben wir es jetzt? Oder wollen Sie noch mein Schlafzimmer sehen?«, fragte Komarow genervt.

»Nein. Danke, Frau Komarow. Wir haben alles. Falls sich noch Fragen ergeben, werden wir Sie noch einmal kontaktieren.«

Borg und Berber traten auf die Straße hinaus und liefen schnell in Richtung Wendehammer der Sackgasse. Dort hatte Berber den Dienstwagen geparkt. In wenigen Sekunden hatten sich die dicken Regentropfen den Weg durch die Fasern ihrer Kleidung gebahnt.

»Die Frau ist nicht ganz sauber«, sagte Berber laut, da der Wind in ihren Ohren pfiff und der Regen prasselte.

»Ihre Wäsche schon. Aber du hast recht. Ihr fehlt ein Messer.«

»Was für ein Messer?«, fragte Berber.

»Im Messerblock in der Küche fehlte ein Messer, aber in der Spüle und in der Geschirrspülmaschine lag es nicht.«

Die beiden Männer bewegten sich schneller, doch wie eine Gestalt aus einem Horrorfilm stand plötzlich ein muskulöser Mann mit schwarzer Regenjacke vor ihnen. Beide bremsten abrupt.

Nur zehn Meter vor Berbers BMW standen die drei wie angewurzelt.

»Ist das Ihr Auto?«, fragte der Fremde.

»Ganz recht«, antwortete Berber.

»Der kann hier nicht stehenbleiben, sonst kommt kein Krankenwagen durch«, wurde er von dem Fremden belehrt.

»Immer mit der Ruhe, wir sind …«, begann Berber und wollte den Satz mit »von der Polizei« beenden, aber so weit kam er nicht.

Ein glühender Donnerball schoss aus dem Himmel, einen leuchtenden Schweif ziehend, und landete auf der Straße. Das medizinballgroße Geschoss peitschte an den drei Regungslosen vorbei wie eine strahlende Bowlingkugel, und innerhalb von Sekundenbruchteilen zerplatzte der Ball in gleißendem Licht wie eine schräg auf den Boden geworfene Wasserbombe, gab einen ohrenbetäubenden Knall von sich, und alles versank in tiefem Schwarz.

Borg und Berber standen bewegungslos im Regen. In Borgs Ohren piepte es, und geschockt blickte er zu Berber und dem Fremden hinüber. Dem muskulösen Mann schien dieses Naturphänomen nichts ausgemacht zu haben.

»Kugelblitz«, sagte er, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, drehte sich um und ging zu seinem Haus zurück.

Kapitel 3: Du lebst nur zweimal

Der gestrige Tag steckte Oliver Borg in den Knochen. Er hatte an seinem Schreibtisch Platz genommen und mit dem Bericht angefangen. Das Berichteschreiben war das, was er an seinem Job am meisten hasste. Neben seinem Laptop stand ein Glas Sazerac, daneben wiederum ein Teller, auf dem die Reste einer Nudelspeise klebten.

Borg taten alle Knochen weh. Vielleicht, weil er gestern vom Regen durchnässt in der Kälte gestanden hatte, vielleicht, weil er älter wurde – er war mittlerweile 41 Jahre – vielleicht war es aber auch sein ungesunder Lebenswandel.

Im Flur gab es Geräusche. Jemand schloss die Tür auf.

»Olli? Bist du da?«, rief eine Frauenstimme.

»Ja, ich bin hier im Arbeitszimmer«, meldete er sich.

Mit einer hochgeschlossenen weißen Bluse und einem knielangen, schwarzgrauen, gut geschnittenen Rock betrat Finja Borg das Zimmer, in dem ihr Exmann an seinen Berichten saß.

»Du siehst scheiße aus, Olli!«, sagte sie.

»Danke für die Blumen.«

»Vielleicht wäre es besser, wenn du nicht vormittags schon dieses Zeug trinken würdest.«

»Hört das denn nie auf? Schon als wir noch ein Paar waren, hast du immer versucht, mich umzukrempeln«, sagte Borg und trank demonstrativ einen Schluck Sazerac.

Finja ging kopfschüttelnd in die Küche. Da sah es schlimm aus. Schmutziges Geschirr stapelte sich in der Spüle. Mindestens acht benutzte Gläser bildeten eine unappetitliche Mauer vor der Fensterbank auf der Arbeitsplatte.

Sie ging zurück zum Arbeitszimmer und lehnte sich an den Türrahmen.

»Hast du den Brief von meinem Anwalt bekommen?«, fragte sie ernst.

»Bisher noch nicht, aber das ist auch nicht verwunderlich. Die Postbotin wird mit ihrer Arbeit nicht fertig, weil sie zusätzlich zur Post unentwegt auch noch Kinder austrägt. Die ist jetzt schon das zweite Mal in diesem Jahr schwanger«, sagte Borg.

»Deine schlechten Witze kannst du dir sparen.«

Borg hoffte, Finja würde das Thema wechseln. Er hasste es, über die Scheidung zu reden. Was sollte das überhaupt, dieses Heiraten im Rückwärtsgang?

Finja überlegte einen Moment, holte tief Luft und sagte: »Du bist ein schlechtes Vorbild für Paul. Ich weiß nicht, ob ich gutheißen kann, dass er dich weiterhin sieht.«

»Quatsch. Wir haben Spaß. Er amüsiert sich«, sagte Borg.

»Ja? Was macht ihr denn? Trinkt ihr zusammen?« Finjas Ton wurde schärfer.

»Nee. Wir gehen ins Kino. Wir gehen schwimmen. Alles sowas.«

»Der letzte Film, den ihr gesehen habt, war ›Katzen die Hunde jagen‹ – das ist Monate her!«, schimpfte sie.

»Läuft ja nix Gutes«, sagte Borg.

»Du verlierst Paul völlig aus den Augen. Wenn er nachher kommt, will ich, dass er einen nüchternen Vater vorfindet. Und räum hier gefälligst auf!«

»Meine Wohnung, meine Regeln«, sagte Borg und hob das Glas zum Mund. Er konnte gar nicht so schnell reagieren, wie Finja ihm das Glas aus der Hand gerissen hatte. Der Sazerac schwappte über und auf den Schreibtisch.

»Du bist unausstehlich!«, schrie sie und warf das Glas wütend gegen die Wand neben dem Bücherregal. Die Scherben verteilten sich auf dem Boden, und der Cocktail hinterließ einen braunen Fleck an der hellgrauen Tapete, der sich weiter nach unten ausbreitete.

»Verdammte Scheiße! Das war das letzte saubere Glas!«, sagte Borg.

»Ein Glück!«, schrie sie.

»Egal! Trinke ich eben aus der Flasche!« Er griff unter den Schreibtisch und holte eine halbleere Flasche mit Cognac hervor.

»Paul kommt heute um 17:00 Uhr zu dir! Kümmere dich um ihn. Sei der Vater, den er braucht, oder das Ganze hat noch weitreichendere Konsequenzen. Und schick ihn ja nicht früher als besprochen zu mir zurück. Ich bin nicht da. Ich bin joggen«, sagte sie.

Oliver Borg zog die Augenbrauen hoch und wollte etwas Abfälliges über dieses Hobby kundtun, aber das Lied »Y.M.C.A.« kündigte einen eingehenden Anruf an. Kurz blickten sich beide in die Augen, dann drehte sich Finja Borg um, riss die Wohnungstür auf, trat ins Treppenhaus und ließ die Tür zuknallen.

Oliver Borg nahm das Gespräch an.

»Hier ist Timm. Der Spaß geht weiter. Komm bitte schnell zur Liliengasse 65. Die ist auch im Schwarzen Berg. Zwei Querstraßen neben der von gestern. Wir haben wieder ein paar Körperteile. Du wirst Augen machen.«

Auf dem Weg zur Liliengasse dachte Oliver Borg über seine Exfrau nach. Eine tolle Frau. Dass sie ihn verlassen hatte, war seine eigene Schuld, aber hinterher ist man immer schlauer. Er hatte nicht einmal Anstalten gemacht, sie zu halten. Paul war 15 Jahre alt. Er stand schon mitten in seinem eigenen Leben. Mal schauen, was der Junge heute für Pläne hatte und wie man auf einen Nenner kommen konnte, überlegte Borg.

Auf dem Weg zum Tatort fuhr er am Eiscafé Dolomiti vorbei. Das könnte ein Ziel für später sein, dachte er.

»Sie haben ihren Bestimmungsort erreicht«, sagte eine gefühlskalte Frauenstimme aus dem Navigationssystem, als Borg in die genannte Straße einbog. Er sah bereits mehrere Polizeifahrzeuge und auch den Wagen von Timm Berber. Er parkte ungeschickt und stieg aus. Auf der Straße standen zwei Kollegen und unterhielten sich mit Sina Bachmann. Die Körpersprache der Männer zeigte deutlich, dass beide um sie warben. Bachmanns Körpersprache signalisierte das Gegenteil von Interesse.

»Weiter so, Sina«, sagte Borg, als er an ihr vorbeiging.

»Hä?« Sie wusste nicht, was er meinte, und ebensowenig war ihr bekannt, dass er vor Jahren mehrere Seminare und Fortbildungen zum Thema Körpersprache und Profiling absolviert hatte.

Im Eingang des Hauses Nummer 65 stand Timm Berber und wartete.

»Ich hoffe, du hast noch nichts gegessen«, sagte Berber. »Schau mal, was der Herr Fischer in diesem Haus in einem Luftpolsterumschlag geliefert bekommen hat.«

Borg betrat das Haus.

Im modern eingerichteten Wohnbereich des schicken kleinen Anwesens stand ein Tisch vor einer hellgrauen Couch, auf der, so schien es, niemals jemand gesessen hatte. Sie sah wie neu aus. Auf dem Tisch lagen die Braunschweiger Zeitung des heutigen Tages, zwei ungeöffnete Briefe und ein hellbrauner Luftpolsterumschlag, den jemand hastig aufgerissen zu haben schien. Vor dem Umschlag lagen zwei – ja, jetzt konnte es Borg genau erkennen – zwei menschliche Ohren.

»Heilige Scheiße! Weißt du schon was?«, fragte Borg.

»Ja, der Mann hat seine Frau heute Vormittag zum letzten Mal gesehen. Nach dem Fund wurde die Polizei alarmiert, die Ohren sind die ihren. Wir konnten das anhand eines aktuellen Fotos herausfinden. Ohren sind wie Fingerabdrücke. Die Frau ist bis jetzt nicht aufgetaucht. Sie wollte joggen.«

»Ich wusste schon immer, dass das eine viel gefährlichere Sportart ist, als man glaubt. Haben wir Zeugen? Hat sie jemanden getroffen?«

»Nein. Aber der Mann ist sehr kooperativ. Ihn scheint das Ganze weniger mitzunehmen, als man meinen mag.«

»Hat er bisher etwas Brauchbares sagen können?«

»Nein. Aber stell dir vor: Seine Frau wurde einmal von einem LKW in der Nähe des TÜVs angefahren. Sie geriet mit dem Fahrrad unter den Anhänger und rollte beim Sturz einmal zwischen den Achsen durch. Nur eine Gehirnerschütterung, mehr hatte sie nicht. Seit diesem Tag feierten die beiden den Geburtstag der Frau unter dem Motto ›Du lebst nur zweimal‹ zweimal im Jahr.«

»Jetzt wohl nicht mehr.« Borg sah sich im Zimmer um.

»Wo ist der Mann?«, erkundigte er sich.

»Willst du ihn noch einmal befragen?«

Borg nickte. »Wo ist er?«

»Er wollte nur frische Luft schnappen und sollte gleich wieder zurück sein.« Berber sah den skeptischen Gesichtsausdruck Borgs. »Keine Angst. Ich habe Brammel mitgeschickt. Der hat ein Auge auf ihn.«

»Guter Gott! Brammel! Ausgerechnet der. Der duscht nur einmal in der Woche! Wenn der Mann frische Luft schnappen wollte, dann ist Brammel die völlig falsche Begleitung«, sagte Borg und ging zur Eingangstür.

Als er auf die Außentreppe trat, wehte ihm eine frische Sommerbrise entgegen, und er erinnerte sich, dass für heute Regen und Sommergewitter angekündigt worden waren. Es sah nicht im Geringsten danach aus. Der Himmel war völlig wolkenlos und saß wie eine hellblaue Mütze aus samtweichem Stoff über Braunschweig.

»Das ist er«, sagte Berber und deutete auf einen Mann, der schon von Weitem unfreundlich wirkte. Neben ihm ging der 1,70m große Polizeibeamte Brammel, mit dem niemals jemand im Streifenwagen sitzen wollte, weil er immer ungewaschen und nach alter Kleidung roch. Selbst seine Dienstuniform hatte den Geruch innerhalb von wenigen Minuten angenommen, wenn er eine neue aus dem Spind geholt und angezogen hatte.

Borg stellte sich Herrn Fischer vor. Der Mann machte wirklich den Eindruck, als wäre die Tatsache, dass man ihm die abgeschnittenen Ohren seiner Frau zugeschickt hatte, etwas völlig Normales.

»Können Sie mir noch einmal den heutigen Tag beschreiben, und ob Sie etwas Verdächtiges bemerkt haben?«, begann Borg.

»Das habe ich Ihrem Kollegen doch schon alles erzählt. Wollen Sie wirklich diese ganze Sache nochmal hören?« Der Mann war deutlich angespannt.

»Ich bin ganz Ohr«, sagte Borg, woraufhin Berber ihn unauffällig mit dem Ellenbogen anstupste. Stimmt, dachte Borg, der Spruch war unangemessen.

Verdächtigungen sprach Fischer nicht aus. Er konnte sich nach eigenen Angaben keinen Reim auf das alles machen. Wie er zu seiner Frau stünde, fragte Borg. Fischer zögerte und sagte dann, er liebe sie von ganzem Herzen. Das klang so unecht, als würde eine Prostituierte behaupten, Jungfrau zu sein.

Fischer hatte ein Hemd an, das ihm etwas zu groß war. Seine Zähne waren gelb und standen völlig ungeordnet in dem viel zu großen Mund. Im Mundwinkel des Mannes hatte sich ein weißer Belag abgesetzt, und Borg verfluchte sich innerlich, das gesehen zu haben. Er fand das bei weitem widerlicher als die abgetrennten Ohren.

Nachdem das Gespräch nichts Brauchbares zutage gefördert hatte, gingen Borg und Berber die Straße hinunter. »Zwei Morde in zwei Tagen. Das ist eine gute Quote«, sagte Berber.

»Ja, aber zwei unaufgeklärte Morde mit keiner einzigen Spur, das ist miserabel. Keine Fingerabdrücke, keine Augenzeugen. Nicht mal Leichen haben wir, und eine Lösegeldforderung ist ja wohl auch nicht eingegangen.« Borg war unzufrieden. Und er hatte Hunger.

Sina Bachmann kam auf sie zu.

»Das ist mein letzter Tag bei der Spurensicherung«, freute sie sich.

»Was? Du verlässt uns?«, fragte Borg ernsthaft schockiert. Sina war der einzige Lichtblick unter allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

»Nein. Niemals. Ganz im Gegenteil. Ich spiele jetzt bei euch im Team mit. Hab‘ mich versetzen lassen.«

Borg strahlte. Er mochte diese Frau. Mehr noch, er fand sie ausgesprochen anziehend. Wären da nur nicht diese 20 Jahre Altersunterschied. Sina war 22 Jahre alt. Und er? Er war ein alter Sack.

»Na, dann willkommen im Team«, sagte Berber. »Weißt du schon, wie du eingesetzt wirst?«

»Morgen hat Koller vor, uns seinen neuen Plan vorzulegen. Wir sehen uns um 8:00 Uhr im Kommissariat.« Wie eine Eiskunstläuferin drehte sich Sina Bachmann um und stolzierte energiegeladen die Liliengasse hinauf. Borg und Berber blickten ihr nach.

»8:00 Uhr? Das höre ich zum ersten Mal«, brummte Borg.

»Wollte ich dir noch sagen«, sagte Berber.

Als Borg zuhause ankam und die Wohnungstür öffnete, hörte er, dass der Fernseher lief.

»Paul? Ich bin wieder da!«, rief er.

»Es ist schon nach sechs«, beschwerte sich Paul. Er hatte die Füße auf dem Wohnzimmertisch ausgestreckt, und ein Glas Nutella mit einem darin steckenden Löffel stand auf dem Tisch.

»Du hast also schon gegessen«, stellte Borg fest. »Mach bitte mal den Fernseher leiser.«

»Wir waren vor über einer Stunde verabredet«, sagte Paul, ohne zu seinem Vater aufzublicken.

»Nicht meckern jetzt. Lass uns ins Eiscafé gehen. Ich lade dich ein.«

Paul deutete mit einem Blick auf den Fleck neben Borg an der Wand, den der Cocktail dort hinterlassen hatte.

»Habt ihr euch gestritten?«, fragte Paul.

»Nein. Das ist eine neue Form von Entzug. Ich schenke mir ein und werfe die Gläser dann gegen die Wand. Wollen wir los, oder willst du vorher noch ein Glas Nutella essen?«

Oliver Borg und sein Sohn fuhren mit dem Wagen aus Watenbüttel, wo Borg seine Wohnung hatte, zum Eiscafé Dolomiti am Schwarzen Berg. Sie ließen den Wagen stehen und bestellten sich zwei Waffeln mit jeweils drei Kugeln Eis zum Mitnehmen.

»Wenn Sie uns viel Sahne geben, dann gibt es ein ordentliches Trinkgeld«, sagte Borg.

Er bekam seine Sahne und sollte 8 Euro bezahlen. Er gab 15 Euro und folgte damit seinem Motto ›Erwartungen schaffen und sie übererfüllen‹. Er ging oft so vor, denn, das war sicher, bei seinem nächsten Besuch in diesem Eiscafé würde er überdurchschnittlich gut behandelt werden und mehr für sein Geld bekommen als andere Gäste.

Vater und Sohn gingen in Richtung Ölpersee.

Paul war nicht sehr redselig und hatte sein Eis schon fast aufgegessen, während sein Vater noch nicht einmal zur Hälfte damit fertig war, weil er verzweifelt versuchte, ein Gespräch zu beginnen, das am Laufen gehalten werden konnte.

»Willst du jetzt die ganze Zeit mit mir quatschen, Olli?«, fragte Paul gelangweilt.

»Ich würde es gut finden, wenn du mich nicht Olli nennst.«

»Aber du heißt Olli«, sagte Paul.

»Ja, aber ich fände es besser, wenn du Papa zu mir sagst.«

»Du sagst ja auch nicht Sohn zu mir.« Mit diesem Argument hatte Paul seinen Vater zumindest für fünf Minuten zum Schweigen gebracht. Die beiden kamen am Ölpersee an und bogen in den Rundweg ein, der einmal komplett um den See herum führte.

»Ich bin ab übermorgen zwischendurch bei dir. Ist das okay?«, fragte Paul.

»Hä? Wie kommt’s?«

»Mama ist für eine Woche in Florenz, und sie hat gesagt, ich kann bei dir essen und Hausaufgaben machen, wenn ich will.«

»Wenn deine Mama das sagt, dann wird es stimmen.« Borg freute sich insgeheim, seinen Sohn in der kommenden Woche öfter zu sehen.

Von vorn kam ein Mann angelaufen, dessen Körper unter der Last seiner Muskeln bei jedem Schritt bebte.

Oliver Borg kniff die Augen zusammen. Die Gestalt hatte er schon einmal gesehen. Der Mann kam näher. Er trug einen schwarzen Jogginganzug, und sein Schnaufen wurde lauter, als er sich den beiden näherte. Jetzt erkannte Borg den Jogger: Es war der Mann, der nachts auf der Straße gestanden hatte, als der Kugelblitz an ihm vorbeigeschossen war.

Du meine Güte. Der joggt auch?, dachte Borg. Machen die Menschen denn nichts anderes mehr?

Es schien wirklich so zu sein. Schon seit dem ersten Corona-Lockdown fiel der ganzen Welt die Decke auf den Kopf. Alle wollten raus, alle wollten joggen. Borg drehte sich um und schaute den Weg entlang. Es stimmte. Hinter ihnen wimmelte es nur so von Joggern. Von vorn kam dieser Muskelmann, und hinter dem liefen auf einem parallel verlaufenden Weg weitere drei Joggerinnen.

Der große Schwarzgekleidete passierte Oliver Borg und seinen Sohn und stieß Laute wie eine alte Dampflok aus. Ein übler Schweißgestank drang in Borgs Nase. Er schaute dem Fremden hinterher.

»Kennst du den Mann? Der stinkt!«, sagte Paul.

»Das kannst du laut sagen. Ich kenne ihn noch nicht. Aber morgen werde ich ihn mal kennenlernen.«

Kapitel 4: Diamanten sind für immer

»Sie wissen ja«, begann Jan-Hendrik Koller, der Leiter der Mordkommission, »ein Team wird bei uns nach den speziellen Anforderungen des jeweiligen Falls zusammengestellt. So können auch Polizisten hinzugezogen werden, die sich auf die Bereiche Raub oder organisierte Kriminalität spezialisiert haben. Oder wie in diesem Fall die liebe Frau Bachmann, die beste Spurenleserin, die wir je hatten. Aber«, er wandte sich direkt an Sina Bachmann, »keine Angst: Sie müssen nicht mehr selbst pinseln. Sie sagen jetzt, wo’s langgeht. Ich bin sicher, dass Sie die Zusammenarbeit in dem neu zusammengestellten Team genießen werden.« Jan-Hendrik Koller freute sich wie ein Schneekönig. Koller war ein Unikat, keinesfalls aber im positiven Sinne. Er hatte ein spitzes Wieselgesicht und einen klapprigen Körper. Besonders auffällig waren seine schrulligen Angewohnheiten und der üble Atem, den er seit Jahren mit seltsamen Pastillen der absurden Geschmacksrichtung Lavendel-Blaubeere zu überdecken versuchte.

Er aß diese Pastillen wie andere Leute Popcorn.

Auf den Stühlen im Besprechungsraum saßen Oliver Borg, Timm Berber, Sina Bachmann und, mit zwei Plätzen Abstand zu Borg, Erwin Brammel. Auch er war dem Team als Unterstützung zugeteilt worden.

Borg konnte es nicht fassen. Er hatte Brammel schon auf dem Flur des Präsidiums gerochen, als er (zehn Minuten zu spät) zur Besprechung und Teameinteilung gekommen war.

Koller rollte die Vorfälle der letzten Tage noch einmal in umgekehrter Reihenfolge auf: Eine verschwundene Frau aus der Liliengasse, von der nur zwei Ohren aufgetaucht waren, die man dem Ehemann in einem Umschlag in den Briefkasten gesteckt hatte, und ein verschwundener Mann aus der John-Steinbeck-Straße, dessen Finger seiner Ehefrau in einer Zigarettenschachtel geliefert worden waren. Keine eindeutig Verdächtigen, keine Zeugen, kein genauer Plan, wo man anfangen sollte.

Jeder der Anwesenden durfte sich zum Fall äußern.

Borg fing an: »Der erste Verschwundene hat sich Reizwäsche von einer russischen Firma bestellt. Halterlose Strümpfe und Slips und so’n Zeug. Er ist aber schon 12 Jahre mit seiner Frau verheiratet.«

»Willst du damit sagen, ein Mann will seine Frau nicht in Reizwäsche sehen, wenn er länger mit ihr verheiratet ist?«, fragte Sina.

Borg hatte ganz vergessen, dass sie neben ihm saß.

»Die Nachbarin, Frau Irina Komarow, trägt solche Wäsche. Ich hab‘ ähnliche Modelle bei ihr in der Waschmaschine gesehen. Die im Haus gegenüber wohnende Frau Jeschke will beobachtet haben, wie sich Thomas Frohberg und Frau Komarow häufiger zum Joggen getroffen haben. Vielleicht haben sie mehr gemacht als nur gejoggt.«

Brammel schaltete sich ein: »Vielleicht wollte er die Wäsche selbst tragen?«

Borg und Berber warfen Brammel verächtliche Blicke zu.

»Wir haben noch ein paar andere Dinge herausgefunden«, sagte Sina. »Die Finger in der Zigarettenschachtel stammen von beiden Händen des Mannes. Es sind der Daumen und der Zeigefinger der rechten Hand und die drei anderen Finger der linken Hand gewesen. Außerdem rauchte Herr Frohberg Zigaretten der Marke HB, und die glimmende Zigarette, die seine Frau auf der Treppe ausgetreten hatte, ist eine der Marke Marlboro gewesen. Das könnte eine Spur sein.«

Borg fand das interessant. Sina konnte dem Team wirklich eine große Hilfe sein.

»Wir müssen aber auch in Betracht ziehen, dass sich der Mann die Finger selbst abgeschnitten hat«, sagte Brammel.

»Sehr schlau, Brammel!«, maulte Borg. »Und mit welcher Hand hat er sich die Finger von der zweiten Hand abgeschnitten, nachdem er schon Daumen und Zeigefinger von der ersten Hand abgeschnitten hatte?«

Brammel überlegte.

»Meine Herren, wir kommen so nicht weiter«, unterbrach Koller.

»Nochmal zu Frau Komarow: Sie trägt an der einen Hand drei Ringe, die sehr teuer aussehen. Ich würde sogar behaupten, es sind echte Diamantringe. Wie kann sich eine alleinstehende Frau, die im Fitnesscenter arbeitet, solche Ringe leisten?«

»Du magst die Frau nicht, deshalb setzt du sie auf die Verdächtigenliste«, sagte Berber.

»Du stehst auf ihren Arsch, deshalb darf ich sie nicht auf die Verdächtigenliste setzen, was?«

»Meine Herren, wir kommen so nicht weiter«, sagte Koller erneut.

»Ich würde heute gerne noch einmal mit dem Muskelmann sprechen. Der mit dem Kugelblitz«, sagte Borg. Berber erinnerte sich an die dunkle Gestalt in der Straße des ersten Opfers.

»Der Typ joggt. Ich hab‘ ihn gestern gesehen …«, begann Borg.

Es klopfte an der Tür. Ein Beamter trat ein. Borg segnete ihn in Gedanken, weil er durch das Öffnen der Tür frische Luft in die Brammel-Gaskammer gelassen hatte.

»Herr Oberinspektor, wir haben eben einen Anruf von den Kollegen erhalten. Es sind weitere Körperteile aufgetaucht. Diesmal in einem Haus in Watenbüttel. Eine Frau wird dort vermisst.«

Sina drehte sich zu Borg um. »Wohnst du nicht in Watenbüttel?«, fragte sie leise.

»Ja, aber ich war’s nicht«, sagte Borg und stand auf.

Gemeinsam verließ das Team den Besprechungsraum und machte sich auf den Weg zum dritten Tatort. Die Ringelnatzstraße war nur fünf Gehminuten von Borgs Wohnung entfernt. Er kannte den Ort wie seine Westentasche. Als Paul noch klein gewesen war, hatte er seinen Sohn im Kinderwagen oft durch diese Gegend geschoben.

Der Mann, der die Polizei alarmiert hatte, wirkte verstört. Er hatte ganz offensichtlich geheult.

»Es tut mir sehr leid, Herr Stecher. Können Sie mir sagen, wann Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen haben?«, fragte Borg den dreißigjährigen Mann des Opfers, der offenbar einen Schwächeanfall erlitten hatte, denn er saß auf der Laderampe eines Krankenwagens, der vor dem Haus stand.

Die Kollegen Meyer und Müller waren mit dem Absperrband beschäftigt, das im warmen Wind ein Eigenleben entwickelt hatte.

Auf der Regentonne vor Herrn Stechers Haus lag ein menschlicher Unterarm mit einer Hand daran, der ganz klar einer Frau gehört hatte. Die Fingernägel waren rot lackiert. Der Arm war sauber und fachmännisch abgetrennt worden. Es gab keine Spuren von Blut.

»Meine Frau …« Stecher wirkte wie unter Drogen und starrte geradeaus an Borg vorbei.

Borg drehte sich zum Sanitäter, der neben ihm stand. »Was haben Sie ihm gegeben?«

»Nur eine leichte Dosis Beruhigungsmittel«, antwortete er.

Auch Oberkommissar Koller war mitgekommen und stand hinter Borg. Sina Bachmann und Timm Berber gingen ins Haus. Brammel war noch nicht eingetroffen. Da ihm niemand angeboten hatte, im Wagen mitzufahren, war er auf sein Fahrrad gestiegen.

Stecher setzte neu an: »Meine arme Frau. Sie ist heute Morgen aus dem Haus gegangen, und als ich eine Stunde später den Müll rausbringen wollte, da …«

»Wo wollte Sie hin? Zur Arbeit?«, fragte Borg.

»Nein. Sie hat Urlaub. Unser Sommerurlaub. Sie wollte joggen.« Stecher vergrub sein Gesicht in den Händen.

Borg und Koller sahen sich an. »Beruhigen Sie sich, Herr Stecher. Wir sprechen später«, sagte Borg und ging mit Koller auf das Haus zu, in dem die Stechers wohnten.

Der Flachdachbungalow mit Steingarten davor wirkte wenig einladend. Alles war viel zu steril.

»Jetzt haben wir fünf Finger, ein Paar Ohren und einen Arm. Bald können wir uns einen eigenen Leichnam zum Beerdigen zusammenbauen«, sagte Borg.

»Alle Opfer waren joggen. Ist Ihnen das aufgefallen?«, fragte Koller.

»Sehr gut beobachtet. Sie sollten bei der Polizei anfangen.« Borg hatte nie etwas für Dienstgrade übrig gehabt, aber jetzt war er eine Spur zu weit gegangen.

Koller blieb stehen. »Ich weiß nicht, wen Sie hier vor sich zu haben glauben. Ich bin noch immer Ihr Vorgesetzter. Ihre freche Art ist unhaltbar. Und das ist noch nicht alles. Ich hätte Sie ohnehin noch einmal zum Vieraugengespräch gebeten. Ein Kollege hat mir erzählt, dass Sie im Dienst getrunken haben. Ich werde Sie im Auge behalten, Borg. Wenn Sie Ihre Spielchen weitertreiben und das Ganze als großen Spaß sehen, dann sind Sie flott raus aus der Nummer! Verstanden?«

Das saß. »Verstanden«, sagte Borg und ging mit gesenktem Kopf zur Regentonne, auf der der Arm lag.

Ein Polizeifotograf machte gerade Blitzlichtaufnahmen von dem abgetrennten Körperteil.

Borg wollte ursprünglich nur einen kurzen Blick auf den Arm werfen, doch dann erregte etwas seine Aufmerksamkeit. An einem Finger der Hand war der weiße Rand mangelnder Sonnenbräune als Hinweis auf einen fehlenden Ring zu erkennen. Borg ging durch die geöffnete Wohnungstür. Er ging an Sina Bachmann vorbei. Berber war offensichtlich auf der Toilette.

»Was suchst du?«, fragte Sina.

Borg schaute sich die Bilder an der Wand an: zwei Familienbilder fremder, wahrscheinlich längst verstorbener Personen, daneben zwei Nahaufnahmen der Stechers und mehrere gerahmte Gemälde. Das half alles nichts.

Er wandte sich der Vitrine im Wohnzimmer zu. Da war das, was er gesucht hatte. Auf dem Vermählungsfoto der Stechers konnte man ganz deutlich den Ehering von Frau Stecher erkennen. Sie trug ihn an der linken Hand. Die Hochzeit konnte noch nicht lange her sein. Tom Stecher sah noch genauso aus wie auf dem Bild.

Berber kam aus der Toilette.

»Was gefunden?«, fragte er und schaute auch auf das Bild.

Borg stand noch schweigend vor der Aufnahme.

»Nichts bekommt einem so gut wie eine Hochzeit«, sagte Berber. »Natürlich die eigene ausgenommen.«

Borg sagte noch immer nichts, aber er dachte, Berber lag gar nicht so falsch mit seiner flapsigen Bemerkung: Die meisten Ehen addierten die Menschen nicht miteinander, sondern subtrahierten sie voneinander.

»Stimmt was nicht?«, fragte Berber.

»Nee, ich vermisse was. Den Ring hier. Der fehlt an der Hand da draußen.« Er deutete aufs Bild. »Ich will noch einmal zwei Leute befragen. Frau Komarow und den Muskelmann.«

»Glaubst du, der Ring könnte ein Hinweis sein?«, fragte Berber.

»Leichen kann man verschwinden lassen«, sagte Borg. »Aber Diamanten sind für immer.«

Als Borg und Berber in der John-Steinbeck-Straße ankamen, sahen sie schon Frau Jeschke am Zaun stehen. Sie hatte offenbar Birnen vom Baum gepflückt.

»Herr Kommissar!«, rief sie, als die beiden aus dem Wagen ausstiegen.

»Sie meint dich!«, sagte Borg.

»Vergiss es!«

Sie gingen auf Frau Jeschke zu.

»Was gibt es denn, Frau Jaschke?«, fragte Borg.

»Jeschke, bitte. Mit ›e‹. Möchten Sie eine Birne?«, fragte sie und hielt eine pralle Landsberger Malvasierbirne über den Zaun.

»Nein, danke«, wehrte Borg ab. Als Brand hätte er sie nicht abgelehnt.

»Wissen Sie, Herr Kommissar, es ist vielleicht nicht so wichtig, aber …«, begann Jeschke.

»Alles ist wichtig«, sagte Borg und hoffte nun, nicht mit Belanglosigkeiten gequält zu werden.

»Die Frau Komarow war mit dem Arthur – Sie wissen schon, der Schulhausmeister – joggen. Und die beiden haben sich geküsst.«

»Das dürfen sie nicht!«, sagte Borg gespielt dominant. Jeschke ignorierte das.

»Letzte Woche hat sie noch den Herrn Frohberg geküsst. Dieses Flintenweib! Jetzt ist der Herr Frohberg tot!«

»Immer mit der Ruhe, Frau Jeschke«, sagte Borg. »Warum haben Sie mir das vorgestern nicht gesagt, dass sich Frau Komarow und Herr Frohberg geküsst haben?«

»Ach, Herr Kommissar. Ich bin nicht so eine Tratschtante …«, sagte Jeschke.

»Vielen Dank für den Hinweis. Wenn Ihnen noch etwas einfällt …«, Borg notierte rasch eine Telefonnummer auf einem kleinen Zettel und gab ihn der Seniorin, »dann rufen Sie gerne auf Herrn Berbers Handy an.«

Berber öffnete den Mund vor Empörung, sagte aber nichts.

Ein Mann mit kurzen Hosen und einer schwarzen Sporttasche, die schwer zu sein schien, kam aus einer Nebenstraße herangejoggt. Er öffnete die Gittertür zu einem großen Grundstück, lief den Weg hinauf und verschwand in seinem Haus.

»Wissen Sie, wer das war?«, fragte Borg.

»Das? Das war der Herr Doktor!« Es schien ihr völlig unverständlich zu sein, dass Borg den ›Herrn Doktor‹ nicht kannte.

»Doktor Leibnitz«, ergänzte Berber. »Der hat hier in der Straße vor kurzem ein Haus gekauft. Seine Praxis ist in der Innenstadt.« Borgs Kollege hatte gute Vorarbeit geleistet und sich schon mit den Personen in der Nachbarschaft beschäftigt.

Borg und Berber ließen Frau Jeschke am Zaun zurück und gingen auf das Haus von Irina Komarow zu.

»Mit dem Arzt will ich auch noch sprechen«, sagte Borg.

»Warum? Weil er joggt?«

»Zum einen das, und zum anderen, weil er mit einer schweren schwarzen Sporttasche joggt. Das finde ich sehr seltsam.«

Borg klingelte bei Irina Komarow.

»Die ist nicht da!«, rief Frau Jeschke von der anderen Straßenseite.

Borg hob dankend die Hand.

»Wissen Sie, wo sie ist?«, rief Berber hinüber.

»Wollen wir wetten, dass sie joggen ist?«, sagte Borg.

»Die ist joggen!«, rief Jeschke zurück und zeigte mit der Hand, in der sie die Birne hielt, rechts die Straße hinunter.

»Los. Zum Muskelmann, diesem Hausmeister«, sagte Borg, und sie gingen die Straße zum Wendehammer hinunter, wo vor zwei Tagen der Kugelblitz alle Ermittlungen der Polizisten hätte beenden können.

Im Rinnstein vor dem Haus lag ein toter Spatz, und das schon seit längerer Zeit, das war deutlich. Die Federn des Tierchens, das bereits in Verwesung übergegangen war, wirkten verklebt.

Borg las das Klingelschild ›Arthur Kusnezow‹.

»Das ist der Schulhausmeister, von dem Jeschke gesprochen hat. Russischer Nachname – passt ja gut zu Frau Komarow«, sagte Borg und betätigte die Klingel.

Kapitel 5: Der Mann mit der goldenen Waffe

Im Flur des Hauses von Arthur Kusnezow waren schwere Schritte zu hören, und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis den beiden Beamten geöffnet wurde.

»Herr Kusnezow? Mein Name ist Borg, und das ist Herr Berber, wir sind von der Polizei und untersuchen das Verschwinden von Herrn Frohberg. Dürfen wir kurz reinkommen?«

Die kalten Augen von Kusnezow musterten die beiden Beamten. Borg erinnerten die Augen an die eines Haies. Sie wirkten bedrohlich und starr.

Kusnezow öffnete die Tür ein Stück weiter und signalisierte den beiden damit, dass sie eintreten könnten.

Es roch nach ausländischen Gewürzen und kaltem Zigarettenrauch, und die Luft im Vorflur war abgestanden. Kusnezows Haus am Ende der Straße war das größte der Reihenhäuser und vom Schnitt her völlig anders aufgebaut als der Rest der Gebäude in der John-Steinbeck-Straße. Borg versuchte sich zu orientieren.

Der ganze Flur sah aus wie ein Museum. Überall hingen ausgestopfte Tiere. Eichhörnchen, Marder, Vögel, ein Tier, das wie eine Ratte aussah, und sogar eine präparierte Schlange.

»Sind die alle echt?«, fragte Borg.

»Ja. Das Fangen und Ausstopfen von die Tier ist meine Hobby. Ich habe nur nicht ausreichend Platz hier oben. Die meisten Präparate habe ich in die Keller«, sagte Kusnezow in schlechtem Deutsch, als wäre es das normalste Hobby der Welt.

»Gute Arbeit. Man sieht kaum, dass die Tiere tot sind.« Berber meinte das völlig ernst.